Johnny B. Goode im Weltraum: Protest, Ekstase, Provokation - 25 Jahre Rock'n'Roll
Von Kai Sichtermann
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Über dieses E-Book
Essayistisch, erzählend, manchmal auch aufzählend und auf knappem Raum rauscht der Autor Kai Sichtermann, Bassist und Gründungsmitglied der Band Ton Steine Scherben, einmal durch die Rock'n'Roll-Geschichte - von den 1950er bis Ende der 70er Jahre.
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Buchvorschau
Johnny B. Goode im Weltraum - Kai Sichtermann
Kai Sichtermann
Johnny B. Goode im Weltraum
Protest, Ekstase, Provokation - 25 Jahre Rock’n’Roll
Ein intuitives Essay für die Enkelgeneration
FUEGO
- Über dieses Buch -
ROCK’N’ROLL! Wann und wo ist er entstanden? Wofür steht er? Gab es eine Kulturrevolution der Jugend? Welches waren die wichtigsten Songs? Wer waren die einflussreichsten Protagonisten?
Essayistisch, erzählend, manchmal auch aufzählend und auf knappem Raum rauscht der Autor Kai Sichtermann, Bassist und Gründungsmitglied der Band Ton Steine Scherben, einmal durch die Rock’n’Roll-Geschichte - von den 1950er bis Ende der 70er Jahre.
Prolog
Zwei Kriege wüteten auf unserem Planeten, in die fast alle Länder involviert waren, direkt oder indirekt. Mehr als 70 Millionen Menschen verloren dabei ihr Leben. Das wäre so, als würden die Bewohner mehrerer Millionenstädte ausgelöscht, New York, Kairo, London, Madrid, Paris und Berlin mit Toten übersät. Hinzu kommen noch die Überlebenden mit körperlichen Verletzungen, die Verkrüppelten und Verstümmelten, sowie die mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Hat es jemals zuvor so viel entsetzliches Leid und Elend in so kurzer Zeit in unserer zivilisierten Welt gegeben?
Von 1914 bis 1918 tobte der Erste Weltkrieg. »Stirb den Heldentod fürs Vaterland!«, mit dieser zynischen Parole versuchten die Kriegstreiber ihr Handeln zu rechtfertigen. Zum Glück fanden sich damals auch Menschen – wenn auch viel zu wenige – die diesen Wahnsinn nicht mitmachen wollten. 1916 trafen sich in der neutralen Schweiz die Dadaisten, um auf ihre provokante Weise gegen das Blutvergießen zu protestieren. Totentanz, das Gedicht von Dada-Mitbegründer Hugo Ball, das auch vertont wurde, zeugt davon: Tod ist unser Zeichen und Losungswort. Kind und Weib verlassen wir: Was gehen sie uns an! Wenn man sich auf uns nur verlassen kann!
Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, gab es im musikalischen Kulturbetrieb einige Ereignisse, die Kultstatus erlangten. 1924 komponierte George Gershwin mit der Rhapsody in Blue ein sinfonisches Werk, das Jazz und Klassik miteinander verband und in New York seine Uraufführung feierte. – Im Juni 1928 nahm der legendäre Jazz-Trompeter Louis Armstrong mit seinen Hot Five in Chicago den richtungsweisenden West End Blues auf.
›Blue‹ und ›Blues‹? Die musikalischen Ursprünge dazu lagen im gesungenen Blues und die Roots dazu im Spiritual, die Musik der schwarzen Sklaven, die in der Frühen Neuzeit von Afrika in den Süden der USA deportiert worden waren. Ihr inbrünstiger Gesang, ihre afrikanischen Rhythmen, durchsetzt mit schamanisch-religiöser Ekstase und die ungewohnte Harmonik vermischte sich mit den liturgischen Gesängen, Psalmen, Hymnen und getragenen Chorälen der weißen christlichen Kultur. Im auslaufenden 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich aus dem Spiritual die geistliche Musik des hoffnungsvollen Gospels und als weltliche Entsprechung der meist melancholisch klingende Blues. Andere musikalische Mischformen dieser und späteren Zeiten nennen wir heute Ragtime, Boogie-Woogie, Jazz (New Orleans, Chicago, Swing, Bebop, Cool), Hillbilly, Country & Western, Folk, Rockabilly, Rhythm & Blues, Doo Wop, Funk, Reggae oder Weltmusik, vorgetragen von unzähligen großartigen Musikern auf der ganzen Welt.
Im August 1928 wurde im Berliner Theater am Schiffbauerdamm Bertolt Brechts und Kurt Weills Dreigroschenoper uraufgeführt, in der die Unterwelt den Raubtier-Kapitalismus spiegelt. Aus dem Eröffnungs-Titel, Die Moritat von Mackie Messer wurde in den 50ern der Song Mack the Knife und ist heute ein Jazz-Standard. Es war wiederum Louis Armstrong, der mit seinen Interpretationen großen Anteil daran hatte, dass eine deutsche Moritat im neuen Gewand internationalen Ruhm erlangte. – Im November 1928, im Zuge des Impressionismus, sah und hörte in Paris ein geschocktes Publikum das Ballett Boléro von Maurice Ravel, erotische Bewegungen einer Tänzerin zu einer hypnotischen Musik, die ihresgleichen sucht. – 1935 wurde die American Folk Opera Porgy and Bess aus der Taufe gehoben, wieder mit Musik von George Gershwin. Von den vielen schönen Liedern ragt eines heraus: Summertime.
Exkurs – Evergreen
Im New Yorker Stadtteil Manhattan, zwischen der 5. und 6. Avenue, gibt es in der 28. Straße einen Häuserzug, der Anfang des 20. Jahrhunderts, Tin Pan Alley (Straße der Zinnpfannen) genannt wurde. In diesen schönen alten Gebäuden befanden sich die Büros der Musikverlage, die ihre angestellten Textdichter und Hauskomponisten dazu anhielten, den ganzen lieben langen Tag auf dem Klavier zu klimpern, um neue Songs zu kreieren. Tin Pan Alley – das Klimpern der Klaviere wurde mit dem Klappern der Zinnpfannen der Häuser verglichen. Die Bedeutung der Tin Pan Alley-Ära für die Musikgeschichte hat der deutsche Autor Hans-Jürgen Schaal hervorgehoben: »Wer Tin Pan Alley sagt, rümpft dabei meistens die Nase: Der Begriff steht für kommerzielle Unterhaltung und leichteste Broadway-Kost. Sehr zu Unrecht, denn in ihrer Blütezeit zwischen 1925 und 1945 erlebte die Alley die glückliche Geburt der amerikanischen Klassik aus dem Geiste des Jazz Age. Von diesen Meisterwerken des Great American Songbook profitiert der Jazz bis heute.« Nicht nur der Jazz, überhaupt die populäre Musik. Und es gibt wohl kaum einen Musikfreund, gleich welchen Genres, der sich nicht schon einmal von einem Lied aus dieser Zeit tief berührt fühlte. Schaal fährt fort: »Es waren die Jahre des Cotton Club¹ und der Harlem Renaissance²: Das Leben war elektrisiert, die Musik bekam einen nervösen Sound, die Menschen änderten ihren Rhythmus und ihre Sprache. Die Songschreiber der Alley gerieten in den kreativen Sog dieses neuen Lebensgefühls, verbanden den Witz der Zeit mit dem Willen zur Kunst und komponierten Schlager für die Ewigkeit. George Gershwin, Ivring Berlin (White Christmas, 1940), Jerome Kern (Smoke Gets In Your Eyes, 1933), Richard Rodgers (Blue Moon, 1934), Cole Porter (Night and Day, 1932), Harold Arlen (Over the Rainbow, 1938), Harry Warren (Chattanooga Choo Choo, 1941) und Arthur Schwartz (You and the Night and the Music, 1934) schufen eine neue Ästhetik der Unterhaltungsmusik: den Love-Song als Kunstwerk, als klingende Miniatur, die über die wirre Broadway-Show und den banalen Hollywood-Film hinauswächst zum Klassiker.«
1929 veröffentlichte Erich Maria Remarque seinen Antikriegsroman Im Westen nichts Neues. Das Buch wurde ein Weltbestseller, und auch die Dadaisten waren länderübergreifend erfolgreich. Aber die Nationalsozialisten waren stärker. 1933 kam Hitler an die Macht. Der Überfall auf Polen 1939 stürzte die Welt in den zweiten großen Krieg. Charlie Chaplins satirischer Film Der große Diktator, der 1940 seine Uraufführung hatte, war und ist bis heute die großartigste Entlarvung eines sogenannten Führers. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 lag halb Europa in Schutt und Asche. Viele Männer befanden sich in Kriegsgefangenschaft oder lebten nicht mehr. Einen großen Anteil beim Wiederaufbau der Städte hatten die Trümmer-Frauen. Für ihre Kinder hatten sie wenig Zeit; sich selbst überlassen wurden viele unangepasst und aufmüpfig, nicht nur in Europa. Das Bewusstsein zahlreicher junger Menschen änderte sich. Das Weltbild ihrer Eltern wollten und konnten sie nicht übernehmen.
Das betraf besonders die Bohème- und Subkultur-Szene in den USA und Frankreich während der zweiten Hälfte der 1940er Jahre. Im New Yorker Bezirk Manhattan stießen Schriftsteller und Dichter wie William Burroughs, Jack Kerouac und Allen Ginsberg als Beat Generation³ auf schwarze Jazz-Musiker wie Dizzy Gillespie, Charlie »Bird« Parker und Thelonius Monk. Sie alle reflektierten den Zeitgeist. Das Ergebnis waren Bücher wie Naked Lunch, On the Road - Unterwegs oder Das Geheul, sowie eine neue Form des Jazz – der virtuose und aufwühlende Bebop, wie z.B. das Stück Be-Bop (1945) von Dizzy Gillespie oder Donna Lee (1947) von Charlie Parker. »Dieser Bebop war mehr als Musik: Er verkörperte das Lebensgefühl der Unangepassten, die aus den Konventionen der amerikanischen Gesellschaft flohen...«⁴
Zeitgleich trat im Pariser Künstlerviertel Saint Germain de Près eine unkonventionelle Lebenseinstellung in Erscheinung, ausschweifend, leicht melancholisch: der Existentialismus – Die Welt an sich ist absurd. Der Philosoph Jean-Paul Sartre, einer der Köpfe dieser Bewegung postulierte: »Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.« Die Existenzialisten jener Tage waren hauptsächlich kritische Intellektuelle, trugen bevorzugt schwarze Kleidung und Rollkragenpullover, tranken Rotwein und verkehrten in verrauchten Kellerlokalen, in denen natürlich auch Musik gespielt wurde. Ihr Existenzialisten-Frühstück am Mittag bestand aus einer Tasse schwarzem Kaffee und einer filterlosen Gauloises-Zigarette – manchmal auch ein Croissant. Juliette Gréco, Chansonsängerin und Muse der Existenzialisten, hat über diese Bewegung mal gesagt, sie »steht für Freiheit und Verantwortung«. Außer den französischen Chansons, wie sie von Juliette Gréco (Si tu t'magines, 1950) und anderen gesungen wurden, gehörte die Jazzmusik dazu, besonders der Cool Jazz wie Miles Davis oder Gerry Mulligan (Bernie's Tune, 1952/53) ihn spielten. Es gab auch eine Vereinigung der beiden Musikrichtungen, Chanson und Jazz, in Form eines Liebespaares: Juliette Gréco, die »Schwarze Rose von St. Germain« und Miles Davis, zu jener Zeit der coolste Mann der Welt, lernten sich 1949 in Paris kennen und lieben.
Die 1950er Jahre standen in West-Deutschland für den Aufschwung nach den Entbehrungen des Krieges, aber auch für Rebellion der Jugend und die Sehnsucht nach individueller Freiheit. Finanzminister Ludwig Erhard hatte »Wohlstand für alle« in Aussicht gestellt und seine Prognose erfüllte sich. Das so genannte Wirtschaftswunder fand tatsächlich statt, und fast jeder war bereit, dafür die Ärmel hochzukrempeln. Der überraschende Gewinn des Weltmeistertitels durch die Deutsche Fussballnationalmannschaft 1954 in der Schweiz⁵ sorgte zusätzlich für ein neues Wir-Gefühl, frei nach dem Motto: »Wir sind wieder wer.« – 1953 fand die sinnliche