Eifelwind: Eine Familientragödie
Von Monika von Krogh
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Buchvorschau
Eifelwind - Monika von Krogh
© 2011
eBook-Ausgabe 2011
Rhein-Mosel-Verlag
Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel
Tel. 06542-5151 Fax 06542-61158
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 978-3-89801-805-0
Korrektorat: Melanie Oster-Daum
Umschlagfoto: mathias the dread/photocase.com
Monika von Krogh
Eifelwind
Eine Familientragödie
RHEIN-MOSEL-VERLAG
Ich danke meiner sehr geliebten Tochter Lisa, der gewissenhaften Erstlektorin und gnadenlosen Kritikerin meiner Manuskripte, die rechnerische Fehlleistungen und vor allem logische Unmöglichkeiten aufdeckte, und deren Lob – dieses Buch betreffend – mich ganz besonders gefreut hat.
Vorwort
Ich traf diesen merkwürdigen Menschen, an den ich bis heute mit Schaudern und zugleich tiefstem Mitleid zurückdenke, als ich in einem kleinen Dorf in der Eifel eine Panne hatte. Als ob das nicht genug gewesen sei, hatte ich mich auch noch verfahren. Ich verließ, wie ich heute weiß, von Koblenz kommend viel zu früh die A 48, und auf irgendeinem Höhenzug nahm ich die falsche Straße, fuhr rechts tiefer in die Eifel hinein statt links ins Moseltal hinunter, in mein Hotel. Es dämmerte bereits, als der Motor sich verweigerte und plötzlich keine Leistung mehr brachte. Um mich herum rechts und links der Straße eine Schnur seltsam düster aussehender Häuser aus rauem Lavagestein, graubraun einige, manche fast schwarz. Wenige Meter neben mir traf ein kleiner Feldweg auf die Durchgangsstraße, auf der ich gestrandet war, und dort stand er, direkt neben der Eingangstreppe des Eckhauses, das eine Gaststätte zu sein schien. Knochig dünn verharrte er in der Dämmerung, unbeweglich wie ein uralter abgestorbener Baum, ein Mahnmal des Hungers, die tief in ihren Höhlen liegenden Augen weit aufgerissen. Als ich ihn eine Weile beobachtete, seine Magerheit bedauerte, öffnete sich hinter ihm die Türe der Wirtschaft und es trat ein junges Mädchen heraus, zögerlich, als fürchte es sich, beugte sich, in der Mitte der Treppe stehen bleibend, hinunter und schob ihm unter einen seiner Arme, die eng am Körper anlagen, ein großes Stück Brot. Er stand ganz still und schwieg, sah straff geradeaus, als habe er nichts gemerkt. Es kam mir vor wie eine Opferhandlung, er sah das Brot weder an, noch aß er es.
Ich hakte das Vorkommnis ab als merkwürdiges Rätsel der merkwürdigen Landbevölkerung. In diesem Moment erhellten sich hinter ihm die dunklen Fenster mit warmem, freundlichen Licht. Ich schob das Auto im Leerlauf auf den Parkplatz vor der Wirtschaft, und grüßte den Mann an der Treppe, der jedoch unverändert und bewegungslos weiter in die Dämmerung starrte.
Die Wirtin hinter dem Tresen, eine ältere Frau, deren Alter man schlecht einschätzen konnte, wie mir das öfter passiert bei gut gepolsterten Personen, ich schätzte sie aber so um die siebzig, sah mir mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen entgegen.
Nein, Fremdenzimmer habe man nicht, das sei früher in der Eifel nicht üblich gewesen, dass Leute nicht in ihren eigenen Betten schlafen, und Touristen kämen heutzutage so gut wie nie herauf, die blieben weinselig unten im Moseltal hängen. Aber man wolle mir das Zimmer der in Köln Kunst studierenden Enkelin zurechtmachen. Und im Dorf wohne ein Automechaniker, der könne sich den Wagen mal ansehen. Es könne aber spät werden, denn er arbeite in der Kreisstadt und die sei 15 Kilometer entfernt. Sie wolle gleich nachher ihre Enkelin zu ihm schicken.
Ich fragte die Wirtin, wer der Mann neben der Treppe sei.
»Mein Ö Bruder«, sagte sie und sah weg.
»Warum gab ihm das Mädchen eine Scheibe Brot?«
»Weil er Hunger hat.«
»Aber er hat es nicht gegessen.«
»Er wird es auch nicht essen, nicht gleich jedenfalls. Und wenn, dann isst er nur sehr wenig. Das meiste sammelt er.«
»Was macht er damit?«
Die Wirtin antwortete nicht, sie riebt den Tresen blanker als blank.
»Vielleicht wartet er nur noch auf die Wurst«, versuchte ich die mir unverständliche und angespannte Situation aufzulockern.
In die Augen der Wirtin trat ein Ausdruck, den ich mir ebenfalls nicht erklären konnte, ablehnend, wütend und angewidert zugleich.
»Und warum kommt er nicht herein?«, fragte ich verunsichert.
Die Wirtin senkte den Kopf, war in den Tresen vertieft.
Nach einer Minute kam das Mädchen, das ich eben draußen gesehen hatte, zur Türe herein und verschwand irgendwo im Hintergrund.
»Meine zweite Enkelin, ein braves Kind«, sagte die Wirtin und sah ihr ernst und stolz hinterher. »Sie geht noch auf’s Gymnasium, in der Kreisstadt, sie will auch studieren.«
Der unangenehme Augenblick war vorbei.
Um der alten Frau einen Gefallen zu tun, lobte ich das gute Herz des Mädchens und verbannte den seltsamen Vorgang endgültig aus meinen Gedanken. Ich war hungrig, fragte um ein Abendessen. »Aber bitte kein Fleisch, ich bin Vegetarierin.«
»Kein Fleisch«, wiederholte die Wirtin, lachte kurz auf und vertiefte sich in den Zapfhahn. »Es ist noch Eierschmeer vom Abendessen übrig«, sagte sie eine Weile später. »Ohne Speck, meine Enkelin isst auch kein Fleisch.«
Eierschmeer! Was immer das ist, ich möchte es haben. Es schmeckt gut, ist eine Art Rührei, aber anders. Man nimmt es direkt aus der Pfanne und schmiert die heiße Masse auf ein Butterbrot.
»Was machen Sie in der Gegend?«, wollte sie wissen, als sie das Geschirr abtrug.
»Ich wollte eigentlich nach Bernkastel-Kues.«
Die Wirtin nickte verbittert.
»Nein«, sagte ich schnell, »ich mache keine Weintour. Mein nächster Roman handelt von einer Winzerfamilie. Ich wollte mir für ein paar Tage das Moseltal und seine Weinberge ansehen.«
»Sie schreiben Bücher?«
Als ich nickte, dachte sie offensichtlich eine Weile nach, denn sie sagte nichts mehr und in ihrem Gesicht waren die unterschiedlichsten Gefühle zu sehen, doch dann schien sie eine Entscheidung getroffen zu haben, sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und setzte sich zu mir. Ihre Stimme war rau und drängend. »Ich habe was für Sie. Schreiben Sie die Geschichte meines Bruders auf. Die Menschen müssen wissen, wohin Geiz und Hartherzigkeit führen können. Aber ändern Sie Namen und Gegend. Und noch etwas: Sie dürfen erst darüber schreiben, wenn Sie die Nachricht bekommen, dass Friedrich und ich nicht mehr am Leben sind. Was ich Ihnen erzähle, weiß ich von ihm, wir haben uns sehr nahe gestanden, er hat mir alles gesagt. Geben Sie mir Ihre Adresse, ich werde meinen Kindern einen entsprechenden Brief hinterlassen.«
Ich nickte wieder.
»Wir waren sieben Geschwister«, fing sie an, »Franz, der Älteste wurde 1907 geboren, dann kam Hedwig 1911, 1912 als nächstes ich, mein Name ist Johanne, ich werde Hanne gerufen, dann 1913 Wilhelm, zwei Jahre später 1915, Mathilde, 1917 wurde Ewald geboren und zum Schluss kam Friedrich, 1921.« Beim letzten Namen nickte sie in Richtung Türe. »Er! Nach ihm kam noch ein Kleines zur Welt, das aber schon kurz nach der Geburt gestorben ist.«
Sie erzählte die ganze Nacht, weinerlich, wütend, entsetzt, voller Hass, und immer kurzatmig. Das Mikrofon meines Diktiergerätes war ein schwarzes Ohr, das eine Woche lang jeden Abend für einige Stunden Unsägliches aufnahm. Die Namen der Personen habe ich verändert und habe das, was die Wirtin mir erzählte, in eine lesbare Form gebracht.
Kindheit
1921. Hätte man ihn gefragt, ob er überhaupt herauswolle aus dem warmen weichen Mutterbauch, weg von der sattmachenden Gebärmutter, und hätte er schon reden können in seiner Stunde Null, ich glaube, er hätte nein gesagt.
Und auch seine Mutter, vor die Frage gestellt, ob sie Nahrung für einen weiteren kleinen Magen habe, den achten nun ñ gerechnet mit ihrem eigenen ñ, der Mann war noch im Krankenhaus ñ oder ob sich das Kind für alle Zeiten, wie bisher, sehr bequem über die Nabelschnur von ihrer Gebärmutter ernähren solle, hätte sie letzteres vorgezogen. Während die Presswehen ihren Körper zusammenkrümmen, überlegt sie, ob die Hemdchen, die noch von Franz, dem Ältesten stammten und die alle ihre Kinder getragen hatten, lange oder kurze Ärmel hatten. Sie kann sich nicht mehr erinnern.
»Ich sehe schon das Köpfchen«, sagt die Hebamme. »Jetzt pressen, Auguste, pressen.«
Auguste presst und denkt: Lass dir Zeit, mein Kind, so satt wie jetzt wirst du nicht mehr oft sein.
In den Wehenpausen, laut und stoßweise, sagt sie vorsorglich, sie hoffe sehr, dass ihr Mann bald nach Hause komme, dann sähe es mit dem Geld auch wieder besser aus. Vielleicht könne er doch ein wenig arbeiten. Er habe im Krankenhaus eine schlimme Entzündung ins Bein bekommen, man habe es ihm bis zum Knie abnehmen müssen, das gelte nicht als Kriegsverletzung, aber seine Lungenkrankheit nach der langen Gefangenschaft hätte man ihm eigentlich als Kriegsbeschädigung anerkennen müssen, dann wäre alles nicht so knapp.
Auguste wirft immer mal wieder einen hoffnungsvollen Blick auf die Bicklerbaas.
Doch die Hebamme steht dem Elend in der Bauernkate erbarmungslos gegenüber. Wenn es danach ginge, ob Essen genug da ist oder Kleidung, käme in keiner dieser windschiefen Behausungen je ein Kind zur Welt. Sie zerrt den Jungen ñ nach seinem letzten und vergeblichen Versuch, sich querzustellen ñ in den außergewöhnlich kalten und trüben Herbsttag des Jahres 1921. Von fern her rufen die Glocken des katholischen Kirchleins zum Mittagsgebet.
»Hier ist dein Sohn, Auguste!« Die Hebamme, die das Gesicht des Säuglings mit flinken Händen abgewaschen und den Körper untersucht hat, schnauft zufrieden, als sie das Kind neben die ausgezehrte Gestalt ins Bett legt und zudeckt. »Alles dran. Ich brauche Tücher, Auguste, irgendetwas, das ich ihm anziehen oder in das ich ihn einwickeln kann.«
»Schau nur, Bicklerbaas, er hat ganz weiße Haare! Niemand in der Familie hat so weiße Haare.«
»So ist es nun mal. Jammern nützt nichts, Auguste. Vielleicht weil dein Mann den Krieg nicht loswerden kann.«
»Ich jammere gar nicht.« Die Mutter betrachtet das Bündel voller Liebe, Mitleid, Verzweiflung und Hoffnung. »Weiße Haare, Bicklerbaas! Vielleicht wird der da einmal ein ganz besonderer Mensch, meinst du nicht auch? Er ist mit dem Mittagsläuten Schlag zwölf Uhr rausgekommen, unser Herrgott hat ihn begrüßt, er ist unser siebtes Kind, das siebte Kind ist sowieso immer ein Glückskind, dann diese schneeweißen Haare und vor allem der Wind Ö unser Eifelwind, hörst du, wie er ums Haus geht und an der Haustüre rüttelt? Er will unbedingt reinkommen und ihn ansehen. Der da ist etwas ganz besonderes, das spüre ich.«
»Ja Ö der Wind. Aber das mit den Haaren Ö unten in Wildrich kam vor Jahren mal einer auf die Welt, der hatte auch so weiße Haare und rote Augen dazu. Der war überhaupt nichts besonderes, und der ist so einsam gestorben wie er gelebt hat, und das auch noch viel zu früh.«
»Rote Augen hat meiner nicht.«
»Wollen’s nicht hoffen. Die arme Helma hat auch wieder einen Buben gekriegt, gestern Abend, vier sind es jetzt, sie kriegt und kriegt kein Mädchen, Alban soll er heißen, wie sein Vater.«
»Die arme Helma. Lieber gar keinen Mann als so einen.«
Die Hebamme nickt und greift sich den Säugling. »Ich muss ihn in irgendetwas einwickeln, bevor er erfriert. Wo sind die Wickeltücher, Hanne? Habt ihr keine mehr vom Ewaldchen übrig?«
Hanne, die, seit einer halben Stunde etwa, der Geburt weder erschrocken noch verwundert zusieht ñ sie hat schon einige Male zugesehen, auch im Stall ñ dreht ab und fängt an, in ihrer bedächtigen Art die Schränke zu durchwühlen. Von den anderen Geburten sind noch ein paar alte Mullwindeln übrig, die die Mutter zwischenzeitlich benutzt hat, um das monatliche Blut aufzufangen. – Nein, bestürzt war Hanne nur bei Ewalds Geburt gewesen, 1917, vor vier Jahren, da war sie fünf und sah zum ersten Mal bewusst ein Kind zur Welt kommen.
Sie warf einen schiefen Blick auf das Elternbett und schwor sich, sie würde keine Kinder bekommen, kein einziges. Wie die Mutter eben dagelegen hatte, die gebleckten zusammengebissenen Zähne, unwürdig ihre Haltung mit angezogenen Beinen und gekrümmtem Rücken, wie ein Käfer, unwürdig das Nachthemd, ein Lumpenstück eigentlich nur, kein schönes mit Spitze besetztes wie sie es bei der alten Schmähling einmal gesehen hatte, die Beine breit, das rotviolette geschwollene Fleisch inmitten des dunklen Haarkranzes, das Blut, der Kot, der ausgetreten war während der Presswehen und der Urin, der ñ von Zeit zu Zeit aufspritzend ñ irgendwo im Laken verschwunden war. Es roch unangenehm. Wenn man Hanne eine Gemütsregung zugestehen wollte, könnte man sie momentan allenfalls unzufrieden nennen. Als hätte sie mit den Freundinnen einen sonntäglichen Abendspaziergang durch das Dorf geplant, (mit einer unerklärlichen Aufregung vorbei an dem Grüppchen der jungen Dorfhelden auf dem Marktplatz, die herumstanden mit hochgezogenen Schultern, die Hände tief in den Taschen versenkt und verlegen mit den Füßen scharrend, wenn sie herankamen und die die Mäuler wetzten, wenn sie vorüber waren) und wenn dann aus dem Spaziergang nichts wurde, weil es angefangen hatte zu regnen. Oder wenn sie und ihre Geschwister am Tag des Herrn frühmorgens schon zur Arbeit zu Schmählings mussten, die ihnen nicht einmal die Zeit gönnten, in die Messe zu gehen. Ein Tag in der Woche sollte frei sein. Sagte Gott und Schickel’s Hein auch, der flotteste der Dorfburschen. Am siebten Tage sollst du ruhen.
»Das Vieh braucht auch am Sonntag sein Futter«, hörte sie den alten Schmähling sagen.
Das ist wohl so, denkt Hanne verbittert, ihr breites Bauerngesicht verzieht sich unwillig, doch je mehr Kinder Mutter bekam, desto fauler wurden die Schmählings. Und je mehr man arbeitete, um so mehr Pflichten schlichen sich heran. Meistens blieb zu Hause alles an ihr hängen. Weil sie zu gutmütig war. Jetzt war noch ein siebtes Kind zu versorgen. Wann denn? Wochentags frühmorgens, wenn es noch dunkel war, die Hausaufgaben, dann die Schule, doch die nur nebenbei, die Knochenarbeit bei Schmählings, für nichts als ein paar warme Kartoffeln nach dem Unterricht, ab und zu ein Stück trockenes Brot, manchmal sogar welches, das sie nach einem harten Arbeitstag für die Familie mit nach Hause nehmen durfte und der Zusage, das Feldchen der Mutter zu bearbeiten, wenn man Zeit habe. Zeit war immer dann, wenn mit Hilfe aller Familienmitglieder, auch der Kleinsten, Wilhelm und Ewald, die noch am liebsten der Mutter am Rockzipfel hingen, das Schmähling’sche Heu oder Korn vor dem großen Gewitter trocken und sicher in die Scheunen geschafft worden war.
»Warum liegt das Zeug nicht bereit, Hanne? Wie alt bist du?«
»Neun«, murrt Hanne.
»Und Hedwig ist noch ein Jahr älter. Nä, nä, zwei große Mädchen im Haus und nichts ist da.« Die Hebamme holt Hanne aus ihren trüben Gedanken in die trübe Wirklichkeit, schnippt ungeduldig mit den Fingern der freien Hand, in der anderen hält sie den Säugling an den Füßen hoch wie ein totes weißlich-gelbes Kaninchen, dem man das Fell abgezogen hat. Hanne wirft einen unfreundlichen Blick auf den Neugeborenen.
»Seine Haare sind so weiß, Bicklerbaas. Er ist doch kein Albiner?«
Die Hebamme schüttelt den Kopf: »Die Augen sind normal, jetzt mach mal.«
Hanne kramt im Wäscheschrank herum und seufzt erleichtert auf. Hier liegen ja die Lappen, frisch gewaschen und sonnengebleicht. Das hat wohl Hedwig gemacht, sie lässt sich nicht nachsagen, dass hier im Haus die Kinder in schmutzige Lappen gehüllt werden. Hanne reicht sie der Hebamme, die den Kleinen damit umwickelt. Und die Hemdchen findet sie auch.
Die Hebammenfinger werden klamm, obwohl sie den kleinen warmen Körper in der Hand halten. »Seit Tagen bläst dieser schlimme Wind. Es ist eiskalt hier drinnen. Warum macht ihr kein Feuer, Hanne, wenn eure Mutter in den Wehen liegt?«
»Der Herd in der Küche reicht sowieso nicht aus. In die Schlafzimmer kommt nie was«, widerspricht Hanne. »Hier oben ist im Winter immer dickes Eis an den Scheiben, innen.«
»Man hätte es versuchen können, ein bisschen hilft’s bestimmt«, blafft die Hebamme.
Auguste wirft einen mitleidigen Blick auf Hanne. »Schimpf nicht, Bicklerbaas, sie kann nichts dafür. Ich habe gestern Nachmittag kein Holz mehr sammeln können. Das halbe Dorf war unterwegs, und ich konnte mich nicht so schnell bücken wie die anderen und ich habe nichts mehr gefunden. Und die Kinder Ö die arbeiten doch bis spät in den Abend bei Schmählings. Und morgens sind sie in der Schule. Nur Ewald ist da.« Die Mutter wirft einen mutlosen Blick durchs Fenster. Wenn jetzt statt dem Winter das Frühjahr käme, wäre alles ein bisschen leichter.
»Hanne, geh in die Schule jetzt«, fügt sie leise hinzu. »Die anderen sind schon lange weg, du kommst zu spät. Sonst musst du nachsitzen und kommst zu spät zu Schmählings.«
»Ich hab gar keine Lust«, mault Hanne und denkt an die volle Wäschewanne, die heute dort auf sie wartet. Mit braungelb-dreckigen Unterhosen, verrotzten Taschentüchern, glitschig zwischen den reibenden Händen, stinkenden Strümpfen. Mathilde hat es besser, sie hält zusammen mit Hedwig bei Schmählings Haus und Hof sauber, bügelt, flickt, näht, macht sich die Hände selten schmutzig. Einzig das Kochen bleibt Hedwig vorbehalten. Sie, die immer fetter wird, hat Angst, dass was wegkommt, wenn jemand anderes als sie die Zutaten herbeiholt und in den Topf schmeißt.
Die schwache Stimme der Mutter dringt in ihre hasserfüllten Gedanken. »Und sei fleißig bei Schmählings, vielleicht schicken sie uns wieder was mit.«
Als Hanne weg ist, fragt sie: »Wo ist denn unser Ewald?«
Der Kleine hört seinen Namen, kriecht aus der Ecke, in welcher er, erschreckt von den Ereignissen, still gesessen hatte, einen Stock mit einem Faden daran, seine Peitsche, fest in der Hand. »Mutter aua«, sagt er und deutet auf das Bett.
»Nein nein, kein Aua, Ewald! Ein neues Diddilein ist gekommen.« Die Hebamme schiebt ihn wieder in seine Ecke und redet auf die Wöchnerin ein. »Du solltest jetzt damit aufhören, Auguste. Mit bald vierzig hört man langsam mit dem Kinderkriegen auf.