Schlehenherz
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Buchvorschau
Schlehenherz - Heike Eva Schmidt
Heike Eva Schmidt
Meiner Mutter und Veronika
zum Gedächtnis
Von: lila@schlehenherz.net
An: vio@anubis.de
Betreff: miss u
liebe vio,
heute war ich auf »unserem« hochsitz, wo wir immer über gott und die welt gequatscht haben. es war ganz still, denn du warst nicht da. ich hatte deine jacke an und wenn ich den kopf drehte, konnte ich im kragen noch den schwachen duft deines parfums riechen. irgendwas mit grapefruit und ingwer. in diesem moment war es so, als würdest du neben mir sitzen. ich habe die hand ausgestreckt, aber ins leere gegriffen – natürlich.
obwohl ich es wusste, hat mich der schmerz in diesem moment wie ein faustschlag erwischt. weil es sich immer noch so anfühlt, als wärst du da. weil ich deine jacke trage, die nach dir riecht. weil ich genau weiß, wie du am telefon klingst. »süße, ich bin’s, viiiio!« – ich kann deine stimme so deutlich hören, als würdest du in dieser sekunde mit mir sprechen.
hier auf dem hochsitz haben wir oft stundenlang gehockt und gequatscht. hier hast du mir von deinen bildern erzählt. hier hab ich dein t-shirt nassgeheult, weil till aus der elften mich links liegen ließ und auf dem schulhof mit der dummen zicke nessie rumknutschte. uns gingen die themen nie aus. eine von uns musste nur ein stichwort sagen – und dann prusteten wir beide los. insiderwitze, die sonst niemand kapierte.
vio und lila, die unzertrennlichen. wir kannten uns in- und auswendig, wussten alles voneinander. dachte ich.
als du auf einmal verschwunden warst, hab ich geahnt, dass es etwas gibt, das ich nicht von dir weiß, etwas, das du mir verschwiegen hast.
und jetzt bist du fort.
ich bin bis zur dämmerung auf dem hochsitz geblieben. die untergehende sonne hat die wolken graugoldorange gefärbt, und ich hab mich gefragt, ob es so im himmel aussieht.
sieht es da so aus, vio? gibt es überhaupt einen himmel? tut sterben weh oder geht man tatsächlich in ein helles licht und ist dann für immer glücklich?
über den tod haben wir nie geredet. warum auch? wir wollten doch leben und nicht sterben. ich glaube, wir haben tatsächlich geglaubt, so was wie der tod würde uns nie passieren. aber jetzt liegst du in einem grab auf dem friedhof und ich kann immer nur denken: wer hat dir das angetan?
lila
1. Kapitel
»Lila, nun warte doch mal!« Ich hörte Vios hastige Schritte hinter mir und musste lachen. Konnte sie sich also doch beeilen, wenn sie wollte! Hinter meinem Rücken keuchte es: »Ok, es tut mir leid. Ich habe nicht verdient, dass du auf mich wartest. Ich schwöre, ich werde mich bessern.«
Jetzt war Vio an meiner Seite und ich sah aus dem Augenwinkel, dass sie grinste wie ein Kobold. Sie glaubte genauso wenig an ihren Schwur wie ich. Vio war unverbesserlich. Oft stand ich vor ihrem Haus, um sie zur Schule abholen, und sie war gerade erst aus dem Bett gekrochen! Klar, wenn Vio dann endlich geduscht, angezogen und geschminkt war, kamen wir regelmäßig zur ersten Stunde zehn Minuten zu spät. Mindestens.
Den Anpfiff von den Lehrern kriegten wir beide, aber nur ich ärgerte mich darüber. Vio grinste ihnen nur frech ins Gesicht, ging zu ihrem Platz und hatte die Standpauke vergessen, ehe ihr jeansbekleideter Hintern den Stuhl berührte. Also beschloss ich, den Spieß umzudrehen.
Als ich Vio an diesem Morgen noch im Schlafanzug antraf, ging ich einfach los, ohne auf sie zu warten. Ich war noch nicht mal zehn Schritte weit, als Vio aus der Haustür geschossen kam, als hätte sie einen Turbo an ihren Flipflops. Die Kette um ihren Hals hüpfte wild auf und ab, als sie mich einzuholen versuchte. An der Kette hing Anubis, der ägyptische Totengott. Besser gesagt, eine Miniatur von ihm. An Anubis hatte Vio einen Narren gefressen. Keine Ahnung, warum, normalerweise hatten wir beide es nicht so mit Mystik und diesem Kram. Aber als Vio damals bei dem Straßenfest an einem der Schmuckstände den Anhänger mit dem Schakalkopf sah, zückte sie sofort ihre Geldbörse und opferte ihr ganzes Geld für das viel zu teure Schmuckstück. Seitdem tat sie ohne diese Kette keinen Schritt mehr.
Jeder ihren Tick. Dafür ging ich nie ohne meinen Ring mit dem Mondstein aus dem Haus. Ich glaubte fest, dass er mir Glück brachte. Bei diesem Gedanken fasste ich unwillkürlich an meinen Finger und merkte prompt, dass ich den Ring heute zu Hause vergessen hatte. Mist, hoffentlich brachte mir das kein Pech. Ich hatte noch nicht mal zu Ende gedacht, als Vio neben mir ächzte: »Och nee, ausgerechnet der jetzt!«
Ich blickte in die gleiche Richtung wie Vio und sah etwas Blaues aus der Seitengasse auf uns zukommen. Grover im Anmarsch. Eigentlich hieß er Jonas und ging in unsere Klasse. Aber weil er auf Punk machte und sich die Haare blau färbte, nannten ihn alle nur »Grover«, wie die Figur aus der Sesamstraße. Er hatte Glück, dass er den englischen Spitznamen verpasst bekam, auf Deutsch hieß die knallblaue Puppenfigur nämlich »Grobi«.
Eigentlich war Grover ganz nett, was man im ersten Moment nicht vermutete, wenn er in seiner nietenbesetzten Lederjacke, den total zerrissenen Jeans und den ausgelatschten Chucks – rechts dunkelgrün, links knallrot –auftauchte. »Nett ist die kleine Schwester von Scheiße«, sagte Vio immer, wenn ich jemanden so bezeichnete. Scheiße fand ich Grover zwar nicht, aber ganz ehrlich: Mit seiner blauen Matte auf dem Kopf und seiner etwas zu großen Nase war er nicht gerade mein Typ. Immerhin hatte er schöne Augen, grau mit dichten schwarzen Wimpern. Wir sagten »Hallo«, wenn wir uns sahen, einmal hatte er ganz vorsichtig gefragt, welche Musik ich gerne hörte, aber ich blockte alle Small-Talk-Versuche von ihm ab. Na ja, und dann war da noch die Sache mit der CD, aber davon habe ich nicht mal Vio erzählt. Aber jetzt schoss Grover wie eine blaue Farbwolke um die Ecke und ignorieren war unmöglich. »Hi«, sagte er und grinste uns freundlich an.
»Hi«, murmelte ich, den Blick auf seine zweifarbigen Turnschuhe gerichtet.
»Hi Grover, lange nicht gesehen. Hast du blaugemacht?«, fragte Vio, und obwohl ich sie nicht ansah, konnte ich ihr breites Grinsen förmlich fühlen. Grover nahm es locker, er lachte und fasste in seine Haare, die wie ein farbiger Flokati wild in alle Richtungen standen.
»Schwester, du kannst nur beten, dass du unter deinem blonden Scheitel so viel Grips hast wie ich hier«, sagte er feierlich. »Die Gärtner schreibt heute ’ne Stegreifaufgabe in Bio, die sich gewaschen hat!«
»Was?«, schrie Vio auf, »’ne Bio-Ex? Mann, ich werde total verkacken!« Was bei Vio nichts Neues war. Dass sie erst einmal eine Klasse wiederholen hatte müssen, war eigentlich ein Wunder. Nicht, dass ich mir wünschte, sie würde noch mal sitzen bleiben. Immerhin hatte ihr katastrophales Zeugnis sie vor zwei Jahren zum Wiederholen der siebten Klasse gezwungen und sie war in meinem Jahrgang gelandet, worüber wir beide happy waren.
»Woher weißt ’n das?«, fragte Vio Grover und leise Panik schlich sich in ihre Stimme.
Grover lächelte wie die Sphinx persönlich. »Intuition, Schwester!«, sagte er geheimnisvoll und schlenderte mit einem »See you later, alligator« davon.
Vio blickte ihm finster nach. »Angeber. Ich wette, der wollte uns nur Angst einjagen.« Dann warf sie mir einen schrägen Blick zu. »Aber … falls das mit dem Test stimmt, könnte ich dann …?«
Ich seufzte und nickte. Abschreiben. Logisch. Das war nämlich der Grund, wieso Vio bisher kein zweites Mal kleben geblieben war. Ich paukte den Stoff – und Vio schrieb ihn ab. So war es und so würde es wohl immer sein. Trotzdem nervte es manchmal. Jetzt zum Beispiel.
»Warum kannst du eigentlich nicht einmal selber lernen?«, traute ich mich aufzumucken.
Vio lächelte von ihren 1,75 Metern gönnerhaft auf mich herunter: »Weil du mir vor fünf Jahren fast den Schädel eingeschlagen hast, meine Süße. Seitdem bin ich irgendwie – so vergesslich!«
Ich verdrehte die Augen. Immer kam sie mir mit dieser ollen Kamelle!
Kennengelernt hatten wir uns nämlich auf einem Ponyhof ganz in der Nähe. Im Gegensatz zu anderen besten Freundinnen waren wir uns aber anfangs gar nicht grün gewesen. Ich hielt Vio für eine eingebildete Ziege mit ihren langen, damals blonden Haaren, die beim Trab und Galopp immer filmreif unterm Reiterhelm wehten. Und sie mich für eine kleine Streberin, weil ich nach drei Monaten schon in die Fortgeschrittenen-Gruppe durfte. Wir mieden uns wie die Pest. Bis zu dem Tag, als ich und ein paar andere Reitschüler in der leeren Halle herumblödelten. Ich wirbelte zum Spaß einen Halfterstrick wie ein Lasso herum. Leider mit dem Ende nach vorn, an dem der massive Eisenhaken befestigt war, der normalerweise ins Pferdehalfter gehakt wird.
Ich schwöre, dass ich Vio nicht gesehen habe. Ich hörte nur einen Schrei und dann hielt sich Vio den Kopf. Ein Büschel ihrer blonden Haare färbte sich erschreckend schnell rot. Sie war voll in den Radius meines »Lassos« gelaufen und das Eisenteil hatte ihr eine ordentliche Platzwunde beschert. Doch Vio war hart im Nehmen. Als unser Reitlehrer ihr eine Mullkompresse anlegte, um sie notdürftig zu versorgen, ehe er sie zum Arzt fuhr, vergoss sie keine einzige Träne. Dafür heulte ich wie ein Schlosshund, vor Schreck und schlechtem Gewissen.
»Mann«, sagte Vio und musterte mich streng, während Desinfektionsmittel und Blut an ihrer Schläfe herunterliefen und sich auf ihrer Wange zu einem hellroten Rinnsal vermischten, »beim Halfterstrick-Schleudern gehörst du eindeutig nicht zu den Fortgeschrittenen!«
Obwohl mir die Tränen noch aus den Augen liefen, musste ich lachen und Vio lachte mit. Seitdem waren wir unzertrennlich. Sogar unsere Namen passten zueinander. »Lila und Violett gehören doch auch zur selben Familie der Farben«, lautete Vios Begründung. Und was Vio sagte, galt.
»Sag mal, hatte Grover heute Morgen seine Kontaktlinsen vergessen oder warum hat er dich so angestarrt?«
Vio hatte nicht nur eine spitze Zunge, sondern zu meinem Leidwesen auch scharfe Augen. Ich zog es vor, mit möglichst unschuldigem Blick die Schultern zu heben: »Weiß ich doch nicht!«
Genauso erfolglos hätte ich versuchen können, einer Horde Pinguine zehn Flaschen Sonnenmilch anzudrehen. Wenn’s drauf ankam, konnte ich einfach nicht lügen.
Vio brachte ihr Gesicht zwanzig Zentimeter vor meines und starrte mir in die Augen: »Lila …?! Läuft da etwa was zwischen dem Blauhelm und dir?«
Ich entschloss mich notgedrungen für die Wahrheit: »Nein, da läuft nichts. Grover hat mir nur neulich mal ’ne CD gebrannt.«
Vio blieb stehen und starrte mich an: »Der glaubt aber nicht im Ernst, du stehst auf Punkrock, oder?«
Ich zog mein Lauftempo an und sagte möglichst beiläufig »Nee, ist ’ne Schostakowitsch-CD!«
Vio hielt eisern mit mir Schritt. »Schosta… häh? Russendisco, oder was?«
Ich blieb genervt stehen. »Mann, Vio! Schostakowitsch war einer der berühmtesten Komponisten Russlands! Klassik … Oper, Ballett, kapiert?«
Erst als ich Vios breites Grinsen sah, wusste ich: Sie hatte mich voll auflaufen lassen. Ich musste lachen: »Du bist so blöd!«, sagte ich und knuffte sie.
»Du willst aber nichts von dem Typen, oder?«, versicherte sich Vio und blickte mich von der Seite an.
»Nee, Quatsch, ich steh nicht auf Jungs, die am Morgen schon blau sind!«, sagte ich mit todernstem Gesicht.
Daraufhin brachen wir beide in schallendes Gelächter aus.
Ehrensache, dass ich Vio später abschreiben ließ. Die Gärtner hatte tatsächlich eine Bio-Ex verkündet und ein Aufstöhnen war durch die Klasse gegangen. Als wir – in affenkurzer Zeit – abgeben mussten, blieb mein Blick an Grover hängen. Der blickte scheinbar unbeteiligt aus dem Fenster. Nur die Andeutung eines zufriedenen Grinsens und die Erinnerung an sein Verhalten heute Morgen machten mich stutzig: Wie zum Kuckuck hatte er von der überraschend angesetzten Arbeit Wind bekommen?
»Wahrscheinlich hat Grover was mit der Gärtner. Deswegen weiß er immer im Voraus, wann eine Ex fällig wird«, witzelte Vio. Aber ich spürte, dass sie mich ein bisschen lauernd musterte.
Es war Pause, und wir standen in der Schlange vorm Schulkiosk, um unsere tägliche Ration Ungesundes in Form von Schokoriegeln, Hotdogs oder Donuts abzuholen. Die Schlange war lang und der Verkäufer, der immer stumm bediente, nicht der Schnellste. Ich verzog keine Miene und antwortete nur gelangweilt: »Logisch. Die Gärtner ist ja auch erst fünfundfünfzig. Und mit neunzig Kilo ein flotter Brummer. Da hat sich Grover bestimmt unsterblich verknallt.«
Wir blickten uns an – und gackerten los. Vio war wieder obenauf. Dank meiner Hilfe bei dem Test heute war sie in Bio für die nächste Zeit aus dem Schneider. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, legte Vio mir den rechten Arm um den Nacken und drückte mich kurz an sich: »Danke, Schatz! Du hast echt was gut bei mir!«
Ich musste lächeln. Auf eine schulische Gegenleistung konnte ich bei ihr zwar nicht hoffen, aber bestimmt würde mir Vio mal was Süßes in meine Schulmappe stecken oder mir eine DVD brennen. Illegal natürlich, aber ich schaute mir die Filme ja nur zu Hause an.
»Wenn ihr hier noch länger herumsteht, ohne was zu kaufen, will ich eure Stellplatzgenehmigung sehen!«
Schon wieder Grover. Er war hinter uns aufgetaucht und konnte sich einen Spruch offenbar nicht verkneifen. Ich beeilte mich, am Kiosk eine Kornstange zu verlangen. Vio schüttelte den Kopf, als ich sie fragend musterte. »Hab keinen Hunger«, behauptete sie.
Aber als ich ihr mein Gebäck hinhielt, verschwand mit einem Biss fast ein Viertel der Kornstange zwischen Vios Kiefern.
»Wie isses heute? Kommst du nach dem Essen zu mir – Hausaufgaben machen und danach draußen chillen?«, fragte ich kauend.
»Ja, iss du mal schön, ich schau dann später vorbei«, meinte Vio. Obwohl ihre Stimme cool klang, sah sie mich nicht an, sondern starrte auf den Boden.
Ich schluckte. Arbeitete ihre Mutter also mal wieder bis in die Puppen in der Praxis. Vio tat zwar immer, als fände sie es super, den ganzen Tag sturmfreie Bude zu haben. Nur ich wusste, dass sie mich manchmal um meine Halbtagsjob-Mutter beneidete, auch wenn sie mich mit der »elterlichen Kontrollinstanz« zu Hause aufzog. Ich fand es aber meist ganz schön, mit meiner Mutter nach der Schule quatschen zu können – und ein leckeres Essen auf dem Teller zu haben. Wenn Vio die Haustür aufschloss, wartete nichts als Stille – und die Mikrowelle.
»He, bevor du dir wieder ’ne Dose Ravioli aufmachst … meine Mutter macht heute Schinkennudeln mit Salat. Komm doch mit, bleibt sowieso immer viel zu viel übrig«, meinte ich betont lässig.
Vios Mundwinkel hoben sich bis fast zu den Ohren: »Aber nur, wenn’s auch Ketchup gibt.«
»Guck mal, wie findest du die?«, hörte ich Vio fragen.
Ich öffnete träge die Augen und blinzelte ins späte Septemberlicht, das in schrägen Strahlen durch feine Schleierwolken fiel. Mein Bauch war voller Schinkennudeln, die Hausaufgaben erledigt, was wollte man mehr? Doch Vio wedelte mit einer Zeitschrift vor meiner Nase herum. Ich sah, dass sie mit Kuli einen Kreis um eine schwarze Hose aus weichem Leder gemalt hatte.
»Träum weiter!«, murmelte ich.
Immer kaufte Vio diese Hefte von ihrem spärlichen Taschengeld. Sie war verrückt nach Mode, obwohl das Zeug auf den bunten Seiten für uns beide so unerschwinglich wie ein Luxustrip auf die Malediven war.
»Wirst schon sehen – sobald ich einen Millionär gefunden hab, laufe ich nur noch in solchen Klamotten rum«, sagte Vio.
»Und wie willst du den finden – etwa im Internet in einem deiner beknackten Chat-Foren?«, zog ich sie auf.
Vio hatte ein, zwei Mal versucht, mich für verschiedene Onlineplattformen zu begeistern, aber mich langweilten Facebook und Co. Ich fand, da trieben sich nur Dampfplauderer und aufgeblasene Selbstdarsteller herum. Ich hatte keine Lust, Einträge wie »XY war zwei Stunden joggen und isst heute Abend noch ein rohes Steak« zu lesen. Geschweige denn, darauf zu antworten.
Vio aber machte sich einen Spaß draus, solche Blender herauszufischen und dann vor allen anderen Forumteilnehmern mit Vio-typischen Sprüchen hochzunehmen. Echte Millionäre trieben sich da sicher nicht herum. Und wenn, würde sie bestimmt Vios spitze Zunge in die Flucht schlagen. Trotzdem konnte ich es nicht lassen, die seltene Gelegenheit zu nutzen, Vio aufzuziehen. »Iiih, du würdest also einen reichen alten Sack heiraten, nur wegen der Klamotten?«, fragte ich.
»Bist du bescheuert, wer redet vom Heiraten? Ich lass mich adoptieren«, sagte Vio und lachte.
Ich gähnte und schloss wieder die Augen. Die Herbstsonne wärmte noch richtig doll hier oben auf dem Hochsitz – »unserem« Hochsitz. Verborgen hinter ein paar struppigen Schlehenbüschen und zerzausten Weiden stand der bretterverschlagene Jägersitz, der sich nach vorn zu einer sonnenbeschienenen Lichtung mit weitem Blick über das Murnauer Moor öffnete.
Niemand wusste von Vios und meinem Geheimplatz. Meine Mutter sah es nicht gern, wenn ich im Wald oder in den Moorwiesen »herumstrolchte«, wie sie sagte. Vor allem, seit vor drei Monaten im Nachbarort ein vierzehnjähriges Mädchen auf dem Heimweg von der Klavierstunde vom Rad gezerrt worden war, als sie einen von Büschen gesäumten Hohlweg entlangfuhr. Der Täter war maskiert und konnte bislang nicht gefasst werden. Die Polizei versuchte zwar, die Sensationsreporter abzuwimmeln, doch die Presse berichtete natürlich über das Verbrechen. Zwar wurde die Identität des Opfers geheim gehalten, trotzdem sickerte durch: Das Mädchen wurde vergewaltigt. Nur war ich ja nicht alleine unterwegs, sondern mit Vio. Und mit ihr an meiner Seite würde mir nichts passieren. Zu zweit waren wir unangreifbar. Und kein Mensch sah uns, wenn wir Stunden hier oben verbrachten. Meistens quatschten wir über die Schule oder über Jungs, manchmal wollte ich aber einfach nur ein bisschen chillen. So wie jetzt. Zwei Minuten war Ruhe, dann raschelte es wieder aufdringlich vor meinem Gesicht.
»Vio …«, begann ich drohend und öffnete erneut die Augen. Eine