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Nullstunde: Roman
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eBook206 Seiten2 Stunden

Nullstunde: Roman

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Über dieses E-Book

Berlin 1957: Ruinen, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder. Die Schatten des Krieges, der Naziherrschaft und der Verstrickung vieler Menschen mit dieser Vergangenheit sind noch allgegenwärtig. Der elfjährige Tomas hat mit Jungen aus der Nachbarschaft – seiner »Gang« – ein verbotenes Trümmergrundstück in Besitz genommen, das sie »Nullstunde« nennen. Es ist ihre Welt, reich an kindlichen Freiheiten, wo sie die Vernichtung der Vergangenheit erkunden, wo sie sich erproben und verteidigen – sich selbst und ihre Zukunft suchen. Tomas lebt scheinbar behütet bei seiner Mutter, einer Lehrerin und Collage-Künstlerin, und seinem Vater, einem Vertreter für Schaufensterpuppen. Beide lieben ihn, doch er ist zwischen ihnen zerrissen. Beide sind auf ihre Weise vom Krieg versehrt, und ihre Auseinandersetzungen, Affären und drohende Gewalt verschärfen sich – bis zu dem »Unglück«. Tomas ist gezwungen, über eine »Luftbrücke« in eine neue Welt zu gelangen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Nov. 2024
ISBN9783826091605
Nullstunde: Roman

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    Buchvorschau

    Nullstunde - Michael Reicherts

    Nullstunde

    N

    ach über zehn Jahren kehre ich zum ersten Mal nach Berlin zurück. Es ist eine Reise in die Stadt, in der ich in den fünfziger Jahren den Kern meiner Kindheit zurückgelassen habe; eine Reise hinein in Neugier, Wehmut und verlorene Wörter, in Momente der Trauer vielleicht, Wiederentdeckungen von Menschen, Orten, Veränderungen – Unerzähltes, Verwandeltes, Vergessenes…

    Mit drei Menschen bin ich verabredet, die ich wiedersehen werde nach so langer Zeit: Volker Thut, Margot Bessmer – und meine Mutter! Von ihnen allen weiß ich kaum etwas. Volker hat mir eine Einladung zu seiner Ausstellung winziger Metallplastiken geschickt, Margot ist Schauspielerin mit ihrer ersten tragenden Rolle in dem Boulevardstück »Verführung für Fortgeschrittene«. Dorthin lud sie mich ein.

    Von meiner Mutter habe ich jedes Jahr einmal etwas gehört: Zu meinem Geburtstag bekam ich einen lakonischen Brief. Die ersten vier aus der Haftanstalt, die anderen von verschiedenen Orten auf der Welt – den letzten aus Berlin Friedenau… Alle Briefe bestanden nur aus ein paar Worten und schlossen hinter sich den Vorhang des Verstummens.

    Nun suche ich den Ausgangspunkt für meine innere Reise, die mich zuerst zu mir selbst führen soll – dorthin, wo ich die Luftbrücke in meine Zukunft betreten habe. Aus dieser Zukunft beginne ich die lange Zugfahrt, durch Südwestdeutschland, durch die DDR in das Herz West-Berlins, zum Bahnhof Zoo. Zehn lange Stunden, vier davon rolle ich im Schneckentempo, genug Zeit, um mich in dem Labyrinth meiner frühen Vergangenheit umzusehen und vielleicht wiederzufinden.

    Flucht nachhause

    Ich rannte wie entfesselt durch die Verzweigungen der Pfade hinaus aus dem großen Trümmerfeld bei der Bozener Straße – verfolgt von zwei größeren Jungs, hinter denen johlend noch ein paar andere Kinder herliefen, die bei dem Spiel dabei gewesen waren…

    Ich entkam über den schmiedeeisernen Zaun eines verwilderten Gartens, den Weg kannte nur ich. Atemlos und zitternd schob ich schließlich den Schlüssel in das Schloss der schweren Eingangstür der Nummer 7, stemmte sie auf mit aller Kraft und schlüpfte in den Hausgang unseres großen Hauses. Die Tür fiel ins Schloss und verbarg mich vor den Verfolgern. Ich war in Sicherheit.

    Beim Murmelspiel hatte ich den größeren Jungs mit zwei gelungenen Spielzügen zuvor zwei wunderschöne Glasmurmeln abgewonnen, was sie nicht zulassen konnten – das Recht der Stärkeren!

    In Mamas Armen

    »Komm zu mir, mein Liebling!«, sagte Mama und breitete die Arme aus, als ich in die Wohnung kam. Sie zog mich, presste mich an sich, sie küsste mich auf den Kopf und die Stirn, sie hätschelte mich, erdrückte mich fast.

    »Mein Liebling, du bleibst immer bei mir, wir bleiben immer zusammen!? Versprochen?!«

    Wie schon oft hörte ich ihren Zweifel heraus… Und dann kam es, sie sagte:

    »Auch wenn Papa eines Tages weggeht, mit einer anderen loszieht – mich verlässt!? Du bleibst bei mir?!«

    »Du bist mein Schatz! Ein so kostbarer Schatz!«, sagte sie, während sie mein Gesicht zwischen ihre Brüste zog – dann hoch an ihren Hals, und meinen Kopf streichelte, den ich zurückzuziehen begann, behutsam, denn ich wusste, daraus konnte Kränkung entstehen, und sie war beleidigt, für einen Tag oder länger…

    Ich kannte das.

    So hatte ich mich sanft aus ihren Armen herausgewunden und vorsichtig nickte ich mit dem Kopf, während ich nun vor ihr stand, schmuddelig vom Spielen, verschwitzt von der Flucht, aber glücklich mit meinen großen Glasmurmeln, die ich nun ins Licht hielt, um sie Mama zu zeigen…

    Es war später Nachmittag, es begann schon einzudunkeln, und ich war von draußen zurück, nachhause geflohen – aber das sagte ich nicht –, denn ich war lange auf dem Trümmergrundstück bei der Bozener Straße gewesen, aber das sagte ich nicht, denn das war verboten… Ich hatte mit Kurti und den zwei fremden Jungen lange Zeit Murmeln gespielt, es war ein unebener, schwieriger Parcours. Ich hatte mehrere Male gewonnen, schließlich die zwei wunderbaren großen Glaskugeln mit den schillernden Schlieren! Die zeigte ich Mama, und sie war begeistert, beseelt: Das Innere der Kugeln erinnerte sie an kunstvollen »Jugendstil«-Dekor, den man früher in Glasschalen aufstellte:

    »Das sind ja schillernde Schönheiten! Mit diesen bunten, hauchfeinen Schlieren, Wegen, Spiralen, die im Innern des Glaskörpers zu schweben scheinen«, sagte sie. »Schön, dass du sie mir zeigst – du weisst genau, was mir gefällt!« Sie lächelte, berührt, ja hingerissen. Sie schien in diesem Moment vollkommen glücklich, schwerelos, nach der Liebeserklärung an mich, ihren Sohn, der sie mit seiner Gegenwart, mit so schönen Eindrücken beschenkte… Es würde ein glücklicher Abend! Und ich wusste, sie würde etwas Besonderes zum Abendessen machen.

    Unsere Wohnung

    Ich wohnte seit meiner Geburt mit Mama und Papa in der Wohnung seiner Eltern. Mein Opa – Papas Vater – war noch kurz vor Kriegsende an einem Herzanfall gestorben. Meine Oma, Papas Mutter Traudel, damals schon krank, hatte die junge Familie 1947 bei sich aufgenommen. Inzwischen, 1952, ich war noch nicht in der Schule, war auch sie gestorben.

    Umgeben von einigen Trümmergrundstücken, ragte das fünfstöckige Haus herrschaftlich auf, nur die graue Gründerzeitfassade hatte einige Splitter und Schüsse abbekommen und war beim Brand des Dachstuhls des Nachbarhauses auf der einen Seite grauschwarz geworden… Der hintere Teil der im fünften Stock liegenden Wohnung wurde bei der Explosion einer Bombe, die in einen der benachbarten Hinterhöfe eingeschlagen war, beschädigt. So hatte die Wohnung zwei halb aufgerissene Zimmer zum Hof hin, die man mit Holzplatten und Dachpappe notdürftig geflickt hatte und immer wieder auf Wetterschäden überprüfen musste, bis sie endlich wieder von Maurern und Zimmerleuten instand gesetzt würden. Aber weil sie teilweise zerstört war, blieb die angeschlagene Wohnung der Familie erhalten, und man musste – vorläufig – keine Flüchtlinge und Umsiedler aufnehmen.

    Die Wohnung war groß; sie hatte zwei Toiletten, ein Badezimmer mit üppigen Armaturen – noch aus der Kaiserzeit! –, einen ausufernden Flur, sieben recht hohe Zimmer mit Stuckdecken, einige waren von den Erschütterungen der Bombenangriffe lädiert, und einen großen Balkon. Neben den teilweise zerstörten Zimmern – zum Innenhof – lag mein Kinderzimmer: das typische Berliner Zimmer, recht groß, im Winkel der beiden Wohnungsflügel, mit einem Fenster zum Innenhof. Von dort ging der Blick auf das Berliner Zimmer der Nachbarwohnung, die sich gegenüber, seitenverkehrt, ebenfalls in den Innenhof erstreckte.

    Auf dem langen Balkon in großen Blumenkästen allerhand spektakuläre Pflanzen, manche leuchteten: Mit dem Frühjahr sah man dort Küchenkräuter und später im Sommer auch kleine Tomaten, das Grün von Karotten, Erdbeeren und Blüten kleiner Kürbisse…

    Trümmerspiele

    Ich schlich mich mit Baldur zwischen den dichten Disteln und Brennnesseln hindurch in den hinteren Teil, in die Tiefe des Trümmergrundstücks in der Prinzregentenstraße, das wir noch nicht inspiziert hatten… Eine verlassen stehende Ruine, eine scharfe Aussparung mitten im Straßenzug, die von Einschüssen entstellten Fassaden der Häuser waren hier unterbrochen. Das Haus war bis aufs Parterre zerbombt und offenbar niedergebrannt, hier und da eine Öffnung, einbrechende Kellerräume, man musste sich sehr vorsichtig bewegen, Schritt vor Schritt setzen. Manchmal fand man noch Dinge in den Ruinen: unbrauchbaren oder verkohlten Hausrat, manchmal auch Gewehrmunition, Hülsen. Helmut, ein Junge von weither aus der Güntzelstraße, hatte behauptet, er habe schon einmal ein abgebrochenes Bajonett und daneben einen verschrumpelten Finger in einer Ruine gefunden.

    Die Trümmergrundstücke lagen verlassen, waren für uns einladende und aufregende Geheimnisse, mit wucherndem Unkraut und Gestrüpp. In den ausgehöhlten Treppenhäusern standen manchmal noch einige steinerne Stufen, manche feuergeschwärzt. Man sah ausgetretene Sandsteinschwellen, einen Sockel aus Schmiermarmor, an der Mauer hingen Backsteine, vier Treppenstufen noch, die in der Höhe schwebten und dann ins Nichts eines Hinterhofs wegbrachen. Es war, als könnte man noch Schreie hören, hier und da.

    Die Zwischenwände vom Nachbarhaus, das stehen geblieben war, zeigten über vier Etagen eine bunte Welt, das frühere Hausinnere: Es waren gewaltsam aufgebrochene Innenwelten, Geheimnisse von Wohnungen, Blicke auf verblasste Blumentapeten, bunt verwitterte Alkoven, Borten, Stuckränder, Decken, Stahlbänder, bunte Fliesen, aber auch Rohre und Waschbecken, die manchmal über dem Nichts baumelten, eine Badewanne jäh nach unten hängend, noch gehalten vom Abflussrohr und einem Stück Kachelboden. Ebenso kühn wie zerbrechlich. Häuserwände bunt wie ein Flickenteppich, eine Collage aus Stockwerken und Zimmern. Auch Kacheln mit eingebrochenen oder herausstehenden Rohren und Installationen, eine Häuserwand wie ein riesiges, verletztes Puppenhaus.

    Wie immer schlüpften wir neugierig angezogen und etwas ängstlich auf dieses Grundstück, um es zu erkunden… Vielleicht um einen Fund zu machen: womöglich ein Bajonett oder einen Finger, wie Helmut, oder auch nur einen alten Schlüssel, der selbst wieder Geheimnisse versprach. Heute waren wir zunächst auf einen streunenden Hund getroffen, der aber den Schwanz einzog und rasch verschwand. Das Grundstück schien verlassen, und wir wussten nicht, wer hier seinen Standort hatte, denn Spuren sah man…

    Doch plötzlich tauchten hinter dem Mauerwerk zwei größere Jungen auf, Mattes und Backes, die immer zu zweit durch den Kiez strichen, wie Halbstarke, aber ohne Lederjacke und Karottenjeans; immerhin hatten sie die Haare zu einer albernen Tolle hochgekämmt. Sie nahmen mich blitzschnell, ohne ein Wort, in den Würgegriff und drehten Baldur, der tapfer um sich schlug, den Arm knirschend nach hinten. Sie drohten uns mit bohrenden Blicken und verlangten, dass wir unsere Taschen leerten. Sie begutachteten die Habseligkeiten, die Murmeln, Zigarettenkippen, Kaugummis, das kostbare Taschenmesser und die paar Münzen, die wir dabeihatten, und nahmen sich, was ihnen gefiel. Die anderen Sachen, auch Baldurs abgewetztes Portemonnaie mit einem Wappen der Hitlerjugend – »Nazikram!« brüllte Backes, »dafür musst du büßen!« – warfen sie hinunter in den geborstenen Heizungsraum, in dem Wasser stand.

    Sie vertrieben uns von der Ruine und schimpften drohend hinter uns her: »Hier ist unser Grundstück – ihr Dreckskerle habt hier nichts zu suchen! Lasst euch nie, nie wieder blicken, ihr Nazi-Bubis, ihr braunen Pimpfe, sonst krepiert ihr hier!«

    Obwohl ich tapfer schluckte, stiegen mir Tränen in die Augen. Baldur heulte vor Wut.

    Das Verbrechen, das uns widerfahren war, würde wohl ungesühnt bleiben. Denn wir hatten wieder verbotenes gemacht, verbotenes Gelände betreten. Die Erwachsenen warnten immer wieder. Streifzüge, ja nur das Betreten der Trümmer waren strikt verboten. Viel zu gefährlich: Es bestand Einsturzgefahr, man konnte einbrechen, und schlimmer noch: Immer wieder stieß man auf Blindgänger, nicht gezündete Bomben und Granaten, lauernde Monster.

    Natürlich waren Mattes und Backes üble Kerle, aber zu arm, um echte Halbstarke zu werden – und wie Mama einmal sagte, waren sie »arme Hunde«: Mattes’ Mutter war schwer krank, sein Vater in Kriegsgefangenschaft verhungert. Backes’ Vater war verschollen und seine Mutter war bei einem der Bombenangriffe unter den Trümmern begraben worden. Und Backes, noch ein kleiner Junge von zwei Jahren, hatte neben ihr wie durch ein Wunder im Luftschutzkeller überlebt.

    Mama und Papa

    Nach einem hässlichen Streit gestern Abend habe ich wieder einmal zu verstehen versucht, irgendwie – und zusammengefügt, was ich über Mama und Papa wusste. Das meiste hatte mir Mama in den vergangenen Monaten erzählt, wütend, aufgebracht oder verschwörerisch, mit fragendem Ton anvertraut, hungrig nach Bestätigung:

    »Du bist jetzt alt genug, einiges zu erfahren!«, hatte sie gesagt. Und manches wusste ich aus Bemerkungen von Papa, vor allem auf unseren Ausflügen, vor allem auf dem Heimweg, wenn es wieder zurückging in unsere kleine Familie, so schien es mir, da hatte er plötzlich etwas erwähnt… manchmal auch, nachdem ich vorsichtig gefragt hatte.

    Mama war jetzt vierzig Jahre alt (1916 geboren) und Lehrerin für Kunsterziehung und für Hausarbeit, Nähen, Stricken, Kochen, Werken… Daneben begeisterte sie sich für Kunst und war kreativ – mit Collagen! Sie interessierte sich vor allem für entartete Kunst, die »totgeschwiegene«, »liegengebliebene« Kunst aus Nazitagen, wie sie sagte. Das passte zu ihrer rebellischen Seite, wie sie sagte, sie war originell und legte Wert darauf, war geradezu besessen vom »Schönen« und »Originellen«. Sie war getrieben von »Unerfülltheit«, wie sie sagte, und sah mich dabei unglücklich an. Sie verfolgte künstlerische Pläne, vor allem mit ihren Collagen, zu denen sie sich von Hannah Höch oder Max Ernst inspirieren ließ… Die Collagen gefielen auch mir sehr gut, denn sie waren so vielfältig montiert und oft frech und geheimnisvoll. Mama versuchte »sich zu entfalten«, wie sie mir sagte, musste aber als Lehrerin so vieles einfach »abarbeiten«. Nicht nur die Schüler strengten sie sehr an, der Schule fehlte es immer noch an vielem, das man für den Unterricht

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