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Eine Frage der Haltung
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eBook200 Seiten2 Stunden

Eine Frage der Haltung

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Über dieses E-Book

Er war der erste Nichtskandinavier, der auf dem Holmenkollen siegte, holte Weltmeister-Titel, Olympiagold, gewann dreimal die Vierschanzentournee.

Über ein halbes Jahrzehnt bestimmte Helmut Recknagel das Niveau des Skispringens, war einer der ersten großen Sport-Stars nach dem Krieg.
Seinem Auftreten, mit dem er Augenmaß und Charakter bewies, zollte man in beiden deutschen Staaten Respekt. Mit allem, was er tat, bewies er Haltung. Auf der Schanze wie im Leben.

"Was der große Jongleur Rastelli mit Helmut Recknagel zu tun hat, welche Rolle Ziegenmilch in seinem Leben spielte und warum er mit sechzig Jahren seinen wohl mutigsten Sprung gewagt hat - all das ist in seiner Autobiografie nachzulesen."
Märkische Oderzeitung
SpracheDeutsch
HerausgeberDas Neue Berlin
Erscheinungsdatum25. Juli 2012
ISBN9783360500038
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    Buchvorschau

    Eine Frage der Haltung - Helmut Recknagel

    Jophiel

    Rastelli

    Das sollte mein erstes Wort in meiner Autobiografie sein. Nicht nur um die Leser aufs Glatteis zu führen und sie fragen zu lassen: Was hat der Skispringer Recknagel mit dem Jongleur Rastelli gemeinsam? Mal von dem Initial abgesehen.

    Der große Enrico Rastelli, dem man nachsagt, er habe gleichzeitig mit zehn Bällen hantiert, obwohl es nie einer sah: Er war mir Vorbild. Und dabei habe ich ihn nie erlebt. Er starb, keine 35 Jahre alt, 1931. Ich kannte nur die Geschichten, die man über ihn erzählte. Er kam aus Samara in Russland, die Eltern waren Luftakrobaten und Italiener. Und er begann als Erster auf der Welt mit Gummibällen zu jonglieren. In New York, so geht die Fama, soll er 1923 den Durchbruch geschafft haben. Die Welt hielt den Atem an und riss den Mund auf. Das Berliner Tageblatt schrieb am 10. März 1927: »Es ist unerhört, wie er – oft mit kindlichem Vergnügen – die Bälle meistert wie kein zweiter, wie sie diesem großen Künstler gehorchen, und wie er graziös und leicht, als ob es ein Kinderspiel wäre, Kunststücke vollbringt, die man bisher nicht für menschenmöglich gehalten hat.«

    So kam der Spruch in Umlauf, der auch mein kindliches Ohr traf: Der spielt wie ein Fußball-Rastelli! Damit sollte gesagt sein, dass einer ein besonderes Gefühl für den Ball besaß. Als ich geboren wurde, war Rastelli schon sechs Jahre tot. Es gab keinen Film, kein Fernsehen, nur die Legende. Und diese lebte.

    Manchmal, in Momenten mangelnder Bescheidenheit, glaube ich, es gehe mir wie Rastelli. Mehr als vier Jahrzehnte ist es her, dass ich auf Siegerpodesten stand. Und dennoch gibt es Menschen, die mich kennen und erkennen, obgleich sie doch erheblich jünger sind als ich. Sie haben mich nie springen sehen, und, mit Verlaub, im Fernsehen bin ich auch höchst selten zu besichtigen. Und wer nicht dort zu sehen ist, den gibt es nicht mehr. Namen sind Gesichter in bewegten Bildern. Ich finde dort nicht statt. Also sollte ich vergessen sein wie andere auch. Doch nein: Ich bekomme noch immer Autogrammwünsche, oder wenn ich, wie unlängst bei Dreharbeiten in Thüringen geschehen, durch den Wald spaziere, fallen mir wildfremde Menschen um den Hals: »Bist du es wirklich?«

    Da beschleicht mich immer dieses Rastelli-Gefühl. Ein Nachhall aus dem Nirvana, aus dem vorigen Jahrhundert.

    Ich solle nicht so tun, winken Vertraute ab, wenn ich mich da rüber amüsiere. Ich sei in den 50ern eben das gewesen, was man heute einen Popstar nennt: berühmt, bekannt, angehimmelt und verehrt von Tausenden. Ob ich schon vergessen hätte, wie Ostern 1958 über hunderttausend Menschen kamen, nur um mich springen zu sehen? Karfreitag 25 000 an der Vogtlandschanze in Klingenthal-Mühlleithen und 80 000 am Ostermontag in Oberwiesenthal. Wahnsinn.

    Natürlich kann ich das so wenig vergessen wie die Mädchen und die Offiziellen, die immer mit ins Bild drängten, wenn sich die Kameras auf mich richteten. Ich besitze noch die Liebesbriefe und Glückwunschtelegramme, die mich stoßweise erreichten: von Menschen, die mir fremd waren, die aber meine Freude über einen Sieg teilten und mich dies in einfachen Worten wissen ließen. Alles präsent. Stimmt, ich war in des Wortes ursprünglicher Bedeutung populär. Ich kam aus dem einfachen Volke und wähnte mich ihm immer zugehörig, das spürte man wohl. Ich war einer von ihnen, der sich nur dadurch aus der anonymen Masse hervortat, dass er mit Brettern weiter sprang als andere.

    Mag sein, kam der Einwurf, so meine man das aber nicht. Ich sei damals einer gewesen, der es an die Spitze geschafft und sich dort ein halbes Dutzend Jahre überzeugend behauptet habe. Ich sei jung gewesen und unangepasst, selbstbewusst und, nun ja, gut aussehend. Mit Charakter und kräftigem Kinn. Im Sport habe Deutschland nach dem Kriege auf der internationalen Bühne am ehesten Anerkennung gefunden. Im fairen Kampf. Mann gegen Mann. Du warst der erste deutsche Nachkriegsheld.

    Nana, was ist mit dem »Wunder von Bern«?

    Das war eine Mannschaft. Du warst Einzelkämpfer. Ein Held.

    Schön und gut, pflege ich an dieser Stelle zu entgegnen. Aber ich kam aus dem Osten, auf meinen Trainingsanzügen standen drei Buchstaben, die nicht überall wohlgelitten waren.

    Und wer trug 1960 in Squaw Valley der deutschen Olympia-Mannschaft die Fahne voran? Helmut Recknagel aus Thüringen!

    Nun ist es an mir zu lachen. Denn ausgerechnet dieser Umstand brachte gerade etliche Westdeutsche auf die Palme. Einige Blätter schrien Protest, man könne auf keinem Fall dem zweiundzwanzigjährigen Kommunisten aus der Zone ins Stadion folgen, und sie verstummten erst, als ich Gold holte. »Die Olympischen Winterspiele wurden für die Sportler der gesamtdeutschen Mannschaft zu einem völlig unerwarteten Erfolg«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 1. März 1960 zum Abschluss der Spiele. Zwei der insgesamt vier Titel holten ostdeutsche Sportler, nämlich Helga Haase im Eisschnelllauf über 500 Meter und ich im Spezialsprunglauf. Insofern war auch in dieser Hinsicht Parität hergestellt. »Das deutsche Volk ist stolz auf seine Sportler, die in fairem Wettkampf so große Leistungen vollbracht haben«, telegrafierte Bundespräsident Heinrich Lübke. Und Ernst Lemmer, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, bezeichnete in seinem Glückwunsch den sportlichen Geist und das kameradschaftliche Zusammenstehen des deutschen Teams als »vorbildlich und ermutigend«. Ich erhielt Post aus beiden Deutschländern.

    Also war wohl doch etwas dran am Argument meiner Freunde, dass ich – von einigen kalten Kriegern mal abgesehen – in Ost wie West gleichermaßen angenommen wurde, mithin gesamtdeutsch populär war, weshalb ich auch seit 1990 alljährlich nach Baden-Baden eingeladen werde, wenn dort die aktuellen Sportler des Jahres geehrt werden.

    Nun gehöre ich zu jenen, die sich auf frühen Lorbeer nichts einbilden. Das ist Vergangenheit. In manchen Blumenläden kann man sich heute grünen Lorbeer zu Kränzen winden lassen. Die Blätter welken sichtbar in wenigen Tagen. Sie werden rostig-braun und brüchig. Man sollte ihnen darum nicht zu nahe kommen. Dann ist die Dekoration dahin.

    Das schien mir wie ein Gleichnis, als ich von verschiedenen Seiten gebeten wurde, zu meinem 70. Geburtstag meine Erinnerungen zu Papier zu bringen. Der sportliche Lorbeer, der verwelkte, müsste natürlich im Mittelpunkt stehen, hieß es. Läuft man da nicht Gefahr, die Erinnerung zu beschädigen, indem man sie be schönigt? Und verschiebt man nicht zwangsläufig die Proportionen? Ein Viertel meines Lebens nur habe ich aktiv Sport betrieben, doch vor allem auf diese Jahre richtet sich das Augenmerk. Wer interessiert sich schon für den Alltag eines Tierarztes, der etwa die lebensmittelhygienischen Verhältnisse in Fleischer hand werksbetrieben und in der fleischverarbeitenden Industrie des Kreises Fürs tenwalde kontrollierte oder heute als Betreiber eines Sani täts hauses Patienten versorgt? Wichtig, gewiss, aber uninter es sant.

    Und ich höre auch schon die Einlassungen von Weggefährten: Na, hier hast du aber was weggelassen. Und dort erzählst du von einer Sache, die ich ganz anders erlebt habe. Das mag ja sein: Jede Erinnerung ist nicht nur subjektiv, sondern auch trügerisch. Ich berichte über mein Leben, wie ich es wahrgenommen habe.¹

    Denn in einer Hinsicht habe ich mit Rastelli ganz gewiss nichts gemein. Seine akrobatischen Übungen waren auch Suggestion. Er beherrschte die Tricks, die anderes zeigten, als in Wirklichkeit passierte. Er erzeugte Vorstellungen, die dem Betrachter den Atem raubten. Manches war bewusst auf Illusion angelegt. Ich aber will nicht verführen oder inszenieren. Sondern Sie, den Leser oder die Leserin, in eine Zeit mitnehmen, die einige Zeit zurückliegt. Jeder von uns hat sie anders erlebt, auch wenn wir sie gemeinsam teilten. Das lag nicht nur daran, dass wir an verschiedenen Orten wohnten.

    Für die Nachgeborenen ist das abstrakte Geschichte. Und die zu kennen ist ja auch nicht von Nachteil.

    Recknagel

    Die Historie meines Namens ist besser erforscht als meine Familiengeschichte. Der Vater Oskar wurde 1908 geboren, meine Mutter Anna 1910. Wer vor ihnen kam, liegt weitgehend im Dunkel. Vater wurde mit elf Vollwaise und wuchs bei Verwandten auf. Das ist schon alles, was ich weiß.

    Unseren Familiennamen kennt man seit dem 14. Jahrhundert, seit in Schmalkalden und Umgebung Sicheln, Sensen, Nägel, Messer, Löffel und dergleichen hergestellt wurden. Auf den Rechnungen von 1405 finden sich bereits Namen wie Smyd, Leffeler, Sliffer und eben Recknagel, was wohl eine Art Nagelschmied war. Recknagels gab es zwar nur in Südthüringen, aber nicht eben selten. In Steinbach-Hallenberg, wo ich am 20. März 1937 zur Welt kam, lebten allein an die zwanzig Familien mit diesem Namen, ohne dass sie miteinander verwandt gewesen wären. Meine Mutter Anna hieß Recknagel und musste darum nicht einmal ihren Namen ändern, als sie meinen Vater heiratete.

    Er war Werkzeugmacher, genauer: Zangenmacher, und auch ich sollte diesen Beruf ergreifen. Er war ein halbes Jahrhundert bei der Firma Döll tätig, und seine Ausdauer und auch die berufsbedingte Präzision hat er mir wohl mitgegeben. Ich vermute, dass diese Haltungen im genetischen Code angelegt sein müssen. Wenn man jahrhundertelang zur Genauigkeit gezwungen ist, geht das in Fleisch und Blut über. Ich weiß, dass ich mit meiner geerbten Exaktheit meine Umgebung bisweilen nerve. Bei mir muss alles akku rat zugehen: Ordnung ist das halbe Leben.²

    Ich besitze beispielsweise noch mein »Arbeitsbuch«, das ich im Herbst 1954 zu führen begann. Es endet am 30. November 1958. Darin ist minutiös jeder einzelne Tag aufgeführt.

    Am Dienstag, dem 6. September 1955, war der Himmel be wölkt. Ich stand 6.45 Uhr auf, hatte gut geschlafen. Die Pulsfrequenz betrug 52, ich wog 69,5 Kilo. Neben dem üblichen Trainingsprogramm erfolgte zwischen 10 und 12 Uhr eine Überprüfung: Ich stieß die Kugel 9,54 Meter weit, kam beim Keulenwurf auf 45 Meter, sprang aus dem Stand 1,28 Meter hoch und überquerte beim Hochsprung die Latte bei 1,62. Um 21.30 Uhr legte ich mich ins Bett …

    Dass ich so ein Buch führte, ging auf meinen Trainer Hans Renner zurück, auf den ich noch ausführlich zu sprechen kommen werde. Renner hatte mich im Frühsommer 1954 praktisch abgeworben. Er meinte, ich solle zu ihm und den Skispringern kommen. Dann drückte er mir am 1. Oktober ein Blatt in die Hand, das er überschrieben hatte: »Perspektivplan für Spezialspringer Helmut Reck nagel«. Dieses Blatt wurde die erste Seite meines Ar beitsbuches.

    Renner hatte dort vier Ziele formuliert, das letzte hieß »Voraussichtliche Perspektive bis 1958: unter den ersten zehn bis zwölf Plätzen im Weltmaßstab zu sein«. Dazu sei es notwendig, formulierte er weiter, meine »moralischen und Willensqualitäten wie Entschlossenheit, Zähigkeit, Kühnheit, Siegeswille usw. zu verbessern«.

    Ich behaupte, dass mir davon das meiste bereits von daheim mitgegeben worden war. Es ging wirklich nur um eine »Verbesserung«.

    Wir wohnten zu ebener Erde in einem Haus in der Brunnenstraße in Steinbach-Hallenberg³, das von drei Familien bewohnt wurde. Über uns lebte Mutters Bruder Karl, und im Dachgeschoss ihre Schwester Hilde und deren Familie. Unsere Wohnung bestand aus Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und Flur. Es war eng und dunkel, und anfangs musste ich mit meinen Eltern das Ehebett teilen, weil der Platz für ein Kinderbett fehlte. In dem Dreifamilienhaus aus den 30er Jahren wohnt heute kein Recknagel mehr. Die El tern liegen seit geraumer Zeit auf dem dortigen Friedhof, und Geschwister hatte ich nicht. Meine Schwester Irene starb zwei Jahre vor meiner Geburt vierjährig an Hirnhautentzündung.

    Neben seiner Tätigkeit bei Dölls besorgte Vater unsere kleine Wirtschaft. Wir hatten Hühner, Enten, Gänse, zwei Ziegen und auch Schweine, dazu etwas Acker und Wiesen, auf denen wir Heu machten. Ich wurde beizeiten in die bäuerliche Arbeit mit einbezogen, was mir keineswegs unsympathisch war. Die Tiere be stimmten unseren Tagesablauf. Füttern und Melken konnten nicht verschoben werden. Die Haustiere zerlegten die Tage, Wo chen und Monate mit der Präzision eines Uhrwerks. Das schulte ungemein. Und wir profitierten von ihnen lebenslang. Ich bin davon überzeugt, dass ich der Ziegenmilch, mit der ich aufwuchs, meine Gesundheit verdanke. Die einigen Tausend Liter, die ich als Kind und Jugendlicher zu mir nahm, sorgten gewiss dafür, dass ich bis heute keine Beschwerden in den Gelenken oder beim Stoffwechsel habe. Ziegenmilch ist, auch wenn mancher die Nase rümpft, viel gesünder als die von Kühen.

    Wie im Ruhrpott die Kohlekumpels Tauben züchteten, so hatten sich die Thüringer Werkzeugmacher offenkundig auf die Hühnerzucht spezialisiert. Vater – der oft mit schwarzem Gesicht von Arbeit kam, wenn er mehrere Stunden Rohlinge geschleift hatte – zog silberfarbene Italiener auf, mit denen er bei Ausstellungen etliche Preise holte. Dorthin begleitete ich ihn zuweilen.

    Im Winter kamen die Schweine unters Messer. Dann wurde Rindfleisch hinzugekauft, um richtige Salami, Zervelatwurst und weitere Leckereien in den Rauchfang hängen zu können. Das war jedoch schon in den 50er Jahren, als die Not vorüber war. In jenen Elends-Nachkriegsjahren trug das Brot oft nur einen Aufstrich: Senf. Wir aßen das, was Vater und Mutter gegen Hufnägel, Zangen und dergleichen bei Bauern eingetauscht hatten. Ihre Hams ter fahrten gingen hinauf bis nach Bad Langensalza.

    Die Kindheit ist immer die glücklichste Zeit im Leben eines jeden. Egal, wie lausig die Umstände sind. Ich kam zur Schule, da wehte noch die Hakenkreuzfahne auf dem Hof, und in Stalingrad war kurz zuvor die 6. Armee untergegangen. Doch vom Krieg bekamen wir kaum etwas mit. Im südlichen Thüringen, im grünen Herzen Deutschlands, gab es nichts, was sich zu bombardieren gelohnt hätte. So waren die einzigen Schläge jene, die

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