Spiel an der Außenlinie: Eine Abstraktion
Von Rainer Wieczorek
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Buchvorschau
Spiel an der Außenlinie - Rainer Wieczorek
I
Das beleuchtete Stadion
Auf einem jener abendlichen Herbstspaziergänge, die ich in der Entstehungsphase meiner Abhandlung Das ungespiegelte Kind zu unternehmen pflegte, lernte ich Redlitz kennen, einen »Erzähler«. Obwohl er unweit unserer Siedlung am Stadtrand wohnte und, wie er sagte, gern um diese Zeit spazieren ging, war er Mal für Mal meiner Aufmerksamkeit entgangen, bis wir heute miteinander ins Gespräch kamen. Das Flutlicht des nahe gelegenen Stadions hatte unsere gemeinsame Neugierde geweckt, denn es war angeschaltet worden, obwohl an einem Donnerstag wie diesem kein Spiel zu erwarten war und das Training der Heimmannschaft grundsätzlich auf Nebenplätzen stattfand. »Wartungsarbeiten«, vermutete Redlitz, womit er recht behalten sollte.
Dem stummen Impuls folgend, mit dem die Lichtmasten uns zu einer Stadionbesichtigung aufforderten, gingen wir den Waldweg an den Hockeyplätzen vorbei, der seit vielen Jahren den auswärtigen Fußballfans vorbehalten, in den Sechziger- und Siebzigerjahren aber gern von jenen benutzt worden war, die das Schlangestehen an den Haupteingängen vermeiden wollten. Das Kassenhäuschen, das wir bald mit einem alten Trick passierten, war unverändert das der Sechzigerjahre, während das Innere des Stadions zwar seine grundlegende Modernisierung noch vor sich hatte, aber uns, die wir seit über drei Jahrzehnten keinen Fußballplatz mehr betreten hatten, doch die eine oder andere Überraschung bot.
Mit einem im Nachhinein verwunderlichen Einverständnis waren wir in das beleuchtete Stadion eingezogen und hatten auf der unüberdachten Gegengerade, etwa auf Höhe der Mittellinie, unseren Stehplatz eingenommen, als erwarteten wir etwas, als sei ein Spiel noch nicht zu Ende, als sei etwas Entscheidendes noch nicht gesehen.
Das Flutlicht, brach Redlitz nach kurzer Zeit unser Schweigen, habe stets das besondere Spiel angekündigt. Er erinnere sich noch gut an die Aufregung, als 1981 auch dieses Stadion mit Flutlichtmasten ausgestattet wurde.
Noch heute, fuhr Redlitz fort, hätten diese Masten etwas Imposantes; schon von Weitem seien sie auszumachen. Von der Stadtkrone herabblickend, deute kein Kind auf das Schloss, sondern stets auf den Fußballplatz, von dem es weder Ball noch Rasen sehe; allein die Flutlichtmasten lenkten den jungen Blick.
Er erinnere sich noch genau an den Nachmittag, als er selbst – neun Jahre alt – auf das Phänomen Flutlicht aufmerksam geworden sei; es habe sich ihm eingeprägt wie eine Verheißung: Das Flutlicht des Hamburger Volksparkstadions. Es wird November gewesen sein, vielleicht Dezember – das habe er vergessen – auf jeden Fall so neblig, dass das Flutlicht gegen die Nebelschwaden anzukämpfen hatte. Immerhin war es stark genug, um die schreckgeweiteten Augen der Abwehrspieler auszuleuchten, als Uwe Seeler zum Abschluss kam. Im Zeitungskiosk gegenüber der Haltestelle Schloss, im aufgeklappten Deutschen Fußballkalender 1965 »schoss uns Uwe« den entscheidenden Treffer: Nebel, Licht und Pulverdampf. Redlitz schaute mir prüfend in die Augen, ob ich die Steilvorlage zu der malerischen Thematik William Turners bemerkt hatte.
»Wenn Sie wollen, – wenn Du willst«, könnten wir uns in den nächsten Wochen werktags um diese Stunde hier, auf der Gegengerade, treffen. Er plane nichts weniger als das Skizzieren eines hochabstrahierten Fußballspiels, was immer das sein werde. Den Hinweis auf William Turner habe ich ja offensichtlich verstanden.
Er habe sich bereits beim Passieren der Hockeyplätze als Erzähler zu erkennen gegeben, fuhr Redlitz nach einer Pause fort. Hier sei zu ergänzen, dass er in der oralen Erzähltradition stehe, er schreibe also nicht, er erzähle im eigentlichen Sinn. Dieses literarische Genre sei mit der allgemeinen Fixierung auf das geschriebene Wort oft gedemütigt worden und nun fast in Vergessenheit geraten. Kaum einmal sehe jemand, dass beispielsweise die Märchen der Brüder Grimm ganz und gar auf dem Boden dieser Erzählweise fußen. Lediglich der kürzlich verstorbene Peter Kurzeck habe diese Kunst noch beherrscht – allein auf weitem Feld.
Weil er also, sagte Redlitz mit Blick auf die Außenlinie, als oraler – mündlicher – Erzähler agiere, der ähnlich wie ein Jazzmusiker das einmal Geäußerte nicht nachträglich filtern, verkleiden, umgruppieren könne, brauche er einen, der die notwendigen Hierarchisierungen im Verlauf des Weitererzählens vornehme, das Essenzielle vom Beiwerk trenne, das Wesentliche zu erkennen vermöge, um das, was nur Weg dahin war, entschlossen beiseite zu fegen, wenn die Zeit dafür gekommen.
Das Spiel an der Außenlinie
Als wir uns am nächsten Tag am Hockeyplatz trafen, um gemeinsam unseren Weg auf die Gegengerade anzutreten, war das Flutlicht ausgeschaltet. In die warmen Farben eines schönen Herbst-Abends eingebettet, lag das Spielfeld vor uns, während die alten Pappeln hinter der Südtribüne sanft raschelnd dem Stadion den Namen zuflüsterten.
Redlitz, ungerührt, begann wieder vom Flutlicht zu erzählen, nur war es nicht mehr das des heimischen Stadions, sondern jenes, welches am 5. Mai 1966 den Glasgower Hampdenpark beleuchtete. Während das Spielfeld in der Mitte bis hin zu den Straf- und Torräumen an damaligen Verhältnissen gemessen gut ausgeleuchtet war, lagen die Eckfahnen nahezu im Dunkel. Dortmund stand im Endspiel gegen den FC Liverpool und würde bald den Europapokal der Pokalsieger in den Händen halten. Noch aber war es nicht so weit, sagte Redlitz und lächelte. Noch versuchten Sigi Held und Lothar Emmerich immer wieder über die linke Außenbahn zu kommen.
Eine Szene habe sich ihm besonders eingeprägt; er wisse gar nicht, wie