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In fast allen Büchern über Pasteur wird der Hergang der Ereignisse in einer verklärten Form wiedergegeben, die zuerst von [[René Vallery-Radot]] geprägt worden ist.<ref>René Vallery-Radot: ''La vie de Pasteur''. Paris, Flammarion 1900, S. 392.</ref> Demnach habe bei der Entwicklung des Impfstoffs ein glücklicher Zufall eine Rolle gespielt, als Pasteur auf eine alte Kultur des Erregers der Geflügelcholera aufmerksam geworden sei, die nicht fortlaufend kultiviert worden, sondern unverändert liegen geblieben war. Pasteur habe diese alte Kultur einigen Hühnern spritzen lassen, die daraufhin nicht erkrankt seien. Beim Spritzen einer neuen, frischen Kultur seien die Hühner weiterhin gesund geblieben. An dieser Erzählung fallen drei Elemente auf: der Zufall, die Zuspitzung auf ein [[Experimentum crucis|Schlüsselexperiment]] und die geniale Beobachtungsgabe Pasteurs.<ref>Caddedu: ''Pasteur et le choléra des poules'' … , S. 90.</ref> Die Darstellung Vallery-Radots ist in fast alle späteren Bücher über Pasteur übernommen worden.<ref>Zum Beispiel [[René Dubos|René J. Dubos]]: ''Louis Pasteur. Franc-tireur de la science''. Presses universitaires de France, Paris 1955, S. 331.</ref>
 
Der italienische Wissenschaftshistoriker Antonio Cadeddu konnte durch das Studium der [[#Die Labortagebücher|Labortagebücher Pasteurs]] (insbesondere „Heft 89“) nachweisen, dass die Ereignisse weniger dramatisch abgelaufen sind. Demnach war der Impfstoff das Ergebnis eines ausgedehnten Forschungsprogramms, das von Pasteurs Mitarbeiter [[Émile Roux|Emile Roux]] unternommen worden war. Insbesondere war es nach einer Notiz, die Pasteur am 4. März 1880 angefertigt hat, Roux, der während eines Sommerurlaubs seines Chefs die alte Kultur zwei Hühnern gespritzt hatte. Diese Hühner hatten zwar überlebt, waren aber bei der wiederholten Injektion der ''alten'' Kultur gestorben. Das von Pasteurs Biografen René Vallery-Radot behauptete Schlüsselexperiment hat es also laut Cadeddu nie gegeben, die Idee zu dieser Art von Versuchen kam von Roux, der erste Versuch war erfolglos<ref>Caddedu: ''Pasteur et le choléra des poules'' … , S. 95 f.</ref> und auch weitere Versuche verliefen widersprüchlich.<ref>Caddedu: ''Pasteur et le choléra des poules'' … , S. 99 f.</ref><ref>siehe auch [[National Institutes of Health|nih.gov]]: [https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9027159/ ''Louis Pasteur: Between Myth and Reality''] (18. April 2022)</ref>
 
Hervé Bazin,<!-- bitte nicht auf den Schriftsteller gleichen Namens verlinken --> emeritierter Medizinprofessor an der [[Université catholique de Louvain|Universität Löwen]], hat ebenfalls die Labortagebücher einer genauenebenfalls Analysegenau unterzogenanalysiert.<ref>Zum Impfstoff gegen Geflügelcholera: Bazin: ''L’Histoire des vaccinations'' … , S. 135–158.</ref> Demnach begann Pasteur sein Forschungsprogramm mit dem festen Ziel, einen Impfstoff zu finden. Anfang 1879 unternahm er dazu zunächst Fütterungsversuche, suchte also nach einer [[Schluckimpfung]]. Auch die weiteren Experimente, die Roux vornahm, geschahen auf Anweisung von Pasteur.<ref>Bazin: ''L’Histoire des vaccinations'' … , S. 153.</ref> Als „Schlüsselexperiment“ bezeichnet Bazin einen Versuch vom 5. Januar 1880. In ihm wurden 12 Hühner mit einer frischen Kultur, 12 Hühner mit einer älteren, bereits sauer gewordenen Kultur und weitere 12 Hühner mit einer alten, ebenfalls sauer gewordenen Kultur infiziert. Nach acht Tagen hatten von den mit der älteren Kultur infizierten Hühnern vier überlebt, von der mit der alten Kultur infizierten Hühnern elf. Pasteur konnte also durch die Länge der Kulturpausen die [[Pathogenität|Virulenz]] des Erregers steuern. Dass eine Kultur mit einem abgeschwächten Erreger sich als Impfstoff eignet, wies er in einem Versuch vom 23. Januar nach, als acht geimpfte Hühner nach Konfrontation mit dem virulenten Erreger gesund blieben.
 
Typisch für Pasteur war die Voreiligkeit, mit der er an die wissenschaftliche Fachöffentlichkeit ging. Bereits am 22. Januar 1880 machte Pasteur eine vage Ankündigung auf einem veterinärmedizinischen Fachkongress.<ref>[http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6211139g/f308.image.r=%C5%92uvres+de+Pasteur.langDE Louis Pasteur: ''Choléra des poules''. In: Pasteur Vallery-Radot (Hrsg.): ''Œuvres de Pasteur''. Band 6: ''Maladies virulentes, virus-vaccins et prophylaxie de la rage''. Masson, Paris 1933, S. 287–291.] Ursprünglich veröffentlicht in ''Recueil de médecine vétérinaire''. Reihe 6, Band 7, 1880, S. 204–206.</ref> Am 9. Februar 1880 trug Pasteur über das Thema vor der Akademie[[Académie derdes Wissenschaftensciences]] und am folgenden Tag vor der Akademie[[Académie dernationale de Medizinmédecine]] vor, konnte (laut Cadeddu<ref>Caddedu: ''Pasteur et le choléra des poules'' … , S. 102–104.</ref>) oder wollte (laut Bazin<ref>Bazin: ''L’Histoire des vaccinations'' … , S. 148.</ref>) aber noch nicht angeben, wie er den Impfstoff hergestellt hatte, sondern sprach nur von einer „gewissen Änderung in der Kulturweise“.<ref>[http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6211139g/f319.image.r=%C5%92uvres+de+Pasteur.langDE Louis Pasteur: ''Sur les maladies virulentes, et en particulier sur la maladie appelée vulgairement choléra des poules''. In: Pasteur Vallery-Radot (Hrsg.): ''Œuvres de Pasteur''. Band 6: ''Maladies virulentes, virus-vaccins et prophylaxie de la rage''. Masson, Paris 1933, S. 291–302, hier S. 298.] Ursprünglich veröffentlicht in ''Comptes rendus des séances de l’Académie des sciences''. Bd. 90, 1880, S. 239–248.</ref>
 
Pasteurs Verhalten führte in der [[Académie nationale de Médecine|Akademie der Medizin]] zu einem Eklat, weil einige Mitglieder glaubten, Pasteur wolle absichtlich die Herstellungsmethode seines Impfstoffs verheimlichen. Der Alterspräsident der Akademie [[Jules Guérin (Mediziner)|Jules Guérin]] protestierte scharf, worauf Pasteur in einem Briefentwurf bereits seine Mitgliedschaft in der Akademie kündigen wollte, den Brief aber nicht abschickte.<ref>Pasteur Vallery-Radot (Hrsg.): ''Correspondance de Pasteur''. Band 3: ''L’Étape des maladies virulentes. Virus-vaccins du choléra des poules, du charbon, du rouget, de la rage 1877–1884''. Flammarion, Paris 1951, S. 148 f.</ref> Im Oktober kam es vor der versammelten Akademie zwischen Pasteur und Guérin zu einem wütenden Wortwechsel, der damit endete, dass Guérin Pasteur zum [[Duell]] forderte. Pasteur nahm die Herausforderung des 80-Jährigen jedoch nicht an. Erst am 26. Oktober 1880 sprach Pasteur die Vermutung aus, dass es der Sauerstoff gewesen war, der während der langen Kulturpausen die Krankheitserreger abgeschwächt hatte.<ref>[http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6211139g/f344.image.r=%C5%92uvres+de+Pasteur.langDE Louis Pasteur: ''De l’atténuation du virus du choléra des poules''. In: Pasteur Vallery-Radot (Hrsg.): ''Œuvres de Pasteur''. Band 6: ''Maladies virulentes, virus-vaccins et prophylaxie de la rage''. Masson, Paris 1933, S. 323–330.] Ursprünglich veröffentlicht in ''Comptes rendus des séances de l’Académie des sciences''. Bd. 91, 1880, S. 673–680.</ref> („Abschwächung“ darf nicht so verstanden werden – wie es noch Pasteur tat –, dass der Erreger durch die Kulturbedingungen in seiner Virulenz abgeschwächt worden wäre, sondern durch die Kulturbedingungen wurden einzelne, von vornherein vorhandene, weniger virulente Erreger [[Selektion (Evolution)|selektiert]] und konnten sich vermehren.)
 
In der Praxis hatte der Impfstoff gegen Geflügelcholera starke Nebenwirkungen,. dieDie geimpften Tiere konnten unbemerkt die Krankheit weiterverbreiten, der Impfschutz hielt nur kurz vor, und der Impfstoff war teuer.<ref>Bazin: ''L’Histoire des vaccinations'' … , S. 154 f.</ref> Geflügelcholera wurde und wird aus diesen Gründen weiterhin durch [[Keulung|Keulen]] der Bestände bekämpft. Seine Bedeutung ist [[Wissenschaftshistorik|wissenschaftshistorischer]] Art: Pasteurs Geflügelcholera-Impfstoff war das erste Beispiel für einen Impfstoff, der künstlich im Labor produziert und nicht – wie Jenners [[Pockenimpfstoff]] – der Natur entnommen worden war.
 
==== Veterinärmedizinische Impfstoffe gegen Milzbrand und Schweinerotlauf ====