Keine Zeit verlieren: Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen
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Buchvorschau
Keine Zeit verlieren - Ursula K. Le Guin
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
No Time to Spare: Thinking about What Matters
im Oktober 2017 bei Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company, New York, USA.
© 2017 by Ursula K. Le Guin
Copyright für die deutsche Erstausgabe
© 2018 by Golkonda Verlags GmbH & Co. KG,
München • Berlin
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.
Lektorat: Hannes Riffel
Korrektorat: Catherine Beck, Robert Schekulin
Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.wordpress.com]
Illustration (S. 191): Ursula K. Le Guin
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
ISBN 978-3-946503-50-7 (Buch)
ISBN 978-3-946503-51-4 (E-Book)
www.golkonda-verlag.de
INHALT
Impressum
Inhalt
Karen Nölle: ALT UND WEISE, WEIBLICH UND BÖSE – EIN VORWORT
Karen Joy Fowler: EINFÜHRUNG
Ursula K. Le Guin: EINE VORBEMERKUNG
TEIL 1: DIE ACHTZIG ÜBERSCHREITEN
IN IHRER FREIZEIT
DAS WEICHEI SCHLÄGT ZURÜCK
WAS FÄNGT MAN MIT DEM REST NUN AN?
AUFHOLEN, HA HA
DIE ANNALEN VON PARD 1
EINE KATZE AUSSUCHEN
VON EINER KATZE AUSGESUCHT
TEIL 2: DER LITERATURBETRIEB
HÖRT IHR BITTE VERDAMMT NOCH MAL AUF
LESERFRAGEN
BRIEFE VON KINDERN
ÜBER KUCHEN
PAPA H
EIN AUSGESPROCHEN NOTWENDIGER LITERATURPREIS
DER GROSSE AMERIKANISCHE ROMAN
NOCH MAL DER GROSSE AMERIKANISCHE ROMAN
NARRATIVE BEGABUNG ALS MORALISCHES DILEMMA
ES MUSS NICHT SO SEIN, WIE ES IST
UTOPIYIN, UTOPIYANG
DIE ANNALEN VON PARD 2
ZOFF MIT DEM KATER
PARD UND DIE ZEITMASCHINE
TEIL 3: VERSUCHE, ES ZU VERSTEHEN
EIN BUND VON BRÜDERN, EIN STROM VON SCHWESTERN
EXORZISTEN
UNIFORMEN
VERZWEIFELT AN EINER METAPHER FESTHALTEND
ALLES WEGLÜGEN
DAS INNERE KIND UND DER NACKTE POLITIKER
EIN BESCHEIDENER VORSCHLAG: VEGEMPATHIE
DER GLAUBE ANS GLAUBEN
ÜBER WUT
DIE ANNALEN VON PARD 3
NICHT AUSGELERNT
KNITTELVERSE FÜR MEINEN KATER
NICHT AUSGELERNT, DIE ZWEITE
TEIL 4: BELOHNUNGEN
DIE KREISENDEN STERNE, DAS UMFANGENDE MEER: PHILIP GLASS UND JOHN LUTHER ADAMS
THEATERPROBE
JEMAND NAMENS DELORES
OHNE EI
NÔTRE-DAME DE LA FAIM
DER BAUM
HOCH ZU DEN PFERDCHEN
ERSTKONTAKT
DER LUCHS
NOTIZEN AUS EINER WOCHE, DIE WIR AUF EINER RANCH IN DER HOCHWÜSTE VON OREGON VERBRACHTEN
Phantastik im Golkonda Verlag
Karen Nölle: ALT UND WEISE, WEIBLICH UND BÖSE – EIN VORWORT
Dieses Buch, das Sie in Händen halten, ist Ursula K. Le Guins letztes, noch gerade zu Lebzeiten herausgegeben. Es war erst kürzlich erschienen, als sie im Januar 2018 starb, 88 Jahre alt und noch stets bereit, Besuch zu empfangen und an Texten zu feilen, auch wenn sie schon seit Längerem sorgfältig mit ihren Kräften haushalten musste.
Keine Zeit verlieren war für sie ein ungewöhnliches Projekt, denn was sie bis dahin geschrieben hatte, waren Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte, ausgeklügelt, tief empfunden und vielfach preisgekrönt, ein großes, an die fünfzig Bände umfassendes Werk. Nach der Veröffentlichung von Lavinia, ihrem letzten, 2008 erschienen Roman, entschied sie, sich nur noch kürzeren Formen zu widmen, und erklärte in Interviews, für große Entwürfe würden ihre Kraft und Ausdauer nicht mehr reichen. Ihr Kampfgeist und ihr schräger Sinn für Humor blieben jedoch lebendig bis zuletzt. Und das Schreiben gehörte einfach immer zum Leben. Sie brachte weiterhin regelmäßig Gedichte, Essaysammlungen, Geschichten heraus, und 2010 enthielt ein wunderschönes Buch über eine besonders geliebte Landschaft, das sie zusammen mit dem Fotografen Roger Dorband herausbrachte, sogar Skizzen von ihr.
Einer der großen Einflüsse in ihrem Leben war der Taoismus, dessen Lehren auch ihr Werk durchziehen. Das Tao Te King des legendären chinesischen Philosophen Laotse hat sie sich Wort für Wort erarbeitet, die vielen Übersetzungen ins Englische verglichen und 1997 in eigener Übersetzung herausgebracht. Über die Drachen in ihren Erdsee-Büchern hat sie einmal gesagt, sie seien selbstverständlich von den europäischen und den chinesischen Drachen mit ihren unterschiedlichen Eigenarten inspiriert, aber es seien amerikanische Drachen oder genauer Drachen der Westküste, geprägt von ihrer Zeit, ihren Erfahrungen und ihrem eigenen Wesen. Ähnlich verhält es sich mit dem Taoismus, sie hat ihn sich anverwandelt, und er nimmt in jedem Werk passend zu dem Stoff eine eigene Prägung an.
2010, mit 81, ging sie unter die Blogger. José Saramagos Blogs machten ihr Lust auf die Freiheit der spontanen Form und nahmen ihr die Vorstellung, dass sie, wenn sie sich im Internet äußerte, ständig mit ihren Leserinnen und Lesern in Dialog treten müsste. Dazu sei sie zu zurückhaltend, schrieb sie in der Notiz, die sie dem Blog vorausschickte und die nun am Beginn dieses Buches steht. Es versammelt ein knappes Drittel ihrer Einträge. Die übrigen, oft mehr durch politisches und anderes aktuelles Geschehen veranlasst, sind auf der Website der Autorin zu finden. Sie behandeln ganz unterschiedliche Themen, oft geht es um ihre eigenen Texte und die Werke anderer, oft auch um die Zustände in den USA und den Ländern des Nahen Ostens. Die politische Situation machte ihr Kummer. 2017 wurden die Einträge spärlicher.
Am 25. September des Jahres stellte sie ein Gedicht von 1991 ein, mit dem Titel »When the Soviet Union Was Disintegrating«. Es ist ihr letzter Eintrag, ein sehr persönliches Gedicht aus zwei Teilen. Im ersten geht es um den Versuch, sich etwas zu erschreiben, das Seele heißen könnte. Ihre Themen sind Mut, Güte, das Meer bei Abendlicht, das Lob der Schönheit und eine Ahnung davon, was von ihr bleiben könnte, wenn sie nicht mehr ist. Im zweiten Teil wendet sie sich der Tagespolitik zu, und Bitterkeit darüber, was sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland vollzieht, lässt sie deutlich werden, »… alt und weise, weiblich und böse«: Die Männer, die im Namen einer Sache siebzig Jahre lang Männer, Frauen und Kinder umgebracht, gefoltert, Lager errichtet, gelogen und Gewinne kassiert haben, nehmen sich neue Ziele vor, und wieder mit denselben Methoden. Siebzig Jahre umsonst. Weggeworfen der Traum von Gerechtigkeit, der dem Verrat vorausging. Das Einzige, was zählt, ist, wer das Sagen hat.
Die letzte Strophe bringt beide Teile zusammen. Sie, die einst »Freiheit, Freiheit« gesungen habe, schön wie eine Nachtigall, habe Realpolitik gelernt: In dieser Welt der Sagenhaber, wo es keine Freiheit gibt und die Sagenhaber nur von Stille umgeben sind, darf man nicht müde werden, in diese Stille hineinzuhorchen. »Und so werde ich Frauen, unseren Kindern und machtlosen Männern lauschen, meinen Leuten. Und ehren nur die Meinen, die Leute ohne Macht.«
Was 1991 auf die Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gemünzt war, passt 2017 auf die Vorgänge in den USA. Und die Art, wie in dem Gedicht das Persönliche und Politische mit essenziellen Gedanken über das Menschsein verknüpft werden, zeigt noch ein letztes Mal, wofür Le Guin mit ihrem Schreiben steht.
Alt und Weiblich. Seit einigen Jahrzehnten sind die Themen Alter und Weiblichkeit ein fester Bestandteil von Ursula K. Le Guins Werken. Das gilt auch für das vorliegende Buch. Dass sie so wichtig wurden, ist in ihrer Art zu denken begründet.
Wurde Ursula K. Le Guin gefragt, wann ihr klar geworden sei, dass sie Schriftstellerin werden wollte, antwortete sie stets, darüber habe sie nie nachgedacht, sie habe schlicht immer geschrieben. Die Berufsbezeichnung, der Status bedeuteten ihr nichts, es gehe ihr um die Sache. Als sie mit Anfang zwanzig begann, ans Veröffentlichen zu denken, gelang es ihr nur gelegentlich, kleinere Texte unterzubringen. Ihre Romane wurden abgelehnt. Zu eigen, hieß es, zu abseitig. Über den ersten bemerkte der Verleger Alfred Knopf in seinem Ablehnungsbrief, es sei ein seltsames Buch, aber was sie da mache, sei interessant. Vor zehn Jahren hätte er das verrückte Ding verlegt, aber jetzt (1953) könne er es nicht wagen. Le Guin fühlte sich dadurch ermuntert und produzierte mit Geduld und Leidenschaft – für die Schublade. Anfang der 1960er-Jahre riet ihr eine Freundin, sich in der Science Fiction umzuschauen. Dort fand sie Gedankenexperimente, denen sie sich verwandt fühlte, und sie beschloss, sich an dem Genre zu versuchen. Nun gelang der Durchbruch, und es folgte eine intensive Schaffensperiode. Von 1966 bis 1976 erschienen zehn Romane, zwei Erzählbände und zwei Gedichtbände, Ursula K. Le Guin erhielt für ihre Bücher dreizehn große Auszeichnungen und war plötzlich überall gefragt. Weltweit berühmt wurden vor allem die beiden Science-Fiction-Romane, Die linke Hand der Dunkelheit und Freie Geister, und die drei ersten Bücher ihrer Fantasyserie für junge Leser, Ein Magier von Erdsee, Die Gräber von Atuan und Das fernste Ufer.
Wer diese Werke liest, wird schwerlich darauf kommen, dass ihrem Gefühl für das, was Menschen ausmacht – denn darum geht es im Kern in allen ihren Werken – noch etwas fehlt. Sie umspielen die ganze Bandbreite menschlicher Möglichkeiten: Herz, Mut, Freude, Trauer, Achtung vor den Welten, in denen die Figuren leben, mit allen Tieren, Pflanzen, Meeren, Landschaften – die vielen Möglichkeiten des Missbrauchs von Macht und Herrschaft, das Zusammenspiel von Innenleben und Außenwelt. Die Abenteuer, in die man gerät, indem man ihren Figuren folgt, vereinen Verstand und Gefühl. Und ihre Helden müssen einiges aushalten. Bewaffnete Konflikte jedoch gibt es kaum. Die interessieren sie als Problemlösung nicht.
In Freie Geister schickt sie einen von Gleichheit und Gerechtigkeit überzeugten Anarchisten mutterseelenallein in eine kapitalistisch regierte Welt und erkundet den Reiz von Besitzlosigkeit. In Die linke Hand der Dunkelheit bereist ein Emissär einen Planeten, auf dem die Bewohner ihr Geschlecht wechseln können und bei der Fortpflanzung mal die männliche, mal die weibliche Rolle übernehmen. In Erdsee muss im ersten Band ein junger Zauberer seinem Schatten begegnen und ihn als Teil von sich annehmen, ehe er sich fortentwickeln kann. Im zweiten befreit sich eine junge Priesterin mit Hilfe eines Zauberers vom Diktat ihres Kults. Und im dritten machen sich ein alter Zauberer und ein junger Prinz auf, die Ursache dafür zu finden, warum in Erdsee die alten Lieder und Handwerkskünste vergessen werden und die Kultur verfällt: Ein dunkler Magier hat den Leuten ewiges Leben versprochen und die Grenze zum Tod verwischt.
Fällt Ihnen etwas auf? Wenn nicht, geht es Ihnen wie Ursula K. Le Guin, bevor sie in den frühen 1970ern die zweite Frauenbewegung für sich entdeckte. Erst als sie zum vierten Erdseeband ansetzte, in dem wie im zweiten eine weibliche Hauptfigur im Mittelpunkt stehen sollte, wurde ihr klar, dass die Handlungsträger in ihren Büchern stets männlich gewesen waren, Helden, wie es die Tradition vorsah. Das trifft auch auf Die Gräber von Atuan zu: Ohne Anstoß durch den Magier hätte die junge Priesterin keinen Weg aus ihrer Situation gefunden.
In Die Linke Hand der Dunkelheit hatte sie wie selbstverständlich das generische Maskulinum für alle verwendet, obwohl ihre Figuren geschlechtlich nicht festgelegt waren. Was immer sie an Subversion betrieben hatte, es war nicht weit genug gegangen. Das Schreiben des vierten Bandes wollte nicht gelingen, bis sie wusste, was eine Heldin ausmachen könnte. In ihrem »Rückblick auf Erdsee« bemerkt sie dazu: »Ich konnte meine Heldengeschichte nicht fortsetzen, ehe ich als Frau und Künstlerin mit den Engeln weiblichen Bewusstseins gerungen hatte. Es dauerte lange, bis ich ihren Segen erhielt. Ich wusste schon 1972, dass es einen vierten Band [von Erdsee] geben sollte, aber es hat sechzehn Jahre gedauert, bis ich ihn schreiben konnte.« Tehanu erschien 1990.
Hinter die Entwicklung dieser sechzehn Jahre ist sie nie wieder zurückgegangen. Sie hat ihr Schreiben verwandelt, den Stil vornehmlich in den Essays, wo sie häufig ein generisches Femininum verwendet, vor allem aber die Wahl der Themen und den Blickwinkel auf jegliches Geschehen. Die Frauen sind nicht mehr aus ihrem Werk wegzudenken. Und in alles, worüber sie nachdenkt, sind Reflexionen über die männliche Dominanz im Literaturbetrieb, in den Traditionen, in Politik und Gesellschaft integriert. Ihre Analysen sind scharf, die Differenzierungen hinreißend, ihr Witz dabei köstlich, die Richtung stets konstruktiv. Darin ist sie wirklich einmalig. Es gibt einen wunderbaren kleinen Text, den sie mit sechzig schrieb und über Jahre für verschiedene Auftritte immer wieder leicht veränderte. »Darf ich mich vorstellen?« zeigt gebündelt, wie sie vorgeht. Die ersten Worte lauten: »Ich bin ein Mann«, und anschließend wird erläutert, inwiefern das zutrifft, weshalb sie aber natürlich immer nur ein zweitklassiger Mann sein kann, ob als Autor oder sonst im Leben:
Als Er verhalte ich mich zu einem echten Mann wie ein Fischstäbchen aus der Mikrowelle zu einem Königslachs vom Grill … Der Haken an der Sache ist, glaube ich, dass mir zu einem Mann etwas fehlt. Zu einem Mann wie Ernest Hemingway. Mit dem Bart und den Waffen und den Ehefrauen und den kurzen, knappen Sätzen. Ich gebe mir wirklich Mühe. Ich habe dieses bartartige Zeug am Kinn, das mir immer wieder wachsen will, so neun oder zehn Haare, manchmal auch mehr. Doch was mache ich mit den Haaren? Ich zupfe sie aus. Würde ein Mann das tun? Männer zupfen nicht. Männer rasieren sich. Jedenfalls rasieren sich weiße Männer … Ich zupfe. Aber das heißt nichts, weil ich nicht wirklich einen Bart habe, der als solcher zählen kann. Außerdem habe ich keine Waffe und keine einzige Ehefrau, und meine Sätze haben den Hang, immer weiter und weiter und weiter zu gehen und voller Syntax zu sein. Hemingway wäre lieber gestorben, als sich mit Syntax abzugeben … Und noch etwas. Ernest Hemingway wäre lieber gestorben als alt zu werden. Er ist lieber gestorben. Er hat sich erschossen.
Das fügt dem Thema Weiblichkeit ein weiteres hinzu. Sie schreibt: »Ich habe mir gestattet, alt zu werden, und habe nicht das Geringste dagegen getan, mit einer Waffe oder sonst was.« Das ist in einer Gesellschaft, die der Jugend huldigt, ein Problem. Ihre Lösung dafür lautet: »Wenn ich nicht überzeugend so tun kann, als wäre ich ein Mann, und nicht überzeugend jung sein kann, dann kann ich auch gleich so tun, als wäre ich eine alte Frau. Ich bin mir nicht sicher, ob schon jemand alte Frauen erfunden hat; aber vielleicht ist es einen Versuch wert.« Dieser Versuch gehört seit den 90er-Jahren zu ihren Projekten, die Texte zum Thema Alter in diesem Band sind späte Früchte dieser Tradition.
Böse und weise. Ursula K. Le Guin war nicht darauf aus, sich oder irgendwelche Minderheiten in den Mainstream integriert zu wissen. Vom Mainstream hielt sie gar nichts, weder in der Verlagswelt noch in der Politik. Und sie verstand es als ihre Aufgabe, bei öffentlichen Äußerungen deutlich zu sagen, welche Absurditäten der Ausbeutungskapitalismus mit seiner Idee vom ewigen Wachstum uns und dem Planeten aufbürdet. Resignation lag ihr fern, aber die Trauer um das, was ist, schwingt in allen Texten mit. Sie hat schon viel gesehen, und es tut weh. Aber das nimmt ihr weder die Scharfsicht noch den Mut, sich weiter einzumischen und unnachgiebig für das Leben auf der Erde, die Achtung vor der Vielfalt der Natur, die Machtlosen und unermüdlich für Freiheit zu streiten. Ihr Credo blieb: Es muss nicht sein, wie es ist. Dafür lohnt es sich, die ganze Kraft eines Lebens einzusetzen, erfinderisch zu werden, alles immer wieder neu zu denken, Schlupflöcher in eine Zukunft zu suchen, in der wir Menschen mehr Verantwortung zeigen. Ihr zu folgen, wenn sie Dinge ausdifferenziert, »Macht zu« von »Macht über«, »Freiheit zu« von »Freiheit von« unterscheidet oder, wie in einem der Einträge in diesem Buch, Überlegungen zum Nutzen und Missbrauch von Wut anstellt.
Ihre Fans erfreut dabei vor allem, wie sie Unübliches zusammendenkt, wie Verstand und Gefühl, Traumlogik und Taglogik ineinanderfließen und wie tief der Humor ist, der ihre Texte durchströmt. Sie hat sich die Freiheit erarbeitet, noch im Schlimmsten Anlass zum Lachen zu finden. Es lockert das Denkvermögen und erweitert Perspektiven – auf die Tier- und Pflanzenwelt und die Sprache der »unbelebten« Natur, auf Wahrheit und Lüge, Geschlechter- oder andere Gerechtigkeit.
Als
DIE ZEIT
im Kontext der aktuellen Diskussion um gendergerechte Sprache jüngst eine Reihe deutscher Autorinnen und Autoren fragte: »Wie halten Sie es mit dem Gender?«, antwortete Clemens J. Setz: »Man sollte sich in solchen Belangen immer fragen: »What would Ursula K. Le Guin do?« Die würde sich nicht damit begnügen, bloß genderneutral zu schreiben, sondern darüber hinaus in ihren Sätzen alle möglichen Dinge explodieren lassen, die als mürrisches, starres Kulturgut um uns herumliegen.«
Welch ein guter Nutzen für Sprengstoff! Die vorliegenden Blogbeiträge bieten eine Fülle von Beispielen dafür, wie sie es macht. Genießen Sie das Vergnügen, sich von einer über Achtzigjährigen Herz und Hirn durchpusten zu lassen.
Karen Nölle, im Juni 2018
Quellen:
Darf ich mich vorstellen https://www.tor-online.de/feature/buch/2018/02/darf-ich-mich-vorstellen-ursula-k-le-guin/
Blogs: http://www.ursulakleguin.com/Blog-Index.html
Clemens J. Setz in DIE ZEIT Nr. 24 vom 7. Juni 2018. S. 39 zum Thema: Wie halten Sie es mit dem Gender?
Karen Joy Fowler: EINFÜHRUNG
Ich kann mich noch gut an einen Cartoon erinnern, den ich vor vielen Jahren im New Yorker gesehen habe. Zwei Männer, einer ein Sinnsuchender, der andere ein Weiser, sitzen auf einem Felsvorsprung vor einer Berghöhle, umgeben von Katzen. »Der Sinn des Lebens sind Katzen«, sagt der Weise zum Suchenden. Dank der Magie des Internets kann ich als Jahr der Veröffentlichung 1966 ermitteln und als Zeichner Sam Gross.
Der Cartoon kam mir beim Lesen der vorliegenden Sammlung wieder in den Sinn. Ich dachte, wenn ich den Berg erklimme und zur Höhle der weisen Ursula K. Le Guin komme und die vorhersehbare Frage stelle, erhalte ich womöglich genau diese Antwort. Oder auch nicht – Le Guin ist nicht vorhersehbar. Sie könnte stattdessen sagen: »Das Alter ist etwas für alle, die es erreichen.« Oder »Angst ist selten vernünftig und niemals freundlich.« Oder vielleicht würde sie mir sagen: »Bei den Toten gibt es kein Ei.«
Für den Suchenden ist die Antwort weniger wichtig als das, was er daraus macht. Was für den Weisen wichtig ist, weiß ich nicht. Folgt man Le Guin, könnte es einfach das Frühstück sein.
Heute ist der Weg zur Le-Guin-Höhle weniger schweißtreibend, aber nicht weniger gefährlich als der archetypische Weg zum Gipfel. Man muss die Wikipediasümpfe durchqueren und auf Zehenspitzen an sämtlichen Kommentarspalten vorbeischleichen, um die Trolle nicht aufzuwecken. Denkt dran: Wenn ihr sie seht, können sie euch auch sehen! Hütet euch vor dem Monster YouTube, dem großen Zeitfresser. Nutzt stattdessen das Wurmloch namens Google und gleitet hindurch. Landet auf Ursula K. Le Guins Website und geht direkt zu ihrem Blog, um die neuesten Einträge zu lesen.
Aber zuerst lest dieses Buch.
Hier findet man ein Archiv von