„Aleviten“ – Versionsunterschied
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{{Weiterleitungshinweis|Alevi|Zum Verein ALEVI siehe [[Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich]].}}
[[Datei:Hakob Hovnatanian - Ali ibn Abi Talib.jpg|mini|hochkant|Porträt des [[ʿAlī ibn Abī Tālib|Ali]] (vom persischen Hofmaler Hakob Hovnatanyan)]]
'''Aleviten''' ({{trS|Aleviler}} bzw. {{lang|tr|''Alevilik''|de=Alevitentum}}, [[Zazaische Sprache|zazaisch]] und {{kuS-Latn|Elewî}}; aus {{arS|عَلَوِي‎|DMG=ʿalawī|de=Anhänger [[ʿAlī ibn Abī Tālib|Alis]]}}<ref>{{Literatur |Autor=Cem Bozdağ |Hrsg= |Titel=Dersim |Verlag=RediromaVerlag |Ort= |Datum= |ISBN=978-3-86870-903-2 |Seiten=351}}</ref>) sind Mitglieder einer vorwiegend in der [[Türkei]] beheimateten Glaubensrichtung, die sich im 13./14. Jahrhundert unter den zugewanderten [[Oghusen|oghusisch-turkmenischen]] Stämmen in [[Anatolien]] und [[Aserbaidschan (Iran)|Aserbaidschan]] verbreitete. Ob das Alevitentum in seiner heutigen Form ein Teil des [[Schia|schiitischen]] [[Islam]] ist, es sich hier um eine separate islamische Konfession handelt oder man von einer eigenständigen Religion sprechen kann, wird sowohl in der religionswissenschaftlichen Forschung als auch von den Anhängern selbst unterschiedlich gesehen (siehe [[#Strömungen im Alevitentum|Strömungen im Alevitentum]] und [[#Lehre und Brauchtum|Lehre und Brauchtum]]).<ref>[[Lutz Berger]]: ''Islamische Theologie.'' Facultas wuv / UTB, Wien 2010, S. 120.</ref> Eine Beziehung zum schiitischen Islam lässt sich über den persischen Schah [[Ismail I. (Schah)|Ismail I.]] herstellen. Eine besondere Nähe besteht zum [[Sufismus|sufischen]] [[Bektaschi]]-Orden.
Die Religion an sich wird als '''Alevitentum''' oder seltener '''Alevismus''' bezeichnet und stellt die zweitgrößte Religionsgruppe der Türkei (mit schätzungsweise 15 % der Bevölkerung) dar. Aleviten wurden früher, insbesondere im historischen Kontext der Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts, als [[Kizilbasch]] ({{trS|Kızılbaş|de=Rotkopf}}) bezeichnet. Diese Bezeichnung ist heute eher außer Gebrauch gekommen.
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Im 16. Jahrhundert führte der aus [[Sivas]] stammende Dichter [[Pir Sultan Abdal]] alevitische Aufstände gegen die Osmanen an. Diese schlugen die Aufstände nieder und [[Hängen|hängten]] Pir Sultan Abdal, der bis heute hohes Ansehen unter den Aleviten genießt.
Wegen der Unterdrückung und der bedrohten Lage der Aleviten unter der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft kam es im Laufe der Zeit immer wieder zu blutigen Aufständen. Erst seit der Gründung der modernen Türkei genießen sie in Teilen [[Religionsfreiheit|Glaubensfreiheit]]. Die Mehrheit der türkischen Aleviten unterstützte den von [[Kemal Atatürk]] verordneten [[Laizismus]], weltlichen Rechtsstaat und die Demokratie. Die alevitische Bevölkerungsgruppe war eine der tragenden Kräfte bei der Gründung der türkischen Republik, weil sie sich insbesondere durch die Abschaffung der sunnitischen Rechtsordnung und die Einführung des Laizismus mit der Trennung von staatlichen und religiösen Angelegenheiten eine Gleichberechtigung mit der sunnitischen Glaubensrichtung erhoffte.
Aleviten sind bis zum heutigen Tag Zielscheibe zahlreicher Pogrome, Anschläge und Diskriminierungen durch die sunnitische Mehrheitsgesellschaft der Türkei. Im Zuge dessen sind die Pogrome von [[Pogrom von Çorum|Çorum]] und [[Pogrom von Kahramanmaraş|Kahramanmaraş]] sowie der [[Brandanschlag von Sivas]] zu nennen. Die Diskriminierung gegen das Alevitentum findet auch von Seiten des türkischen Staates statt (zusammenhängend mit der [[Islamisches Erwachen|Reislamisierung der Türkei]]).<ref>{{Literatur |Titel=Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Türkei wegen Diskriminierung von Aleviten verurteilt |Sammelwerk=Die Zeit |Ort=Hamburg |Datum=2016-04-26 |ISSN=0044-2070 |Online=http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-04/religionsfreiheit-tuerkei-aleviten-europaeischer-gerichtshof-fuer-menschenrechte-urteil |Abruf=2017-08-02}}</ref> Im Zuge der [[Proteste in der Türkei 2013|Gezi-Park-Proteste]] wurden mehrheitlich (ca. 80 %) Aleviten verhaftet.<ref>{{Literatur |Titel=“Generation Gezi Park”: jung, weiblich, alevitisch |Sammelwerk=Die Presse |Datum= |Online=https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/1491920/Generation-Gezi-Park_jung-weiblich-alevitisch- |Abruf=2017-08-24}}</ref>
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Aleviten beten nicht in [[Moschee]]n und legen den [[Koran]] nicht wörtlich aus, sondern suchen die Bedeutung hinter den Offenbarungen, da dieser nicht als Gesetzbuch, sondern als Glaubensbuch gilt. Dem Alevitentum zufolge besitzt der Koran neben einer äußeren auch eine innere, verborgene Bedeutung, die nur den zwölf Imamen bekannt ist. Sie leben nicht nach den „[[Fünf Säulen des Islam]]“. Gotteshäuser der Aleviten sind die [[Cemevi|Cem-Häuser]], in denen Frauen und Männer gemeinsam den Gottesdienst abhalten.
Ein zentrales Element ihrer Glaubensauffassung ist der in den Mittelpunkt gerückte Mensch. Die Aleviten identifizieren sich mit der Leidensgeschichte der Opposition im Islam – den Schiiten. Gleichzeitig verehrten sie Ali als Schutzpatron gegen Anfeindungen des orthodoxen Islam. Zudem glauben die Aleviten wie die [[Imamiten]] an die zwölf [[Imam]]e. Das Martyrium des dritten Imams [[al-Husain ibn ʿAlī|al-Ḥusain ibn ʿAlī]] ist eine Gemeinsamkeit bei Schiiten und Aleviten, an dem sich ihr kollektives Trauerbewusstsein manifestiert.
Aleviten
Die Aleviten
Im Zentrum des alevitischen Glaubens steht der Mensch als eigenverantwortliches Wesen. Wichtig ist
In der alevitischen Lehre ist die [[Seele]] eines jeden Menschen unsterblich; sie strebt die [[Erleuchtung]], Vollkommenheit bzw. die Einheit mit [[Allah|Gott]] an, die als Einwohnung (arabisch ḥulūl, türkisch hulûl) vorgestellt wird.<ref>Vgl. [[Fritz Meier]]: ''Die Wandlung des Menschen im Mystischen Islam''. In: Eranos-Jahrbuch 23 (1955): Mensch und Wandlung (Zürich: Rhein-Verlag), S. 99–139, 103f.</ref> Die alevitische Tradition kennt Vorstellungen einer [[Reinkarnation]]<ref>[https://www.bdaj-bayern.de/de/alevitentum/fragen-zum-alevitentum ''40 Fragen zum Alevitentum''], [[Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland]].</ref> bzw. Seelenwanderung ([[Metempsychose]]; türkisch: tenâsüh, rûh göçü, devriye; arabisch: tanāsuḫ), die unterschiedliche Existenzweisen durchläuft (materielle, pflanzliche, tierische, menschliche). Textliche Grundlage dafür sind u. a. bereits Abschnitt im "Das Buch der Sieben" (Kitāb al-Haft).<ref>Vgl. [[Heinz Halm]]: ''Die islamische Gnosis. Die extreme Schia und die ʿAlawiten''. Zürich und München: Artemis Verlag 1982, S. 243; Rainer Freitag: ''Seelenwanderung in der islamischen Häresie''. Berlin: Klaus Schwarz Verlag 1985, S. 212.</ref> Allerdings befindet beispielsweise Hıdır Temel: "Die meisten Jugendlichen von heute wissen über Seelenwanderung entweder nur sehr wenig oder überhaupt nichts. Heute ist diese Vorstellung vielen Aleviten fern und fremd."<ref>''Die Hubyâr-Aleviten. Eine Glaubensgemeinschaft in Anatolien'', Diss. Marburg 2019, S. 256.</ref>
Diese liberalen Auffassungen, vor allem die Ablehnung der Scharia, unterscheiden Aleviten von den Sunniten. Darum haben viele Sunniten, vor allem die meisten islamischen Gelehrten, Vorbehalte gegenüber Aleviten und betrachten sie meist nicht als Angehörige der islamischen Gemeinschaft, der „[[Umma]]“.▼
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Das Alevitentum beinhaltet ebenfalls relevante Elemente aus dem [[Zoroastrismus]]. „Rechtes Handeln, rechtes Denken, rechtes Sprechen“ – dies sind Worte aus dem Zoroastrismus, doch werden sie so auch im Koran erwähnt. Die vier heiligen Elemente bei den Aleviten (Feuer, Wasser, Erde, Luft) entstammen ebenfalls aus der Lehre des Zoroastrismus, jedoch sind diese Elemente auch bei den nichtzoroastrischen Völkern Zentralasiens vorhanden (vgl. [[Vier-Elemente-Lehre]]).
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[[Kurden|Kurdische]] und [[zaza]]ische Aleviten haben neben vielen Gemeinsamkeiten auch unterschiedliche Glaubensrituale und Lebensweisen. So ist der Hızır-Glaube (s. u.) bei kurdischen Aleviten gerade in der Region [[Tunceli (Provinz)|Tunceli]] viel ausgeprägter. Daneben praktizieren kurdische und Zaza-Aleviten das [[Gağan]]-(Kaland-)Fest, eine Art [[Knecht Ruprecht|Knecht-Ruprecht]]/[[Nikolaustag|Nikolausfest]], wie es auch in anderer Form im [[Christentum]] überliefert ist, jedoch mit denselben grundlegenden Motiven.
Die Hauptquellen des Alevitentums sind nicht allein der [[Buyruk|„Große Buyruk“]],
=== Gebet ===
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Die erste Tür ist die Seriat-Kapi man betritt diese Tür erst, wenn man die Regeln des Alevitentums lernt und zwar diesen Satz befolgt: eline, beline, dilline sahip ol. Auf Deutsch: Beherrsche deine Hände, Beherrsche deine Zunge und Beherrsche deine Lende.
Mit dem Satz ''Beherrsche deine Hände'' ist gemeint, dass man mit
Mit dem Satz ''Beherrsche deine Zunge'' ist gemeint, dass man genauso wie bei den Händen auf seine Zunge aufpassen sollte und nichts Falsches machen sollte. Man sollte also liebevoll zu anderen sein oder Komplimente machen, aber man sollte nicht mit seiner Zunge andere beleidigen oder verletzen. Aber auch sollte man mit seiner Zunge nicht lügen, sondern die Wahrheit sagen und nicht manipulieren.
Mit dem Satz ''Beherrsche deine Lende'' ist gemeint, dass man auf sein Körper achten sollte und auch auf die inneren Triebe des Körpers, und auch auf den
Und auch diese Dinge gehören zu der Seriat-Kapi dazu.
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** sich bei falschem Benehmen zu schämen
** freigiebig zu sein
**
** Nachsicht und Toleranz zu zeigen
** sein Selbst zu kennen
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=== Symbole ===
[[Datei:
Ähnlich wie schiitische Glaubensgemeinschaften tragen auch viele Aleviten Ketten mit einem gebogenen Schwert ([[Zülfikar]]) als Anhänger. Damit zeigen sie ihre Anerkennung und Ehrfurcht gegenüber Ali ibn Abi Talib, dem man den Besitz eines gebogenen Schwertes mit Doppelspitze nachsagt. Diese Anhänger sind eher eine neue Erscheinung im Alevitentum. Ältere Aleviten kennen dies aus ihrer Jugend meist nicht. Als Angehörige einer unterdrückten Gemeinschaft war es nicht üblich und sogar gefährlich, sich offen zu erkennen zu geben.
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Andere Städte haben ebenfalls vor, alevitischen Religionsunterricht einzuführen. So erkannte der [[Berlin]]er Senat z. B. das Kulturzentrum Anatolischer Aleviten im Jahr 2002 als [[Religionsgemeinschaft]] an; es kann deshalb nun alevitischen Religionsunterricht in den Berliner Grundschulen erteilen.
Darüber hinaus werden seit dem Sommersemester 2014 an der [[Pädagogische Hochschule Weingarten|Pädagogischen Hochschule Weingarten]] Lehrer ausgebildet. An der Universität Hamburg (Akademie der Weltreligionen, AWR) wird Alevitische Religion in Bachelor- und Master-Teilstudiengängen gelehrt.<ref>Vgl. [https://www.awr.uni-hamburg.de/studium/lehramtsausbildung.html Homepage] der AWR; Handan Aksünger, Wolfram Weiße (Hrsg.): ''Alevitische Theologie an der Universität Hamburg. Dokumentation einer öffentlichen Antrittsvorlesung'', Waxmann, Münster / New York 2015, ISBN 978-3-8309-3352-6.</ref> Als weitere mögliche Standorte sind Berlin<ref>{{Internetquelle |autor=Hülya Gürler |url=https://taz.de/Alevitische-Forschung-kommt-nach-Berlin/!5406275/ |titel=Alevitische Forschung kommt nach Berlin |werk=taz.de |datum=2017-05-15 |abruf=2024-03-07}}</ref> und Tübingen<ref>https://www.akademie-rs.de/programm/meldungen/einzelansicht/news/alevitische-theologie-ausbauen</ref> im Gespräch.
=== Kontroversen um Vorurteile ===
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* Andreas Gorzewski: ''Das Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam'' ([[Bonner Islamstudien]] 17). EB-Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-86893-009-2 (331 Seiten).
* Burak Gümüş: ''Türkische Aleviten vom Osmanischen Reich bis in die heutige Türkei.'' Hartung-Gorre, Konstanz 2001, ISBN 3-89649-752-9.
* Timo Güzelmansur: ''Gott und Mensch in der Lehre der anatolischen Aleviten. Eine systematisch-theologische Reflexion aus christlicher Sicht'', Regensburg 2. Auflage 2017, ISBN 978-3-7917-2468-3
* [[Krisztina Kehl-Bodrogi]]: ''Die Kızılbaş/Aleviten. Untersuchungen über eine esoterische Glaubensgemeinschaft in Anatolien.'' Klaus Schwarz, Berlin 1988, ISBN 978-3-922968-70-2 ([https://menadoc.bibliothek.uni-halle.de/iud/content/titleinfo/3011701 Online]).
* Krisztina Kehl-Bodrogi: ''Vom revolutionären Klassenkampf zum „wahren“ Islam. Transformationsprozesse im Alevitum der Türkei nach 1980.'' Das Arabische Buch, Berlin 1992.
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; Organisationen
* [https://www.alevi.com/ Website der Alevitischen Gemeinde Deutschland e. V. (AABF)] mit zweisprachiger Monatszeitschrift ''Alevilerin Sesi'' („Die Stimme der Aleviten“) und weiteren Publikationen
* [http://www.alevitentum.de/ Informationen auf der Website der Alevi Toplumu Alevitische Gemeinde ATAG]
* [http://www.aleviten.at/ Offizielle Website der IAGÖ Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (gesetzlich anerkannte religiöse Bekenntnisgemeinschaft ''Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich'')], aleviten.at
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; Abstammung / Historien (West- und Ostaleviten)
* Mehmet Ali Öztoprak: {{Webarchiv |url=http://www.alevi-bochum.de/index.php?option=com_content&view=article&id=84&Itemid=130 |text=''Wer sind wir? Ein Resümee zum Seminar in Bochum'' |wayback=20160605122451}} In: ''Alevitischer Kulturverein Bochum und Umgebung gem. e. V.''
* [[Hans-Lukas Kieser]]: {{Webarchiv |url=http://www.hist.net/kieser/pu/AleviModerne.html |text=''Die Aleviten im Wandel der modernen Geschichte'' |wayback=20170729205522}} In: ''hist.net – Geschichtswissenschaften''. 6. September 2001
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