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Gelobtes Land: Gloov
Gelobtes Land: Gloov
Gelobtes Land: Gloov
eBook373 Seiten4 Stunden

Gelobtes Land: Gloov

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Über dieses E-Book

Eine Mauer, dahinter eine andere Welt: Die Neue Welt, wie sie diesseits genannt wird. Und sie übertrifft Lores kühnste Erwartungen: Nahrung, Wärme, Unterkunft, ein sicherer Ort für ihren Bruder Jame. Es scheint an nichts zu fehlen. Lore brennt darauf, ein vollwertiges Mitglied dieser auf Gleichberechtigung und ökologische Nachhaltigkeit ausgerichteten Gesellschaft zu werden, die von dem charismatischen Jefferson Maklaren angeführt wird. Dessen Gegenspielerin Sisdal umwirbt Lores Freund Jul für ihre eigenen undurchschaubaren Ziele. Lore gerät zunehmend zwischen die Fronten. Und dann ist da noch das Buch Liebe und sein brisanter Inhalt.GLOOV: Der zweite Band zur Trilogie über Hoffnung, Glaube und Liebe in einem vom Klimawandel und Machtspielen geprägten Europa der Zukunft.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. März 2020
ISBN9783968583419
Gelobtes Land: Gloov

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    Buchvorschau

    Gelobtes Land - Christine Heimannsberg

    Glaube

    1

    Eine Tür geht auf. Dahinter ist gleißendes, blendendes Licht, in das ich hineingeschoben werde. Von oben regnet eine penetrant nach Chemie riechende Flüssigkeit auf mich herab. Panisch presse ich die Lippen aufeinander und senke das Kinn auf die Brust. Hinter meinen geschlossenen Lidern brennen die Augäpfel. Ein beißender Geruch bahnt sich den Weg durch meine Nasenlöcher bis in die Lungenflügel. Hustend und blind taste ich mit ausgestreckten Armen umher, ohne auf Widerstand zu stoßen. Plötzlich bricht der Regen ab. Stattdessen kommt ein heftiger Wind auf, der an meinen Haaren und meiner Kleidung zerrt und mich innerhalb von Sekunden trocknet. Der Lärm dabei ist kaum zu ertragen. Ich schreie, ohne meine Stimme zu hören. Abrupt erstirbt auch der Wind und nur ein gellend hoher Ton hängt mehrere Augenblicke in der Luft, bis ich merke, dass er aus meinem Mund kommt.

    Dann ist es still.

    Ich wage es nicht, mich zu rühren, und spähe aus den Augenwinkeln umher.

    »Jul? Sim? … Jame?« Mein Flüstern versickert im namenlosen Licht, das weder Anfang noch Ende hat. Nur mein keuchender Atem hallt in der Leere wieder. Wie kalte Finger wandert die Panik an meinen Beinen herauf, umfasst mein Herz und taucht meinen Kopf in Eis.

    Fast unmerklich wird es matter und dunkler. Die Konturen fensterloser Wände schälen sich aus dem grellen Licht, welches, wie ich nun erkenne, aus Schlitzen am Boden dringt. Vor mir ist eine Tür zu erahnen.

    »Hallo?«

    Mit einem leisen Summen öffnet sie sich und eine Gestalt erscheint, von der ich nichts erkenne, außer einem unförmigen, kautschukartigen Anzug und einem Visier anstelle des Gesichts. Darin spiegeln sich meine Schwestern mit weit aufgerissenen, angstvollen Augen. Schnell drehe ich mich um, doch hinter mir ist niemand.

    Die Gestalt streckt ihre Hand aus, die in einem Kautschukhandschuh steckt. »Ni bang sein, ne pas avoir peur.«

    »Lives, Kieno!« Fassungslos taste ich nach ihren Gesichtern in dem verspiegelten Visier.

    »Ne pas avoir peur!« Die Gestalt packt mich.

    »Nein!«

    Die Spiegelung meiner Schwestern verschwindet und hinter dem Visier erkenne ich Augen.

    »Ni bang sein«, sagt eine tiefe, sanfte Stimme. Schluchzend winde ich mich in dem festen Griff.

    »Hab keine Angst. Du bist in Sicherheit!«

    Ruckartig fahre ich im Bett auf und lasse mich nach einem Moment der Orientierung auf das Kissen zurücksinken. Ich lege die Hand auf meine Brust, dort, wo ich mein Herz vermute, und schließe die Lider. Warte, bis sich mein Atem beruhigt.

    Ich bin noch da.

    Kurz ein-, lang ausatmen.

    Ich bin noch da.

    Langsam öffne ich die Augen wieder und blicke an die weiß getünchte, makellose Zimmerdecke. Ich brauche den Kopf nicht zu wenden, um zu wissen, dass es sich mit der Wand links von mir genauso verhält. Zur rechten Seite hin verläuft der Raum schlauchartig zu einem Fenster, das zum Bewegungshof hinauszeigt. Davor hängen schlichte, hellblaue Vorhänge, ebenfalls makellos und nach Blumen duftend. Wer rausschaut, glaubt, Bienensummen zu vernehmen, allein wegen des Dufts.

    Unter dem Fenster steht James Bett. Wie ich höre, schläft mein Bruder noch, denn anders als meine, sind seine Atemzüge lang und tief. Ich wünschte, ich könnte ebenfalls weiterschlafen, aber schlafen bedeutet auch eine Rückkehr zur Panik, die mich heute nur langsam loslässt.

    Lives. Kieno.

    Die eine tot, die andere ohne Hoffnung zurückgelassen. Der Schmerz darüber gräbt sich brutal in meine Brust, so wie jeden Tag seit unserer Ankunft hier im Camp. Etwa drei Monate, so sagte man uns, dauert die Gewöhnungsphase. Bevor wir weitergeschickt werden in das echte gelobte Land, oder wie es hier heißt: die Neue Welt.

    Ich horche, ob schon andere wach sind und tatsächlich dringen von den Fluren die ersten Geräusche der Bewohner unseres Camps herein: Flüchtlinge wie wir, die es auf die andere Seite der Mauer geschafft haben. Oder Wanderer, wie Sim sie nennt.

    Ein Summen an meinem Handgelenk bestätigt, dass es Zeit ist, aufzustehen. Eine selbst gewählte Vorgabe, weil mir hier, anders als früher, niemand sagt, wann ich aufstehen, schlafen oder essen soll. Aber ich brauche diesen Anker, der mir eine Struktur gibt und meinen Tag in sauber abgetrennte Portionen teilt. Struktur heißt Aufgaben haben. Aufgaben haben heißt Teil eines Ganzen zu sein. Also stelle ich den Wecker.

    Leise schlage ich die federleichte Decke zurück und stehe auf. Der Steinboden unter meinen Füßen ist warm. Mir wurde erklärt, dass unterhalb der Böden kleine Wasserleitungen verlaufen – eine Fußbodenheizung, die über ein riesiges Wasserrad mit Strom versorgt wird, sodass man praktisch überall und den ganzen Tag barfuß laufen könnte. Was viele der gebürtigen ›Neuländer‹ auch tun. Aber ich komme mir ohne Schuhe nackt vor und trage weiter meine alten Kautschukstiefel, obwohl sie mittlerweile verschlissen und längst nicht mehr wasserdicht sind. Doch auch das ist hier nicht nötig: Wenn es regnet, bleibe ich einfach drinnen.

    Leise husche ich in das angrenzende Badezimmer, dass mich jeden Tag aufs Neue fasziniert. Ein Badezimmer nur für Jame und mich, mit einem kleinen Waschbecken und einer Dusche, aus der warmes Wasser kommt. Die ersten Tage mochte ich sie nicht benutzen – der Brausekopf sieht genauso aus wie der in der Desinfektionsdusche. Aber mir wurde erklärt, dass ich unter der normalen Dusche keine Atemnot bekommen würde und schließlich habe ich es versucht.

    Heute entscheide ich mich für eine schnelle Katzenwäsche und streife eines der farbigen Gewänder über, die man mir am Tag meiner Ankunft gab. Es gibt einteilige, die mit einem Band in der Taille zusammengezogen werden, und zweiteilige, die aus einem Oberteil und dem dazu passenden bodenlangen Rock bestehen. Meine mittlerweile schulterlangen braunen Haare binde ich mir im Nacken zusammen und mache mich auf den Weg zum Speisesaal von Trakt B. Dort treffe ich normalerweise auf Jul und Sim, die in Trakt A untergebracht sind. Trakt B beherbergt Familienangehörige wie mich und Jame, Trakt A die Alleinstehenden. Aber essen dürfen wir, wo wir wollen.

    Zwei Männer begegnen mir auf dem Weg. Sie senken schnell die Köpfe und murmeln einen kurzen Gruß.

    »Go’n Morgen.«

    »Go’n Morgen.«

    Die flüchtige Begegnung lenkt mich kurz von der Vorfreude ab, Jul zu treffen. Noch immer erscheint es mir wie ein Wunder, dass ich ihn nun sehen darf, so oft und so lange ich will. Noch wundersamer ist die Tatsache, dass wir uns überhaupt wiederbegegnet sind, dort in den großen Wäldern. In absoluter Wildnis, ohne Wege und Straßen. Soweit hatten Sim und die Frauen der Gemeinschaft zumindest recht: Wir sind auf der ›klassischen Route‹ gewesen, und wie ich jetzt weiß, haben auch andere noch den Weg hierher gefunden. Dennoch, die Chance, Jul wiederzusehen, lag bei Null und damit ist es das größte Wunder, dass mir in meinem Leben widerfahren ist. Dabei dachte ich immer, dass bereits Liebe zu finden ein kaum zu erreichendes Glück sei.

    Der Preis, den Jul dafür zahlen muss, ist unermesslich und ich weiß, dass es ihm die Freude darüber, hier zu sein, trübt. Weiß, dass er, wenn er still und in sich gekehrt ist, an seine Familie denkt, die nicht weiß, wo er ist und ob er noch lebt. Wir alle haben Opfer gebracht, aber, anders als bei mir, hat er seins freiwillig gegeben. Für mich. Und ich hoffe, dass ich eines Tages kein schlechtes Gewissen mehr deswegen haben werde.

    Ich stoße die Tür zum Speisesaal auf und mir brandet ein fröhliches Stimmengewirr entgegen. So früh am Morgen stammt es hauptsächlich von den vielen freiwilligen Helfern im Camp. Auf fünf Flüchtlinge kommt ein Helfer. Wie ich lernte, ein überaus guter Schnitt, um die Integration von uns Neuen zu gewährleisten.

    Mit dem Öffnen der Tür geht auch mein Herz auf und ich lasse meine Augen durch den Raum wandern. An einem Tisch unterhalten sich fünf Mädchen zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren angeregt beim Essen. Ihre Kleider sind leicht und luftig wie meines, zusammen sehen sie aus wie ein bunter Frühlingsstrauß. Ein junger Neuländer schlendert mit einem Tablett an ihrem Tisch vorbei. Sie werfen sich ein paar Sätze zu, die Mädchen lachen auf. Grinsend geht er weiter. Vor der Essensausgabe ist eine Menschenschlange, die Männer in Leinen, die Frauen in pastellfarbenen Kleidern. Ruhig und gesittet geht es zu. Manche sind beim Warten in Gespräche vertieft, andere stehen einfach still da. Kein Grund zum Drängeln oder Schimpfen, es gibt genug für alle. Kurz schließe ich die Augen, als könne ich so das Bild abfotografieren und nach Hause schicken. Sieh nur Mari, es ist alles wahr.

    »Warts ab, das dicke Ende kommt noch.« Sim hat sich von hinten an mich herangeschlichen. Seufzend öffne ich die Augen. Sie grinst. »Ich kenne doch deinen versonnenen Gesichtsausdruck, den du jedes Mal auflegst, wenn du hier hereinkommst.« Sim greift sich ein Tablett aus dem Ständer neben der Tür und reiht sich mit mir vor der Essensausgabe ein. Verstohlen mustere ich sie von der Seite. Ihre dunklen Haare verdecken mittlerweile die Kopfhaut, doch auch mit den kurzen Haaren sieht sie noch immer ein bisschen wie ein Junge aus. Sie gibt sich ruppig, aber auch sie ist hier im Schutz einer Gesellschaft, deren höchstes Gut Frieden ist.

    Mit verengten Augen studiert sie die Tafel über dem Tresen.

    »Porridge mit Apfel und Mango«, lese ich vor. »Reismüsli mit Sojajoghurt, Brotkorb mit Frucht- und Gemüseaufstrich.«

    Sim kann nicht lesen. Sie hat es mir nie gesagt, aber die Art, wie sie Schrift fixiert, verrät es. Ich habe es oft gesehen – die meisten Mädchen aus meiner Vergangenheit hatten nur rudimentären Unterricht. Wer kein Faible für Buchstaben hatte, vergaß im Laufe der Jahre schlicht und ergreifend, wie man sie entziffert. Als Unfreie hat Sim nie ein Schulgebäude von innen gesehen. Ihre Aufgabe war es zu dienen und ein Aufstieg war sicher nicht geplant.

    Die Freiwillige vor uns schert nach rechts aus und wir werden weiter an den Tresen geschoben. Sim stellt ihr Tablett einer Brünetten hin, deren Haare in langen Wellen bis über die Schultern fließen. Kein praktischer Bubikopf wie bei uns Schwestern, kein nachlässig zusammengeknüllter Dutt wie bei Lida.

    »Hase«, sagt Sim.

    Die Frau betrachtet sie mit gleichbleibend freundlichem Gesichtsausdruck. »Fleisch ist nicht erlaubt.«

    »Kein Fleisch? Mist!«

    Die Servicekraft lächelt und reicht Sim einen Teller. »Probier mal Porridge. Es wird dir schmecken, außerdem ist es sehr sättigend.«

    »Pfft.« Sim nimmt den Teller und wendet sich ab. Kurz schaut die Brünette ihr nach.

    »Entschuldigung«, sage ich an Sims Stelle.

    Die Servicekraft schüttelt den Kopf. »Du musst dich nicht entschuldigen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich und sie wird ihren Weg finden.«

    Was hätte Ooltest gesagt, wenn Sim so aufsässig zu ihr gewesen wäre, was Lida? Aber die Menschen hier sind anders. Gütig. Ich kann es kaum erwarten, alles zu lernen, um so zu werden wie sie.

    »Das Reismüsli, bitte«, bestelle ich extra freundlich. Lächelnd reicht mir die Brünette das Essen. Mit meinem Tablett folge ich Sim zu unserem Lieblingsplatz, an der Fensterfront zum Garten.

    »Warum machst du das?«, frage ich.

    »Gehen die dir nicht auf den Geist mit ihrem ständigen Lächeln?«

    »Nein, tun sie nicht. Ich bin dankbar und ich finde, das solltest du auch sein.«

    Sie hebt den Löffel und lässt das Porridge zurück auf den tiefen Teller tropfen.

    »Denkst du nicht, dass ihnen unser Respekt gebührt?«, setze ich nach.

    »Wofür genau?«, fragt Sim.

    »Dafür, dass sie uns aufnehmen.«

    Sim lässt ihren Löffel auf den Teller sinken und betrachtet mich. »Ja, ich bin dankbar für das Essen, das Bett, die Kleidung. Aber was ist mit den anderen jenseits der Mauer? Und warum müssen wir hier sein? Wofür warten? Warum darf ich nicht selbst entscheiden, was ich essen will?«

    »Vorher konntest du auch nicht entscheiden, was du essen möchtest, weil es da nichts gab«, sage ich. »Außerdem hast du hier sehr wohl eine Wahl. Sie gefällt dir nur nicht.«

    Sim schaut auf ihr Porridge und taucht den Löffel abermals hinein. »Aber ich war frei.«

    Ich schüttle den Kopf. »Frei? In der Gemeinschaft?«

    Sie hebt trotzig die Schultern.

    »Drei Monate, Sim, dann bist du frei. Wirklich frei. Mit Wissen, mit Fertigkeiten. Du wirst lesen und schreiben können …«

    Sim schnaubt zweifelnd.

    »… und wenn du es noch nicht kannst, wirst du es weiter lernen. Arbeit finden, ein Zuhause haben, Frieden.«

    Sie schaut von ihrem Teller auf. »Was soll ich denen schon nützen? Was kann ich denn? Jagen darf ich nicht, kämpfen erst recht nicht.«

    »Du weißt, was sie sagen, gleiche …«

    »… Chancen für alle«, beendet Sim meinen Satz. Sie seufzt.

    »Bitte, versuch es. Bitte.« Ich fixiere sie. Ohne zu antworten, probiert Sim das Porridge und verzieht das Gesicht. Als sie meinen Blick bemerkt, reißt sie sich zusammen. »Okay. Für dich.«

    »Nein, für dich«, erwidere ich.

    »Alte Besserwisserin«, kontert Sim und grinst etwas. Einigermaßen beruhigt löffle ich mein Reismüsli. Reis ist ein merkwürdiges Getreide, das hier zu vielen Gerichten verarbeitet wird. Aus dem Stroh lassen sich sogar Papier und Schuhe anfertigen. Reisanbau ist eines der Seminare, die ich unbedingt besuchen will.

    Die schlichten, weiß glänzenden Tische um uns herum sind mittlerweile fast alle besetzt. Altländer und Freiwillige sitzen zusammen, viele noch immer verhuscht, speziell an den gemischten Tischen mit Frauen und Männern. Aber jeder ist bemüht, die lang trainierte Trennung zu überwinden, den Argwohn abzulegen und die neuen Regeln zu lernen. Auch Sim wird es.

    Die starrt aus dem Fenster, das Porridge noch immer kaum angerührt, die Stirn in Falten gezogen, den Kiefer angespannt. Ich hoffe, sie kann den Argwohn ablegen. Irgendwann.

    Hinter der Glasfront ist das Gras grün und die Kirschbäume zeigen erste Blüten, die eine gute Auslese versprechen. Wenn sie doch nur sehen könnte, was ich sehe.

    »Und, wie ist das Porridge nun wirklich?«,frage ich.

    »Tofte«, sagt Sim und schneidet eine Grimasse. Ich grinse, aber irgendwie ist mir komisch. Schweigend essen wir unser Frühstück auf. Ich wäre gerne Teil des Gelächters um mich herum, traue mich jedoch nicht, Sim alleine am Tisch zurückzulassen. Außerdem kenne ich sowieso niemanden, also bleibe ich sitzen.

    ***

    Nach dem Frühstück suche ich Jul, der enttäuschenderweise nicht im Speisesaal aufgetaucht war, und renne fast mit meinem Bruder zusammen.

    »Warum hast du mich nicht geweckt?«, fragt er. Ich zeige auf sein Handgelenk. »Wecker?«

    »Jetzt ist es zu spät für das Seminar ›Technische Errungenschaften, heute und damals‹«, ignoriert Jame meinen Hinweis.

    »Wann?«

    »Um 9 Uhr.«

    Ich tippe auf mein Armband. »Du hast noch zehn Minuten. Geh dich waschen, so kannst du da nicht hin. Ich besorg dir ein Sandwich.«

    Jame macht Anstalten, weiter zum Speisesaal zu laufen, aber ich drehe ihn an den Schultern herum und schiebe meinen Bruder zurück Richtung Trakt A. »Los jetzt.«

    »Warum?«

    Als Antwort rümpfe ich die Nase.

    »Oh, du nervst!«, schimpft er, schlurft aber trotzdem zurück. Ich kehre zum Speisesaal um, das Sandwich besorgen. Im Gegensatz zu Sim hat Jame nur wenige Tage gebraucht, sich hier einzuleben. Kein Seminar, keine Schulung ist vor ihm sicher und ich bin stolz, dass er seine Chance ergreift.

    ***

    Jul finde ich vor den Trainingsräumen.

    »Hey!«

    »He!« Sein Gesicht leuchtet auf. Kurz schaut er sich um, dann zieht er mich in seine Arme. Eine Vorsichtsmaßnahme, die hier nicht nötig ist, kein Gesetz der Volljährigkeit verbietet uns, zusammen zu sein. Ich drücke ihn fest an mich, als könne er sich andernfalls auflösen. Unter meinen gespreizten Fingern fühlt sich sein Rücken schon kräftiger und muskulöser an.

    »Warum warst du nicht beim Frühstück?«, frage ich.

    »Ich will vor den Beichten noch trainieren und war spät dran.«

    »Oh, das hätte ich fast vergessen.« Schlagartig wird mir mulmig. Die ›Beichten‹ werden täglich von 10 bis 13 Uhr angeboten, und sollen uns helfen, die Erlebnisse vor und auf der Flucht zu verarbeiten. Heute, mit Woche drei, sollen wir zum ersten Mal daran teilnehmen. Die letzten zwei Wochen wurden wir hauptsächlich in die wichtigsten Gepflogenheiten der Neuländer eingewiesen, medizinisch versorgt und durften Gespräche bei Psychologen in Anspruch nehmen.

    »Was sind Psychologen?«, fragte Jame. Drei Freiwillige, zwei Frauen und ein Mann, saßen ihm, Jul, Sim und mir gegenüber. Unsere Gesichter und Augen waren rot von der Desinfektionsdusche und die farbige Kleidung sah fremd an uns aus.

    »Ärzte, die euch helfen, eure Erlebnisse zu verarbeiten«, antwortete eine Blonde. Sim schaute mich aus rotgeränderten Augen an. »Mournen für Reiche«, sagte sie und lachte, doch in ihrem Blick stand Furcht.

    Mittlerweile haben wir uns an die Gespräche gewöhnt, doch die Beichten machen Angst. Auf die Beichten in der Alten Welt folgte in der Regel nichts Gutes. Wer beichten musste, hatte etwas angestellt.

    »Was trainierst du?«, frage ich Jul.

    »Ausdauer, Gewichte, na ja.« Er senkt den Kopf und schaut auf seine Schuhspitzen. Er kann sich auch nicht ans Barfußlaufen gewöhnen. Ich kaue auf meiner Lippe herum. Irgendwie ist uns hier die Leichtigkeit abhanden gekommen, obwohl wir nun zusammen sein dürfen.

    »Ich brauche eine Aufgabe.« Er hebt den Kopf. »Eine richtige, verstehst du? Nicht nur eine, die vergessen lässt. Ich will nicht vergessen, ich will nützlich sein.«

    »Wir müssen erst ankommen, gesund werden, du weißt doch …«

    »Ja, ich weiß, was sie sagen«, unterbricht mich Jul. Er lässt wieder den Kopf hängen. »Tut mir leid.«

    »Nein, das ist okay.«

    »Es ist die Tatenlosigkeit.«

    »Ich weiß«, antworte ich.

    Die Tatenlosigkeit, die mich jeden Tag den Wecker stellen lässt, Jame in die Seminare und Jul zum Sport treibt.

    »Es wird sich ändern.«

    »Ja.« Jul kneift kurz die Lippen zusammen, dann zieht er mich näher und drückt mich an sich.

    »Wenn wir zusammenhalten«, flüstert er.

    »Das werden wir«, antworte ich irgendwo in Juls Schulter hinein und halte ihn so fest es geht. Er wird seinen Hof nicht erben. Er wird seine Familie nicht beschützen. Er wird seine Brüder nie wiedersehen. Er hat sich entschieden. Für mich. Gegen sein altes Leben.

    »Wir halten zusammen!«, versichere ich ihm.

    Jul streicht mir über die Haare und küsst mich. Dabei presst er seine Lippen ein wenig zu fest auf meine, aber ich lasse ihn, will ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, nicht noch mehr seines Stolzes berauben. Abrupt löst er sich von mir und geht in den Trainingsraum. Eine Weile beobachte ich ihn durch die Sichtscheibe, wie er auf dem Laufband rennt, bis ihm der Schweiß das helle pastellblaue Leinenhemd durchtränkt.

    2

    Bei meiner Ankunft im Schulungsraum sind bereits fast alle Stühle besetzt und ich ergattere in der letzten Reihe noch einen der wenigen freien Plätze. Gleichzeitig mit mir betritt Kyron den Raum, ein ehemaliger Flüchtling, der nun die Neuankömmlinge mit den Regeln der Neuen Welt vertraut macht. Kyron ist der attraktivste Mensch, dem ich je begegnet bin, sogar noch vor Jame, der normalerweise mit seinen weizenblonden Haaren und dem sonnengeküssten Teint alle Blicke auf sich zieht. Selbst Sim blieb vor Staunen der Mund offen stehen, als wir den dunkelhäutigen Kyron mit den strahlend blauen Augen das erste Mal sahen. Später behauptete sie, das hätte nur daran gelegen, dass sie noch nie einen Menschen mit dunkler Haut gesehen habe, aber da knapp die Hälfte der freiwilligen Helfer nicht weiß und Ooltest ebenfalls dunkel ist, war klar, dass sie flunkert.

    Entspannt stellt sich Kyron vor uns rund zwanzig Zuhörern auf und zwinkert mir freundlich zu. Irritiert wende ich den Kopf, ob noch jemand anderes hinter mir steht, aber er scheint tatsächlich mich gemeint zu haben. Mit heißem Gesicht schaue ich zu Boden.

    »Herzlich Willkommen bei der heutigen Schulung ›Die Neue Welt – zusammen leben, zusammen lernen, zusammen voranschreiten‹!«, begrüßt uns Kyrons tiefe, warme Stimme.

    Das Publikum klatscht, manche zurückhaltend, aber die meisten mit glänzenden, erwartungsvollen Augen. Verstohlen sehe ich mich um. Zwei Reihen vor mir sitzt ein älterer Mann, dessen Rücken so gebeugt ist, dass er Mühe hat, zu Kyron aufzuschauen. Links, einige Stühle entfernt, wackelt ein etwa Elfjähriger ungeduldig mit den Beinen. Sein Ausdruck hat bereits den Ernst von Erwachsenen, nur seine Füße scheinen sich nicht der Härte des Lebens beugen zu wollen. Die meisten Flüchtlinge im Camp sind zwischen zwanzig und dreißig, hauptsächlich Männer. Ich bin froh, dass hier Frauen und Männer sind, dann ist es ein bisschen wie an den Markttagen, der einzigen Zeit, die Männer und Minderjährige miteinander verkehren durften, ohne bestraft zu werden. Es gibt im Camp noch zwei Familien, nur eine Handvoll alleinstehender Frauen und ein paar Mütter, die ihre Flucht samt Kindern angetreten haben. Sie haben meine volle Bewunderung, während ich die Kinder eher beneide, solche Mütter zu haben.

    »Unser Zusammenleben in der Neuen Welt unterscheidet sich in mehreren Punkten erheblich von den Gesetzen in der Alten Welt, wie einige bereits in anderen Schulungen erfahren haben. Einen der wichtigsten Punkte möchte ich heute mit euch erörtern.«

    Kyron drückt auf einem kleinen Apparat eine Taste und ›GLEICHBERECHTIGUNG‹ erscheint in einem satten Grün hinter ihm auf einer Leinwand.

    »Um diesem Wort einen Sinn zu geben, brauchen wir Bezugspunkte, und deswegen möchte ich zunächst mit euch betrachten, wie ihr bisher gelebt habt.«

    Kyrons Blick schweift erwartungsvoll über unsere Gesichter und bleibt an mir hängen.

    »Lore, wer hatte bei dir zuhause das Sagen?«

    Verblüfft darüber, dass er aus dem Stegreif meinen Namen kennt, räuspere ich mich. Einige Zuhörer drehen sich zu mir um und ich werde wieder rot.

    »Ähm, meine Mutter. Lida. Lida Rufersen.«

    Ein paar Leute lachen.

    »Danke, aber du musst keine Namen nennen«, schmunzelt Kyron.

    »Ach so«, sage ich und sehe zu Boden.

    »Aber interessant. Ungewöhnlich, oder nicht? Dass eine Frau bestimmt?«

    Viele nicken zustimmend.

    »Was war mit deinem Vater?«

    »Der ist … war krank«, antworte ich. Kyron hält den Zeigefinger hoch. »Aha! Der Vater war krank! Gab es denn keine anderen Männer bei euch, die seine Aufgaben übernehmen konnten?«

    »Nein, mein Bruder ist erst zwölf.«

    Zufrieden nickt Kyron. Dann zeigt er wahllos ins Publikum. »Und wie war es bei dir?«

    »Mein Vater hatte das Sagen.«

    »Und bei dir?«

    »Mein Mann war der Clan-Chef.«

    »Mein Sohn hat alle Entscheidungen getroffen.«

    »Und bei dir?«

    »Ich habe den Clan angeführt.«

    Überrascht sehe ich den Älteren mit dem Buckel an.

    »Warum bist du geflohen?«

    »Weil es falsch ist. Weil alles da drüben falsch ist. Keine Menschlichkeit.«

    Gerührt betrachtet Kyron den Mann, der mühsam zu ihm hochlinst. »Danke Jarl, danke, dass du das mit uns geteilt hast!«

    Ich zucke peinlich berührt zusammen, weil mir klar wird, dass Kyron die Namen aller Anwesenden kennt, wie auch immer er das anstellt.

    Kyron hebt die Stimme. »In der Alten Welt bestimmt in der Regel der Mann, außer, dieser ist verhindert, dann übernimmt in seltenen Fällen, wie bei Lores Familie, eine Frau die Verantwortung. Ich denke, wir alle verstehen, warum Lore fliehen musste, wenn ihr Clan, außer einem Kind, keinen männlichen Vorsteher hatte. Kein Clan kann in der Alten Welt ohne Männer überleben.«

    Zustimmendes Nicken. Als habe Kyron darauf gewartet, grinst er. »Oder aber ist es das, was man uns glauben machen wollte?« Er macht eine kunstvolle Pause. »Denn sind es nicht wir selbst, die die Regeln aufstellen? Können wir nicht selbst entscheiden, was erlaubt ist und was nicht? Was, wenn alle bestimmen dürften? Was, wenn Frauen die gleichen Rechte und Pflichten hätten wie Männer? Gingen wir dann zugrunde? Würden wir uns selber vernichten?«

    Kyron drückt wieder auf den kleinen Apparat. Hinter ihm flimmern Bilder auf der Leinwand auf: Eine Frau steht vor Mädchen und Jungen in Tischreihen. Eine ältere Frau in hellem Kittel verabreicht einem Kind eine Spritze. Ein Mann und eine Frau beugen sich über die Zeichnung eines Gebäudes. Ein Grauhaariger hat ein Baby auf dem Arm und hält ihm eine Tasse an die Lippen. Ein Paar sitzt auf einem Trecker, die Frau am Lenkrad. All diese Menschen auf den Fotos sehen glücklich und zufrieden aus, die meisten lachen oder lächeln zumindest.

    Neben mir verschränkt ein Zuhörer die Arme. »So ein Blödsinn.« Aber er sagt es so leise, dass nur ich es hören kann und sicher nicht Kyron.

    »Das ist Gleichberechtigung«, erklärt der Freiwillige. »Männer und Frauen dürfen die gleiche Arbeit verrichten. Männer und Frauen haben das gleiche Recht, Entscheidungen zu treffen. In der Neuen Welt ist jeder Mensch gleich!«

    Um mich herum Stille.

    »Lasst das auf euch wirken. Wie viele Ressourcen damit freigesetzt werden. Wie sehr wahrer Frieden erblühen kann. Jeder Mensch ist gleich! Männer, Frauen, Kinder.«

    Ein Raunen geht durch

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