Germanija: Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde
Von Dmitrij Belkin
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Buchvorschau
Germanija - Dmitrij Belkin
Dmitrij Belkin
GERMANIJA
Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Dezember 1993, Dnepropetrowsk, Ukraine. Der 22-jährige Dmitrij Belkin nimmt drei Taschen und sechs Bücher, setzt sich in einen Bus und fährt ins völlig Ungewisse, nach Deutschland, wie eine Viertelmillion andere Juden aus der Ex-UdSSR auch. Er kommt als Einwanderer in ein Land im Umbruch: Postsowjetischer Blick trifft auf alte und neue Bundesrepublik, in der für ihn und seine Familie eine jüdische Selbstentdeckung möglich wird. Deutsche Zeitgeschichte im Spiegel einer sehr persönlichen Erzählung, die ihr Licht auch auf die heutige Einwanderung wirft.
Vita
Dmitrij Belkin, geboren 1971 in der Ukraine (damals UdSSR), kam 1993 als »Kontingentflüchtling« nach Deutschland. In Tübingen schloss er sein bereits in der Ukraine begonnenes Studium der Geschichte und Philosophie mit Promotion ab. Nach Stationen am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte, beim Jüdischen Museum Frankfurt, beim Fritz Bauer Institut und einem Jahr in den USA ist er heute als Referent beim jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk und als Publizist in Berlin tätig, wo er mit seiner Familie lebt.
Meinen Eltern gewidmet
Inhalt
Vorwort
I.GERMANIJA BEGINNT — Dnepropetrowsk – Krim – Moskau – Kiew – Karlsruhe – Reutlingen
Deutsche Botschaft: Herr Schatz entscheidet
Abschied von der UdSSR
Der Bus nach Deutschland
Es menschelt in Reutlingen
Das Amt und andere Verwerfungen
Epochenwechsel
II. DAS CHRISTLICHE ABENDLAND MACHT FERTIG – UND JÜDISCH — Reutlingen – Tübingen
Meine selbsternannte Dienstreise
Die UdSSR am offenen Herzen wegoperieren
Kulturelle Codes
Ich werde christlich und will zurück nach Dnepropetrowsk
Warum man als Russe in Deutschland das eigene Land nicht studieren sollte
Schabbat, Ikonen & Co.
III. DEUTSCHER STAATSBÜRGER – WAS NUN? — Tübingen – Moskau – Dnepropetrowsk – Israel – USA – Stuttgart – Leipzig – Frankfurt
Eine Frage der Religion
»Willkommen im Zoo!« – Neue Heimat
Verwirrter Neudeutscher entdeckt die Welt
Russisches Judentum im Halb-Untergrund
Tübingen muss man frühzeitig verlassen
Ankommen im jüdischen Frankfurt
Meine Frankfurter Schulen
IV. »WIE HART IST ES, ALS JUDE IN DEUTSCHLAND ZU LEBEN?« — Frankfurt – Berlin – USA
Kein Luftmensch mehr sein
Meine Familie
Mein erster Liberaler
Die Beschneidung
Jüdischkeit
Der Übertritt
Familie in der Krise
Amerikanische Europäer
»Mr. Belkin, how hard is it as a Jew in Germany?«
V. DEUTSCHES JUDENTUM 2.0 — Frankfurt – Berlin
Meine Ausstellungen
Fritz Bauer. Schwieriger Umgang mit dem Guten
Bar Mizwa im Rothschild-Palais
VI. ANGEKOMMEN? — Berlin
VII. BRIEF AN EINEN FORTGESCHRITTENEN EINWANDERER — Verfasst im angetrunkenen Zustand in einer Bar in Berlin-Mitte
VIII. »DENN FREMD WARST DU IM LAND ÄGYPTEN«
STATT EINES NACHWORTES — Mögliche Heimat: Deutsches Judentum zwei
Verwundet bei Smolensk
Sieger
Halacha und Mimikry
Vor dem Gesetz: Amt Deutschland
Deutsch-jüdische Kultur. Jedoch eine andere
Vorwort
In Gurzuf, auf der Krim, die 1995 nicht mehr UdSSR und noch nicht wirklich Ukraine ist, weht eine wundervolle milde Brise. Das Meer ist dunkel (Schwarzes Meer!), aber selten bedrohlich. Die alten tatarischen Straßen wirken romantisch, sie sind kaputt und geheimnisvoll, die Zypressen und Tannen in den sowjetischen Parks stehen Spalier. Meine Frau Ljuda und ich leben seit knapp zwei Jahren in Deutschland. Wir kamen als jüdische Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine, die erst seit vier Jahren als ein unabhängiger Staat existiert. Kontingentflüchtlinge heißen in Deutschland die Flüchtlinge, die kein Asyl- oder anderes Anerkennungsverfahren durchlaufen müssen, sondern fast umgehend eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Zu den zahlenstärksten Gruppierungen von Kontingentflüchtlingen zählten die vietnamesischen »Boatpeople«, die in den Achtzigerjahren nach Deutschland kamen, sowie Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die dieses Land ab 1991 erreichten. Und natürlich ein Teil der Flüchtlinge aus Syrien, die wir erst seit dem Spätsommer 2015 bemerkten, als es so viele wurden – auch von ihnen wird später noch die Rede sein. Kontingentflüchtlinge werden nach dem so genannten »Königsteiner Schlüssel« auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Ljuda und ich sind in der beschaulichen Universitätsstadt Tübingen gelandet. Meine Eltern leben zu dieser Zeit noch in der Ukraine. Wir besuchen sie und verbringen zwei Urlaubswochen auf der Krim.
Die Krim wirkt mit ihrer leicht lethargischen und majestätischen Natur nicht nur wie eine schlafende Schöne – sie ist in dieser Saison zugleich hochgradig kriminell. Geweckt wird die Schöne regelmäßig und unsanft durch Schüsse und Explosionen. Die Sowjetunion ist soeben zerfallen, viele sind an diversen Filetstücken, die angeblich schlecht und zugänglich umherliegen, interessiert. Auch die gewöhnlichen Diebe. Unsere Ferienanlage wird an diesem frühen Nachmittag, der in der Ex-UdSSR nicht existierenden Siesta, bestohlen, wir haben die Räuber, die durch das Gelände zogen, noch von hinten gesehen. In der Mülltonne vor unserem Häuschen finden wir einen Dietrich, mit dem sie die eher symbolischen Schlösser der Nachbarhäuser ohne Probleme aufgemacht haben.
Ein junger, vielleicht 25-jähriger Polizist befragt uns als Zeugen. Am Ende möchte er wissen, wo wir wohnen.
»Tübingen, Deutschland«, sagen wir.
Der Mann macht das Protokoll fertig, unterschreibt es selbst und gibt es uns zum Unterschreiben.
»Familie Belkin«, lesen wir darin, »wohnhaft in Thüringen, DDR.«
Womöglich diente er in den späten Achtzigern irgendwo in der DDR, und vielleicht würde er, schon als reifer Mann, 2014 für die auf eine wenig legale Weise wieder russisch gewordene Krim kämpfen. Die Uhr wurde gewaltsam zurückgedreht, und Menschen landeten wieder in ihrem verschwundenen Land. »Thüringen, DDR« anstatt »Tübingen, Deutschland«, »Krim, UdSSR (heute «Russland» genannt)« anstatt »Krim, Ukraine«, wie es nach dem Zerfall der Sowjetunion hieß.
Szenenwechsel. Reutlingen, Baden-Württemberg, 1994, also ein Jahr vor der Krimreise, es sind meine ersten Monate in Deutschland. Ich quäle mich in der reichen schwäbischen Provinz und frage jemanden auf der Straße nach dem Weg. Ein etwa fünfzigjähriger Reutlinger erklärt mir die Route. Er kennt sich gut aus.
»Wo kommen Sie her?«, fragt mich der Mann anschließend.
»Aus der Ukraine«, lautet meine Antwort.
»Dort, wo es gerade einen Krieg gibt«, sagt der Mann verständnisvoll und meint doch die serbische Krajina, dieses politische Gebilde, das zwischen 1991 und 1995, während des Kroatienkrieges, existierte. Wir sind mitten im jugoslawischen Bürgerkrieg, und die groben, fußballerisch starken Jungs, mit denen ich in Reutlingen ab und an kicke, kommen direkt von dort. Noch weiß kaum einer in Deutschland, wo genau die Ukraine überhaupt liegt. Tschernobyl assoziieren die meisten mit der untergehenden Sowjetunion, die Klitschko-Brüder werden erst etwas später gesamtdeutsche Popularität erlangen. Noch spielt es keine Rolle, wo die Grenze des politisch und geografisch Wahrnehmbaren verläuft. »Kraj« heißt Grenze, es ist die Wurzel sowohl des Wortes »Krajina« als auch des Wortes »Ukraine«.
Wir wurden als Juden nach Deutschland »eingeladen« – so nennen es die Älteren in unserer Einwanderergruppe, vielleicht auch, um die soziale Unterstützung seitens des deutschen Staates, die sie beanspruchen und benötigen, für sich zu legitimieren. Diese Formulierung, »als Juden in Deutschland, im Land des Holocaust« willkommen zu sein, hat mich von Anfang an zerrissen. Etwa eine Viertelmillion Juden kommt zwischen 1990 und 2005 auf diesem »jüdischen Ticket« nach Germanija, in das wiedervereinigte Deutschland, das die Schuldgefühle und die staatlich sanktionierte und finanzierte Erinnerungskultur an den Holocaust zwar schon länger pflegt, aber in den frühen Neunzigerjahren mit ganz anderen Themen beschäftigt ist – zum Beispiel mit der Abwicklung der DDR, mit der Annäherung zwischen Ost und West, mit dem Finden einer neuen Rolle in Europa. Die Juden reisen in ein wiedervereinigtes Land, das sich in einem großen Umbruch befindet.
Juden?! Viele Deutsche dachten, es würde reichen, einen Teil der zwei bis zweieinhalb Millionen Juden aus der späten Sowjetunion zu holen, um in einem zivilisierten, von Schuldgefühlen geplagten Deutschland wieder jüdisches Leben zu ermöglichen. Sie dachten, sie retten uns vor Antisemitismus und Totalitarismus und tun damit etwas für ihr Gewissen.
Für uns Neuankömmlinge stellte sich das anders dar. Wir hatten in unserem Sowjetleben ein durchaus funktionierendes politisches und ideologisches System gehabt, das aktiv und vital war – für diejenigen, die sich mit ihm arrangiert haben. Die Menschenrechte und die politische Gewaltenteilung waren dabei leider nicht entscheidend, menschliche Gefühle und menschliche Nähe dagegen schon. Wir wärmten uns an uns selbst, draußen und in den Wohnungen war es ja kalt. Oft war diese menschliche Wärme unerträglich, meistens war sie ermüdend und distanzlos, doch sie war auch rettend. Genauso wie das Gefühl, einem Sechstel der Erde anzugehören, das von außen »Reich des Bösen« genannt wurde. »Selber böse!«, wollte man laut schreien. Doch wir schrien nicht, es war eine schweigsame Zeit – Facebook und Twitter existierten noch nicht. Wir lebten, hofften, liebten – wie überall sonst, auch in Deutschland. Und, ja: Wir waren jung, aber schon »Veteranen« des Kalten Krieges. DerEiserne Vorhang war Teil unseres Lebens und verschwand auch nach der Perestrojka nicht gleich.
Ein erstes Missverständnis der Einladung von deutscher Seite an die so genannten Kontingentflüchtlinge bestand darin, dass man Juden erwartete, aber Sowjetmenschen bekam: häufig atheistisch, arm, belesen und müde. Der staatliche und vor allem der Alltagsantisemitismus hielten uns zusammen und verbaten uns, unser tatsächliches oder imaginiertes jüdisches Naturell zu vergessen. Denn viele von uns – wie auch ich – waren das Produkt einer Ehe zwischen einem Juden und einer Nichtjüdin. Das heißt, jüdisch genug, um nach Germanija einzureisen, aber nicht jüdisch genug, um dem deutschen Stereotyp eines Juden zu entsprechen.
Wir kannten zwar die jüdischen Namen sowjetischer Schriftsteller (Ilja Erenburg, Josef Brodsky) und Musiker (Isaak Dunajewsky, David Ojstrach) und freuten uns, dass es sie gab. Wir konnten auf Jiddisch schimpfen und erlaubten uns ab und zu »Geheimaktionen«, die für die übrige sowjetische Öffentlichkeit verborgen blieben. Wir konnten etwa in einem Lebensmittelgeschäft fragen: »Hast du GELD?« (anstelle des russischen den’gi) oder durch eine Frage – »Ist sie meschugge?« – einem jüdischen Gesprächspartner ein geheimes Verständnis ermöglichen, das den anderen verborgen blieb.
Viel mehr aber nicht. Wir hatten uns russifiziert: Viele Juden waren die größten Liebhaber der russischen Kultur. Sowjetisiert: Hunderttausende haben sich mit dem System identifiziert, ja dieses bewusst mitaufgebaut. Auch christianisiert: buchstäblich und in jedem Fall intellektuell.
Waren diese Wirren der Assimilation ausschlaggebend für die damalige Entscheidung vieler Juden, nach Deutschland zu kommen? In ein Land, in dem es nach Vorstellung vieler nie wieder ein jüdisches Leben hätte geben dürfen? In ein Land, das von uns irgendwo zwischen Goethe und Hitler imaginiert wurde? Ich kann das nur für mich selbst beantworten: Ich wollte frei sein, ich wollte in Europa Geisteswissenschaften studieren, ich wollte die Welt kennen lernen, die jenseits des oben erwähnten Eisernen Vorhangs lockte. Ich glaube nicht, dass ich einem weit verbreiteten Vorurteil über die jüdische Emigration entsprach: Demnach seien die Jüdischsten (Natan Scharanski, der israelische Politiker) nach Israel, die Dynamischsten (Sergey Brin, Co-Gründer von Google) nach Amerika und die anderen nach Deutschland emigriert. Vielleicht waren es eher die Europäischsten, die nach Germanija gingen. Es gab da diesen vielversprechenden Wind der Veränderung, der in den Neunzigerjahren einen unheimlichen Sog entwickelte, dem auch ich mich nicht entziehen konnte: Es zog förmlich in Europa, das sich bald vom Atlantik bis zum Ural erstrecken sollte, die Türen schlugen auf und zu. Man witterte eine Chance, ohne diese rational definieren zu können – oder an die Folgen dieser Chance zu denken.
Auf wen ich in der Fremde treffen würde, interessierte mich zunächst wenig. Ich ging einfach davon aus: In Deutschland leben die Deutschen. Diese Erkenntnis genügte fürs Erste, auch wenn sie nach dem Holocaust nichts Gutes implizierte.
Zwanzig Jahre später entsteht nun dieses Buch, und erstaunlicherweise muss ich heute feststellen: O Schreck, ich mag Germanija! Darf ich das denn? Um dies herauszufinden, habe ich mich aufgemacht auf eine Erinnerungsreise von der Vergangenheit bis in die Gegenwart, in der ich nachspüre, wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde.
I.GERMANIJA BEGINNT
Dnepropetrowsk – Krim – Moskau – Kiew – Karlsruhe – Reutlingen
Deutsche Botschaft: Herr Schatz entscheidet
Den ersten Besuch einer deutschen Botschaft unternahm ich, indem ich das Land wechselte: Ich fuhr von Kiew nach Moskau. Das war 1992, Moskau war zwar die Hauptstadt – aber inzwischen die eines anderen Landes, denn die Ukraine war im Jahr zuvor ein unabhängiger Staat geworden. In Moskau ging ich von Botschaft zu Botschaft: USA, Kanada, Australien. Man braucht direkte Verwandte (USA) oder gewisse Geldsummen, um Punkte für die Aufnahme zu sammeln (Kanada). Ich fragte afrikanische Studenten, deren Länder ich gar nicht kannte, ob auch bei ihnen eine Aufnahme möglich sei. Sie wussten es nicht.
Die Mitarbeiterin in der deutschen Botschaft, sie blieb mir als »Frau Heike« in Erinnerung, teilte mir in einem Deutsch mit, das ich halbwegs verstand: Hitler habe auch Juden väterlicherseits verfolgt (und ich bin einer), deswegen werde das Land auch diesen Personenkreis aufnehmen. Doch als Neu-Ukrainer musste ich mit allen meinen Fragen in eine für mich zuständige Botschaft: in die der Bundesrepublik in der Ukraine.
Mein Deutschland begann also in Kiew. Eine zentral gelegene, ruhige Straße in der Nähe des Hauptbahnhofs, aber jenseits seiner schmuddeligen Ecken. Alte Kiewer Bäume, die Tschernobyl überstanden haben, »Stalinhäuser« – das Beste, was es in der UdSSR zum Wohnen gab. Die Tschkalow-Straße – nach einem Piloten der Stalin-Zeit benannt, ein sowjetischer Mythos – wurde noch in den Neunzigerjahren umbenannt. Sie trug jetzt den Namen des guten, zerrissenen, trinkenden, 1995 verstorbenen ukrainisch-sowjetischen Schriftstellers Oles Hontschar. Heute, im Zuge einer radikalen Dekommunisierung in der Ukraine, der Tausende von Straßen- und Städtenamen zum Opfer fallen, hätte sich der Autor, der vor allem die Erfahrungen der sowjetischen Kriegsgeneration beschrieb, nicht mehr für einen Straßennamen qualifiziert.
Auf der linken Seite, vom Bahnhof kommend, liegt die Botschaft des wiedervereinigten Deutschland. Anfang der Neunzigerjahre baute man auf der gegenüberliegenden Seite ein provisorisches Häuschen, in dem der konsularische Mitarbeiter Kurt Schatz arbeitete, einer der wenigen Ostdeutschen, die von der nach der Wende entstandenen gesamtdeutschen Botschaft übernommen wurden. Schatz entschied mit über unsere Zukunft – die der neu-ukrainischen Juden.
Er schaffte es, mehr als 40 000 Anträge aufzunehmen und etwa genauso viele Gespräche zu führen. Schatz sprach ein sehr passables Russisch und verwaltete, verwaltete, verwaltete die Emotionen, Papiere und Geschichten – echte und erfundene – der ukrainischen, de facto natürlich auch sowjetischen Juden.
Viele Jahre später traf ich Kurt Schatz wieder. Er erzählte aus seiner Perspektive, was ich vor zwei Jahrzehnten selbst erlebt hatte: von den Geldern, die ihm angeboten wurden und die er angeblich nie angenommen hat, vom Chaos vor der Botschaft und von der Mafia dort, die Plätze in der Schlange verkaufte, von den Ausreisewilligen aller Nationalitäten der ehemaligen UdSSR und der Notwendigkeit, in dieser Schlange »seine« Juden zu finden. Wie er aus seinem Häuschen heraustrat und laut rief: »Jüdische Bürger, zu mir!«
Und wir kamen, die jüdischen Bürger. Zu einem deutschen Beamten, der mitten in Kiew die Juden zusammenrief.
Meine Ausreise verdanke ich dem paradoxen 20. Jahrhundert und den dramatischen, oft tragischen Wirren um die ewige Frage: Wer ist Jude?
Kurt Schatz stand in engem Kontakt zum Oberrabbi in Kiew. Dieser, einer der ersten Lubawitscher Rabbiner in der Ukraine, erklärte Kurt Schatz, dass Jude sei, wer eine jüdische Mutter habe. Schatz handelte nach diesen Regeln, die mir, dem Sohn eines jüdischen Vaters, kaum eine Ausreisemöglichkeit geboten hätten. Doch in der neu formierten gesamtdeutschen Botschaft war ein Telegramm eingetroffen, das über ein Treffen zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, informierte. Im Gespräch mit dem Bundeskanzler habe auch Heinz Galinski die traditionelle Auffassung vertreten: Jude sei, wer eine jüdische Mutter habe. Zugleich, wusste Schatz, habe sich Galinski aber auch gegen eine weitere mögliche »Selektion« von Juden gewehrt.
Helmut Kohl habe daraufhin angedeutet, die