Sauerwasser und Jungfernpalme
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Über dieses E-Book
Am landgräflichen Hof stirbt eine Dame kurz nach ihrer Ankunft an einer Vergiftung durch Sadebaumtinktur. Ihr Tod soll als fehlgeschlagener Abtreibungsversuch vertuscht werden. Simon Prätorius, der Arzt, der keine schweren Krankheiten mehr behandeln will und nur widerwillig den Fall übernommen hat, glaubt nicht an diese Erklärung und will der Toten Gerechtigkeit widerfahren lassen. Als der Hauptmann der landgräflichen Leibwache und ein weiterer Kurgast, ein reicher Tuchhändler, mit den gleichen Symptomen erkranken, wird klar, dass es sich um Giftanschläge handelt. Der Landgraf beauftragt den Arzt mit der diskreten Suche nach dem Täter. Bald fällt der Verdacht auf die Dame Athenais. Aber war sie es wirklich oder liegen die Wurzeln des Verbrechens tiefer in der Vergangenheit? Besteht ein Zusammenhang mit dem Überfall auf Jakob? Gemeinsam mit Rosalie versucht Prätorius den Fall aufzuklären, und auch Jakob will wissen, was ihm passiert ist.
Kristina Ruprecht
Kristina Ruprecht studierte Germanistik und Politikwissenschaft in Stuttgart und arbeitete als PR-Texterin und freie Journalistin in den Bereichen Wirtschaft und IT. Seit ihrem Umzug in die Nähe von Bad Ems widmet sie sich verstärkt dem Schreiben von historischen Romanen. Fräulein Söderbaum und die unzuverlässigen Geister ist der abschließende Teil einer Trilogie um eine Gouvernante im Bad Ems des 19. Jahrhunderts. Bereits erschienen: Fräulein Söderbaum und der allzu liebenswürdige Bräutigam Fräulein Söderbaum und die vertauschte Russin Weitere historische Romane: Sauerwasser und Jungfernpalme Franziska, der Schatz des Doktors und die preußische Marine
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Buchvorschau
Sauerwasser und Jungfernpalme - Kristina Ruprecht
Das Buch:
Langenschwalbach im Mai 1650. Zu den ersten Besuchern des aufstrebenden Badeortes gehören der Landgraf samt Familie, Hofstaat und Leibgarde ebenso wie die berühmt-berüchtigte Kurtisane Athenais. Die Ankunft der Gäste sollte eigentlich ein Grund zur Freude für die Gastwirtin Rosalie Mette sein, die nach einer Jugend in den Feldlagern des Dreißigjährigen Krieges endlich ein eigenes Wirtshaus besitzt. Aber die Sorge um ihren Sohn Jakob, der brutal überfallen wird, ruft alte Erinnerungen wach. Am landgräflichen Hof stirbt eine Dame kurz nach ihrer Ankunft an einer Vergiftung durch Sadebaumtinktur. Ihr Tod soll als fehlgeschlagener Abtreibungsversuch vertuscht werden. Simon Prätorius, der Arzt, der keine schweren Krankheiten mehr behandeln will und nur widerwillig den Fall übernommen hat, glaubt nicht an diese Erklärung und will der Toten Gerechtigkeit widerfahren lassen. Bald fällt der Verdacht auf die Dame Athenais. Aber war sie es wirklich oder liegen die Wurzeln des Verbrechens tiefer in der Vergangenheit? Besteht ein Zusammenhang mit dem Überfall auf Jakob? Gemeinsam mit Rosalie versucht Prätorius den Fall aufzuklären, und auch Jakob will wissen, was ihm passiert ist.
Der vorliegende Roman ist auch als e-Book erhältlich.
Die Autorin:
Kristina Ruprecht studierte Germanistik und Politikwissenschaft in Stuttgart und arbeitete als PR-Texterin und freie Journalistin in den Bereichen Wirtschaft und IT.
2004 siedelte sie nach Bad Schwalbach um und fand dort eine so interessante Ortsgeschichte vor, dass sie praktisch dazu gezwungen war, einen Roman zu schreiben.
„Sauerwasser und Jungfernpalme" ist ihr erster historischer Roman. Ihre Kurzgeschichten sind inzwischen in diversen Anthologien zu finden. Weitere historische Romane, die auf Rügen und in Bad Ems spielen, sind in Vorbereitung.
Inhaltsverzeichnis
Langenschwalbach, Mai 1650
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Dramatis Personae
Im Gasthaus ‚Vier Elstern‘:
Rosalie Mette – Wirtin
Jakob Mette – ihr Sohn
Anna – kochendes Küchenmädchen
Stefan – Stallknecht
Betti – Hausmagd
Franz – Bursche für alles, Annas Bruder
Die alte Grete – Nachbarin
Oswald Lieffenbruch – Frankfurter Tuchhändler
Ottilie Lieffenbruch – seine Frau
Balthasar – Koch der Lieffenbruchs
Peter – Küchenjunge der Lieffenbruchs
Baron von Gnekow – arm, aber verliebt
Friedrich – sein Knappe
Im Gasthaus ‚Zur Kette‘:
Isidorus von Eenvelde – reicher Holländer
Simon Prätorius – sein Leibarzt
Sebastian/Bast – Prätorius’ Diener
Im Gasthaus ‚Zum Bären‘:
Marianna Wippel – die alte Wirtin
Georg Wippel – ihr Sohn, Wirt
Die Dame Athenais – erfolgreiche Kurtisane
Carolus/Karl – ihr falscher Mohrendiener
Clorinde – ihre Zofe
Heinrich Cuculus - Kurgast, Anatom, Forscher
Im Gasthaus ‚Zur Stadt Frankfurt‘:
Edvin Aelluen, Baron von Sønderham
– schwedischer Kurgast
Im Schloss:
Ernst von Hessen-Rheinfels – der Landgraf
Josephus Hirundulus – sein Leibarzt
Isabella von Hattenberg – Hofdame
Diana von Oberheim – Hofdame
Franziska von Beulwitz-Drusingen – Hofdame
Hubertus von Greiffenstein – Oberst der Leibwache
Bartholomäus von Niederschnitz – sein Stellvertreter
Im Wald:
Die lahme Liese – geheimnisvolle Kräuterfrau
Im Krieg / Rückblenden:
Bartel – Soldat der Katholischen Liga
Josefa – seine Frau
Flori – ihr Sohn
Claire von Felseney – glücklose Braut
Hannes Mette
– Rosalies Mann, Marketender und Pferdehändler
Wilhelm von Heimbach – dankbarer Offizier
Langenschwalbach, Mai 1650
Kapitel 1
Die Dame Athenais ist da!, verkündete der Page mit dem schwarzen Gesicht. Er setzte einen Fuß nach vorne, klappte in der Hüfte zusammen und malte mit der rechten Hand einen großzügigen Schnörkel in die Luft. „Meine Herrin möchte, dass der Wirt dieses Gasthauses davon unverzüglich in Kenntnis gesetzt wird.
Rosalie Mette musste grinsen. Jedes Mal wenn der falsche Mohr mit den Pluderhosen und den Schuhen aus zerschlissenem roten Samtstoff eine seiner Verbeugungen vollführte, leuchtete ein erstaunlich hellhäutiger Nacken zwischen den dunklen Locken hervor.
„Meine Herrin wohnt im Gasthof ‚Zum Bären‘ in der Unterstadt und empfängt dort den Besuch von edlen Kavalieren."
Rosalie kramte aus dem Beutel an ihrem Gürtel eine Kupfermünze und warf sie dem Jungen zu. „Meine Empfehlung an Athenais, ich werde sie nicht vergessen."
Der Junge machte einige Schritte rückwärts, so, als sei Rosalie eine hohe Dame, der man nicht den Rücken zuwenden dürfe, verbeugte sich noch einmal und rannte davon.
Rosalie konnte es nicht lassen, ihm nachzurufen: „Vergiss in Zukunft nicht, deinen Hals auch hinten mit Ruß einzureiben!"
Mit einem breiten Grinsen winkte ihr der Page noch einmal zu, dann verschwand er wie der Blitz um die Hausecke. Er musste die Botschaft seiner Herrin auch noch in den anderen Gast- und Logierhäusern der Straße verbreiten. Rosalie konnte sich vorstellen, dass er für diese Nachricht oft genug Beschimpfungen oder Ohrfeigen erntete.
Sie schloss die Hintertür und kehrte zu dem kalten Rinderbraten zurück, den sie in Scheiben geschnitten hatte, als der Besucher auftauchte. Anna, die Küchenmagd, die auf der anderen Seite des Küchentisches schwitzend einen Brotteig knetete, schaute Rosalie fragend an. „Es war ein Mohr mit einer frohen Botschaft für unsere männlichen Gäste."
Anna runzelte zuerst die Stirn, dann hatte sie die Anspielung verstanden. „Oha! Sie nickte anerkennend. „Wenn sich die Dame einen Mohren leisten kann, dann scheinen die Geschäfte nicht schlecht zu laufen. Schade, dass ich nicht die Tür geöffnet habe
, fügte sie hinzu. „Ich habe noch nie einen gesehen."
„Da hast du nichts verpasst, sagte Rosalie. „Es war kein richtiger. Stell dir einfach einen schwarz angemalten Lausebengel vor.
Sie besaß bei diesem Thema eine gewisse Autorität, immerhin hatte sie einmal aus der Ferne einen Blick auf einen echten Schwarzen werfen können. Das war vor vielen Jahren gewesen, in einem der zahllosen Feldlager, die in ihrer Erinnerung in einem Nebel aus Staub, Weindunst und Pferdegeruch verschwammen. Dieser Mohr war der Leibdiener eines Herzogs gewesen. Rosalie erinnerte sich noch genau an das Leuchten seiner Haut, ein schimmerndes Braun, wie bei einer frisch aufgebrochenen Kastanie. Meilenweit entfernt von dem stumpfen Schwarz der Kohlenfarbe, die der Junge der Athenais im Gesicht gehabt hatte.
Im Hintergrund der großen Küche hatte der Koch von Rosalies Logiergästen hektisch in einer zischenden Pfanne gerührt. Jetzt löschte er das Hühnchenragout mit einem kräftigen Schluck Wein ab und meldete sich zu Wort: „In Frankfurt laufen sie zu Messezeiten scharenweise herum. Jeder hat dort einen Mohren.
Nicht nur Leute von Adel, auch reiche Bürger und Kaufleute. Das ist da nichts Besonderes."
Rosalie und ihre Küchenmagd tauschten einen Blick. Sie kannten den Koch kaum, er arbeitete erst seit drei Tagen hier. Und fast ebenso lange schon versuchte er, auf Rosalie Eindruck zu machen. Begonnen hatte er damit in dem Moment, in dem er in Erfahrung gebracht hatte, dass sie sowohl Witwe als auch die alleinige Besitzerin der ‚Vier Elstern‘ war.
„Dann kannst du ja von Glück sagen, dass dich die Lieffenbruchs noch nicht gegen einen Mohren ausgetauscht haben", meinte Anna.
Ohne überhaupt in die Richtung der vorlauten Küchenmagd zu schauen, schüttelte der Koch den Kopf. „Die Mohren kochen nicht so gut wie ich. Aber der Kammerdiener des Herrn sollte sich vorsehen!"
Anna bekam einen Hustenanfall und Rosalie begann, im Regal hektisch nach einem Wetzstahl für ihr Messer zu suchen. Der Koch schien nicht zu bemerken, dass die beiden kurz davorstanden, loszukichern. Er rührte weiter im Ragout und fügte verschwenderisch Pfeffer hinzu. Ottilie Lieffenbruch, seine Herrin, hatte eine Schwäche für seltene und teure Gewürze.
Obwohl die Saison jetzt im Frühsommer erst begann, wohnten in den ‚Vier Elstern‘ bereits zahlungskräftige Gäste: der Frankfurter Tuchhändler Lieffenbruch samt Gattin, Kammerdiener und Zofe. Dazu kamen noch sein Koch und ein Küchenjunge. Das Ehepaar wollte in Langenschwalbach die Sommermonate verbringen und mit dem berühmten Heilwasser seiner Kinderlosigkeit abhelfen.
Die schönen Räume im ersten Stockwerk, von deren Fenstern aus man das Treiben auf der Straße und am Brunnen beobachten konnte, ebenso wie ein großer Teil der Dienstbotenquartiere unter dem Dach waren damit schon belegt.
Für die Wirtin bedeutete das natürlich Grund zur Freude, aber gleichzeitig hatte sie wie jedes Jahr Schwierigkeiten, sich daran zu gewöhnen, dass Herd und Bratspieß, Tische und Bänke in ihrer Küche jetzt auch dem Personal der Gäste zur Verfügung standen. Der Koch der Lieffenbruchs, Balthasar, und sein Gehilfe Peter hatten das Recht, den Raum zu nutzen, als sei es ihr eigener – und jede Unterstützung zu fordern, die sie benötigten.
Dieser Gedankengang brachte die Wirtin zu einem näherliegenden Problem zurück. „Wo ist eigentlich dein Küchenjunge?", fragte sie den Koch.
Balthasar kippte schwungvoll einen Löffel Fleischbrühe in den Topf, dann blickte er sich in dem niedrigen Raum um. „Der verschwindet bei jeder Gelegenheit."
„Du solltest ihn besser erziehen." Rosalie sah schon voraus, dass sie oder Anna wieder einmal die Arbeiten übernehmen mussten, die eigentlich Aufgabe des Küchenjungen waren.
Der Koch zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihm oft genug gesagt, dass ihn eine Tracht Prügel erwartet, wenn er nicht bei der Hand ist."
„Ich hoffe, er erinnert sich beizeiten daran."
Anna sah von ihrem Teig auf, blies sich ein paar Haarsträhnen aus dem geröteten Gesicht und deutete mit dem Kinn auf den Braten. „Wir haben noch eingemachte Kirschen vom letzten Jahr, die sollten wir endlich aufbrauchen. Zu dem kalten Fleisch könnte ein Kirschkompott passen."
Rosalie nickte. „Gute Idee, das kannst du machen, solange der Brotteig gärt." Zwar hatte sie das Mädchen als Küchenmagd eingestellt, aber im Grunde konnte sie alle Aufgaben eines Kochs übernehmen. Als Kind hatte Anna ihrem Vater geholfen, der als Küchenmeister in einem der guten Gasthäuser in der Unterstadt arbeitete. Dabei hatte sie sich einiges abgeschaut. Über ihre eigenen Kochkünste machte sich Rosalie wenige Illusionen. Die hatten zwar jahrelang für eine Marketenderschenke ausgereicht, in der die Wirtin zähes Pferdegulasch und steinharten Käse zum Wein unbekannter Herkunft auf Strohbündeln servierte. Aber die Gäste der ‚Vier Elstern‘ waren anspruchsvoller.
Rosalie schnitt den Braten vollends in Scheiben. Dann teilte sie mit dem Messer den zerfaserten Anschnitt in zwei Hälften, kommandierte „Mund auf" und steckte eines der Stücke Anna zu. Das andere aß sie selbst. Ob der Koch der Lieffenbruchs etwas dazu zu sagen hatte, interessierte sie wenig.
Während die Küchenmagd ihren Braten kaute, spannte sich die Haut über einer längst verblassten Narbe auf ihrer rechten Wange. Rosalie hatte in den letzten Jahren weitaus Schlimmeres gesehen, aber Anna litt unter diesem Makel. Das wusste die Wirtin inzwischen – auch wenn die Küchenmagd nie darüber redete. Ihre Unsicherheit versteckte sie hinter ihrem frechen Benehmen. Dabei war Anna durchaus ansehnlich, fand Rosalie. Mit dem schweren honigfarbenen Zopf, der ihr bis zur Hüfte baumelte, und ihrer wohlgeformten Figur ließ sie das einfache Kleid aus grobem ungefärbtem Tuch aussehen, als käme es aus der Hand eines richtigen Schneiders. Und nicht aus jener der alten Grete von nebenan, der die Mieder stets zu eng oder zu weit gerieten und die die Röcke grundsätzlich immer so einsäumte, dass sie bereits nach wenigen Wochen ausfransten.
„Ich hätte ihn mit noch mehr Honig bestreichen sollen – dann wäre der Braten knuspriger geworden. Der Koch war unbemerkt an den Tisch getreten. Er stand sehr dicht neben Rosalie. „Ich glaube, euch Süßmäulchen würde es dann noch besser schmecken.
Wenn er lächelte, dann sah man seine hervorstehenden Schneidezähne. Rosalie erinnerte er immer an ein Kaninchen. Allerdings an ein Kaninchen, das viel zu mager war, als dass sie es jemals in einen ihrer Kochtöpfe gelassen hätte.
„Ich finde den Braten gut so, wie er ist." Anna packte den Brotteig in den runden Korb, in dem er aufgehen sollte, und rieb sich die Teigreste von den Fingern.
Rosalie musterte die gebrauchten Töpfe und Pfannen, die sich an der Feuerstelle drängten. Um die eingebrannten Soßen- und Bratenreste sollte sich eigentlich der Küchenjunge kümmern. Aber der war weit und breit nicht zu sehen.
Das Bürschchen würde hart arbeiten müssen, wenn es endlich auftauchte. Und wenn er das, was er tun musste, mit einem schmerzenden Hinterteil tat, dann geschah es ihm nur recht, dachte die Wirtin. Während Anna den Krug mit den eingemachten Kirschen aus der Speisekammer holte, stapelte Rosalie schimpfend die schmutzigen Töpfe neben den Wassertrog, der zum Abwaschen diente.
Nachdem das Scheppern des Geschirrs verstummt war, konnte man in der mittäglichen Stille das schnelle Klappern von Hufen hören. Ohne seinen hastigen Galopp zu verlangsamen, bog ein Pferd in den Durchgang ein, der zu den Ställen des Wirtshauses führte.
War da ein neuer Gast angekommen? Warum hatte der es so eilig? Rosalie wischte die Hände an ihrer Schürze ab und ging zu dem breiten glaslosen Fenster hinüber, von dem aus man den Hof der ‚Vier Elstern‘ überblicken konnte. Im Winter wurde die Maueröffnung mit einem Holzladen verschlossen. Jetzt im Sommer verhinderte nur ein geschmiedetes Gitter, dass unerwünschte tierische oder menschliche Gäste in die Küche eindrangen. Von hier aus sah man den gegenüberliegenden Pferdestall, den Misthaufen und die Remise für die Wagen der Gäste. Die Scheune mit Schweine- und Hühnerstall, die rechtwinklig an das Haus angebaut war, sowie eine niedrige Steinmauer grenzten den Hof gegen die Nachbargrundstücke ab.
Die Wirtin warf nur einen kurzen Blick nach draußen, dann eilte sie mit klappernden Holzpantinen zur Hintertür hinaus. Vor der Stalltür stand mit hängendem Kopf Jakobs falbfarbenes Maultier. Rosalie sah, dass das Lederzeug zerrissen war. Als sie näher trat, bemerkte sie auch die großen Schweißflecken auf Hals und Flanken des Vierbeiners. Ihr Magen schien sich plötzlich in einen Stein zu verwandeln. Dieses Muli sollte doch mit ihrem Sohn auf dem Weg nach Mainz sein. Heute am frühen Morgen hatte Jakob den Vierbeiner am Brunnen mit zwei Fässern Sauerwasser beladen. Wie üblich wollte er das heilkräftige Wasser bei einem Händler abliefern, einige Einkäufe in der Stadt erledigen und spätestens am übernächsten Tag wieder zurück sein.
Rosalie erinnerte sich, dass sie darauf bestanden hatte, dass dies die letzte Tour dieses Frühjahrs werden sollte, denn mit der beginnenden Kursaison wurde Jakobs Hilfe in Gasthaus und Stall dringend gebraucht. Jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als die Zeit noch einmal zurückdrehen zu können und ihm die Reise rundweg zu verbieten.
Auf der struppigen Flanke des Maultiers entdeckte sie einen Fleck getrockneten Blutes. Es stammte nicht von einer Verletzung des Vierbeiners, wie sie schnell feststellte. Rosalies Knie wollten nachgeben. Sie lehnte sich kurz gegen den warmen Körper des großen Tieres. War das die Rache des Schicksals, die sie insgeheim fürchtete? Die Rache dafür, dass der Wohlstand, in dem sie lebte, mit Blut erkauft war?
Das Maultier stupste die Frau mit der Schnauze an. Es wusste, dass es im Stall Heu und Hafer gab. Rosalie griff mechanisch nach den Zügeln und führte das Tier hinein. Sie hätte den alten Knecht Stefan rufen können, damit der das Muli versorgte, aber im Moment musste sie allein sein. Während sie die Handgriffe vollführte, die ihr schon ein halbes Leben lang vertraut waren, dem Tier die Reste von Packsattel und Zaumzeug abnahm, Wasser und Heu holte, waren ihre Gedanken immer noch bei Jakob.
Als das Maultier zufrieden sein Heu kaute, trat Rosalie durch das Hoftor hinaus auf die Straße. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass Jakob seinem Maultier folgte. Das war doch die wahrscheinlichste Möglichkeit, redete sie sich immer wieder ein: Das Muli war vor etwas erschrocken, hatte sich losgerissen und unterwegs die Fässer verloren. Jakob würde bald nach Hause kommen, erschöpft und wütend, aber wohlauf.
Das Städtchen lag wie ausgestorben in der Mittagssonne. Nur ein einsamer Lastenträger mit breitrandigem Hut und Kiepe war unterwegs. Selbst die Enten, Gänse und Schweine, die sonst die Ufer des Baches neben der Straße bevölkerten, hatten sich in den Schatten der Büsche zurückgezogen. Rosalie wusste, dass der verschlafene Eindruck täuschte. In wenigstens zwei Stunden würde auf den Straßen des Ortes und am Brunnen wieder der übliche Trubel herrschen.
Vor allem, nachdem gestern auch der Landesherr zu seiner alljährlichen Kur angekommen war. Mit seiner Ehefrau und den beiden kleinen Söhnen wollte Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels die nächsten Monate hier verbringen. Neben dem größten Teil seines Hofstaates aus Beratern, Sekretären und Edeldamen hatte er auch seine Leibgarden mitgebracht. Von den Bürgern Langenschwalbachs wurde diese Eskorte mit gemischten Gefühlen betrachtet. Über kurz oder lang würden die Gardisten in den Gasthäusern des Ortes ihren Sold in Wein, Frauen und Glücksspiel umsetzen. Wie sie sich dabei benahmen, das blieb abzuwarten. Rosalie war das gleichgültig, sie hatte viele Jahre damit verbracht, Soldaten Wein einzuschenken. Sie schüttelte den Kopf, um diese Erinnerungen zu verscheuchen.
Müde setzte sich die Elsterwirtin auf die Stufen, die zum Haupteingang ihres Gasthauses emporführten. Wenn sie daran dachte, was Jakob widerfahren sein könnte, dann fühlte sie sich ausgelaugt und alt. Es hatte ein halbes Leben lang gedauert, dorthin zu kommen, wo sie heute war. Und eine ihrer Triebfedern war der Gedanke an Jakobs Zukunft gewesen. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Kapitel 2
Der Mann lag ausgestreckt auf dem Rücken, mitten auf der Landstraße. Die Söldner, die das Frachtgut des Grafen von Eenvelde gegen Wegelagerer schützen sollten, waren sofort ausgeschwärmt, als sie ihn entdeckt hatten, und durchsuchten das Gebüsch in der näheren Umgebung.
„Genauso lag er da, als wir ihn fanden", informierte einer der beiden Männer, die den Bewusstlosen bewachten, Simon Prätorius. Der andere griff nach den Zügeln des Pferdes und hielt es fest, während der Arzt abstieg und ein Stöhnen unterdrückte. Er war es einfach nicht mehr gewohnt, lange Strecken zu reiten. Als er neben dem Liegenden schwerfällig in die Hocke ging und nach dem Puls fühlte, sah er, dass es sich um einen jungen Burschen handelte, der lediglich ein grobes Hemd und eine vielfach geflickte Hose trug. Wahrscheinlich ein Handwerker- oder Bauernsohn, dachte Prätorius. Unter der rechten Schulter sickerte Blut hervor und vermischte sich mit dem Straßenstaub.
„Lebt er noch?", fragte der erste Söldner.
Prätorius nickte und ließ sich dann von ihm helfen, den Verletzten so weit auf die Seite zu drehen, dass er die Schulter inspizieren konnte. Offensichtlich hatte der Bursche einen Messer- oder Degenstich abbekommen.
„Wegelagerer?", der Haushofmeister des Grafen von Eenvelde war hinter Prätorius getreten und schaute fragend auf ihn hinunter.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendwelche Reichtümer dabeihatte." Der Arzt tastete mit routinierten Bewegungen den Schädel des Verletzten ab. Er hatte nicht so viel Blut verloren, dass die Schulterwunde die alleinige Ursache für seine Bewusstlosigkeit sein konnte.
„Wenn er etwas zum Essen dabeihatte, dann reicht das hierzulande schon als Grund für einen Überfall. Der Haushofmeister zwirbelte nervös seinen Schnurrbart. „Wir sollten sehen, dass wir weiterkommen.
Prätorius hatte eine kräftige Beule am Hinterkopf des Burschen entdeckt. Als er leicht darauf drückte, stöhnte der, schlug die Augen auf und murmelte etwas Unverständliches.
Der Arzt richtete sich auf. „Hole meinen Diener", befahl er dem Söldner.
„Sie wollen ihn verarzten?, der Haushofmeister zog die Brauen hoch. „Wir wissen doch gar nicht, wer er ist.
„Wir können ihn nicht hierlassen und in Langenschwalbach wird sich schon herausstellen, wohin er gehört."
„Dann verbinden Sie ihn meinetwegen und packen ihn auf einen der Wagen. Hauptsache, wir fahren bald weiter."
Prätorius nickte knapp. Er verstand, unter welchem Druck der Haushofmeister stand. Auf den drei Frachtwagen reisten der Hausrat und der Proviant des Grafen von Eenvelde, eines reichen holländischen Adligen, der mit seiner Familie die gesamte Sommersaison im Kurbad verbringen wollte. Die Einrichtungsgegenstände für die bestellten Zimmer sowie das Personal hatte er samt Haushofmeister und neuem Leibarzt vorausgeschickt. Auf diese Weise war sichergestellt, dass er bei seinem Eintreffen sein Quartier bereits so vorfand, dass es ihm an nichts mangelte.
Die schwerfälligen Wagen mit ihrer kostbaren Fracht wären eine erstrebenswerte Beute für jede Räuberbande. Und davon gab es zurzeit wahrlich genug. Zwar war der Krieg nach drei Jahrzehnten endgültig zu Ende, aber die Soldaten der riesigen Heere, die plötzlich ohne Aufgabe und Einkünfte dastanden, verschwanden nicht von heute auf morgen von den Straßen. Wegelagerer würden noch auf Jahre hinaus die Gegend unsicher machen und das einzige Gewerbe treiben, das sie beherrschten: Rauben und Töten. Auch wenn der Besitz des Grafen von Eenvelde zu seinem Schutz von einer kleinen Söldnertruppe begleitet wurde – wie ein Kampf mit einer Bande von halb verhungerten, zu allem entschlossenen früheren Soldaten ausgehen würde, das wollte niemand wirklich herausfinden.
Nachdem der verletzte Bursche verarztet und auf einem der Wagen auf einen Teppichstapel gelegt worden war, kletterte Simon Prätorius wieder auf das Pferd. Sein Diener Sebastian folgte ihm mit dem Packpferd, als er voranritt und die langsamen Frachtwagen überholte. Zwischen den Bäumen konnte man bereits den Kirchturm von Langenschwalbach sehen. Das Risiko, hier noch überfallen zu werden, war gering. Der Arzt trieb sein Pferd an. Seit Mainz waren sie im Schlenderschritt hinter den langsamen Wagen hergeritten, aber nun reichte es ihm. Er wollte endlich ankommen.
Die Straße führte bergab. Auf der linken Seite war eine Art Parkanlage zu sehen, die von einem kleinen Bach durchflossen wurde. Rechts lagen Gärten, dann begann eine Häuserzeile. Bei den meisten dieser neu und wohlgepflegt aussehenden Fachwerkbauten handelte es sich, den Schildern nach zu urteilen, um Wirts- oder Logierhäuser. Es war kaum ein Mensch zu sehen. Ein ruhiges, verschlafenes Örtchen schien dieses Langenschwalbach zu sein. Genau das, was Prätorius brauchte, um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen.
„He, Sie da!" Eine Frau war von der Eingangstreppe eines der Wirtshäuser aufgestanden und trat nun in die Mitte der Straße.
Dem Arzt fielen sofort alle Anekdoten ein, witzige und weniger lustige, die er über Damenbekanntschaften in Kurorten gehört hatte. Sie endeten üblicherweise damit, dass dem männlichen Opfer das Fell über die Ohren gezogen wurde. Er hatte keine Lust, bereits bei der Anreise zur Hauptperson einer solchen Geschichte zu werden. Also tat er so, als ob er nichts gehört hätte und ritt einfach weiter.
Leider hatte er seinem Diener nicht die entsprechenden Verhaltensmaßregeln mitgeteilt. Er hörte, wie das Hufgeklapper hinter ihm erstarb und sich stattdessen eine Diskussion zwischen Sebastian und dem Frauenzimmer entspann. Prätorius wandte sich um. Sein Diener stand bereits neben seinem Pferd und das Weib redete aufgeregt auf ihn ein. Um die Moral der hiesigen Frauenzimmer war es anscheinend noch schlimmer bestellt, als er gehört hatte.
„Was soll das denn bedeuten?, rief er ungehalten, „Bast, du bist noch im Dienst. Deine Geschäfte mit der hiesigen Damenwelt können warten, bis ich dich nicht mehr brauche.
Die Frau fuhr herum.
Jetzt sah Prätorius, dass er sich getäuscht hatte. Abgesehen davon, dass die Frau für eine Hure viel zu unfreundlich schaute, war ihr Gesicht nicht geschminkt und auch ihre Kleidung wies nicht den Flitterkram auf, mit dem sich die willfährigen Damen üblicherweise behängten. Die verschmierte Schürze und die sonnengebräunte Haut ließen vielmehr vermuten, dass es sich bei der Frau um das ehrbare Eheweib eines Handwerkers handelte.
„Ich habe Ihren Diener lediglich darauf hingewiesen, dass sein Pferd lahmt." Sie deutete auf das beanstandete Tier. Die Stute hatte das Hinterbein angezogen und stellte den Huf nur mit der Spitze auf den Boden.
„Und das womöglich schon den ganzen Tag." Die Frau klang so erbost, als sei es die Schuld des Herrn, wenn das Pferd seines Dieners lahm ging.
Vielleicht handelte es sich bei ihr um die Gattin des örtlichen Hufschmiedes, überlegte Prätorius, damit wäre ihr Interesse an dem Pferd erklärt. Möglicherweise lauerte sie hier auf Kundschaft, die sie gleich an ihren Mann verweisen würde. Wenn er zu ihm ginge, dann würde der ein Steinchen aus dem Huf des Pferdes popeln zu einem Preis, für den Prätorius anderswo goldene Hufeisen bekäme. Über die Geschäftstüchtigkeit der Einheimischen in Kurorten hatte er gleichfalls schon genügend Schauergeschichten gehört.
„Wir werden uns darum kümmern", knurrte er. Dann wendete er wieder sein Tier und ritt davon, ohne das Frauenzimmer noch eines Blickes zu würdigen.
Inzwischen hatte er das Schild des Gasthauses ‚Zur Kette‘ entdeckt. In diesem vornehmen und großen Logierhaus hatte der Graf von Eenvelde sämtliche Räume für sich und sein Gefolge vorbestellen lassen. Das Gebäude war nur durch die bergab zum Unterflecken führende Straße und den Bach vom landgräflichen Sommersitz getrennt.
Bevor Prätorius in den Hof einbog, warf er noch einen Blick über die Schulter. Sebastian hatte nicht mehr gewagt, aufs Pferd zu steigen. Unter dem strengen Blick der unbekannten Frau folgte er seinem Herrn zu Fuß und zog die beiden Tiere am Zügel hinter sich her.
Prätorius übergab sein Pferd an einen wartenden Stallknecht und ließ sich vom Wirt die Zimmer zeigen. Für ihn waren zwei winzige Kammern vorgesehen, deren Fenster zum Wirtschaftshof gingen. Hier würde er sich schnell eingerichtet haben. Er schaute sich nach Sebastian um, der gerade mit den Satteltaschen die Treppe heraufgepoltert kam. Das vordere Zimmer war bereits mit zwei Stühlen und einem Schreibtisch ausgestattet. Auf den Tisch stellte der Arzt die beiden Kästen, die seine Reiseapotheke und das Chirurgenbesteck enthielten. Das Bündel mit den Utensilien für den Aderlass legte er daneben. Die Blutegel, die er in einem kleinen Gefäß mitgeführt hatte, waren krepiert. Aber er hatte erfahren, dass es hier eine Apotheke gab, also konnte er neue bekommen – falls er sie brauchte.
Der andere Raum war ausschließlich zum Schlafen gedacht. Nachdem sich Sebastian in die ihm zugewiesene Dachkammer verzogen hatte, platzierte Prätorius das Miniaturbild von Frederika auf dem Nachttisch neben dem schmalen Bett.
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