Dotterland: Roman
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Über dieses E-Book
Kathlen ist auf sich allein gestellt, muss sich durchboxen und setzt auf Freundschaften. Doch spätestens mit der Pubertät bricht die Schale komplett auseinander – das Entdecken und Ausleben der Sexualität, die Sehnsucht nach Geborgenheit, Partys, Alkohol und Drogen statt Schule … Sie schwirrt ziellos aus, um die Welt zu spüren, aber das Leben droht ihr zu entgleiten und überfordert sie: »Ich weiß nicht, was mir fehlt, aber es fehlt etwas.«
Wuchtig und rau, zugleich sanft und mitten aus dem Leben erzählt Karoline Therese Marth in ihrem Debütroman vom Aufwachsen und Erwachsenwerden in den Nullerjahren. Direktheit trifft auf Lakonie, Ehrlichkeit auf Ennui, Einsamkeit auf emotionale Verwirrung – und der Roman mitten ins Herz.
Karoline Therese Marth
Karoline Therese Marth wurde 1995 in Wien geboren, wo sie auch lebt. Sie studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Bisher veröffentlichte sie Kurzprosa, Lyrik und Hörstücke. Für einen Auszug aus Dotterland erhielt sie 2019 den Retzhofpreis, 2022 das Startstipendium für Literatur und das Projektstipendium für Literatur. "Dotterland" ist ihr erstes Buch.
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Buchvorschau
Dotterland - Karoline Therese Marth
Für alle in meinem Team
Karoline Therese Marth
Dotterland
Roman
Literaturverlag Droschl
Müde bin ich geh zur Ruh
Schließe meine Augen zu
Vater lass die Augen dein
Über meinem Bette sein
Wer hatte sie schon? Eine Abenteuerkindheit, wild und laut, aber ohne die nächtliche Einsamkeit und im immer gleichen Kinderzimmer.
0–2 | 1180
Ich werde nur wenige Tage vor Halloween geboren, meinem Lieblingsfest, das damals noch vollkommen unbekannt war, kurz vor einem Winter mit Minusgraden und viel Schnee. Ich werde an dem Tag geboren, an dem mein Urgroßvater stirbt, dem Jahrzehnte zuvor in Stalingrad ein Bein abgefroren ist, und nach seiner noch lebenden Frau benannt. Ich komme dunkellila zur Welt mit der Nabelschnur um den Hals. Ich bin eine dicke menschliche Trockenpflaume, die in einem fort schreit und der man lustige Hauben aufsetzt und Fencheltee zu trinken gibt, jedoch niemals ein Lächeln abringt. Ich war lange herbeigewünscht. Ich bin erste Tochter und erste Enkeltochter und schon so viel mehr, bevor ich sprechen konnte. Ich bin keine Sekunde nur.
Eineinhalb Jahre später wird mein Bruder Thomas geboren, und die Prinzessin stirbt.
Prinzessin Diana stirbt kurz nach Mitternacht, weil ihr Fahrer Prozac genommen und trotzdem getrunken hat. Keiner der Insassen ist angeschnallt. Prinzessin Di wird um vier Uhr früh für tot erklärt.
2–5 || 1180
Ich esse meinen Striezel gerne mit Marillenmarmelade. Thomas mag Erdbeermarmelade lieber. Nehme ich Marillenmarmelade, will mein Bruder plötzlich auch welche. Ich brülle, weil er mir immer alles nachmacht, und bestehe auf Erdbeermarmelade. Als er nun auch Erdbeermarmelade will, heule ich los. Meine Großmutter macht alle Marmeladen selbst, und es gibt immer genug.
Wenn wir schlafen, streiten Mama und Papa oft. Ich will sie nicht hören. Im Kinderzimmer wird nicht geschrien und geweint. Meine Mutter drückt die Tür einen Spalt weit auf und kommt herein. Sie legt sich auf eine der Koffermatratzen, die wir für Übernachtungsgäste haben, ohne sie aufzuklappen und auch ohne Bettzeug. Eingerollt liegt sie still zwischen unseren Hochbetten, und das einzige Geräusch im Halbdunklen ist Thomas’ gleichmäßiges Atmen. Ich halte mich an meinem Bett ganz fest, beuge mich, so weit es geht, nach vorne und strecke meinen Kopf in Mamas Richtung. Die Haare fallen mir ins Gesicht, aber ich will sie nicht wegpusten, weil Mama das vielleicht hören könnte, und meine Hände vom Bettgestell nehmen will ich auch nicht. Durch meinen Haarvorhang hindurch sehe ich Mamas Rücken. Sie zittert. Es ist kalt, vor allem ohne dicke Decke, aber Mamas Zittern ist kein Kältezittern. Mama, weinst du?, will ich fragen, aber mein Mund hält die Wörter fest. Ich stelle mir vor, wie Mamas Tränen dunkle Flecken auf der grünen Matratze bilden. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, also lege ich mich zurück und versuche es mir vorzustellen. Aber während mein Bruder atmet und Mama weint, sehe ich nur die dunkle Zimmerdecke.
Großmutter und ich ziehen den Puppen die schönsten Kleider an, die ich habe, und setzen sie nebeneinander. Heute ist ein wichtiger Tag für meine neun Puppen. Sie gehen nicht nur, wie jeden Sonntag, in die Kirche, sondern sind endlich alt genug für die heilige Kommunion. Im Frühling waren alle Puppen bei den Vorbereitungsstunden, haben gelernt, was Jesus und seine Freunde gemacht haben, und können das Glaubensbekenntnis auswendig. Wir haben uns heute hier versammelt, sage ich, während meine Großmutter neun kleine Fetzen von einem Taschentuch abreißt. Das ist der Leib Christi, der für euch hingegeben wird, sage ich, und meine Großmutter verteilt die Hostien. Nehmet und esset alle davon. Danach gibt es auch für uns Mittagessen, weil wir heute nicht in die Kirche gehen. Meine Mutter meint, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, wäre übertrieben, außerdem wolle sie am Wochenende ausschlafen, und es gebe bessere Arten einen so sonnigen Tag zu nutzen. Gehen wir nicht in die Kirche, kommt die Kirche eben zu uns, sagt meine Großmutter, und ich schließe den Puppen die Augen zum Gebet.
Ich weiß, dass alle meine Mama gernhaben, aber ich weiß nicht, ob meine Mama mich gernhat.
5–11 ||| 1010
Wir sind auf einem Piratenboot, Thomas und ich. Nebeneinander liegen wir da, gefesselt. Dickes braunes Seil windet sich um unsere Körper, von unseren Knöcheln bis über die Schultern. Schwarzes breites Klebeband macht uns stumm.
Das Schiff ist riesig, alles ist aus Holz, und wir liegen an Deck, genau in der Mitte. Piraten haben wir noch keine gesehen. Wie im Ehebett liegen wir da, denke ich, so gefesselt und nebeneinander, ohne etwas sagen zu können. Sie werden kommen, ganz bestimmt. Ich höre den Wind und das Wasser, und manchmal bilde ich mir auch ein, das Salz zu hören, das überall ist, im Meer, in der Luft und wahrscheinlich auch an Deck. Ich kann nur den Himmel sehen, und die Fesseln drücken meinen Körper auf das schwere Holz.
Irgendwann höre ich ein Scharren. Zuerst denke ich an den Wind, der den Ohren so oft einen Streich spielt, doch als es lauter wird, weiß ich, dass da etwas anderes sein muss. Nicht in unmittelbarer Nähe, aber auch nicht weit weg. Sie sind unter uns, unter Deck, plötzlich weiß ich es, ganz sicher. Sie kommen alle gleichzeitig, woher genau, weiß ich nicht. Wahrscheinlich gibt es irgendwo eine Luke, die ich nicht sehen kann. Ratten. Es sind hunderte. Groß, lang und grau. Sie laufen auf uns zu. Als sie auf uns sind, fangen sie an, an den Seilen zu knabbern. Es ist schlimmer als alles, was die unsichtbaren Piraten uns hätten antun können.
Meine Mutter bringt mich nicht mehr gemeinsam mit meinem Bruder in den Kindergarten, ich gehe in die Schule. Wenn mein Vater da ist, fährt er mich, und ich habe ihn vom Schließen der Wohnungstür bis zum Eingangstor der Schule ganz für mich allein. Auf dem Weg in die Tiefgarage müssen wir einmal über die Straße gehen. Währenddessen hält er immer meine Hand. Das macht er, weil eine tote Prinzessin reiche, sagt er. Von mir aus braucht er keinen Grund, um meine Hand zu halten. Wenn wir zu früh sind, darf ich mich auf den Beifahrersitz setzen, und er erzählt mir die Geschichte von Prinzessin Di und ihrem Unfall, oder er hört mir zu, wenn ich von der Schule erzähle.
Meine beste Freundin aus dem Kindergarten heißt Barbara. Sie ist größer als ich. Meine Mutter sagt, später werde ich größer sein, und Barbara wäre jetzt nur größer, weil sie ein Jahr älter ist als ich. Trotzdem geht Barbara jetzt auch in die erste Klasse. Weil Barbara nicht umgezogen ist, geht sie in die Schule direkt neben dem Kindergarten. Ich gehe in eine andere Schule. Ich sehe Barbara zum letzten Mal, als sie mich in der neuen Wohnung besucht. Die ist viel weiter weg von allem, was ich bisher kenne. Ich zeige ihr alles. Am Ende meiner Wohnungsführung sagt Barbara, ich könnte mich jetzt sofort übergeben, wenn ich will, weißt du. Ich kann mich nie übergeben, wenn ich es will, sondern immer nur, wenn ich es nicht will, und deshalb glaube ich ihr nicht. Glaube ich nicht, sage ich. Doch, sagt sie und lächelt, und ich sage, dann mach. Sie übergibt sich, plötzlich und viel, mitten auf den Teppich. Mama, schreie ich, so laut ich kann. Barbara kommt nicht mehr zu Besuch.
Mein Vater sagt, hier könnt ihr sogar Autos zählen, und setzt sich aufs Fensterbrett der neuen Wohnung. Ich nicke begeistert. Als ich in der Schule ein Bild von einem Fenster und vorbeiziehenden Autos zeichne und es meiner Mutter zeige, ist es ihr unangenehm.
Auf meinen Ohrläppchen ist jeweils ein Punkt, genau dort, wo die Frau im Schmuckgeschäft mit der Pistole durchgeschossen hat. Um den Punkt herum ist es meistens leicht bläulich, und um das Blau herum ist ein roter Kreis. An den Stellen, wo die Löcher sind, fühlen sich meine Ohrläppchen dicker an.
Thomas und ich bauen riesige Städte aus Lego, die sich durch die ganze Wohnung ziehen, während Rufus Beck uns von einem Jungen mit einer Blitznarbe erzählt, der in einem Wandschrank wohnt. Wir verbringen Stunden damit, Türme zu bauen und Festungen zu errichten. Geht uns das Lego aus, nehmen wir Playmobil oder was wir sonst in den großen Spielzeugkisten finden. Barbies sind mit Power Rangern befreundet, Polly Pockets sind die Kinder von Kuscheltieren, und wir sind mittendrin.
Ich kann nicht schwimmen, das Wasser ist überall, und ich schlage heftig mit den Armen. Ziehen, schreit mein Vater, der am Beckenrand steht, und ich versuche die Hände wie Schaufeln auseinanderzuziehen, wie er es mir gezeigt hat. So habe ich auch schwimmen gelernt, sagt er, und ich will nicht mehr schwimmen lernen.
Am Montag in der Früh sitzen wir ganz hinten im Klassenzimmer im Kreis. Ich mag es, auf dem Boden zu sitzen. Das Holz des alten Parkettbodens fühlt sich viel besser unter meinen Fingern an als das glatte Holz der Schreibtische. Die Lehrerin fordert jeden auf, von seinem Wochenende zu erzählen. Die meisten Kinder waren übers Wochenende in Ferienhäusern