Cicero - de Officiis
Cicero - de Officiis
Cicero - de Officiis
De Officiis
Inhalt
Erstes Buch
Einleitung
Die Tugend der Einsicht und die daraus hervorgehenden Pflichten (1.
Kardinaltugend)
Die Tugenden des geselligen Lebens und die daraus hervorgehenden Pflichten
Zweites Buch
Einleitung
Drittes Buch
Der Konflikt zwischen den Pflichten der Tugend und des Nutzens
Berechtigung der Frage nach dem Konflikt zwischen Tugend und Nutzen
Ein Streitfall
Weitere Konfliktsflle
Weitere Konflikte
Epilog
Erstes Buch
14a Einleitung
[1] Obwohl du, mein Sohn Marcus, da du schon ein Jahr bei Cratippus studierst,
und zwar in Athen, philosophische Vorschriften und Lehrmeinungen wegen des
hchsten Ansehens des Lehrers und der Stadt im berma haben musst, von
denen der eine dich durch Wissen frdern kann, die andere durch Vorbilder,
glaube ich dennoch, dass du, wie ich selbst zu meinem Nutzen immer mit dem
Griechischen das Lateinische verbunden und dieses nicht nur in der
Philosophie, sondern auch bei der bung im Reden getan habe, dasselbe tun
musst, damit du im gewandten Ausdruck in beiden Sprachen gleich tchtig bist.
In dieser Hinsicht haben wir sicherlich, wie wir meinen, unseren Landsleuten
eine groe Hilfe erwiesen, so dass nicht nur diejenigen, die griechischer
Gelehrsamkeit unkundig sind, sondern auch die Gebildeten meinen, eine
betrchtliche Hilfe fr das Reden und Urteilen erlangt zu haben.
[2] Deshalb wirst du von dem fhrenden Vertreter der Philosophen dieses
Zeitalters lernen, und zwar solange du willst; so lange aber wirst du es wollen
mssen, wie du mit deinem Fortschritt zufrieden bist. Aber wenn du dennoch
unsere Schriften liest, die sich nicht viel von denen der Peripatetiker
unterscheiden, da wir beide Sokratiker und Platoniker sein wollen, so
gebrauche hinsichtlich des Inhalts dein eigenes Urteilsvermgen denn ich
verhindere nichts -, deinen lateinischen Stil aber wirst du in der Tat
vervollkommnen, indem du unsere Schriften liest. Aber ich mchte nicht, dass
dieses fr ein anmaendes Wort gehalten wird. Denn wenn ich, obwohl ich
philosophisches Wissen vielen zugestehe, das fr mich beanspruche, was fr
weitergegeben werden, es sei denn entweder von denjenigen, die sagen, nur
das Sittlichgute, oder von denen, die meinen, hauptschlich das Sittlichgute sei
aus sich heraus erstrebenswert. So ist diese Vorstellung fr die Stoiker,
Akademiker und Peripatetiker eigentmlich, da ja Aristons, Pyrrhons und
Erillos' Lehrmeinung schon lngst missbilligt worden ist, die gleichwohl ein
ihnen zustehendes Recht besen, ber die Pflicht zu disputieren, wenn sie
einen Unterschied zwischen den Dingen briggelassen htten, so dass ein
Zugang zum Finden der Pflicht bestnde. Wir folgen also unter solchen
Umstnden und in dieser Untersuchung vornehmlich den Stoikern, nicht wie
Dolmetscher, sondern wir werden, wie wir es gewohnt sind, aus ihren Quellen
nach unserem Urteil und Ermessen schpfen, wie viel und auf welche Weise
wir es fr richtig halten.
7-10 Definition und Einteilung der Pflichten
[7] Es scheint also richtig, da die gesamte Abhandlung ber die Pflicht handeln
wird, vorher zu definieren, was eine pflichtmige Handlung ist; ich wundere
mich, dass dieses von Panaitios bergangen worden ist. Denn jede
Unterweisung, die methodisch ber irgendeinen Gegenstand angestellt wird,
muss von einer Definition ausgehen, damit erkannt wird, was der Gegenstand
der Untersuchung ist. Jede wissenschaftliche Untersuchung ber die Pflicht ist
eine doppelte. Ein Teil bezieht sich auf das hchste Gut, ein anderer beruht auf
den Vorschriften, durch die das praktische Leben in jeder Hinsicht gestaltet
werden kann. Fr den ersten Teil gibt es Beispiele folgender Art: Ob alle
Pflichten vollkommene Pflichten sind; ob irgendeine Pflicht wichtiger ist als
eine andere und welche Pflichten zu derselben Art gehren. Fr diese Pflichten
des zweiten Teils aber werden Vorschriften mitgeteilt; obwohl diese sich an
dem hchsten Gut orientieren, ist dieses dennoch weniger deutlich, weil sie
sich offenbar auf die Gestaltung des praktischen Lebens beziehen; ber diese
Vorschriften mssen wir uns in den vorliegenden Bchern aussprechen.
[8] Und es liegt auch eine andere Einteilung der Pflicht vor. Denn es gibt eine so
genannte mittlere und eine vollkommene Pflicht. Die vollkommene Pflicht
wollen wir, so meine ich, die richtige nennen, da die Griechen sie als
katrjwma, diese allgemeine Pflicht aber als kajkon bezeichnen. Und diese
Pflichten definieren sie so, dass sie sagen, die Pflicht sei die vollkommene,
welche die richtige sei; die mittlere Pflicht aber sei, wie sie sagen, die, fr die
eine vernnftige Begrndung vorgebracht werden knne.
[9] Also gibt es, wie Panaitios glaubt, eine dreifache Erwgung, nach der man
einen Entschluss fasst. Denn sie berlegen, ob das, was Gegenstand der Erwgung ist, sittlich gut oder schndlich sei; denn whrend sie hierber
nachdenken, schwanken sie zwischen verschiedenen Meinungen. Dann aber
untersuchen sie oder gehen mit sich zu Rate, ob hinsichtlich der
Bequemlichkeit und Annehmlichkeit fr das Leben, hinsichtlich der Mittel zur
Bestreitung der Lebensbedrfnisse und deren Flle, hinsichtlich von Einfluss
und Macht, durch die sie sich und die Ihren untersttzen knnen, der
Gegenstand der Beratung zutrglich ist oder nicht; diese Erwgung gehrt ganz
in den Bereich des Nutzens. Eine dritte Art der berlegung ergibt sich, immer
wenn das, was ntzlich zu sein scheint, mit dem Sittlichguten offenbar im
Widerspruch steht. Wenn nmlich der Nutzen, wie es den Anschein hat, an sich
reit, das Sittlichgute dagegen zu sich zurckfhrt, geschieht es, dass der
Verstand, whrend er berlegt, in Zweifel gert und eine zwiespltige
Denkbemhung verursacht.
[10] In dieser Einteilung sind, obwohl es ein sehr schwerer Fehler ist, etwas
beim Gliedern zu bergehen, zwei Punkte weggelassen worden. Es wird
nmlich gewhnlich nicht nur darber nachgedacht, ob etwas sittlich gut oder
schndlich ist, sondern auch, wenn zwei sittlich gute Handlungsweisen
vorliegen, welche von beiden sittlich besser ist, und ebenso, wenn zwei
ntzliche Handlungsweisen vorliegen, welche von beiden ntzlicher ist. Folglich
stellt sich heraus, dass die berlegung, die, wie jener geglaubt hat, aus drei
Teilen bestehe, in fnf unterteilt werden muss: Also ist erstens das Sittlichgute,
aber in zweifacher Hinsicht, zweitens das Ntzliche in gleicher Weise und
drittens der Widerstreit zwischen diesen Prinzipien zu errtern.
11-151 Die aus der Tugend entspringenden Pflichten
11-17 Definition und Einteilung
[11] Vom ersten Augenblick an ist jeder Art von Lebewesen von der Natur
zugestanden worden, dass es sich, sein Leben und seinen Krper schtzt, das
meidet, was zu schaden droht und alles Lebensnotwendige sucht und beschafft
wie Nahrung, wie Schlupfwinkel, wie anderes derselben Art. Gemeinsam ist
ferner allen Lebewesen der Geselligkeitstrieb um der Fortpflanzung willen und
eine gewisse Frsorge fr diejenigen, die hervorgebracht worden sind. Aber
zwischen Mensch und Tier besteht insbesondere der Unterschied, dass dieses
nur insoweit, als es von sinnlicher Wahrnehmung angesprochen wird, sich
allein auf die unmittelbare Gegenwart einstellt, da es nur ganz wenig die
Vergangenheit oder Zukunft wahrnimmt. Weil der Mensch aber der Vernunft
teilhaftig ist, durch die er die Folgen erkennt, die Ursachen der Dinge begreift
und ihre Entwicklungsstufen und gleichsam die vorausgehenden Anlsse genau
kennt, verwandte Erscheinungen vergleicht und zuknftige Geschehnisse mit
gegenwrtigen verknpft und verbindet, sieht er leicht den Ablauf des ganzen
Lebens und schafft, um dieses zu meistern, die notwendigen Dinge vorher an.
[12] Und dieselbe Natur bringt auch kraft der Vernunft den Menschen dem
Mitmenschen nher zur Gemeinschaft der Sprache und des Lebens, und sie
pflanzt ihm eine ganz auerordentliche Liebe zu seinen Nachkommen ein. Sie
veranlasst ihn zu wollen, dass es Vereinigungen sowie Zusammenknfte von
Menschen gibt und diese von ihm besucht werden, und sich aus diesen
Grnden um die Beschaffung dessen zu bemhen, was zur Verschnerung des
Lebens und fr den Unterhalt ausreicht, nicht fr sich allein, sondern fr seine
Gattin, seine Kinder und die anderen, die er fr wert hlt und beschtzen muss,
eine Sorgepflicht, die sogar den Geist anregt und seine Tatkraft steigert.
[13] Ganz besonders sind dem Menschen das Suchen und die Erforschung der
Wahrheit eigen. Wenn wir daher frei von notwendigen Geschften und
Besorgungen sind, dann verlangen wir danach, etwas zu sehen, zu hren,
hinzuzulernen, und wir glauben, dass die Erkenntnis der Geheimnisse oder
Wunder der Natur fr ein glckliches Leben notwendig ist. Hieraus ist
erkennbar, dass das Wahre, Aufrichtige und Unverflschte der Natur des
Menschen
am
angemessensten
ist.
Mit
diesem
Verlangen
nach
alle aber mssen es wollen -, muss sich bei seinen berlegungen Zeit lassen
und sorgfltig vorgehen.
[19] Der zweite Fehler besteht darin, dass einige einen zu starken Eifer und zu
viel Mhe auf dunkle, schwierige und dabei gar nicht notwendige Fragen
verwenden. Wenn diese Fehler vermieden worden sind, wird man zu Recht den
Aufwand von Mhe und Sorgfalt fr ehrenvolle und der Erkenntnis wrdige
Gegenstnde loben, wie wir es z.B. ber C. Sulpicius in der Astronomie hren,
ber Sex. Pompeius in der Geometrie erfahren haben, ber viele in der Logik,
ber mehrere im brgerlichen Recht, alles Kenntnisse, die sich mit der
Wahrheitsfindung befassen. Sich durch das Streben hiernach von den
praktischen Ttigkeiten abbringen zu lassen ist gegen die Pflicht; denn der
Vorzug der Tugend beruht ganz auf der Handlung. Dennoch geschieht oft eine
Unterbrechung hierin, und es werden viele Mglichkeiten erffnet, zu den
Studien zurckzukehren; ferner kann uns die geistige Ttigkeit, die niemals zur
Ruhe kommt, sogar ohne unser Zutun in unserem Streben nach Erkenntnis
bewahren. Jeder Gedanke aber und jede Verstandesttigkeit mssen sich
entweder
mit
Entschlssen
beschftigen,
die
bezglich
ehrenhafter
Gegenstnde gefasst werden und solcher, die sich auf das gute und glckliche
Leben beziehen, oder mit dem Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Und
so haben wir ber die erste Quelle der Pflicht gesprochen.
20-60 Die Tugenden des geselligen Lebens und die daraus hervorgehenden
Pflichten
20-41 Die eigentliche Gerechtigkeit (2. Kardinaltugend)
20-23a Kein Unrecht tun. Das Eigentum achten
[20] Von den drei brigen Bereichen aber findet diejenige Haltung die weiteste
Anwendung, durch welche die Gemeinschaft der Menschen untereinander und
Fachkenntnisse,
Hilfeleistung
und
materielle
Mittel
das
Band
der
eine hher stehende Gesinnung haben, zielt das Verlangen nach Vermgen auf
Macht und auf die Mglichkeit, sich gefllig zu erweisen, wie neulich M.
Crassus sagte, kein Vermgen sei fr denjenigen zu gro, der im Staat die erste
Rolle spielen wolle, falls er mit seinem Einkommen kein Heer unterhalten
knne. Es erfreuen auch prchtige Ausstattungen und eine geschmackvolle und
genussreiche Lebensgestaltung, wodurch bewirkt worden ist, dass ein
grenzenloses Verlangen nach Vermgen herrscht. Zwar darf eine Steigerung
des Vermgens, sofern sie niemandem schadet, nicht getadelt werden, aber
immer ist Unrecht zu meiden.
[26] Ganz besonders aber werden die meisten dazu gebracht, die Gerechtigkeit
zu vergessen, wenn sie dem Verlangen nach Macht, hohen mtern und Ruhm
anheimgefallen sind. Was nmlich bei Ennius geschrieben steht Es gibt keine
heilige Bindung und keine Treue in der Knigsherrschaft", das hat weite
Geltung. Denn auf jedem Gebiet, das so beschaffen ist, dass sich auf ihm
mehrere auszeichnen knnen, kommt es meistens zu einem solchen Kampf,
dass es sehr schwierig ist, die Heiligkeit der gesellschaftlichen Bindung zu
bewahren. Dieses hat soeben die Unbesonnenheit C. Caesars gezeigt, der alle
gttlichen und menschlichen Rechte umstrzte, weil er sich eine irrtmliche
Vorstellung von dem Wesen eines Prinzipates gebildet hatte. Es ist aber auf
diesem Gebiet bedauerlich, dass in den bedeutendsten Geistern und in den
ausgezeichnetsten Genies meistens das Verlangen nach Ehre, Macht, Einfluss
und Ruhm hervortritt. Umso mehr muss man sich davor hten, dass in diesem
Bereich ein Fehler gemacht wird.
[27] Aber bei jeder Art von Ungerechtigkeit macht es einen sehr groen
Unterschied, ob durch irgendeinen Affekt, der meistens kurz ist und auf Zeit,
oder mit Bedacht und Absicht das Unrecht geschieht. Leichter nmlich wiegt
das, was sich infolge einer pltzlichen Erregung ereignet, als das, was nach
reiflicher berlegung und Vorbereitung zugefgt wird. Somit also ist ber die
Zufgung von Unrecht genug gesprochen worden.
[28] Es gibt gewhnlich mehrere Grnde, eine Verteidigung zu unterlassen und
so seine Pflicht zu verletzen. Denn die Menschen wollen entweder keine
Feindschaft, keine Anstrengung oder keine Kosten auf sich nehmen oder sie
lassen sich auch durch Nachlssigkeit, Trgheit oder durch gewisse Neigungen
oder Beschftigungen so sehr abhalten, dass sie es hinnehmen, dass diejenigen,
die sie schtzen mssten, verlassen sind. Daher muss man zusehen, ob das
gengt, was bei Platon hinsichtlich der Philosophen gesagt worden ist: Weil sie
sich mit der Erforschung der Wahrheit beschftigten und das, was die meisten
heftig erstreben und um was sie gewhnlich untereinander erbittert kmpfen,
verachteten und als nichtig bewerteten, deswegen seien sie gerecht. [Denn die
eine Art der Gerechtigkeit erreichen sie, dass sie niemandem schaden, indem
sie ihm Unrecht zufgen; aber sie erliegen der anderen Art von
Ungerechtigkeit, denn abgelenkt durch ihr Interesse am Lernen lassen sie
diejenigen im Stich, die sie schtzen mssen.] Daher glaubt er, sie wrden auch
nicht in den Staatsdienst eintreten, es sei denn, sie seien dazu gezwungen.
Denn die sittlich gute Tat ist nur in dem Fall gerecht, wenn sie freiwillig
geschieht.
[29] Auch gibt es welche, die entweder aufgrund ihres Bestrebens, ihr
Vermgen zu schtzen, oder aus einer gewissen Scheu gegenber Menschen
sagen, sie kmmerten sich nur um ihre Angelegenheiten, und die offenbar
niemandem Unrecht zufgen. Diese Leute sind zwar von der einen Art der
Ungerechtigkeit frei, verfallen aber der anderen; sie entziehen sich nmlich der
Gemeinschaft des Lebens, weil sie auf diese keinen Eifer, keine Mhe und keine
Geldmittel verwenden.
[32] Es kann ja auch ein solches Versprechen und Abkommen eintreten, dass
seine Einhaltung schdlich ist entweder fr denjenigen, dem versprochen
worden ist, oder fr denjenigen, der versprochen hat. Denn wenn, wie die
Mythologie berichtet, Neptun nicht getan htte, was er Theseus versprochen
hatte, so wre Theseus nicht seines Sohnes Hippolytus beraubt worden. Von
den drei Wnschen nmlich war, wie geschrieben wird, dieser der dritte, dass
er sich in seinem Zorn die Vernichtung des Hippolytus wnschte; nachdem er
diese erwirkt hatte, verfiel er der grten Trauer. Also brauchen die
Versprechen nicht eingehalten zu werden, die fr diejenigen nachteilig sind,
denen man sie zugesagt hat, und wenn sie dir mehr schaden als sie jenem
ntzen, dem du sie zugesagt hast, ist es auch nicht gegen die Pflicht, dass das
Wichtigere dem Unbedeutenderen vorgezogen wird: Wenn du z.B. mit
jemandem die Vereinbarung getroffen httest, dass du dich als Rechtsbeistand
an Ort und Stelle begeben wirst, und inzwischen dein Sohn schwer erkrankt, so
wre es nicht gegen die Pflicht, nicht zu tun, was du gesagt hast, vielmehr
wrde jener, dem versprochen worden ist, von der Pflicht abweichen, wenn er
beklagte, er sei im Stich gelassen worden. Ferner, wer erkennt nicht, dass man
nicht jenen Versprechen treu bleiben muss, die jemand aus Furcht, die jemand
durch eine List getuscht abgegeben hat? Solche Versprechen werden ja auch
in den meisten Fllen durch das Recht des Prtors ungltig gemacht, in einigen
durch Gesetze.
33 Summum ius summa iniuria
[33] Oft auch kommt Unrecht vor infolge einer gewissen Rechtsverdrehung und
einer raffinierten, aber arglistigen Auslegung des Rechts. Hieraus ist jenes
schon abgedroschene Sprichwort entstanden: Das strengste Recht ist
strengstes Unrecht." In diesem Zusammenhang werden in der Politik viele
Fehler gemacht, wie jener es getan hat, der, nachdem fr dreiig Tage ein
Waffenstillstand mit dem Feind geschlossen worden war, nachts die Felder
verwstete, weil man den Waffenstillstand fr Tage, nicht fr Nchte
vereinbart htte. Nicht einmal unser Landsmann darf Zustimmung finden,
wenn es stimmt, dass Q. Fabius Labeo oder irgendein anderer denn ich wei
darber nur vom Hrensagen den Einwohnern von Nola und Neapel in einem
Grenzstreit als Schiedsrichter vom Senat gegeben worden sei und, nachdem er
sich an Ort und Stelle begeben habe, mit beiden getrennt gesprochen habe,
damit sie nichts aus Habsucht, nichts aus Gier taten und sich lieber
zurckziehen als vorrcken wollten. Weil beide dieses getan hatten, wurde in
der Mitte ziemlich viel Land brig gelassen. Daher grenzte er ihr Gebiet so ab,
wie sie selbst es gesagt hatten; was in der Mitte brig war, sprach er dem
rmischen Volk zu. Tuschung bedeutet eben dieses, nicht Rechtsprechung.
Deshalb ist in jeder Angelegenheit eine solche List zu meiden.
34-41 Gromut und Vergebung
[34] Es mssen einige Pflichten auch gegenber denen beachtet werden, von
denen man ein Unrecht erlitten hat. Denn fr Rache und Strafe gibt es eine
Grenze, und vielleicht reicht es aus, dass derjenige, der herausgefordert hat,
sein Unrecht bereut, damit er selbst in Zukunft nichts Dergleichen tut und die
anderen mit dem Unrecht weniger schnell bei der Hand sind. Und in der
Auenpolitik mssen insbesondere die Kriegsrechte beibehalten werden. Denn
weil es zwei Arten gibt, eine Entscheidung herbeizufhren, die eine durch
Verhandlung, die andere durch Gewalt, und weil jene dem Menschen eigen ist,
diese den Tieren, muss man zu der letztgenannten erst dann seine Zuflucht
nehmen, wenn es nicht mglich ist, die erstgenannte zu gebrauchen.
[35] Deshalb muss man sich zwar Kriegen aus dem Grund unterziehen, damit
man ohne Schaden im Frieden leben kann, wenn aber der Sieg errungen ist,
weil er, da der erste Eid ungltig geworden war, mit den Feinden nicht
kmpfen konnte. So hoch war die Gewissenhaftigkeit am Beginn eines Krieges.]
[37] Es gibt einen Brief des alten Marcus Cato an seinen Sohn Marcus, in dem
er schreibt, er habe gehrt, dieser sei vom Konsul aus dem Dienst entlassen
worden, als er in Makedonien im Krieg mit Perseus Soldat war. Also mahnt er
ihn sich davor zu hten, einen Krieg zu beginnen; er sagt nmlich, es sei nicht
rechtens, dass derjenige, der kein Soldat sei, gegen den Feind kmpfe. Ich
meinerseits nehme auch jenes wahr, dass dadurch, dass derjenige, der nach
seinem eigentlichen Namen ein Feind war, Fremder genannt wurde, die Hrte
der Sache abgeschwcht worden ist. Fremder (hostis) nmlich wurde bei
unseren Vorfahren derjenige genannt, den wir nun einen Auslnder
(peregrinus) nennen. Die Zwlftafelgesetze liefern den Beweis: Entweder ein
vereinbarter Termin mit einem Fremden" und ebenso Gegen einen Fremden
ewiges Eigentumsrecht". Was kann zu dieser Milde noch hinzugefgt werden,
denjenigen, gegen den man Krieg fhrt, mit einem so sanften Namen zu
bezeichnen? Indessen machte schon die Dauer der Zeit diesen Namen hrter;
denn er hat nicht mehr die Bedeutung Fremdling" und ist ausschlielich fr
den erhalten geblieben, der gegen einen Waffen trug.
[38] Wenn aber um die Herrschaft gekmpft und durch Krieg Ruhm gesucht
wird, mssen dennoch auf jeden Fall dieselben Grnde vorhanden sein, die,
wie ich kurz zuvor gesagt habe, gerechte Kriegsgrnde sind. Aber diejenigen
Kriege, bei denen es um den Ruhm von Herrschaft geht, sind weniger hart zu
fhren. Wie wir nmlich gegen einen Brger anders kmpfen, wenn er ein
Feind, anders, wenn er ein Mitbewerber ist mit dem einen wird um Ehre und
Wrde gekmpft, mit dem anderen um Leben und Ruhm -, so wurde gegen die
Keltiberer und gegen die Kimbrer wie gegen Feinde Krieg gefhrt, wer von
beiden am Leben bleiben, nicht wer von beiden herrschen solle; mit den
Hannibals aus dem Lager gegangen war, kehrte er bald darauf zurck, weil er,
wie er sagte, irgendetwas vergessen habe; danach entfernte er sich aus dem
Lager und glaubte, vom Eid entbunden zu sein, und er war es den Worten nach,
nicht in Wirklichkeit. Immer aber muss bei einem Versprechen bedacht
werden, was man gemeint, nicht was man gesagt hat. Das bedeutendste
Beispiel fr Gerechtigkeit gegenber dem Feind aber wurde von unseren
Vorfahren gegeben, als ein berlufer des Pyrrhus dem Senat versprach, er
werde dem Knig Gift geben und ihn tten. Der Senat und C. Fabricius
bergaben ihn Pyrrhus. So billigte nicht einmal der Feind die Vernichtung eines
mchtigen Aggressors im Kriege, wenn ein Verbrechen damit verbunden wre.]
[41] Somit ist ber die Pflichten im Krieg genug gesagt. Wir wollen aber daran
denken, dass auch gegenber den Niedriggestellten Gerechtigkeit gewahrt
werden muss. Am schlechtesten aber ist die Lage und das Schicksal der Sklaven,
die wie Sldner zu gebrauchen diejenigen Philosophen nicht schlecht lehren,
die es mit folgenden Worten befehlen: Leistung msse eingefordert, das
Gebhrende gewhrt werden. Wenn aber auf zwei Weisen, d.h. entweder
durch Gewalt oder durch Betrug Unrecht entsteht, ist der Betrug gleichsam
dem Fchslein eigen, die Gewalt dem Lwen; beides ist mit dem Menschsein
vllig unvereinbar, der Betrug jedoch verdient greren Hass, aber von allen
Arten der Ungerechtigkeit ist keine strflicher als die Ungerechtigkeit derer, die
gerade dann, wenn sie einen Betrug begehen, sich bemhen, als gute
Menschen zu erscheinen. ber die Gerechtigkeit ist genug gesprochen.
42-60 Wohlttigkeit und Gte
42-43 Echte Wohltaten
[42] Sodann soll, wie in Aussicht gestellt war, ber die Wohlttigkeit und
Freigebigkeit gesprochen werden, die sicherlich der Natur des Menschen am
von
einem
pflichtmigen
Handeln
entfernt,
dass
es
nichts
Gegenteiligeres geben kann. Also muss darauf geachtet werden, dass wir eine
solche Freigebigkeit zeigen, die den Freunden ntzt, niemandem schadet.
Daher darf die Vermgensbertragung durch L. Sulla und C. Caesar von den
rechtmigen Besitzern auf Freunde nicht fr Freigebigkeit gehalten werden;
denn nichts verdient die Bezeichnung freigebig, das nicht zugleich auch gerecht
ist.
44 Besonnenheit bei Wohltaten
[44] Der zweite Punkt der Vorsicht besteht darin, dass die Gte nicht grer
sein soll als die materiellen Mittel, weil diejenigen, die gtiger sein wollen, als
ihr Vermgen es erlaubt, zuerst dadurch einen Fehler machen, dass sie gegen-
ber ihren nchsten Verwandten ungerecht sind; die Mittel nmlich, die ihnen
reichlich zu gewhren und zu vererben gerechter wre, bertragen sie auf
Freunde. Es liegt aber in einer solchen Freigebigkeit das Verlangen, das meiste
durch Unrecht an sich zu reien und fortzuschaffen, damit die Mittel zum
Schenken vorhanden sind. Man kann sogar beobachten, dass die meisten nicht
so sehr von Natur aus freigebig sind als vielmehr aus einer gewissen Ruhmsucht
heraus, damit sie in ihrer Gte vieles zu tun scheinen, was augenscheinlich
mehr der Prahlerei entspringt als einer wahren Gesinnung. Eine solche
Verstellung jedoch steht der Unehrlichkeit nher als der Freigebigkeit oder dem
Anstand.
45-60 Wohltaten gegen besondere Nchste. Umstnde
[45] Der dritte Punkt, den wir angefhrt haben, besteht darin, dass es bezglich
der Wohlttigkeit eine Auswahl nach der Wrdigkeit gibt; dabei ist der
Charakter dessen zu beachten, dem man die Wohltat erweisen wird, seine
Gesinnung uns gegenber, seine nhere oder entferntere Stellung zu uns im
Leben und die zuvor zu unserem Nutzen erwiesenen Dienste; dass dies alles
zusammentrifft, ist wnschenswert; andernfalls wird die Mehrheit der Grnde
sowie ihre grere Triftigkeit mehr Gewicht haben.
46 Der Charakter des Empfngers
[46] Aber da man nicht unter vollkommenen und vollstndig weisen Menschen
lebt, sondern unter solchen, bei denen man schon sehr zufrieden sein muss,
wenn in ihnen Abbilder der Tugend vorhanden sind, glaube ich, dass auch
dieses erkannt werden muss, dass niemand ganz vernachlssigt werden darf, in
dem berhaupt eine Andeutung von Tugend sichtbar wird, dass aber jeder um
so mehr geschtzt werden muss, je mehr er mit folgenden sanfteren Tugenden
ausgestattet
ist,
mit
Migung,
Selbstbeherrschung
und
eben
der
Gerechtigkeit, ber die schon vieles gesagt worden ist. Denn Tapferkeit und
Hochsinn in einem nicht vollkommenen und nicht weisen Menschen sind
meistens zu heftig, jene Tugenden jedoch scheinen eher zu einem
rechtschaffenen Mann zu gehren. Und soweit ber den Charakter.
47-49 Wohltaten fr Wrdige und Bedrftige. Beseitigung der Bedrftigkeit
[47] Was aber das Wohlwollen betrifft, das jeder uns gegenber hat, so gehrt
es als erstes zum pflichtmigen Handeln, dass wir demjenigen am meisten
zugestehen, von dem wir am meisten geschtzt werden, das Wohlwollen aber
nicht wie die jungen Leute gleichsam nach der Heftigkeit der Zuneigung,
sondern vielmehr nach Dauer und Festigkeit beurteilen. Wenn es sich aber um
Wohltaten handelt, so dass man sich nicht beliebt machen muss, sondern Dank
abzustatten hat, ist eine geradezu noch grere Aufmerksamkeit aufzubringen.
Denn keine Pflicht ist notwendiger als das Abstatten von Dank.
[48] Wenn nun Hesiod befiehlt, das, was man als Darlehen empfangen hat, in
noch grerem Ma, wenn man es nur kann, zurckzuerstatten, was mssen
wir dann, durch eine Wohltat veranlasst, tun? Doch wohl fruchtbare cker
nachahmen, die viel mehr hervorbringen, als sie angenommen haben? Denn
wenn wir nicht zgern, denjenigen, die, wie wir hoffen, uns nutzen werden,
unsere Pflichten zu erweisen, wie mssen wir uns dann denen gegenber
verhalten, die uns schon genutzt haben? Denn weil es zwei Arten von
Freigebigkeit gibt, die eine, eine Wohltat zu gewhren, die andere, sie zu
vergelten, liegt es in unserer Macht, ob wir sie gewhren oder nicht, sie nicht
zu vergelten ist aber einem rechtschaffenen Mann nicht erlaubt, wenn er
dieses nur ohne Unrecht tun kann.
[49] Unter den empfangenen Wohltaten aber muss eine Unterscheidung
gemacht werden, und es besteht kein Zweifel, dass gerade den grten
rechte Ma und Gte hingegen nicht; denn sie besitzen keine Vernunft und
keine Sprache.
[51] Und diese Gemeinschaft dehnt sich sehr weit aus auf die Menschen
untereinander, auf alle unter allen. In ihr muss die Allgemeinheit aller Gter,
welche die Natur zum gemeinsamen Nutzen der Menschen hervorgebracht hat,
beibehalten werden, so dass diejenigen Gter, die durch die Gesetze und das
brgerliche Recht zugewiesen worden sind, in der Weise Eigentum sind, wie es
durch die Gesetze selbst festgelegt ist, die brigen Gter aber so betrachtet
werden, wie es in einem griechischen Sprichwort heit, Freunden sei alles
gemeinsam. Allen Menschen aber scheint das gemeinsam zu sein, was von der
Art ist, die, von Ennius auf einen Einzelfall beschrnkt, auf sehr viele bertragen
werden kann: Ein Mensch, der einem Umherirrenden freundlich den Weg
weist, macht, dass er gleichsam Licht an seinem Licht anzndet.
Nichtsdestoweniger leuchtet das Licht fr ihn selbst, obwohl er es fr jenen
angezndet hat. Aufgrund eines Beispiels gibt er eine zutreffende Vorschrift,
dass all das, was ohne Schaden zur Verfgung gestellt werden kann, sogar
einem Unbekannten zugeteilt werden soll.
[52] Zu jenem Bereich gehren jene allgemeinen Grundstze: nicht vom
flieenden Wasser fernhalten, zulassen, dass jemand Feuer am Feuer
entzndet, wenn er es will, jemandem, der berlegt, einen zuverlssigen Rat
erteilen: Geflligkeiten, die fr diejenigen ntzlich sind, die sie annehmen, und
nicht beschwerlich fr denjenigen, der sie erbringt. Daher muss man diese
Grundstze befolgen und immer etwas zum gemeinsamen Nutzen beitragen.
Aber da die Hilfsmittel der Einzelnen gering sind, die Menge derer aber, die
dieser bedrfen, unbegrenzt ist, muss sich die allgemeine Grozgigkeit nach
jener von Ennius gesetzten Grenze richten 'nichtsdestoweniger leuchtet das
Licht fr ihn selbst' damit es die Mglichkeit gibt, dass wir gegenber unseren
Angehrigen freigebig sind.
[53] Es gibt aber mehrere Grade menschlicher Gemeinschaft. Um nmlich von
jener unbegrenzten Gemeinschaft abzusehen: nher steht einem die
Gemeinschaft desselben Volkes, desselben Stammes und derselben Sprache,
durch die Menschen am meisten verbunden werden. Ein noch engeres Band ist
es, ein Mitglied derselben Brgerschaft zu sein; denn vieles haben die Brger
untereinander gemeinsam: das Forum, Heiligtmer, Sulenhallen, Straen,
Gesetze, Rechtsnormen, Gerichte, Abstimmungen, auerdem geselligen
Verkehr
und
vertrauten
Umgang
sowie
berhaupt
Geschfts-
und
Handelsverbindungen, in die viele mit vielen eintreten. Aber ein noch engeres
Band ist die Gemeinschaft der Verwandten; denn gegenber jener
unermesslichen Gemeinschaft des Menschengeschlechtes verengt diese sich
auf einen ganz kleinen Kreis.
[54] Denn weil dieses von Natur aus den Lebewesen gemeinsam ist, dass sie
den Zeugungstrieb haben, besteht die erste Stufe der Gemeinschaft in der Ehe
selbst, die nchste in den Kindern, dann folgen die Gemeinschaft eines Hauses
und die Gemeinsamkeit des ganzen Besitzes; dies aber ist der Ursprung der
Stadt und gleichsam die Pflanzsttte des Staates. Es folgen die Verbindungen
der Geschwister, danach die Verbindungen der Vettern mtterlicher- und
vterlicherseits, die in andere Huser wie in Kolonien ausziehen, weil sie in
einem einzigen Haus nicht beherbergt werden knnen. Es folgen gesetzmige
Ehen und Verschwgerungen, wodurch der Kreis der Verwandten sich noch
vergrert; diese Fortpflanzung und Nachkommenschaft ist der Ursprung der
Staaten. Die Blutsverwandtschaft aber verbindet die Menschen durch
Wohlwollen und Liebe.
[58] Aber wenn eine Art Streit und ein Vergleich darber entsteht, wem ein
Hchstma an Dienstleistung zu erweisen ist, drften die Ersten das Vaterland
und die Eltern sein, durch deren Wohltaten wir am meisten verpflichtet sind,
als nchstes die Kinder und die ganze Hausgemeinschaft, die ihre Blicke auf uns
allein richtet und keinen anderen Zufluchtsort haben kann, sodann die in
gutem Einvernehmen mit uns lebenden Verwandten, mit denen uns
gewhnlich auch die ueren Lebensumstnde gemeinsam sind. Deshalb
werden die notwendigen Hilfsmittel des Lebens besonders den vorhin
Erwhnten geschuldet, die gemeinsame Fhrung und Sicherung des Lebens
aber, Beratungen, Gesprche, Aufmunterungen, Trostworte und zuweilen auch
Zurechtweisungen haben in Freundschaften die grte Wirkung, und diejenige
Freundschaft ist am angenehmsten, welche die hnlichkeit des Charakters
verbunden hat.
59-60 Erfahrung lehrt rechte Wohlttigkeit
[59] Aber bei all diesen Diensterweisen wird man darauf achten mssen, was
jedem am meisten erwiesen werden muss und was jeder auch ohne uns
erreichen kann oder nicht. So werden die Abstufungen bei engen
Verbindungen nicht dieselben sein wie die bei ueren Umstnden, und es gibt
Pflichten, die den einen mehr als den anderen geschuldet werden; z.B.
knntest du bei der Einbringung der Ernte einem Nachbarn schneller helfen als
einem Bruder oder Freund, aber wenn ein Streit vor Gericht anhngig ist,
drftest du wohl eher einen Verwandten und Freund als einen Nachbarn
verteidigen. Also ist dieses und Derartiges bei jedem Dienst zu bedenken, [und
wir mssen uns bung und Gewhnung verschaffen] damit wir gute Berechner
der Pflichten sein knnen und durch Addition und Subtraktion zu sehen
vermgen, was der Restbetrag ist, aus dem man erkennt, wie viel jedem
geschuldet wird.
[60] Aber wie weder rzte noch Feldherrn noch Redner, mgen sie sich auch
die Theorie zu eigen gemacht haben, ohne Praxis und Erfahrung etwas
erreichen knnen, was groen Lobes wrdig ist, so werden zwar jene
Vorschriften fr rechtes Handeln weitergegeben, wie wir selbst es tun, aber die
Bedeutung der Sache verlangt auch Praxis und Erfahrung. Und wir haben fast
hinreichend ausgefhrt, auf welche Weise aus den Handlungen, die gerecht
sind in der menschlichen Gemeinschaft, das Sittlichgute abgeleitet wird, von
dem das pflichtm-ige Handeln abhngig ist.
61-92 Tapferkeit und Hochsinn
61-65 Die Tapferkeit (3. Kardinaltugend)
[61] Man muss aber wissen, da vier Bettigungsfelder aufgestellt worden sind,
aus denen Sittlichkeit und pflichtmiges Handeln hervorgehen, dass der
Bereich am glnzendsten zu sein scheint, der durch eine groe und erhabene
Haltung, die auf uerliche Werte herabblickt, entstanden ist. Daher liegt bei
Vorwrfen ein Wort besonders nahe, falls etwas Derartiges gesagt werden
kann: 'Ihr nmlich, junge Mnner, zeigt die Gesinnung einer Frau, jenes
Mdchen aber die eines Mannes'; und falls es etwas von dieser Art gibt:
'Salmakidenbeute ohne Schwei und Blut (hast du)'. Andererseits loben wir
gleichsam in vollerem Tone in Lobreden irgendwie das, was in erhabener
Haltung, tapfer und vortrefflich getan worden ist. Von dieser Art ist das
Bettigungsfeld der Redelehrer ber Marathon, Salamis, Plataea, Thermopylae
und Leuctra; daher werden unser Cocles, die Decier, Cn. und P. Scipio, M.
Marcellus und unzhlige andere gelobt, und besonders das rmische Volk
selbst zeichnet sich durch eine erhabene Gesinnung aus. Deutlich aber wird das
Streben nach Kriegsruhm dadurch, dass wir auch Statuen in beinahe
kriegerischer Aufmachung sehen.
[62] Aber wenn diese erhabene Gesinnung, die in Gefahren und bei Strapazen
erkennbar ist, frei von Gerechtigkeit ist und nicht fr das Gemeinwohl streitet,
sondern fr ihre eigenen Vorteile, gilt sie als Fehler; denn dieses ist nicht nur
nicht ein Ausdruck von Tugend, sondern vielmehr von Brutalitt, die jedes
menschliche Gefhl von sich weist. Daher wird von den Stoikern die Tapferkeit
treffend definiert, wenn sie sagen, sie sei eine Tugend, die fr Recht und
Billigkeit kmpft. Deswegen hat niemand, der den Ruhm der Tugend durch
Hinterhltigkeit und Arglist erreicht hat, wahres Lob erlangt: Nichts kann sittlich
gut sein, was frei von Gerechtigkeit ist.
[63] Vortrefflich also ist jene Stelle bei Plato: 'Nicht nur die Weisheit', sagte er,
'die von Gerechtigkeit frei ist, muss eher Verschlagenheit als Weisheit genannt
werden, sondern auch ein zur bernahme von Gefahr bereiter Charakter soll,
falls er sich durch sein eigenes Verlangen, nicht durch den gemeinsamen
Nutzen antreiben lsst, eher die Bezeichnung Verwegenheit als Tapferkeit
haben.' Daher wollen wir, dass tapfere und gromtige Mnner zugleich
rechtschaffen und aufrichtig sind, Freunde der Wahrheit und nicht im
Mindesten trgerisch; diese Eigenschaften gehren zu dem innersten Wesen
der Gerechtigkeit.
[64] Aber jenes ist widerwrtig, dass nmlich bei dieser Erhabenheit und Gre des Geistes sehr leicht Hartnckigkeit und ein allzu starkes Verlangen nach
der ersten Stelle aufkommen. Wie es nmlich bei Platon heit, dass der ganze
Charakter der Spartaner durch das Verlangen zu siegen entflammt sei, so will
ein jeder, je mehr er sich durch Gromut auszeichnet, um so mehr der Erste
von allen oder vielmehr der Einzige sein. Es ist aber schwierig, wenn man alle zu
bertreffen wnscht, einen Sinn fr Rechtmigkeit zu bewahren, der fr die
Gerechtigkeit besonders wesentlich ist. Daher geschieht es, dass sie nicht
zulassen, dass sie in einer Diskussion oder durch Recht und Gesetz des Staates
besiegt werden, und sie erweisen sich in einem Staat meistens als Bestecher
und Parteignger, damit sie mglichst groe Macht erlangen und eher durch
Gewalt berlegen als durch Gerechtigkeit gleichgestellt sind. Aber je
schwieriger es ist, Rechtmigkeit zu wahren, desto grer ist der Ruhm. Es
gibt nmlich keine Zeit, die frei von Gerechtigkeit sein darf.
[65] Fr tapfer und gromtig drfen nicht diejenigen gehalten werden, die
Unrecht begehen, sondern diejenigen, die es abwehren. Echter und weiser
Gromut aber glaubt, dass jenes Sittlichgute, nach dem die Natur am meisten
strebt, auf Taten beruht und nicht auf Ruhm, und er will lieber der Beste sein
als scheinen. Denn wer von der Launenhaftigkeit der unwissenden Menge
abhngt, darf nicht zu den groen Mnnern gezhlt werden. Um so leichter
aber wird jeder durch das Verlangen nach Ruhm zu ungerechten Handlungen
verleitet, je hochstrebender sein Charakter ist; dieses Thema ist allerdings
schwierig, weil sich kaum jemand finden lsst, der nicht, nachdem er Strapazen
auf sich genommen und sich Gefahren unterzogen hat, Ruhm gleichsam als
Belohnung fr seine Taten ersehnt.
66-68 Tapferkeit in Selbstbezwingung und in Ausfhrung groer Taten
[66] Im Allgemeinen ist eine tapfere und erhabene Gesinnung besonders an
zwei Haltungen erkennbar, von denen die eine auf der Verachtung uerlicher
Werte beruht, indem man berzeugt ist, dass der Mensch nur das Sittlichgute
und Schickliche bewundern, wnschen und erstreben darf und es sich nicht
gebhrt, wenn er irgendjemandem nachgibt, weder einem Menschen noch
einer Leidenschaft noch dem Zufall. Eine zweite Haltung besteht darin, dass du,
wenn du so eingestellt bist, wie ich oben gesagt habe, nicht nur bedeutende
und besonders ntzliche Taten verrichtest, sondern auch sehr schwierige, die
voll von Mhen und Gefahren sind, fr das Leben und fr lebenswichtige
Belange.
[67] Der ganze Glanz und das Ansehen dieser beiden Haltungen ich fge auch
ihren Nutzen hinzu liegt in der letzteren, die bewirkende Ursache aber, die
bedeutende Mnner schafft, liegt in der ersten Haltung. Hierauf nmlich beruht
jenes, was eine herausragende und uerliche Werte verachtende Gesinnung
hervorbringt. [Eben dieses aber zeigt sich in zwei Verhaltensweisen, wenn du
nur das, was sittlich gut ist, fr rechtschaffen hltst und von jeder Leidenschaft
frei bist.] Denn das, was den meisten auerordentlich und herrlich zu sein
scheint, gering zu schtzen und dieses mit einer gleichbleibenden und festen
Haltung zu verachten muss als Ausdruck einer tapferen und erhabenen
Gesinnung gewertet werden, und das, was bitter erscheint, was vielfach und in
mannigfacher Gestalt in dem vom Schicksal bestimmten Leben der Menschen
vorkommt, so zu ertragen, dass du um nichts von dem natrlichen Zustand
abweichst, um nichts von der Wrde des Weisen, ist Ausdruck einer kraftvollen
Haltung und einer groen Unerschtterlichkeit.
[68] Es ist aber nicht folgerichtig, dass derjenige, der sich von der Furcht nicht
berwltigen lsst, sich von dem Verlangen bezwingen lsst, und auch nicht,
dass derjenige, der sich als von Mhsal unbezwingbar erwiesen hat, von dem
Vergngen besiegt wird. Daher muss man diese meiden und dem Verlangen
nach Geld zu entgehen suchen; nichts nmlich ist Ausdruck einer kleinm-tigen
und engherzigen Gesinnung wie den Reichtum zu lieben, nichts ist ehrenvoller
und groartiger als das Geld zu verachten, wenn man es nicht hat, und wenn
man es aber hat, es auf grozgige Wohlttigkeit zu verwenden. Hten muss
man sich auch vor dem Verlangen nach Ruhm, wie ich oben gesagt habe; denn
es entreit die freie Gesinnung, fr deren Erhalt gromtige Mnner jede
Anstrengung aufbringen mssen. Aber Kommandostellen drfen nicht erstrebt
werden, sondern vielmehr sind sie zuweilen nicht anzunehmen oder manchmal
niederzulegen.
69-73 Fernbleiben vom Staatsleben nur in besonderer Lage
[69] Man muss aber von jeder Leidenschaft frei sein, sowohl von Begierde und
Furcht als auch von Bekmmernis und Freude, damit Seelenruhe und Heiterkeit
zugegen sind, die Unerschtterlichkeit und Selbstachtung mit sich bringen.
Viele aber gibt es und hat es gegeben, die diese Ruhe, von der ich spreche,
erstrebt, sich deswegen aus der Politik zurckgezogen und ihre Zuflucht bei der
Mue genommen haben, unter ihnen die berhmtesten und bei weitem
angesehensten Philosophen und einige strenge und charakterfeste Menschen;
einige konnten weder die Launen des Volkes noch die der Mchtigen ertragen
und lebten auf dem Lande, wobei sie sich an ihrem privaten Besitz erfreuten.
[70] Diese hatten denselben Vorsatz wie Knige, nichts zu bedrfen,
niemandem zu gehorchen, die Freiheit zu gebrauchen, einen Vorsatz, dessen
Wesenszug es ist, so zu leben, wie man will. Weil diesen Lebensgrundsatz die
Machtbegierigen mit diesen oben genannten Migen gemeinsam haben,
deswegen meinen die einen, sie knnten dieses erreichen, wenn sie groen
Reichtum htten, die anderen, wenn sie mit dem Ihrigen und mit Wenigem
zufrieden seien. Dabei darf zwar die Meinung keiner von beiden Parteien
verachtet werden, aber leichter, sicherer und durch andere weniger beschwert
oder unangenehm ist das Leben der Migen, Gewinn bringender jedoch fr
das Menschengeschlecht und geeigneter fr Glanz und Ansehen ist das Leben
derer, die sich dem Staat und der Verrichtung groer Aufgaben gewidmet
haben.
[71] Deswegen muss man vielleicht denen gegenber Nachsicht ben, da sie
nicht die politische Laufbahn eingeschlagen haben, die sich auf Grund ihrer
aber
sie
frchten
offenbar
Anstrengungen
und
Beschwerlichkeiten, sodann eine Art von Schande und Schmach bei Scheitern
und Abweisung. Denn es gibt welche, die bei Widerstnden allzu wenig Halt
haben, die Lust zwar sehr rigoros verachten, im Schmerz aber allzu empfindlich
sind, sich um den Ruhm zwar nicht kmmern, sich aber durch einen blen Ruf
entmutigen lassen, und das ohne rechte Konsequenz.
[72] Aber diejenigen, die von Natur aus die erforderlichen Eigenschaften fr die
politische Ttigkeit haben, mssen sich, wenn sie alles Zgern abgelegt haben,
um politische mter bewerben und den Staat lenken; denn anders kann eine
Brgerschaft nicht geleitet und Gromut nicht bewiesen werden. Diejenigen
aber, welche die politische Laufbahn einschlagen, mssen ebenso wie die
Philosophen, vielleicht sogar noch mehr, die oft genannte Hochherzigkeit und
Verachtung uerlicher Werte aufbringen sowie Seelenruhe und Gelassenheit,
insofern sie nicht besorgt sein, sondern mit Wrde und Charakterfestigkeit
leben wollen.
[73] Dieses ist fr die Philosophen umso leichter, je weniger Blen sich in
ihrem Leben bieten, die das Schicksal treffen knnte und je weniger Gter sie
bedrfen und weil sie, falls sich irgendein Unglck ereignet, nicht so schwer
fallen knnen. Darum entstehen grere seelische Erregungen bei denen, die
den Staat lenken, als bei den in Mue Lebenden. Umso mehr mssen diese
Gromut und das Freisein von ngsten aufbringen. Wer sich aber dem
Staatsdienst widmet, soll darauf sehen, dass er nicht nur bedenkt, wie rhmlich
jene Ttigkeit ist, sondern dass er auch eine Mglichkeit zur Verwirklichung hat;
hierbei muss er darauf bedacht sein, dass er nicht aus Mangel an Energie ohne
Grund verzweifelt oder sich aus Ehrgeiz zu viel zutraut. Bei allen Ttigkeiten
aber muss, bevor man beginnt, eine gewissenhafte Vorbereitung hinzugezogen
werden.
74-81 Tapferkeit im Kriege steht nicht hher als Mut im Frieden
[74] Aber da die meisten meinen, Leistungen im Kriege seien bedeutender als
Leistungen im Frieden, muss dieser Meinung entgegengetreten werden. Denn
viele suchten oft Kriege wegen des Verlangens nach Ruhm, und eine solche
Handlungsweise kommt meistens bei Mnnern von groen Geistesgaben und
Talenten, und das um so mehr, wenn sie fr das Kriegswesen geeignet sind und
begierig, Kriege zu fhren; aber wenn wir wahrheitsgem urteilen wollen, so
haben sich viele Leistungen im Frieden als bedeutsamer erwiesen denn
Leistungen im Kriege.
[75] Denn wenn auch Themistokles noch so sehr zu Recht gelobt wird, sein
Name bekannter ist als der Solons und Salamis als Zeuge eines sehr berhmten
Sieges genannt wird, welcher der staatsmnnischen Einsicht Solons
vorzuziehen sei, durch die er die Areopagiten einsetzte, so ist diese letztere Tat
als genauso vortrefflich zu beurteilen wie jene. Denn jene ntzte einmal, diese
hingegen wird der Brgerschaft immer ntzen; durch diesen Rat werden die
Gesetze der Athener, durch ihn die Einrichtungen der Vorfahren bewahrt. Und
Themistokles kann wohl kaum etwas anfhren, wodurch er persnlich dem
Areopag geholfen htte. Aber jener knnte tatschlich sagen, Themistokles sei
von ihm geholfen worden; der Krieg wurde nmlich nach der Maregel
desjenigen Senates gefhrt, der von Solon gegrndet worden war.
[76] Dasselbe kann man von Pausanias und Lysander behaupten; obwohl
geglaubt wird, dass durch deren Taten das Reich der Spartaner ausgebreitet
worden sei, sind sie dennoch nicht im Geringsten mit den Gesetzen und der
Ordnung Lykurgs zu vergleichen; ja sogar hatten sie aus eben diesen Grnden
gehorsamere und tapferere Heere. Mir jedenfalls schien weder in meiner
Jugend M. Scaurus dem C. Marius noch whrend meiner politischen Ttigkeit
Q. Catulus dem Cn. Pompeius nachzustehen; denn wenig gelten Waffen im
Ausland, wenn nicht zu Hause kluge Einsicht herrscht. Und Africanus, ein
einzigartiger Mann und Feldherr, ntzte bei der Zerstrung Numantias dem
Staat nicht mehr als zu derselben Zeit der Privatmann P. Nasica, als er Ti.
Gracchus ttete; allerdings gehrt diese Tat nicht nur dem Gebiet der
Innenpolitik an sie berhrt auch die Sache des Krieges, da sie mit
Brachialgewalt ausgefhrt worden ist aber dennoch wurde die Tat selbst
aufgrund eines innenpolitischen Beschlusses ohne Heer begangen.
[77] Jenes bekannte Wort aber ist am besten, gegen das, wie ich hre,
Bsewichte und Neider vorgehen: Weichen sollen die Waffen dem Frieden, der
Lorbeerkranz dem Ruhm. Um nmlich die anderen zu bergehen: Sind nicht,
whrend wir den Staat lenkten, die Waffen dem Frieden gewichen? Denn es
gab im Staat niemals eine schlimmere Gefahr und doch einen tieferen Frieden.
So fielen durch unsere Entscheidungen und Wachsamkeit die Waffen schnell
von selbst, nachdem sie aus den Hnden der verwegensten Brger geglitten
waren. Welche Tat also wurde jemals in einem Krieg verrichtet, die so
bedeutend war? Welcher Triumph kann hiermit verglichen werden?
[78] Denn es ist mir erlaubt, mein Sohn Marcus, mich vor dir zu rhmen, fr
den das Erbe meines Ruhmes und die Nachahmung meiner Taten Bedeutung
haben. Mir jedenfalls hat ein Mann, der Kriegsruhm sicherlich im berfluss hat,
Cn. Pompeius, unter vielen Zuhrern das ehrenvolle Zugestndnis gemacht,
seinen dritten Triumph htte er vergeblich davongetragen, wenn er nicht durch
mein Verdienst gegenber dem Staat eine Sttte fr seinen Triumph gehabt
htte. Es sind also tapfere Leistungen im Frieden nicht weniger bedeutend als
militrische; fr jene ersten muss man auch mehr Einsatz und Teilnahme
erbringen als fr diese.
[79] Zwar wird jenes Sittlichgute, das wir aus einer erhabenen und
hochherzigen Gesinnung ableiten, durch die Krfte des Geistes, nicht durch die
des Krpers bewirkt, aber dennoch ist der Krper auszubilden und in den
Zustand zu versetzen, dass er der Einsicht und der Vernunft gehorchen kann,
whrend er Ttigkeiten ausfhrt und Strapaze ertrgt. Das Sittlichgute aber,
das wir untersuchen, beruht ganz auf der Sorge und Ttigkeit des Verstandes;
in dieser Hinsicht erbringen diejenigen, die als Brger im Friedenskleid den
Staat leiten, keinen geringeren Nutzen als die, welche Krieg fhren. Daher
wurden nach deren Empfehlung Kriege oft entweder nicht angefangen oder sie
wurden beendet, bisweilen sogar begonnen, wie auf M. Catos Empfehlung der
Dritte Punische Krieg, in dem die Autoritt sogar eines Toten Einfluss besa.
[80] Daher ist die vernnftige Auseinandersetzung mehr zu erstreben als
tapferes Kmpfen, aber wir mssen uns hten, dass wir dieses nicht eher aus
Angst vor dem Krieg als infolge der Berechnung des ffentlichen Nutzens tun.
Den Krieg aber soll man in der Weise auf sich nehmen, dass scheinbar nichts
anderes als Frieden gesucht worden ist. Es ist aber Zeichen einer tapferen und
standhaften Gesinnung, sich nicht in schwieriger Lage verwirren zu lassen und
bestrzt den Kopf zu verlieren, wie man sagt, sondern Geistesgegenwart und
berlegung zu zeigen und sich nicht von der Vernunft zu entfernen.
[81] Jedoch kennzeichnet dieses eine erhabene Haltung, jenes sogar eine groe
Intelligenz, die Zukunft in Gedanken vorwegzunehmen und bedeutend frher
festzustellen, was nach beiden Richtungen hin geschehen kann und was getan
werden muss, wenn sich etwas ereignet hat, und es nicht dazu kommen zu
lassen, dass irgendwann gesagt werden muss: 'Ich htte es nicht geglaubt'.
Dieses sind die Leistungen einer groen und erhabenen Gesinnung, die sich auf
Klugheit und Einsicht verlsst; sich aber blindlings in den Kampf zu strzen und
im Handgemenge mit dem Feind zu kmpfen ist etwas Unmenschliches und
den Tieren hnlich; aber wenn Umstnde und Lage es erfordern, ist mit der
Hand um die Entscheidung zu kmpfen und der Tod Knechtschaft und Schande
vorzuziehen.
82-87 Tapferkeit und Gemeinwohl
[82] [Aber hinsichtlich der Zerstrung und Plnderung von Stdten muss man
genau berlegen, damit nichts leichtfertig, damit nichts grausam geschieht.
Und dieses zeichnet einen groen Mann aus, in strmischen Zeiten die beltter zu bestrafen, die Menge zu bewahren und in jeder Lebenslage das Rechte
und Ehrenvolle beizubehalten.] Wie es nmlich welche gibt, wie ich oben
gesagt habe, die den Leistungen im Frieden die Leistungen im Kriege vorziehen,
so findet man viele, denen gefhrliche und bereilte Plne prchtiger und grer als ruhige und berdachte zu sein scheinen.
[83] Niemals allerdings darf man es durch Flucht vor einer Gefahr so weit
kommen lassen, dass wir als feige und furchtsame Menschen angesehen
werden, sondern auch jenes ist zu meiden, dass wir uns Gefahren ohne Grund
aussetzen, was das Trichste ist, das es geben kann. Daher muss man, whrend
man sich Gefahren unterzieht, die Gewohnheit der rzte nachahmen, die leicht
Erkrankte sanft behandeln, bei schlimmeren Krankheiten aber gezwungen
werden, gefhrliche und bedenkliche Heilmethoden anzuwenden. Daher zeugt
es
von
Wahnsinn,
bei
ruhigem
Wetter
einen
widrigen
Sturm
wieder her. Denn er setzte nicht das bsartige Geschwtz ber das
Wohlergehen des Staates. Also glnzt nun, je spter desto mehr, der Ruhm des
Mannes. Diese Art verkehrt zu handeln ist auch bei Friedensgeschften zu
vermeiden. Es gibt nmlich viele, die ihre Gedanken, auch wenn sie sehr gut
sind, dennoch aus Furcht vor Anfeindung nicht zu uern wagen.
[85] berhaupt sollen die Staatslenker zwei Weisungen Platons beachten: die
eine, dass sie den Nutzen der Brger so wahren mgen, dass sie alles, was sie
tun, auf diesen beziehen und ihre Vorteile vergessen, die andere, dass sie fr
den ganzen Staatskrper sorgen sollen, damit sie nicht, whrend sie
irgendeinen Teil schtzen, die brigen preisgeben. Wie nmlich eine
Vormundschaft, so ist die Verwaltung des Staates zum Nutzen derer
auszuben, die anvertraut sind, nicht zum Nutzen derer, denen er anvertraut
ist. Diejenigen aber, die nur fr einen Teil der Brger sorgen, vernachlssigen
den anderen und bringen etwas sehr Gefhrliches in die Brgerschaft hinein,
Aufruhr und Zwietracht; daher geschieht es, dass die einen sich als Popularen,
die anderen als Anhnger der Aristokraten und wenige als Vertreter der
Gesamtheit zeigen.
[86] Hierdurch entstanden bei den Athenern schlimme Streitigkeiten, in
unserem Staat nicht nur Zerwrfnisse, sondern auch unheilvolle Brgerkriege;
diese Fehler wird ein besonnener und tatkrftiger Brger und ein solcher, der
im Staat der hchsten Stelle wrdig ist, meiden und hassen, er wird sich ganz
dem Staat widmen, ohne nach Macht und Einfluss zu streben, und er wird
diesen ganz so in Obhut nehmen, dass er fr alle sorgt. Nicht aber wird er
gegen jemanden unter falschen Vorwrfen Hass und Missgunst schren, und er
wird ganz und gar an Gerechtigkeit und Sittlichkeit so festhalten, dass er, wenn
er nur diese bewahren kann, sogar den grten Ansto erregt und lieber den
Tod sucht als jene genannten Tugenden aufgibt.
Rede gestellt werden. Am meisten aber ist der Zorn beim Strafen fern zu
halten; niemals nmlich wird derjenige, der sich im Zorn mit einer Strafe
beschftigt, jenen Mittelweg einhalten, der zwischen einem Zuviel und einem
Zuwenig liegt, der von den Peripathetikern fr gut befunden wird und das zu
Recht, wenn sie nur nicht den Jhzorn lobten und sagten, er sei auf ntzliche
Weise von der Natur gegeben worden. Jener muss wahrlich in allen Situationen
abgelehnt werden, und es ist zu wnschen, dass die Lenker des Staates den
Gesetzen hnlich sind, die sich, um zu strafen, nicht vom Jhzorn, sondern von
der Gerechtigkeit leiten lassen.
[90] Und auch im Glck, da alles nach unseren Wnschen luft, wollen wir ganz
besonders bermut, Geringschtzung und Anmaung meiden. Denn es zeugt
von Haltlosigkeit, wie das Unglck so auch das Glck unbeherrscht zu ertragen,
und
vortrefflich
sind
in
jeder
Lebenslage
Ausgeglichenheit,
eine
[91] Und in den glcklichsten Situationen ist besonders der Rat von Freunden
zu gebrauchen, und ihnen muss noch grere Geltung zukommen als vorher.
Und in einer solchen Lage mssen wir uns auch davor hten, dass wir
Schmeichlern unsere Ohren ffnen und zulassen, dass sie vor uns kriechen,
wodurch man leicht der Selbsttuschung verfllt. Denn wir halten uns fr
solche Menschen, dass wir zu Recht gelobt werden; hieraus entstehen
unzhlige Vergehen, wenn Menschen, aufgeblasen vor Einbildung, schmhlich
ausgelacht werden und sich in den grten Irrtmern befinden.
[92] Doch genug davon. Jenes Urteil aber muss so gelten, dass die grten und
edelsten Taten von denjenigen verrichtet werden, die die Staaten lenken, weil
deren Fhrung das weiteste Anwendungsfeld hat und die meisten betrifft; dass
es aber viele mit einer erhabenen Gesinnung sogar in einem Leben frei von
Staatsgeschften gibt und gegeben hat, die entweder mit wichtigen
Forschungen oder Unternehmungen beschftigt waren und sich auf ihren Kreis
beschrnkten oder in der Mitte zwischen den Philosophen und den
Staatslenkern stehend an der Verwaltung ihrer Habe Freude hatten, wobei sie
diese nicht auf jede Art und Weise vermehrten und ihre Angehrigen nicht von
deren Genuss ausschlossen, sondern vielmehr ihren Freunden und dem Staat
davon zuteilten, wenn es einmal ntig war. Diese Habe soll man sich erstens
auf rechte Weise verschafft haben, weder durch schndlichen noch durch anrchigen Erwerb [dann soll sie sich fr mglichst viele, allerdings nur fr Wrdige,
als ntzlich erweisen], zweitens soll sie durch vernnftigen Gebrauch, Sorgfalt
und Sparsamkeit vermehrt werden und nicht so sehr der Begierde und der
Ausschweifung dienen als vielmehr der Freigebigkeit und Wohlttigkeit. Wenn
man diese Weisungen beachtet, ist es mglich, in Gre, wrdevoll und
beherzt zu leben und sogar einfach, aufrichtig und als wahrer Menschenfreund.
[95] Deshalb gehrt dieses Schickliche, wie ich es nenne, zum ganzen Wesen
der Sittlichkeit, und zwar so, dass es nicht durch tieferes philosophisches
Denken erkennbar ist, sondern auf der Hand liegt. Denn es gibt ein gewisses
Etwas, das sich geziemt, und dieses wird in jeder Tugend erkannt; dieses kann
eher theoretisch von der Tugend getrennt werden als praktisch. Wie die Anmut
und die Schnheit des Krpers sich nicht von der Gesundheit trennen lassen, so
ist dieses Schickliche, ber das wir sprechen, zwar ganz mit der Tugend
verschmolzen, aber es ist durch den denkenden Verstand unterscheidbar.
[96] Es gibt aber eine zweifache Definition des Schicklichen; denn wir erkennen,
dass das Schickliche etwas Allgemeines ist, das sich in jeder Form der
Sittlichkeit findet, und dass es speziell etwas diesem Untergeordnetes ist, das
sich auf die einzelnen Teile der Sittlichkeit bezieht. Nun wird jenes
Erstgenannte gewhnlich ungefhr so definiert, das Schickliche sei das, was in
Einklang steht mit der berragenden Stellung des Menschen, insofern sich
seine Natur von den brigen Lebewesen unterscheidet. Den Teil aber, der dem
Allgemeinen untergeordnet ist, definieren sie so, dass sie bestimmen, das
Schickliche sei das, was so mit der Natur in Einklang stehe, dass sich in ihm
Migung und Selbstbeherrschung zeigen gewissermaen mit dem eines freien
Mannes wrdigen Erscheinungsbild.
[97] Die Richtigkeit dieser Erklrung knnen wir nach dem Begriff des
Anstandes beurteilen, den die Dichter anstreben, worber an anderer Stelle
gewhnlich mehr gesagt wird. Jedenfalls sagen wir, dass die Dichter jenes, was
sich ziemt, dann beachten, wenn das, was jedes einzelnen Charakters wrdig
ist, getan und gesagt wird, so dass, falls Aeacus oder Minos sagten 'Mgen sie
mich hassen, wenn sie mich nur frchten' oder 'Den Kindern bereitet der Vater
selbst das Grab', dieses unschicklich erscheinen wrde, weil wir gehrt haben,
dass diese gerecht gewesen waren; aber wenn Atreus es sagt, wird Beifall
hervorgerufen, denn die Worte sind seines Charakters wrdig. Aber die Dichter
werden nach dem Charakter beurteilen, was fr jeden schicklich ist, uns aber
hat die Natur selbst eine Rolle zugewiesen mit einer groen Vortrefflichkeit und
einem groen Vorzug vor den brigen Lebewesen.
[98] Bei der groen Vielfalt der Charaktere werden die Dichter darauf achten,
was sich sogar fr die Lasterhaften schickt und was sich fr sie ziemt; weil uns
aber von der Natur die Aufgabe der Standhaftigkeit, der Selbstbeherrschung,
der Migung und Zurckhaltung gegeben worden ist und weil dieselbe Natur
uns lehrt, nicht zu vernachlssigen, wie wir uns gegenber Menschen verhalten
sollen, deswegen wird Klarheit darber hergestellt, wie weit jenes Schickliche
reicht, das sich auf die gesamte Sittlichkeit bezieht, und dieses, das in jeder
einzelnen Art von Tugend erblickt wird. Denn wie die Schnheit des Krpers
durch eine passende Anordnung der Glieder die Augen auf sich zieht und eben
dadurch erfreut, dass alle Teile untereinander mit einer gewissen Anmut
harmonisieren, so verursacht dieses Schickliche, das in der Lebensfhrung
sichtbar hervortritt, den Beifall derer, mit denen man zusammenlebt, durch die
Ordnung, Bestndigkeit und Migung in allen Worten und Taten.
[99] Beachtet werden muss also eine gewisse Ehrerbietung gegenber den
Menschen, sowohl gegenber allen Guten als auch den brigen. Denn zu
ignorieren, was jeder ber einen denkt, verrt nicht nur einen anmaenden,
sondern auch einen ganz und gar leichtfertigen Menschen. Es gibt aber im
Hinblick auf die Menschen einen Unterschied zwischen Gerechtigkeit und
Ehrerbietung. Die Pflicht der Gerechtigkeit besteht darin, Menschen keine
Gewalt anzutun, die Pflicht der Ehrerbietung, sie nicht zu krnken, worin
besonders die Bedeutung des Schicklichen erkannt wird. Da dieses also
dargelegt worden ist, glaube ich, dass erkannt ist, von welcher Art das so
genannte Schickliche ist.
vielen vorhanden, die vom alten Cato gesammelt worden sind, die
apofqgmata (Apophthegmata) genannt werden. Leicht also ist die
Unterscheidung des anstndigen und eines Freien wrdigen Scherzes. Der eine
ist, wenn er zur rechten Zeit geschieht, wie z.B. zur Zeit geistiger Entspannung,
eines sehr bedeutenden Menschen wrdig, der andere nicht einmal eines
Freien,
falls
ein
schndlicher
Inhalt
oder
unanstndige
Ausdrcke
sich die Ernhrung und die Pflege des Krpers auf die Gesundheit und die
Krperkrfte beziehen, nicht auf die Lust. Und auch, wenn wir erwgen wollen,
was in unserer Natur die berlegene Stellung und Wrde ausmacht, werden
wir erkennen, wie schndlich es ist, in ppigkeit zu verkommen und verzrtelt
und verweichlicht zu leben, und wie ehrenvoll, sparsam, enthaltsam, streng
und besonnen zu leben.
107-114 Bewahrung berechtigter Eigenart
[107] Es muss aber auch erkannt werden, dass wir von der Natur gleichsam mit
zwei Rollen ausgestattet sind; von diesen ist die eine uns allen deshalb
gemeinsam, weil wir alle an derjenigen Vernunft und berlegenen Stellung
teilhaben, durch die wir die Tiere bertreffen, von der jedes Sittlichgute und
Schickliche abgeleitet und durch die der Weg gezeigt wird, auf dem die Pflicht
zu finden ist, die andere Rolle aber ist diejenige, die individuell den Einzelnen
zugewiesen ist. Wie es nmlich bei den Krpern groe Verschiedenartigkeiten
gibt wir sehen, dass die einen aufgrund ihrer Schnelligkeit fr den Lauf
geeignet sind, die anderen aufgrund ihrer Krfte fr das Ringen und ebenso
hinsichtlich des ueren den einen Wrde anhaftet, den anderen Anmut -, so
zeigt sich in den Veranlagungen eine noch grere Mannigfaltigkeit.
[108] L. Crassus und L. Philippus verfgten ber viel Humor, ber einen noch
greren und mehr absichtlichen C. Caesar, der Sohn des Lucius; aber zu
derselben Zeit zeigten M. Scaurus und der junge M. Drusus eine einzigartige
Strenge, C. Laelius viel Heiterkeit und sein Vertrauter Scipio greren Ehrgeiz,
aber eine ernstere Lebensauffassung. Bezglich der Griechen aber haben wir
erfahren, dass Sokrates angenehm, witzig, von frhlicher Unterhaltungsgabe
und in jeder Rede ein Meister der Verstellungskunst gewesen ist, den die
Griechen eirwn genannt haben, dass hingegen Pythagoras und Perikles
hchstes Ansehen ohne jede Heiterkeit erlangt haben. Dass von den Feldherrn
der Punier Hannibal und von unseren Feldherrn Q. Maximus verschlagen
gewesen ist, haben wir erfahren, dass sie gerne verheimlichten, schwiegen, sich
verstellten, auflauerten und die Plne der Feinde im Voraus vereitelten. In
dieser Beziehung ziehen die Griechen Themistokles und Iason aus Pherae den
brigen vor und besonders die verschlagene und listige Tat Solons, der, damit
sein Leben um so sicherer war und er dem Staat erheblich mehr nutzen konnte,
so tat, als sei er von Sinnen.
[109] Andere sind diesen sehr unhnlich, arglos und offenherzig, die meinen,
nichts drfe heimlich, nichts drfe durch einen Hinterhalt geschehen, Verehrer
der Wahrheit, Feinde des Betruges, und ebenso andere, die sich alles gefallen
lassen, jedem ergeben sind, wenn sie nur das erreichen, was sie wollen, wie wir
Sulla und M. Crassus erlebten. Dass in dieser Hinsicht der Spartaner Lysander
sehr listig und geduldig gewesen ist, haben wir erfahren, und dass Callicratidas
das Gegenteil gewesen ist, welcher der nchste Flottenprfekt nach lysander
war. Und ebenso haben wir erfahren, dass ein anderer, mag er auch noch so
einflussreich sein, in Gesprchen bewirkt, dass er einer von vielen zu sein
scheint, was wir bei Catulus gesehen haben, bei seinem Vater und Sohn und
ebenso bei Q. Mucius Maucia. Ich habe von lteren gehrt, dass dasselbe auf P.
Scipio Nasica zugetroffen hat, sein Vater hingegen, jener, der die ruchlosen
Versuche des T. Gracchus geahndet hat, keine Freundlichkeit in der
Unterhaltung gezeigt habe und genau deswegen gro und berhmt gewesen
sei. Es gibt andere unzhlige Verschiedenartigkeiten im Wesen und in den
Gewohnheiten, die dennoch keineswegs tadelnswert sind.
[110] In hohem Grade aber muss jeder an seinen individuellen Eigenschaften
festhalten, soweit sie nicht fehlerhaft sind, aber doch den eigenen Charakter
ausmachen, damit um so leichter jenes von uns untersuchte Schickliche
bewahrt wird. So nmlich mssen wir handeln, dass wir nichts gegen die
allgemeine Natur anstreben und dennoch, ohne diese zu schdigen, unserem
individuellen Charakter folgen, damit wir, auch wenn anderes bedeutender und
besser ist, dennoch unsere Ziele nach dem Mastab unserer Natur beurteilen;
denn es ist nicht sinnvoll, der Natur zu widerstreiten und nach etwas zu
trachten, das man nicht erreichen kann. Hierdurch wird besser sichtbar, wie
beschaffen jenes Schickliche ist, deswegen weil gegen den Willen Minervas
nichts schicklich ist, wie man sagt, d.h. wenn die Natur Widerstand leistet und
sich widersetzt.
[111] Mit einem Wort, wenn berhaupt irgendetwas schicklich ist, dann ist in
der Tat nichts schicklicher als die Ausgeglichenheit des gesamten Lebens sowie
der einzelnen Handlungen, die du nicht bewahren kannst, wenn du die Natur
anderer nachahmst und deine verleugnest. Wie wir nmlich die Sprache
gebrauchen mssen, die uns angeboren ist, damit wir nicht wie manche, die
griechische Worte einschalten, mit vollem Recht verlacht werden, so drfen wir
in unsere Handlungen und unser ganzes Leben keine Widersprchlichkeit
hineintragen.
[112] Und dieser Unterschied der Naturen hat eine so groe Bedeutung, dass
manchmal der eine Selbstmord begehen, der andere es unter denselben
Umstnden aber nicht muss. War denn M. Cato in der einen Situation, in einer
anderen die brigen, die sich in Afrika Caesar ausgeliefert haben? Nun aber
wre es den brigen vielleicht als Fehler angerechnet worden, wenn sie sich
umgebracht htten, deswegen weil ihr Leben anpassungsfhiger und ihre
Gewohnheiten umgnglicher gewesen waren; weil die Natur Cato eine
unglaubliche Strenge verliehen und er selbst diese in fortwhrender
Bestndigkeit gefestigt hatte sowie immer bei seiner Zielsetzung und seiner
vorgefassten Absicht geblieben war, musste er lieber sterben als das Gesicht
des Tyrannen erblicken.
[113] Wie vieles hat Odysseus auf jener lange dauernden Irrfahrt erlitten, als er
Frauen diente, wenn Circe und Calypso als Frauen zu bezeichnen sind, und im
Umgang mit jedermann zu allen freundlich und liebenswrdig sein wollte. Zu
Hause aber ertrug er auch die schmachvolle Behandlung durch seine Sklaven
und Sklavinnen, um endlich einmal zu dem zu gelangen, was er wnschte. Aber
Aiax htte bei der Gemtsart, die er nach der berlieferung hatte, tausendmal
lieber in den Tod gehen als jenes ertragen wollen. Wenn wir dieses betrachten,
wird es notwendig sein zu erwgen, was jeder an Eigenart hat, und dieses
harmonisch auszuformen, ohne erproben zu wollen, wie sehr fremde
Eigenschaften zu einem passen; das nmlich ziemst sich fr jeden am meisten,
was fr jeden am meisten das Seine ist.
[114] Also soll jeder seinen individuellen Charakter erkennen und sich als
strenger Richter seiner Vorzge und Fehler erweisen, damit nicht Schauspieler
mehr Klugheit als wir zu haben scheinen. Jene nmlich whlen nicht die besten,
sondern die fr sie geeignetsten Theaterstcke aus; diejenigen, die sich auf ihre
Stimme verlassen, whlen die Epigonen und Medos, die ihrem Gebrdenspiel
vertrauen, Melanippa und Clytemestra, immer whlt Rupsilius, an den ich mich
erinnere, Antiopa, Aesopus nicht oft Aiax. Also wird ein Schauspieler hierauf
auf der Bhne achten, ein weiser Mann wird es in seinem Leben nicht tun? Wir
werden uns also hauptschlich bei den Ttigkeiten anstrengen, fr die wir am
geeignetsten sein werden. Wenn uns aber einmal eine Notlage zu dem drngt,
was nicht unserer Anlage entsprechen wird, muss jede mgliche Sorgfalt
aufgewendet werden, jede mgliche Einbung und Aufmerksamkeit, damit wir
dieses wenn schon nicht schicklich, aber doch mglichst wenig unschicklich tun
knnen, und wir brauchen uns nicht so sehr anzustrengen, dass wir nach den
Vorzgen streben, die uns nicht gegeben sind, als vielmehr, dass wir Fehler
vermeiden.
115-121 Richtige Berufswahl
[115] Und diesen zwei Rollen, die ich oben genannt habe, wird eine dritte
hinzugefgt, die irgendein Zufall oder eine Gelegenheit aufbrdet, sogar eine
vierte, die wir uns selbst nach unserer Entscheidung anlegen. Denn
Knigsherrschaften und Befehlsgewalten, Adel und Ehren, Reichtum und Macht
und das, was diesem entgegengesetzt ist, werden, weil sie auf Zufall beruhen,
von den Zeitumstnden gelenkt; welche Rolle wir selbst aber spielen wollen,
hngt von unserem Willen ab. Daher widmen sich die einen der Philosophie,
andere dem brgerlichen Recht und wieder andere der Beredsamkeit, und
hinsichtlich der Tugenden selbst will sich der eine lieber in dieser, der andere in
jener auszeichnen.
[116] Diejenigen aber, deren Vter oder Vorfahren sich durch irgendeine
rhmliche Ttigkeit ausgezeichnet haben, trachten meistens danach, sich auf
demselben verdienstvollen Gebiet hervorzutun, wie Q. Mucius, der Sohn des
Publius, im brgerlichen Recht und Africanus, der Sohn des Paulus, im
Kriegswesen. Einige aber fgen zu den Verdiensten, die sie von ihren Vtern
bernommen haben, einen eigenen hinzu, wie eben dieser Africanus durch
seine Beredsamkeit den Kriegsruhm gesteigert hat, was gleichfalls Timotheus
tat, Konons Sohn, der, obwohl er seinem Vater an Kriegsruhm nicht
nachgestanden hatte, zu diesem Ruhm die Anerkennung fr seine
Gelehrsamkeit und seine Begabung hinzufgte. Zuweilen kommt es aber vor,
dass einige die Nachahmung ihrer Vorfahren unterlassen und einem sozusagen
persnlichen Lebensplan folgen, und besonders strengen sich hierbei meistens
diejenigen an, die sich Groes vornehmen, da sie von ruhmlosen Vorfahren
abstammen.
[117] All dieses mssen wir, wenn wir nach dem Schicklichen fragen, mit Herz
und Verstand erfassen; vor allem aber mssen wir uns klar machen, wer und
von welcher Art wir und in welchem Beruf wir sein wollen, eine berlegung, die
die schwierigste von allen ist. Denn zu Beginn der Jugendzeit, wenn die Einsicht
noch auf recht schwachen Fen steht, entscheidet sich ein jeder fr diejenige
Art sein Leben zu verbringen, fr die er sich am meisten begeistert hat. Daher
lsst er sich auf eine bestimmte Lebensweise und einen Lebenslauf ein, bevor
er beurteilen konnte, was am besten ist.
[118] Denn wenn Podicus sagt, dass Herkules, wie es bei Xenophon steht, in
den ersten Jahren der Jugendreife ein Lebensabschnitt, der von der Natur
gegeben ist, um auszuwhlen, welchen Lebensweg jeder einschlagen will in
die Einsamkeit weggegangen sei und dort sitzend sich lange und ernstlich
gefragt habe, als er zwei Wege erkannte, den einen des Vergngens und den
anderen der Tugend, welchen von beiden einzuschlagen besser sei, konnte
dieses vielleicht dem Herkules, da er ein Zeussprssling war, gelingen, uns aber
nicht in gleicher Weise, die wir diejenigen nachahmen, die nachzuahmen uns
richtig scheint, und zu deren Zielsetzungen und Grundstzen wir uns
hinbewegen lassen. Meistens aber werden wir durch die Weisungen der Eltern
angeleitet und lassen uns zu deren Sitten und Gewohnheiten hinfhren; andere
lassen sich von dem Urteil der Menge bestimmen, und sie ersehnen meistens
das, was dem greren Teil sehr schn zu sein scheint; einige sind dennoch
entweder infolge einer gewissen glcklichen oder guten Naturanlage dem
rechten Lebensweg gefolgt.
[119] Jene Gruppe aber ist besonders selten, nmlich die Gruppe derer, die,
entweder mit vortrefflicher Geistesgre oder ausgezeichneter Bildung und
Gelehrsamkeit oder mit beidem ausgestattet, sogar die Mglichkeit hatten zu
berlegen, welchem Lebenslauf sie vornehmlich folgen wollen; bei dieser
berlegung muss sich ein Plan ganz nach der persnlichen Veranlagung eines
jeden ausrichten. Denn wenn wir bei allem, was getan wird, entsprechend der
Herkunft eines jeden, wie oben gesagt worden ist, fragen, was schicklich ist,
dann ist bei der Einrichtung des ganzen Lebensplanes eine viel grere Sorge
um diesen Punkt aufzubringen, damit wir das ganze Leben hindurch uns selbst
treu bleiben, ohne in irgendeiner Pflichtausbung zu schwanken.
[120] Da aber auf diese berlegung die Natur den grten Einfluss hat, die
ueren Umstnde den zweitgrten, muss bei der Wahl des Berufes zwar auf
beide Rcksicht genommen werden, mehr aber auf die Natur; denn sie ist viel
strker und bestndiger, so dass das Schicksal manchmal, gleich als ob es selbst
sterblich wre, mit der unsterblichen Natur zu kmpfen scheint. Wer also
seinen ganzen Lebensplan nach der Beschaffenheit seiner Natur ausgerichtet
hat, sofern sie nicht fehlerhaft ist, der soll sich treu bleiben (dieses nmlich
ziemt sich ganz besonders), es msste denn sein, dass er erkannt hat, sich bei
der Wahl des Berufes geirrt zu haben. Falls dieses eintritt (es kann aber
eintreten), hat eine nderung des Auftretens und der Lebensfhrung zu
erfolgen. Wenn die Zeitumstnde diese nderung untersttzen, werden wir sie
leichter und bequemer bewltigen; andernfalls muss sie kaum merklich und
allmhlich
erfolgen,
wie
die
Weisen
meinen,
es
sei
schicklicher,
[121] Aber da kurz zuvor gesagt worden ist, dass die lteren nachzuahmen
seien, soll erstens folgende Ausnahme gelten, dass Fehler nicht nachgeahmt
werden drfen, zweitens, falls die Natur es nicht zulassen wird, dass sie einiges
nachahmen knnen wie der Sohn des lteren Africanus, der diesen Sohn des
Paulus adoptiert hat, wegen seiner schwachen Gesundheit nicht so dem Vater
hnlich sein konnte, wie jener seinem hnlich gewesen war -, wenn er also
nicht imstande sein wird, entweder als Rechtsanwalt ttig zu sein oder das Volk
durch Reden zu fesseln oder Kriege zu fhren, so wird er dennoch jene
Tugenden zeigen mssen, die in seiner Macht liegen werden, Gerechtigkeit,
Treue, Freigebigkeit, Bescheidenheit und Selbstbeherrschung, damit an ihm um
so weniger das vermisst wird, was fehlt. Als beste Erbschaft aber, die
vorzglicher ist als jedes Erbe, wird den Kindern von ihren Vtern der Ruhm der
Tugend und der Taten berlassen, dem Schande zu bringen als Frevel und
Fehler beurteilt werden muss.
122-123 Neigungen und Altersstufen
[122] Da die Pflichten nicht zugleich verschiedenen Altersstufen zugewiesen
werden, sondern die einen zu jungen Leuten passen, die anderen zu lteren,
muss auch etwas ber diese Unterscheidung gesagt werden. Es ist also die
Aufgabe eines jungen Menschen, die Vorfahren zu verehren und aus ihnen die
Besten und Bewhrtesten auszuwhlen, um sich auf deren Rat und Ansehen zu
sttzen; denn die Unerfahrenheit der Jugend muss durch die Klugheit der Alten
unterwiesen und gelenkt werden. Am meisten aber ist diese Altersstufe von
Ausschweifungen fernzuhalten, und sie ist auszubilden in Anstrengungen und
in der Ausdauer von Krper und Geist, damit bei ihrer Verrichtung kriegerischer
und ziviler Aufgaben eine rege Betriebsamkeit herrscht. Und auch dann, wenn
sie sich erholen und der Frhlichkeit anheimgeben wollen, sollen sie sich vor
Unmigkeit hten und sich auf die Zurckhaltung besinnen, was leichter sein
einzumischen. So wird man in der Regel die Pflichten finden, indem gefragt
wird, was schicklich ist und was zu den Personen, Zeitumstnden und
Altersstufen passt. Es gibt aber nichts, was sich so ziemt wie bei jeder Handlung
und jedem Plan Bestndigkeit zu bewahren.
126-152 Lebensstil der harmonischen Persnlichkeit
126-129 Scheu vor Verletzung des Anstandes
[126] Aber da jenes Schickliche in allen Taten und Worten, schlielich in der
Bewegung
und
Haltung
des
Krpers
erkennbar
ist
und
auf
drei
Voraussetzungen beruht, auf Schnheit, den Sinn fr Ordnung und einem der
Handlung angemessenen Auftreten diese sind schwer in Worten
auszudrcken, aber es wird gengen, dass sie erkannt werden -, da ferner in
diesen drei Voraussetzungen auch die Sorge darum enthalten ist, dass wir von
denjenigen anerkannt werden, mit denen und bei denen wir leben, soll auch
hierber einiges gesagt werden. Von Anfang an scheint die Natur unserem
Krper groe Bedeutung geschenkt zu haben, da sie unser Antlitz und die
brigen Krperteile, soweit sie einen schnen Anblick bieten, frei sichtbar
anordnete, die Krperteile aber, die, zur Verrichtung eines natrlichen
Bedrfnisses gegeben, einen unfrmigen und hsslichen Anblick bieten sollten,
bedeckte und verbarg.
[127] Dieser so sorgfltigen Einrichtung der Natur ist der Anstand der
Menschen gefolgt. Was nmlich die Natur verborgen hat, entfernen gleichfalls
alle, die bei gesundem Verstand sind, vor den Augen, und sie geben sich selbst
Mhe, dass sie ihre natrlichen Verrichtungen mglichst geheim vollziehen.
Was nun diejenigen Krperteile betrifft, deren Funktionen notwendig sind:
weder nennen sie diese Teile noch deren Funktionen mit ihren eigentlichen
Bezeichnungen, und was zu tun nicht schndlich ist, wenn es nur im
Verborgenen geschieht, erregt Ansto, wenn es benannt wird. Daher ist weder
die offene Verrichtung jener Handlungen frei von Frechheit noch ist es die
Anstigkeit der Rede.
[128] Nicht aber verdienen die Kyniker Gehr oder falls irgendwelche Stoiker
beinahe Kyniker gewesen sind, die kritisieren und darber spotten, dass wir
das, was von der Sache her nicht schndlich ist, durch unsere Ausdrcke dafr
als schndlich erachten, jenes aber, was schndlich ist, mit den eigentlichen
Bezeichnungen benennen. Straenraub zu treiben, zu betrgen, die Ehe zu
brechen ist wirklich schndlich, aber der Gebrauch dieser Worte ist nicht
unanstndig; Kinder zu zeugen ist von der Sache her ehrenhaft, aber vom
Namen her unanstndig; und noch mehr wird in diesem Sinne von denselben
gegen den Anstand angefhrt. Wir aber wollen der Natur folgen und alles
meiden, was der Billigung durch Augen und Ohren widerstrebt; das Stehen, der
Gang, das Sitzen, das SichzuTischLegen, der Gesichtsausdruck, die Augen und
die Bewegung der Hnde sollen jenem Schicklichen entsprechen.
[129] Hierbei sind besonders zwei Fehler zu meiden, dass etwas verweichlicht
oder schlaff und dass etwas grob oder plump ist. Nicht aber darf den
Schauspielern und Rednern eingerumt werden, dass ein solches Verhalten bei
ihnen passend und richtig vor sich geht, bei uns jedoch als zgellos gilt. Das
Betragen der Schauspieler zeigt nach alter Zucht eine so groe Zurckhaltung,
dass niemand ohne Schurz auf die Bhne tritt; sie frchten sich nmlich, dass,
falls es zufllig geschieht, dass gewisse Krperteile entblt werden, sie einen
unanstndigen Anblick gewhren. Nach unserer Sitte waschen sich nicht die
erwachsenen Shne mit ihren Vtern, die Schwiegershne nicht mit ihren
Schwiegervtern. Eine Scheu dieser Art muss also beibehalten werden, zumal
wenn die Natur selbst Lehrerin und Fhrerin ist.
[132a] Die Bewegungen der Seele aber sind zweifach, die einen sind die des
Denkens, die anderen die des Begehrens. Das Denken beschftigt sich
hauptschlich mit der Erforschung der Wahrheit, das Begehren treibt zum
Handeln an. Wir mssen also dafr sorgen, dass wir das Denken auf mglichst
wrdige Gegenstnde richten und das Begehren als der Vernunft gehorchend
erweisen.
132b-137 Angemessene Sprache
[132b] Und da die Bedeutung der Rede gro ist und dies in zweifacher Weise,
einerseits als Streitrede und andererseits als Gesprch, soll die Streitrede den
Verhandlungen bei Gericht, in Volksversammlungen und im Senat zugewiesen
werden, das Gesprch soll in Versammlungen, bei Disputationen und bei
familiren Begegnungen vorkommen und auch den Gastmhlern folgen. Fr die
Streitrede gibt es Regeln von Rhetoren, fr das Gesprch gibt es keine, obwohl
es auch diese geben knnte. Aber fr eifrige Schler werden Lehrer gefunden,
jedoch sind keine vorhanden, die sich um dieses Gesprch bemhen, berall
findet sich der Schlerschwarm der Rhetoren; indessen werden die Regeln, die
fr die Anordnung von Worten und Stzen gegeben werden, zugleich fr das
Gesprch gelten.
[133] Aber da wir die Stimme als Ausdrucksorgan unserer Sprache haben, bei
der Stimme aber zwei Prinzipien folgen, dass sie deutlich und angenehm sein
soll, muss beides grundstzlich von der Natur eingefordert werden, aber das
eine wird die bung frdern, das andere die Nachahmung derer, die
ausdrucksvoll und wohllautend sprechen. Bei den beiden Catulern gab es keine
Veranlassung zu glauben, sie htten einen besonders feinen Sinn fr Sprache,
obwohl sie gebildet waren (aber dies waren auch andere); von diesen jedoch
glaubte man, sie htten die beste lateinische Aussprache. Ihre Aussprache war
angenehm, ihre Worte weder zu breit noch verschluckt, damit das Gesagte
nicht undeutlich oder affektiert war; ohne dass sie sich anstrengten, war ihre
Stimme weder monoton noch singend. Ausdrucksreicher war die Rede des L.
Crassus, aber nicht weniger elegant, jedoch der Ruf der Catuler, gute Redner zu
sein, nicht geringer. An Witz aber und geistreicher Art bertraf Caesar, der
Bruder von Catulus' Vater, alle, so dass er sogar in jenem Bereich der
Gerichtsrede den Streitreden der anderen durch seinen Gesprchston
berlegen war. Bei all diesem also muss man sich Mhe geben, wenn wir in
allem untersuchen, was schicklich ist.
[134] Es soll also dieses Gesprch, in dem sich die Sokratiker am meisten
auszeichnen, ruhig und keineswegs starrsinnig sein, Humor soll in ihm
enthalten sein. Nicht aber schliee er, als ob ihm alles gehrte, andere aus,
sondern er halte wie im Allgemeinen so auch in dem gewhnlichen Gesprch
Rede und Gegenrede nicht fr unangemessen. Und besonders achte er darauf,
ber welche Gegenstnde er spricht; wenn ber ernste, soll er Strenge walten
lassen, wenn ber scherzhafte, Humor. Vor allem sorge er dafr, dass das
Gesprch nicht aufdeckt, dass irgendein Fehler in seinem Charakter enthalten
ist; dieses geschieht gewhnlich dann, wenn mit Eifer ber Abwesende, um sie
entweder im Scherz oder im Ernst zu verleumden, lsternd und schmhend
gesprochen wird.
[135] Meistens aber werden Gesprche ber husliche Angelegenheiten, ber
den Staat oder ber knstlerische Bestrebungen und die Wissenschaft gefhrt.
Man muss sich also Mhe geben, dass die Rede, auch wenn sie zu anderen
Themen abzuschweifen beginnt, hierauf zurckgefhrt wird, aber je nachdem
die Anwesenden geartet sind; denn hinsichtlich derselben Gegenstnde
werden wir weder zu jeder Zeit noch in hnlicher Weise durch das Gesprch
erfreut. Auch ist darauf zu achten, wie weit das Gesprch Gefallen findet, und
wie es einen geeigneten Augenblick fr den Beginn geben sollte, so auch eine
sinnvolle Begrenzung.
[136] Aber wie in jeder Lebenslage sehr zu Recht vorgeschrieben wird, dass wir
Leidenschaften meiden sollen, d.h. allzu starke Gefhlserregungen, die der
Vernunft nicht gehorchen, so muss das Gesprch von derartigen Empfindungen
frei sein, damit nicht Zorn aufkommt oder irgendeine Begierde, Trgheit oder
Feigheit oder sich etwas Derartiges zeigt, und am meisten muss dafr gesorgt
werden, dass wir diejenigen, mit denen wir uns unterhalten werden, offenbar
achten und lieben. Manchmal kommt auch unvermeidlicher Tadel vor, bei dem
wir vielleicht eine strkere Anspannung der Stimme und schrfere, ernstere
Worte gebrauchen und auch darauf hinarbeiten mssen, dass wir dieses im
Zorn zu tun scheinen. Aber wie wir nur selten und unwillig zum Ausbrennen
und Schneiden kommen, so auch zu dieser Art des Tadelns, nur notgedrungen,
falls kein anderes Heilmittel gefunden wird, aber dennoch sei der Zorn fern, mit
dem nichts richtig, nichts berlegt gemacht werden kann.
[137] Groenteils aber ist es mglich, einen milden Tadel zu gebrauchen,
gleichwohl verbunden mit Ernsthaftigkeit, damit Strenge gebraucht und eine
schmachvolle Behandlung vermieden wird, und es muss deutlich gezeigt
werden, dass eben jene Hrte, die der Tadel hat, um dessentwillen, der
getadelt wird, angewendet wurde. Richtig ist es aber, auch in jenen Streitreden,
die mit den grten Feinden gefhrt werden, selbst wenn wir etwas hren, was
unser unwrdig ist, dennoch Wrde zu bewahren und den Zorn
zurckzudrngen; was nmlich mit einiger Aufregung geschieht, das kann
weder in entschiedener Haltung getan noch von denjenigen gebilligt werden,
die zugegen sind. Ungebhrlich ist es auch, sich selbst zu rhmen, zumal mit
Falschem, und unter dem Hohn der Zuhrer den prahlerischen Soldaten
nachzuahmen.
[140] Es ist aber dafr zu sorgen, zumal wenn du selbst baust, dass du nicht
durch Aufwand und Prunk das Ma berschreitest; in dieser Hinsicht bringt das
Beispiel viel bel. Denn eifrig ahmen zumal in dieser Beziehung die meisten die
Taten der fhrenden Leute nach wie die des L. Lucullus, eines sehr
hochstehenden Mannes, wer ahmt aber seine Tchtigkeit nach? Aber wie viele
haben den Prunk seiner Villen nachgeahmt! Hierbei muss sicherlich ein Ma
angewendet werden und dieselbe Migung ist auf alle Lebensgewohnheiten
und den gesamten Lebensstil zu bertragen. Aber dieses bis hierher.
[141] Bei der Ausfhrung jeder Handlung aber mssen drei Gesichtspunkte
beachtet werden, erstens, dass das triebhafte Begehren der Vernunft gehorcht,
was am geeignetsten zur Einhaltung der Pflichten ist, zweitens, dass erkannt
wird, wie gro jene Sache ist, die wir bewirken wollen, damit man weder eine
grere noch eine geringere Sorgfalt und Mhe aufwenden muss als die,
welche die Sache erfordert. Der dritte Gesichtspunkt besteht darin, dass wir
dafr sorgen, dass das, was sich auf die edle Erscheinung und wrdevolle
Haltung bezieht, mavoll gewahrt ist. Das beste Ma aber ist es, das Schickliche
selbst zu bewahren, ber das wir zuvor gesprochen haben und nicht dar-ber
hinauszugehen. Gleichwohl ist der wichtigste dieser drei Gesichtspunkte der,
dass das triebhafte Begehren der Vernunft gehorcht.
142-149 Rcksicht auf Zeit und Ort
[142] Sodann muss ber die Ordnung unserer Handlungen und ber den
gnstigen Zeitpunkt gesprochen werden. Diese Eigenschaften aber beruhen auf
dem Wissen, das die Griechen eutaxa nennen, nicht die eutaxa, die wir mit
Migung (modestia) bersetzen, ein Wort, in dem 'Ma' enthalten ist,
sondern es ist jene eutaxa, unter der man die Bewahrung von Ordnung
versteht. Daher wird, damit wir dasselbe mit dem Begriff 'modestia' meinen,
diese von den Stoikern so definiert, dass 'modestia' die Fhigkeit bezeichnet,
das, was getan oder gesagt wird, an der richtigen Stelle einzuordnen. [So
scheint die Bedeutung von Ordnung und Stellung dieselbe zu sein; denn
Ordnung definieren sie so als die richtige Platzierung der Handlungen an
geeigneten und passenden Stellen.] Sie meinen aber damit, dass der Ort der
Handlung der gnstige Augenblick sei; der gnstige Zeitpunkt fr die Handlung
aber wird auf Griechisch eukaira genannt, auf Lateinisch die Gelegenheit. So
kommt es, dass die 'modestia', die wir so deuten, wie ich gesagt habe, das
Wissen um die gnstigen Augenblicke bedeutet, die zum Handeln geeignet
sind.
[143] Aber die Definition von Klugheit, ber die wir am Anfang gesprochen
haben, kann dieselbe sein, an dieser Stelle aber fragen wir nach der Migung
und Selbstbeherrschung sowie nach den Tugenden, die diesen hnlich sind.
Daher ist das, was fr die Klugheit eigentmlich ist, an passender Stelle gesagt
worden; was aber fr diejenigen Tugenden eigentmlich ist, ber die wir schon
lange sprechen, die sich auf die Ehrfurcht vor denen und die Anerkennung
derer beziehen, mit denen wir leben, muss nun gesagt werden.
[144] Also muss eine solche Anordnung der Handlungen verwendet werden,
dass wie in einer konsequent durchgefhrten Rede so auch im Leben alles
untereinander angemessen und schicklich ist; denn es ist schndlich und sehr
tadelnswert, bei einem ernsten Thema leichte Tischgesprche oder irgendeine
schlpfrige Ausdrucksweise einzufhren. Richtig hat Perikles gesprochen, als er
in der Heerfhrung den Dichter Sophokles als seinen Kollegen hatte, als sie
zwecks einer gemeinsamen Aufgabe zusammengekommen waren und ein
schner Knabe zufllig vorberging und Sophokles gesagt hatte "Welch schner Knabe, Perikles!": "Ja, aber es ziemt sich fr einen Heerfhrer, Sophokles,
nicht nur die Hnde, sondern auch die Augen im Zaum zu halten." Wenn nun
aber Sophokles genau dasselbe bei der Musterung von Wettkmpfern gesagt
htte, wre er ohne einen rechtmigen Tadel geblieben: So gro ist die
Bedeutung des Ortes und der Zeit. Z.B. falls jemand bei der Vorbereitung auf
eine Prozessrede unterwegs oder bei einem Spaziergang bei sich selbst
nachsinnt oder etwas anderes aufmerksamer bedenkt, drfte er nicht getadelt
werden, tut er aber genau dasselbe bei einem Gastmahl, drfte er wegen
seiner Unkenntnis der ueren Umstnde ungebildet erscheinen.
[145] Aber das, was mit anstndigem Benehmen sehr im Widerspruch steht,
z.B. wenn jemand auf dem Forum singt oder wenn es irgendeine andere groe
Verkehrtheit gibt, verlangt nicht sonderlich nach einer Ermahnung und nach
Weisungen; vor den Fehlern aber, die gering zu sein scheinen und die nicht von
vielen erkannt werden knnen, muss man sich sorgfltiger hten. Wie beim
Saiten- oder Fltenspiel, wenn es auch nur ein wenig vom Richtigen abweicht,
dieses dennoch von einem Kenner gewhnlich bemerkt wird, so ist im Leben
darauf zu achten, dass nicht etwa eine Disharmonie auftritt, oder es ist sogar
bei weitem mehr darauf zu achten, je bedeutender und besser die Harmonie
der Handlungen im Vergleich zu den Tnen ist.
[146] Wie daher beim Saitenspiel die Ohren der Musiker sogar die geringsten
Mngel merken, so werden wir, wenn wir strenge und gewissenhafte Richter
und Beobachter von Fehlern sein wollen, oft Groes aus Kleinem erkennen. Aus
dem Blick der Augen, aus dem Sinkenlassen oder dem Zusammenziehen der
Augenbrauen, aus Traurigkeit oder Heiterkeit, aus dem Lachen, aus dem
Sprechen oder dem Stillschweigen, aus der Anspannung oder Senkung der
Stimme und aus anderen hnlichen Verhaltensweisen werden wir leicht
beurteilen, was an diesen uerungen angemessen ist, was mit der Pflicht und
der Natur im Widerspruch steht. In diesem Fall ist es nicht unzweckmig, mit
Blick auf andere zu beurteilen, von welcher Art jede dieser Handlungen ist, so
dass, wenn sich etwas fr jene nicht ziemt, auch wir dieses meiden. Denn
merkwrdigerweise geschieht es, dass wir mehr bei anderen als bei uns
erkennen, wenn ein Fehler begangen wird. Daher werden diejenigen sehr leicht
beim Lernen verbessert, deren Fehler die Lehrer nachahmen, um sie zu
verbessern.
[147] Es ist aber nicht nachteilig, um eine richtige Entscheidung in den
Angelegenheiten zu treffen, die Zweifel hervorbringen, gelehrte oder auch
praktisch erfahrene Mnner hinzuzuziehen und zu ergrnden, welche Meinung
sie zu jeder Art pflichtgemen Handelns haben. [Denn die Mehrheit pflegt in
der Regel dorthin zu gelangen, wohin sie von der Natur selbst gefhrt wird.] Bei
ihnen ist nicht nur darauf zu achten, was jeder sagt, sondern auch was jeder
denkt und auch aus welchem Grund er dieses denkt. Wie nmlich Maler,
Bildhauer und sogar Dichter wollen, dass ihr Werk von der Menge betrachtet
wird, damit, falls etwas von der Mehrheit kritisiert worden ist, dieses
verbessert werden kann, und wie sie bei sich und zusammen mit anderen
ergrnden, was hierbei verkehrt gemacht worden ist, so mssen wir nach dem
Urteil anderer sehr vieles tun oder nicht tun sowie verndern und verbessern.
[148] Was aber gem der Sitte und staatlicher Einrichtungen verrichtet wird,
darber brauchen keine Vorschriften erlassen zu werden; denn jene sind an
sich schon Weisungen, und niemand darf sich von dem Irrtum leiten lassen zu
meinen, falls Sokrates oder Aristippos etwas gegen die Sitte und die ffentliche
Gewohnheit getan oder gesagt htten, sei dasselbe auch ihnen erlaubt; durch
groe und bermenschliche Vorzge erlangten jene diese Freiheit. Die Lehre
der Kyniker aber muss ganz verworfen werden; denn sie ist feindlich gegenber
der Zurckhaltung eingestellt, ohne die nichts recht sein kann, nichts
ehrenhaft.
[149] Diejenigen aber, deren Leben erprobt ist in ehrenhaften und guten Taten,
mssen wir als wahre Patrioten, die sich um den Staat verdient gemacht haben
oder verdient machen, hoch achten und verehren, wie wenn sie eine
Ehrenstelle oder ein hheres Amt bekleideten; auch dem Alter mssen wir
einen hohen Wert beilegen und denen nachgeben, die ein Amt innehaben
werden, einen Unterschied mssen wir machen zwischen einem Brger und
einem Fremden und bei einem Fremden selbst, ob er privat oder im Namen des
Staates gekommen ist. Mit einem Wort, damit wir keine Einzelheiten
abhandeln, wir mssen die gemeinsame Verbindung und Vereinigung des
ganzen Menschengeschlechts untereinander ehren, beschtzen und bewahren.
150-151 Wahl eines auch uerlich anstndigen Berufes
[150] Bezglich Handwerksarbeiten und Erwerbszweige, welche fr eines
freigeborenen Mannes wrdig, welche fr unanstndig zu halten sind, haben
wir bereits ungefhr folgendes vernommen. Zuerst werden diejenigen
Erwerbszweige missbilligt, die dem Hass der Menschen anheim fallen, wie die
der Zolleinnehmer und Geldverleiher. Als eines Freien unwrdig aber und
unanstndig gelten die Erwerbszweige aller Tagelhner, deren Dienste, nicht
deren knstlerische Leistungen bezahlt werden; denn in ihrem Fall ist der Lohn
selbst ein Handgeld fr Dienstbarkeit. Auch mssen diejenigen als unanstndig
erachtet werden, die von Grohndlern kaufen, was sie sofort wieder
verkaufen; denn sie drften nicht davon profitieren, wenn sie nicht sehr
schwindeln; und in der Tat gibt es nichts Schndlicheres als Unredlichkeit. Auch
alle Handwerker betreiben ein unanstndiges Gewerbe; denn eine Werkstatt
kann nichts Anstndiges an sich haben. Und keineswegs sind die Gewerbe zu
billigen, die Dienerinnen des Vergngens sind: 'Seefischhndler, Metzger,
Kche, Geflgelmster, Fischhndler', wie Terenz sagt. Nimm noch hinzu, wenn
es beliebt, Salbenhndler, Pantomimen und das ganze Tanzspiel.
diejenigen, die aus der Erkenntnis stammen. Und dieses kann durch folgenden
Beweis bekrftigt werden, dass der Weise, auch wenn ihm ein solches Leben
gefllt, dass er bei berfluss an allen Mitteln alles, was der Erkenntnis wrdig
ist, mit hchster Mue bei sich bedenkt und betrachtet, dennoch aus dem
Leben scheidet, wenn die Einsamkeit so gro ist, dass er keinen Menschen
sehen kann. Und vorrangig vor allen Tugenden ist jene Weisheit, welche die
Griechen sofa nennen (unter der Klugheit nmlich, welche die Griechen
frnhsiv nennen, verstehen wir etwas ganz anderes, nmlich das Wissen um
die Dinge, die zu erstreben und zu meiden sind), jene Weisheit aber, die ich als
vorrangig bezeichnet habe, ist das Wissen um die gttlichen und menschlichen
Gter, auf dem die Gemeinschaft der Gtter und Menschen beruht und die
Verbindung unter ihnen selbst; wenn dieses Wissen am bedeutendsten ist, wie
es wirklich ist, so muss sicherlich diejenige Pflicht, die aus dem
Gemeinschaftsgefhl abgeleitet wird, am hchsten sein. Denn Erkenntnis und
geistige Betrachtung sind gewissermaen bruchstckhaft und unvollstndig,
falls keine Verwirklichung durch die Tat folgen sollte. Diese Tat aber ist am
besten erkennbar im Schutz menschlicher Interessen; sie hat also Bedeutung
fr die Gemeinschaft des Menschengeschlechtes; also ist sie der Erkenntnis
vorzuziehen.
[154] Und in der Tat zeigen dieses gerade die Besten und urteilen danach. Denn
wer ist so versessen auf die genaue Erkenntnis der Naturordnung, dass er, falls
ihm, whrend er sich mit den der Erkenntnis wrdigsten Gegenstnden befasst
und diese betrachtet, pltzlich die uerste Gefhrdung des Vaterlandes
gemeldet worden ist, dem er zu Hilfe kommen und beistehen knnte, nicht all
jenes zurckliee und hintanstellte, auch wenn er glaubte, die Sterne zhlen
oder die Gre des Kosmos abmessen zu knnen? Und dieses wrde derselbe
bei einem Vorteil oder einer Gefahr fr seinen Vater und seinen Freund tun.
entfalten die Menschen, und dies sogar bei weitem mehr, nachdem sie sich von
Natur aus zusammengeschlossen haben, ihre Begabung zum Handeln und
Denken. Wenn daher die Tugend, die auf dem Schutz der Menschen beruht,
d.h. auf dem Erhalt der menschlichen Gemeinschaft, nicht mit der Erkenntnis
der Dinge in Beziehung tritt, drfte die Erkenntnis auf sich allein bezogen und
damit erfolglos erscheinen, und ebenso ist wohl die Tapferkeit ohne soziales
Verantwortungsgefhl fr die Mitmenschen eine Art von Rohheit und
Unmenschlichkeit. So kommt es, dass die Vereinigung und die Gemeinschaft
der Menschen einen hheren Rang einnehmen als das Streben nach
Erkenntnis.
[158] Nicht wahr aber ist, was von einigen wegen der Lebensbedrfnisse gesagt
wird, dass die Gemeinschaft und die Verbindung mit den Menschen deswegen
ihren Anfang genommen habe, weil wir das, was die Natur vermissen lasse,
ohne andere nicht erreichen und bewirken knnten; wenn uns aber alles, was
zum Lebensunterhalt und zur Lebensgestaltung gehrt, gleichsam mittels einer
Wnschelrute, wie man sagt, reichlich zur Verfgung stnde, dann wrden alle
Hochbegabten ihre Ttigkeiten aufgeben und sich ganz auf die Erkenntnis und
das Wissen verlegen. So ist es nicht. Denn er wrde vor der Einsamkeit fliehen
und einen Gefhrten fr das Studium suchen, dann wrde er lehren, dann
lernen, dann hren, dann reden wollen. Also ist jede Pflicht, die auf den Schutz
der Vereinigung und Gemeinschaft von Menschen abzielt, jener Pflicht
vorzuziehen, die auf Erkenntnis und Wissen beruht.
[159] Vielleicht ist danach zu fragen, ob diese Gemeinschaft, die der Natur
besonders angemessen ist, auch der Migung und der Besonnenheit immer
vorzuziehen ist. Ich meine nicht; denn gewisse Handlungen sind teils so
abscheulich, teils so verbrecherisch, dass der Weise sie nicht einmal um der
Rettung des Vaterlandes willen verrichten wird. Posidonius hat sehr viele von
Zweites Buch
1-8 Einleitung
[1] Wie sich die Pflichten von der Sittlichkeit herleiten, mein Sohn Marcus, und
von jeder einzelnen Art der Tugend, ist, wie ich glaube, im voraufgehenden
Buch hinreichend entfaltet worden. Im Folgenden unter- suche ich diejenigen
Arten von Pflichten, die sich auf die Verfeinerung des Lebensstiles und die
Verfgung ber die Dinge beziehen, die Men- schen brauchen, auf Macht und
Reichtum; hierbei wird, wie ich gesagt habe, untersucht, was ntzlich, was
unntz ist, was aus dem Bereich des Ntzlichen ntzlicher oder am ntzlichsten
ist. Hierber zu sprechen werde ich mich anschicken, wenn ich zuvor einiges
ber mein Vorhaben und meine Richtung gesagt habe.
[2] Obwohl nmlich nicht wenige unserer Bcher nicht nur zur Freude am
Lesen, sondern auch zur Freude am Schreiben angespornt haben, frchte ich
dennoch bisweilen, dass einigen braven Leuten das Wort Philosophie verhasst
ist und sie sich wundern, dass ich so viel Mhe und Zeit auf sie verwende. Ich
aber richtete, solange der Staat durch diejenigen gelenkt wurde, denen er sich
selbst anvertraut hatte, alle meine Bemhungen und Gedanken auf ihn. Als
aber alles durch die Gewaltherrschaft eines Einzigen in Beschlag genommen
wurde und es nirgends Raum fr berle- gene Einsicht oder persnliches
Ansehen gab, ich schlielich die bedeu- tendsten Mnner als Verbndete fr
die Verteidigung des Staates verlo- ren hatte, gab ich mich weder den ngsten
hin, durch die ich aufgezehrt worden wre, wenn ich ihnen nicht widerstanden
htte, noch umgekehrt den Vergngungen, die eines gebildeten Menschen
unwrdig sind.
[3] Und wre doch der Staat in seiner anfnglichen Verfassung bestehen
geblieben und nicht in die Hnde von Menschen geraten, die nicht so sehr nach
einer Reform als vielmehr nach einem Umsturz der Verhltnisse strebten! Als
erstes nmlich wrden wir, wie wir es zu tun pflegten, als die Republik noch
bestand, mehr Mhe auf die Ttigkeit als Redner denn auf das Schreiben
verwenden, sodann nicht das schriftlich aufzeichnen, was wir jetzt
verschriftlichen, sondern unsere Vortrge, wie wir es oft getan haben. Als aber
der Staat, auf den ich gewhnlich meine ganze Sorge, mein Denken und meine
Mhen
richtete,
berhaupt
nicht
mehr
existierte,
verstummte
wrdig
war.
Was
nmlich
ist,
bei
den
Gttern,
Die Weisheit aber ist, wie von den alten Philosophen definiert worden ist, das
Wissen um die gttlichen und menschlichen Dinge und um die Ursachen, von
denen diese Dinge abhngig sind; ich verstehe allerdings nicht recht, was nach
Meinung desjenigen, der das Streben nach Weisheit tadelt, berhaupt noch
lobenswert ist.
[6] Denn sei es, dass angenehme Zerstreuung gesucht wird und Erholung von
Sorgen, wie kann dies mit den Bemhungen derer verglichen werden, die
immer etwas erforschen, was auf ein gutes und glckliches Leben abzielt und
fr dieses bedeutsam ist? Sei es, dass das Denken auf Standhaftigkeit und
Tugend gerichtet wird, so ist es entweder dieses methodische Vor- gehen oder
berhaupt keines, durch das wir diese erfassen. Zu sagen, dass es fr die
hchsten Fragen kein methodisches Vorgehen gebe, wohl aber fr die
niedrigsten, zeugt von Menschen, die zu wenig besonnen reden und sich in den
hchsten Fragen irren. Wenn es aber auch nur ir- gendeine Anleitung zur
Tugend gibt, wo wird man diese dann suchen, sobald man sich von dieser Art
des Lernens verabschiedet hat? Aber wenn wir zur Philosophie ermuntern,
werden diese Fragen gewhnlich sorgfltiger errtert, was wir in einem ganz
anderen Buch getan haben. Im gegenwrtigen Augenblick aber mussten wir nur
darlegen, warum wir uns, des politischen Wirkungskreises beraubt,
hauptschlich dieser Be- schftigung gewidmet hatten.
[7] Es wird uns aber, und zwar von gelehrten und gebildeten Menschen, mit der
Frage entgegengetreten, ob wir konsequent genug zu handeln glaubten, da wir
doch, obwohl wir der Meinung seien, dass nichts klar erfasst werden knne,
dennoch andere Dinge zu errtern gewohnt seien und zu eben diesem
Zeitpunkt den Vorschriften ber pflichtgemes Handeln bis ins Einzelne
nachgingen. Wre ihnen doch unsere Anschau- ung hinreichend bekannt! Wir
sind nmlich nicht von der Art, dass wir ziellos umherirren und niemals
bekannt ist. Unser jetziges Thema aber ist genau das, was das Ntzliche
genannt wird. In Bezug auf dieses Wort ist der Sprachgebrauch in die Irre
gegangen, vom rechten Weg abgewichen und allmhlich dahin geraten, dass
er, das Sittliche vom Nutzen trennend, die Behauptung aufstellte, sittlich sei
etwas, was nicht ntzlich, und ntzlich, was nicht sittlich sei, das grte
Verderben, das dem Leben der Menschen beigebracht werden konnte.
[10] Mit hchster Autoritt trennen die Philosophen theoretisch im strengen
Wortsinn des Sittlichen diese drei untereinander verschmolzenen Bereiche.
Denn alles Rechtmige ist meiner Meinung nach auch ntzlich und ebenso das
Sittliche zugleich rechtmig, woraus sich ergibt, dass alles, was sittlich,
zugleich ntzlich ist. Diejenigen, die diese Wahrheit zu wenig durchschauen,
halten, weil sie oft verschlagene und geriebene Menschen bewundern, Arglist
fr Weisheit. Diesen Leuten muss man ihren Irrtum nehmen, und diesen
allgemeinen Wahn gilt es in die Hoffnung umzuwandeln, sie mchten
erkennen, dass sie das, was sie wollen, durch ehrenhafte Plne und
rechtmige Taten erreichen knnen, nicht durch Betrug und Arglist.
11-16 Am meisten Nutzen zieht der Mensch vom Menschen
[11] Was also die Erhaltung des Lebens der Menschen betrifft, so gibt es teils
Lebloses, wie z.B. Gold, Silber, wie das, was aus der Erde hervorgebracht wird,
wie anderes derselben Art, teils Belebtes, das seine eigenen Triebe und
Strebungen hat. Von dem Belebten aber ist das eine ohne Vernunft, das andere
gebraucht die Vernunft. Ohne Vernunft sind die Pferde, die Rinder, das brige
Kleinvieh und die Bienen, durch deren Dienstleistung etwas bewirkt wird zum
Nutzen und fr das Leben der Menschen. Von den Wesen aber, welche die
Vernunft gebrauchen, nehmen sie zwei Arten an; die eine Art sind die Gtter,
die andere die Menschen. Frmmigkeit und unstrflicher Lebenswandel
werden die Gtter gndig stimmen; unmittelbar nach den Gttern aber knnen
die Menschen den Menschen am ntzlichsten sein.
[12] Und ebenso gibt es hinsichtlich der Dinge, die schaden und hinderlich sind,
dieselbe Einteilung. Aber weil sie nicht glauben, dass die Gtter schaden, sehen
sie von diesen ab und glauben, dass die Menschen den Menschen den grten
Schaden zufgen. Denn genau die Dinge, die wir die leblosen genannt haben,
sind zum grten Teil durch die Ttigkeit der Menschen bewirkt worden; diese
besen wir nicht, wenn nicht Menschenhand und Technik hinzugekommen
wren, und auch wrden wir sie nicht ohne das Zutun der Menschen
gebrauchen. Denn weder die Sorge um die Gesundheit noch die Schifffahrt,
weder der Ackerbau noch die Ernte und die Aufbewahrung der Feldfrchte
samt der brigen Frchte wren ohne die Ttigkeit von Menschen berhaupt
mglich gewesen.
[13] Sogar die Ausfuhr derjenigen Gter, die wir im berfluss haben, und die
Einfuhr solcher, die wir entbehren, gbe es berhaupt nicht, wenn Menschen
nicht diese Aufgaben ausfhrten. Aus demselben Grund wrden weder Steine
aus der Erde herausgebrochen, die fr unseren Bedarf notwendig sind, noch
Eisen, Erz, Gold und Silber, tief im Scho der Erde geborgen, ohne Arbeit von
Menschenhand ausgegraben. Huser vollends, um durch sie die Macht der
Klte und die Belstigungen durch Hitze zu mildern - von wem htten sie am
Anfang dem Menschengeschlecht gegeben werden oder wodurch ht- ten sie
spter helfen knnen, falls sie durch die Gewalt eines Unwet- ters, durch ein
Erdbeben oder infolge ihres Alters eingestrzt wren, wenn nicht die
Lebensgemeinschaft es gelernt htte, von den brigen Menschen Hilfe gegen
solche Unflle zu erbitten?
[16] An dieser Stelle sind wir ausfhrlicher, als es notwendig ist. Denn wen gibt
es, dem jenes nicht klar ist, was mit mehreren Worten von Panaitios erwhnt
wird, dass niemand weder als Feldherr noch als Politiker groe und
heilbringende Taten ohne eifrige Beteiligung der Mitbrger htte ausfhren
knnen. Angefhrt werden von ihm Themistokles, Perikles, Kyrus, Agesilaus
und Alexander, die, wie er sagt, ohne Hilfe durch Menschen so bedeutende
Dinge nicht htten bewirken knnen. Er bedient sich bei einem nicht
ungewissen Sachverhalt nicht notwendiger Zeugen. Und wie wir groen Nutzen
mittels Einigkeit und bereinstimmungen von Menschen erlangen, so gibt es
kein auch noch so abscheuliches Unheil, das nicht einem Menschen durch
einen anderen erwchst. Es gibt ber den Untergang von Menschen ein Buch
des Dikaiarchos, eines berhmten und beredten Peripatetikers, der, nachdem
er sonstige Ursachen hierfr gesammelt hat, nmlich berschwemmung, Pest,
Verdung und auch wilde Tiere, die pltzlich berhand nehmen, durch deren
Angriff, wie er lehrt, einige Menschengeschlechter vernichtet worden seien,
sodann vergleichend feststellt, wie viel mehr Menschen durch den Angriff von
Menschen ausgelscht worden sind, d.h. durch Kriege oder Aufstnde, als
durch jede brige Katastrophe.
17-20 Die Tugend muss alle zusammenschlieen
[17] Weil also dieser Punkt keinen Zweifel zulsst, dass die Menschen den
Menschen am meisten ntzen und schaden, halte ich es fr eine wesentliche
Aufgabe der Tugend, Menschen zu verbinden und ihren Zwecken dienstbar zu
machen. Daher wird das, was bei Leblosem und bei der Verwendung sowie
Behandlung von Tieren in ntzlicher Weise fr das Leben der Menschen
geschieht, dem Handwerk zugeschrieben; der Eifer der Menschen aber,
welcher dazu bereit und entschlossen ist, unser Glck zu vermehren, wird
durch die Weisheit und Tugend vortrefflicher Mnner geweckt.
[18] Denn die Tugend beruht in Gnze auf ungefhr drei Bereichen, von denen
der erste in der Erkenntnis dessen besteht, was in jeder Sache wahr und
unverflscht ist, was mit ihr vereinbar, was folgerichtig ist, woraus alles
entsteht, welches der Grund einer jeden Sache ist; der zweite Bereich zielt
darauf ab, unkontrollierte Gemtsbewegungen, welche die Griechen pqh
nennen, zu zgeln und die Triebe, welche jene orma nennen, der Vernunft zu
unterwerfen; der dritte Bereich beruht darauf, diejenigen, mit denen wir
Umgang haben, besonnen und einsichtsvoll zu behandeln, damit wir durch ihre
Geneigtheit unsere natrlichen Bedrfnisse vllig befriedigen, durch dieselben,
falls uns ein Unglck zugefgt wird, diejenigen abwehren und uns an denen
rchen, die versucht haben, uns zu schaden, und sie mit einer solchen Strafe
belegen, wie Billigkeit und Humanitt es zulassen.
[19] Mit welchen Mitteln wir aber diese Fhigkeit erwerben knnen, dass wir
die Zuneigung der Menschen gewinnen und festhalten, werden wir sagen, und
zwar nicht so viel spter, aber weniges ist noch vorauszuschicken. Dass dem
Glck in doppelter Hinsicht eine groe Bedeutung zukommt, bezglich des
Wohls und Wehe der Menschen, wer wei das nicht? Denn wenn wir uns
seines gnstigen Wehens erfreuen, kommen wir zu den gewnschten Zielen,
und wenn das Glck entgegenweht, scheitern wir. Dieses Glck selbst also
bringt sonstige ziemlich seltene Wechselflle mit sich, erstens infolge
elementarer Ereignisse Strme, Unwetter, Schiffbrche, Strze, Brnde,
zweitens durch Tiere verursachte Ste, Bisse, Angriffe. Diese Vorkommnisse
sind, wie ich gesagt habe, seltener.
[20] Aber der Untergang von Heeren, wie jngst von dreien, oft von vielen, die
Niederlagen von Feldherrn, wie neulich die eines sehr hochstehenden und
einzigartigen Mannes, auerdem Hassausbrche der Menge und deswegen
Vertreibungen von Brgern, die sich oft verdient gemacht haben,
unterwerfen sich sogar dem Befehl und der Macht eines anderen aus mehreren
Grnden. Sie lassen sich nmlich durch Wohlwollen leiten oder durch die Gre
der Verdienste, durch eine vortreffliche Wrdenstellung oder durch die
Hoffnung, dieses werde fr sie ntzlich sein, sowie die Furcht, sie knnten
gewaltsam zum Gehorsam gezwungen werden; oder sie lassen sich von der
Hoffnung auf eine Spende und von Versprechen vereinnahmen oder
schlielich, wie wir es oft in unserem Staat sehen, durch Geld dingen.
[23] Von allen Mitteln aber ist keines geeigneter zur Sicherung und Behauptung
der Macht als geliebt zu werden und keines unangebrachter als gefrchtet zu
werden. Vortrefflich nmlich sagt Ennius: Wen sie frchten, hassen sie; jeder
trachtet danach, dass derjenige, den er hasst, auch zugrunde geht. Dass aber
dem Hass vieler keine Macht zu widerstehen vermag, hat man, falls es zuvor
unbekannt gewesen ist, neulich erfahren. Aber nicht nur der Untergang dieses
Tyrannen, den die mit Waffen unterdrckte Brgerschaft ertragen musste und
dem sie jetzt mehr denn je nach seinem Tod gehorcht, zeigt, wie sehr der Hass
der Mitmenschen ins Verderben fhrt, sondern auch hnliche Schicksale der
brigen Tyrannen, von denen fast niemand einem solchen Ende entgangen ist.
Denn die Furcht ist auf Dauer ein schlechter Wchter, und dagegen kann man
sich auf Wohlwollen fest verlassen, sogar fr immer.
[24] Aber gegen diejenigen, die ber gewaltsam unterdrckte Menschen
herrschen, mag mit Grausamkeit vorzugehen sein, wie z.B. gegen die, welche
ber Sklaven gebieten, wenn sie anders nicht in Zucht gehalten werden
knnen; hingegen kann nichts trichter sein als diejenigen, die sich in einem
freien Staat so ausrsten, dass sie gefrchtet werden. Denn wie sehr auch die
Gesetze durch irgendjemandes Macht verschttet sind, wie sehr auch die
Freiheit eingeschchtert ist: dennoch treten diese Mchte bisweilen zutage
entweder
durch
stillschweigende
Verurteilungen
oder
in
geheimen
Abstimmungen ber die Ehre. Die Angriffe unterdrckter Freiheit aber sind
heftiger als die bewahrter Freiheit. Was also weiteste Geltung besitzt und nicht
nur fr die persnliche Sicherheit, sondern auch fr Macht und Gewalt von
grter Bedeutung ist, das wollen wir festhalten, damit die Furcht vor uns fern
ist, die Liebe zu uns erhalten bleibt. So werden wir sehr leicht das erreichen,
was wir im privaten Bereich und in der Politik wnschen. Denn es ist
notwendig, dass diejenigen, die gefrchtet werden wollen, ihrerseits selbst
eben die frchten, von denen sie gefrchtet werden.
[25] Was denn? Von welcher qualvollen Furcht wurde, wie wir glauben mssen,
jener bekannte Dionysius der ltere fortwhrend geqult, der sich aus Angst
vor Rasiermessern mit glhender Kohle den Bart absengte? Ferner, in welchem
Bewusstsein hat nach unserer Meinung Alexander aus Pherai gelebt? Obwohl
dieser seine Frau Thebe sehr liebte, befahl er dennoch - wie wir in einer
Darstellung lesen -, wenn er zu ihr vom Mahl ins Schlafgemach kam, einem
Barbaren, und zwar einem, der, wie geschrieben steht, mit thrakischen Zeichen
ttowiert war, mit gezogenem Schwert vorauszugehen, und er schickte von
seinen Begleitern einige vorweg, welche die Schatullen seiner Frau
durchsuchen und ermitteln sollten, dass nicht eine Waffe in ihrer Kleidung
versteckt wre. Welch unglcklicher Mensch, da er glaubte, ein Barbar und
Ttowierter sei zuverlssiger als die Ehefrau. Er tuschte sich nicht; denn von
ihr selbst wurde er wegen des Verdachts auf Umgang mit einer Nebenfrau
gettet. Und tatschlich ist keine Befehlsgewalt so stark, dass sie, sobald Furcht
sie bedrngt, langdauernd sein knnte.
[26] Ein Zeuge ist Phalaris, dessen Grausamkeit mehr als die brigen berhmt
wurde, der nicht aufgrund eines Hinterhalts umgekommen ist, wie derjenige,
den ich soeben genannt habe, Alexander, nicht von wenigen gettet wurde,
wie der Unsrige hier, sondern auf den die gesamte Menge der Agrigentiner
einen Angriff machte. Ferner, haben nicht die Makedonen Demetrius verlassen
und sich alle auf Pyrrhus Seite geschlagen? Ferner, haben nicht pltzlich fast
alle Verbndeten die ungerecht herrschenden Lakedaimonier im Stich gelassen
und sich als mige Zuschauer der Niederlage bei Leuktra erwiesen? An
Beispiele des Auslandes erinnere ich mich lieber in einem solchen
Zusammenhang als an solche aus Rom. Aber so viel muss ich doch sagen:
Solange die Herrschaft des rmischen Volkes auf Wohltaten beruhte und nicht
auf Unrecht, solange Kriege entweder zum Schutz der Bundesgenossen oder
zur Sicherung des Reiches gefhrt wurden, waren die Ergebnisse der Kriege
entweder ertrglich oder unvermeidbar, war der Senat Schutz und Zufluchtsort
fr Knige, Vlker und Stmme, bemhten sich weiter unsere Magistrate und
Feldherrn, nur wegen dieser einen Tat Lob zu empfangen, wenn sie Provinzen,
wenn sie Verbndete gerecht und gewissenhaft verteidigt hatten.
[27] Daher konnte jenes richtiger Schutzherrschaft des Erdkreises genannt
werden als Oberherrschaft. Allmhlich lieen wir schon frher diese
Gewohnheit und Selbstzucht verfallen, nach dem Sieg Sullas aber haben wir sie
vllig aufgegeben; denn nicht lnger hatte man den Eindruck, etwas sei
ungerecht gegenber den Bundesgenossen, nachdem eine so groe
Grausamkeit gegen Mitbrger hervorgetreten war. Also folgte, was jenen
betrifft, einer gerechten Sache eine nicht ehrenhafte Nutzung des Sieges. Denn
er erdreistete sich bei der ffentlichen Versteigerung zu sagen, als er auf dem
Forum die Vermgen guter und wohlhabender Mnner und gewiss auch Brger
verkaufte, er verkaufe seine Kriegsbeute. Es folgte jemand, der in einer
ungerechten Sache, bei einem noch ehrloseren Sieg, nicht das Vermgen
einzelner Brger beschlag- nahmte, sondern ganze Provinzen und Gebiete in
den gleichen jammer- vollen Zustand versetzte.
[28] Daher sahen wir, nachdem auslndische Vlker misshandelt und zugrunde
gerichtet worden waren, dass als Beispiel fr den Verlust des Reiches ein Bild
von Massilia im Triumph einhergetragen und ber die Stadt triumphiert wurde,
ohne die unsere Feldherrn niemals in den Kriegen jenseits der Alpen einen
Triumph fei- erten. Viele Verbrechen gegen die Bundesgenossen wrde ich
auerdem erwhnen, wenn die Sonne etwas Unwrdigeres als dieses eine
gesehen htte. Zu Recht also ben wir. Denn wenn wir die Verbrechen vieler
nicht straflos htten hingehen lassen, wre niemals eine solche Willkrherrschaft zu einem einzigen gelangt, von dem das Erbe seines Ver- mgens
auf wenige bergegangen ist, das Erbe seiner Begierden aber auf viele
Ruchlose.
[29] Niemals aber werden die Ursache und der Grund fr Brgerkriege
abhanden gekommen sein, solange sich ruchlose Menschen an jene blutige
Lanze erinnern und auf sie hoffen werden; nachdem P. Sulla diese unter der
Diktatur seines Verwandten geschwungen hatte, entfernte sich derselbe
sechsunddreiig Jahre spter nicht von einer noch ver- ruchteren Lanze; ein
anderer Sulla aber, der in jener Diktatur Schreiber gewesen war, war in dieser
stdtischer Quaestor. Hieraus ist zu ersehen, dass Brgerkriege, solange solche
Belohnungen in Aussicht stehen, niemals fehlen werden. Und so bleiben nur
noch die Mauern der Stadt bestehen - und sogar diese frchten schlimmste
Verbrechen - die republikanische Verfassung aber haben wir vllig verloren.
Und in diese Katastrophen geraten wir - wir mssen nmlich zum Thema
zurckkehren -, solange wir lieber gefrchtet werden wollen als geschtzt und
geliebt. Wenn dieses dem rmischen Volk, als es ungerecht herrschte,
widerfahren konnte, womit mssen dann die Einzelnen rechnen? Da also klar
ist, dass der Einfluss des Wohlwollens gro, der der Furcht schwach ist, folgt
daraus, dass wir errtern, mit welchen Mitteln wir sehr leicht die gewnschte
Liebe erlangen, die sich auf Ehre und Vertrauen grndet.
[30] Aber dieser bedrfen nicht alle in gleicher Weise; denn nach der
Lebensgestaltung eines jeden hat es sich zu richten, ob es ntig ist, von vielen,
oder ob es ausreicht, von wenigen geliebt zu werden. Dieses also drfte sicher
sein und dies das Erste und Notwendigste, zuverlssige Freundschaften mit
Freunden zu haben, die uns lieben und unsere Vorz- ge anerkennen. Denn
dieses ist geradezu der einzige Punkt, der wenig Unterschied lsst zwischen
Mnnern aus dem hchsten und dem mitt- leren Stand, und hierum mssen
sich beide fast in gleicher Weise bemhen.
[31] Ehre, Ruhm und Wohlwollen von Mitbrgern brauchen viel- leicht nicht
alle gleichermaen, aber dennoch helfen sie betrchtlich, falls sie jemandem
zur Verfgung stehen, um sich das brige sowie Freundschaften zu erwerben.
31-51 Vertrauen und Ruhm
31-34 Gerechtigkeit erweckt Vertrauen
Aber ber die Freundschaft wurde in einem anderen Buch gesprochen, das mit
Laelius betitelt ist; nun wollen wir ber den Ruhm sprechen, obwohl es auch
hierber zwei Bcher von uns gibt, aber wir wollen uns mit dem Ruhm
befassen, da er ja bei hheren Aufgaben sehr viel Hilfe leistet. Also beruht der
hchste und vollkommene Ruhm auf folgenden drei Vorbedingungen: falls die
Menge liebt, falls sie Zutrauen hat, falls sie mit einer gewissen Bewunderung
glaubt, dass wir Ehre verdienen. Aber diese Dinge verschafft man sich bei der
Menge, wenn man offen und knapp sprechen soll, mit fast denselben Mitteln
wie bei den Einzelnen. Aber es gibt auch gleichsam einen anderen Zugang zur
Menge, damit wir in die Herzen aller sozusagen hineinstrmen knnen.
[32] Zuerst wollen wir von jenen drei Vorbedingungen, die ich zuvor genannt
habe, die Regeln bedenken, die das Wohlwollen betreffen; dieses Wohlwollen
wird zwar besonders durch Wohltaten erworben, an zweiter Stelle aber schon
durch den guten Willen zum Wohltun hervorgerufen, auch wenn die Geldmittel
vielleicht nicht ausreichen; heftig aber wird die Liebe der Menge schon durch
den Ruf und den Glauben geweckt, man sei freigebig, wohlttig, gerecht und
treu und verfge ber all die Tugenden, die zu einem sanftmtigen und
umgnglichen Charakter gehren. Denn weil jenes selbst, das, wie wir sagen,
ehrenhaft und geziemend sei, uns an sich schon gefllt, durch seine natrliche
Schnheit alle beeindruckt und besonders aus den Tugenden gleichsam
hervorstrahlt, die ich erwhnt habe, deswegen werden wir von der Natur selbst
gezwungen, jene zu lieben, die nach unserer Meinung diese Tugenden besitzen.
Und dieses sind die gewichtigsten Grnde zu lieben; auerdem nmlich kann es
einige unbedeutendere geben.
[33] Dass aber Vertrauen geschenkt wird, kann durch zwei Weisen bewirkt
werden, wenn man glauben wird, dass wir Klugheit verbunden mit
Gerechtigkeit erlangt haben. Denn wir schenken denjenigen Vertrauen, die, wie
wir glauben, klger sind als wir und die nach unserer Ansicht die Zukunft
vorhersehen und, wenn es zu handeln gilt und man sich entscheiden muss, eine
Sache durchfhren sowie einen Plan nach Lage der Umstnde fassen knnen;
denn dieses halten Menschen fr eine ntzliche und wahre Klugheit. Gerechten
Menschen aber, d.h. guten Mnnern, wird unter der Bedingung Vertrauen
geschenkt, dass es bei ihnen keinen Verdacht auf Tuschung und Unrecht gibt.
Daher glauben wir, dass diesen unser Wohl, diesen unser Glck, diesen unsere
Kinder mit vollem Recht anvertraut werden.
[34] Von diesen zwei Tugenden also vermag die Gerechtigkeit mehr fr den
Erwerb des Vertrauens, da diese auch ohne Klugheit ber genug Ansehen
einzigartige Tugenden erkennen; sie schauen aber auf diejenigen herab und
verachten sie, bei denen es, wie sie glauben, keine Tugend, keinen Mut, keine
Energie gibt. Denn sie ver- achten nicht all die, von denen sie eine schlechte
Meinung haben. Denn diejenigen, die sie fr schlecht, verleumderisch und
arglistig halten und fr geeignet, Unrecht zu begehen, verachten sie zwar
keineswegs, aber sie haben von ihnen eine schlechte Meinung. Deswegen
werden, wie ich zuvor gesagt habe, diejenigen verachtet, die weder fr sich
noch fr andere (etwas taugen), wie es heit, bei denen es keine Anstrengung,
keinen Flei, keine Sorgfalt gibt.
[37] Es werden aber diejenigen bewundert, die, wie man glaubt, die brigen an
Tugend bertreffen und frei von jeder Schande sind, besonders aber von den
Lastern, denen andere kaum widerstehen knnen. Denn die Freuden, die
schmeichlerischsten Gebieterinnen, bringen den grten Teil der Menschen
von der Tugend ab, und die Meisten lassen sich, wenn sich brennende
Schmerzen nhern, bermig erschrecken; Leben, Tod, Reichtum und Armut
beeindrucken alle Menschen aufs rgste. Diejenigen, die diese Dinge weder
frchtend noch begehrend mit einer erhabenen und hohen Gesinnung
verachten und die sich, wenn sich ihnen irgendetwas Bedeutendes und
Ehrenhaftes bietet, diesem ganz zuwenden und mitreien lassen: Wer sollte da
nicht den Glanz und die Schnheit der Tugend bewundern?
[38] Also erregt diese Verachtung groe Bewunderung, und besonders die
Gerechtigkeit, welches hauptschlich die Tugend ist, nach der Mnner als gut
bezeichnet werden, scheint der Menge ganz wunderbar zu sein, und nicht zu
Unrecht. Niemand nmlich kann gerecht sein, der den Tod, der den Schmerz,
der das Exil, der bittere Armut frchtet oder der das, was diesem
entgegengesetzt ist, der Gerechtigkeit vorzieht. Und besonders bewundern sie
denjenigen, der sich nicht durch Geld beeinflussen lsst; der Mann, bei dem
diese Eigenschaft erkennbar ist, hat nach ihrer Meinung die Feuerprobe
bestanden. Daher vollendet die Gerechtigkeit jene drei Vorbedingungen fr das
Erwerben von Ruhm zur Gnze, erstens das Wohlwollen, weil sie, die
Gerechtigkeit, den meisten ntzen will, zweitens aus demselben Grund das
Vertrauen und drittens die Bewunderung, weil sie das verachtet und
vernachlssigt, zu dem die meisten sich begierig hinreien lassen.
39-43 Gerechtigkeit braucht sogar der Einsame, besonders aber ein Staat
[39] Meiner Meinung nach verlangt jede Weise und Einrichtung des Lebens die
Hilfe von Menschen, und zwar in erster Linie zu dem Zweck, dass der Mensch
welche hat, mit denen er vertrauliche Gesprche fhren kann; dieses ist
schwierig, wenn man nicht den Eindruck eines anstndigen Menschen macht.
Also ist sogar fr einen alleinstehenden Menschen und fr jemanden, der sein
Leben auf dem Land verbringt, der Ruf, ein gerechter Mann zu sein, notwendig,
und zwar um so mehr, weil sie, falls sie die Gerechtigkeit nicht haben werden,
durch keinen Beistand geschtzt sind und vielerlei Unrecht erleiden werden.
[40] Und selbst fr diejenigen, die verkaufen, kaufen, mieten, verpachten und
sich auf den Abschluss von Geschften einlassen, ist fr ihre Zwecke die
Gerechtigkeit notwendig, deren Macht so gro ist, dass nicht einmal jene, die
an beltaten und Verbrechen ihre Freude haben, ohne ein Quntchen
Gerechtigkeit zu leben vermgen. Denn derjenige, der irgendeinem von denen,
die gemeinsam mit ihm Ruberei treiben, etwas entwendet oder entreit, kann
fr sich keinen Platz in der Ruberbande behaupten, jener aber, der
Seeruberfhrer genannt wird, drfte, wenn er die Beute nicht gleichmig
verteilt, entweder von seinen Kameraden gettet oder verlassen werden. Ja
sogar unter Rubern soll es Gesetze geben, denen sie gehorchen, die sie
beachten. Daher hatte wegen gerechter Verteilung der Beute Bardulis, ein
illyrischer Ruber, ber den bei Theopompos berich- tet ist, groen Reichtum
und noch viel greren Viriatus aus Lusitanien, dem sogar unsere Heere und
Feldherrn nachgegeben haben, den C. Laelius, er, welcher der Weise genannt
wird, als Praetor demtigte und schwchte und dessen bermut er so hemmte,
dass dieser mhelos den anderen den Krieg berlie. Da also die Kraft der
Gerechtigkeit so gro ist, dass diese sogar die Macht von Rubern strkt und
vermehrt, wie gro wird dann erst nach unserer berzeugung ihr Einfluss unter
Gesetzen und Gerichten und in einem ordentlichen Staatswesen sein?
[41] Mir jedenfalls scheinen nicht nur bei den Medern, wie Herodot sagt,
sondern auch bei unseren Vorfahren, um die Vorteile der Gerechtigkeit zu
genieen, einst wohlgesittete Knige eingesetzt worden zu sein. Denn als in
ruhiger Zeit die Menge von denen bedrngt wurde, die grere Macht hatten,
nahmen sie ihre Zuflucht bei einem Einzigen, der sich durch Tchtigkeit
auszeichnete und, indem er die Geringeren vor Unrecht schtzte, durch
Herstellung der Rechtsgleichheit die Hchsten und die Niedrigsten unter das
gleiche Recht stellte. Der Grund fr die Einfhrung der Gesetze war derselbe
wie der fr die Einsetzung der Knige.
[42] Das Recht ist nmlich immer als etwas gesucht worden, das fr alle gleich
ist; denn anders wre es kein Recht. Wenn die Menschen dieses von einem
einzigen gerechten und guten Mann erlangten, waren sie damit zufrieden; als
dieses weniger gelang, wurden Gesetze gefunden, die mit allen immer mit ein
und derselben Stimme sprachen. Also ist dieses klar, dass fr die Herrschaft
diejenigen gewhnlich ausgewhlt wurden, ber deren Gerechtigkeit die
Menge eine hohe Meinung hatte. Kam nun noch hinzu, dass dieselben auch fr
klug gehalten wurden, gab es nichts, was die Menschen auf deren Rat hin fr
unerreichbar hielten. Also ist die Gerechtigkeit auf jede Weise zu pflegen und
zu bewahren sowohl um ihrer selbst willen - denn anders gbe es keine
Gerechtigkeit - als auch besonders wegen der Vermehrung von Ehre und Ruhm.
Aber wie es eine Methode gibt, nicht nur Geld zu erwerben, sondern auch
anzulegen, damit es fr die laufenden Ausgaben ausreicht, nicht nur fr die
notwendigen, sondern auch fr die standesgemen, so muss der Ruhm mit
Methode gesucht und bewahrt werden.
[43] Allerdings sagte Sokrates vortrefflich, dass dies der nchste und gleichsam
abgekrzte Weg zum Ruhm sei, wenn jemand darauf bedacht sei, derjenige zu
sein, fr den er gehalten werden mchte. Wenn also manche Leute glauben,
sie knnten durch Heuchelei, leere Zurschaustellung und durch eine nicht nur
heuchlerische Redeweise, sondern auch
durch einen
eben solchen
gefeierten Namen hat, die er entweder von seinem Vater als Erbe empfangen
hat, was dir, mein Cicero, wie ich glaube, zuteil geworden ist, oder durch Zufall
und glckliche Umstnde, richten sich die Augen aller auf ihn, und man
erkundigt sich, was er tut und wie er lebt, und gleich als ob er sich im hellsten
Licht befindet, kann weder eines seiner Worte noch eine seiner Taten
verborgen bleiben.
[45] Sobald diejenigen aber, deren Tugend wegen ihrer niedrigen und
unbedeutenden Herkunft den Leuten unbekannt ist, beginnen junge Mnner zu
sein, mssen sie sich groe Ziele setzen und auf diese in unverrckbarem
Streben hinarbeiten; dieses werden sie um so entschlossener tun, weil man
ihnen jenes Alter nicht nur nicht neidet, sondern sogar gnnt. Fr einen jungen
Mann also ist der beste Schritt hin zum Ruhm, wenn dieser durch Leistungen im
Krieg erworben werden kann, ein Ruhm, in dem sich viele bei unseren
Vorfahren ausgezeichnet haben; denn fast immer werden Kriege gefhrt. Deine
Jugend aber fiel in den Krieg, dessen eine Partei mit allzu groem Verbrechen
verbunden war, dessen andere mit wenig Erfolg. Dennoch erlangtest du in
diesem Krieg, weil Pompeius dich an die Spitze eines Reiterschwadrons gestellt
hatte, gro-es Lob von dem hchsten Mann und dem Heer, indem du als Reiter
dientest, den Wurfspie warfst und mit aller militrischen Anstrengung Geduld
zeigtest. Und dieses dein Lob ging zusammen mit dem Staat unter. Ich aber
habe mich zu dieser Rede nicht deinetwegen entschlossen, sondern wegen des
Gegenstandes im Allgemeinen. Deshalb wollen wir zu dem weitergehen, was
noch aussteht.
[46] Wie also in den brigen Bereichen die Taten des Geistes viel bedeutender
sind als die des Krpers, so ist das, was wir mit Verstand und kluger berlegung
erreichen wollen, willkommener als das, was wir mit Krperkraft durchfhren.
Die erste Empfehlung also beginnt mit der Selbstbeherrschung, sodann mit der
und
die
Soldaten
durch
eine
schmeichelnde
Anrede
zu
beschwichtigen. Die Rede aber, die vor der Menge mit Anspannung gehalten
wird, begeistert oft die gesamte Menge. Gro nmlich ist die Bewunderung fr
denjenigen, der wortreich und weise spricht; diejenigen, die ihn hren, meinen,
dass er sogar mehr versteht und einsichtiger ist als die brigen. Wenn aber
einer Rede Erhabenheit gepaart mit Migung anhaftet, kann nichts
Bewunderungswrdigeres geschehen, und zwar um so mehr, wenn diese
Eigenschaften bei einem jungen Mann auftreten.
[49] Aber obwohl es mehrere Arten von Anlssen gibt, die Beredsamkeit
bentigen, und viele junge Mnner in unserem Staat vor Richtern, vor dem
Volk und vor dem Senat durch Reden Lob erlangt haben, ist die Bewunderung
fr Gerichtsreden am grten, von denen es zwei Arten gibt. Denn die
Gerichtsrede besteht aus der Anklage und der Verteidigung, von denen die
Anklage, obwohl die Verteidigung rhmlicher ist, dennoch sogar sehr hufig
Beifall gefunden hat. Ich habe kurz zuvor ber Crassus gesprochen, dasselbe
machte der junge M. Antonius, auch die Beredsamkeit des P. Sulpicius machte
eine Anklage berhmt, als er einen aufrhrerischen und unntzen Brger, C.
Norbanus, verklagte.
[50] Aber dieses darf nicht hufig getan werden und immer nur um des Staates
willen, wie diejenigen, die ich zuvor genannt habe, es getan haben, entweder
um sich zu rchen, wie die beiden Luculli, oder wegen des Schutzes, wie wir fr
die Sizilier und Iulius fr die Sarden. Auch bei der Anklage des M. Aquilius ist
der Flei des L. Fufius bekannt. Ein einziges Mal also ist anzuklagen oder
sicherlich nicht oft. Wenn es aber jemanden geben wird, der es hufiger tun
muss, so soll er diese Aufgabe dem Staat zuliebe erfllen, dessen Feinde
hufiger zu bestrafen nicht tadelnswert ist; ein Ma soll es dennoch geben.
Denn es scheint einen harten Menschen auszumachen oder vielmehr kaum
eines Menschen wrdig zu sein, viele in Lebensgefahr zu bringen. Dieses ist
gefhrlich fr einen selbst sowie auch schmhlich fr den guten Ruf, es dahin
kommen zu lassen, dass man Anklger genannt wird; soches widerfuhr dem M.
Brutus, einem Mann von bester Herkunft, dem Sohn jenes Brutus, der
besonders im Zivilrecht kundig war.
[51] Und auch diese Vorschrift der Pflicht gilt es sorgfltig einzuhalten, dass
man niemals einen Unschuldigen auf Tod und Leben anklagen sollte; denn
dieses kann ohne ein Verbrechen in keiner Weise geschehen. Denn was ist so
unmenschlich wie die Beredsamkeit, die von der Natur zum Wohl der
Menschen und zu ihrer Erhaltung gegeben ist, zum Verderben und zur
Vernichtung der Rechtschaffenen zu verwenden? Aber dennoch darf man es
nicht, wie dieses zu meiden ist, auf gleiche Weise fr bedenklich halten, einmal
einen Schuldigen zu verteidigen, nur nicht einen Frevler und Bsewicht. Die
Menge will dieses, die Gewohnheit ertrgt es, auch die Menschlichkeit lsst es
sich gefallen. Es ist Aufgabe eines Richters, in Prozessen immer nach der
Wahrheit zu streben, eines Verteidigers, das Wahrscheinliche, auch wenn es
weniger wahr ist, zu verteidigen; dieses wrde ich, zumal ich ber Philosophie
schreibe, nicht zu schreiben wagen, wenn dasselbe nicht die Meinung des sehr
sittenstrengen Stoikers Panaetius wre. Am meisten aber werden Ruhm und
Beliebtheit durch Verteidigungen erworben, und zwar um so mehr, wenn es
einmal vorkommt, dass demjenigen geholfen wird, der durch die Strke eines
Mchtigen unterdrckt und bedrngt zu werden scheint, wie ich es sonst oft
und als junger Mann gegen die Macht des tyrannischen L. Sulla fr Sex. Roscius
Amerinus getan habe, in einer Rede, die, wie du weit, noch erhalten ist.
52-85 Wohlttigkeit und Freigebigkeit
52-55a Die Wohlttigkeit und ihre Arten
[52] Aber nachdem die Pflichten der jungen Leute dargelegt sind, soweit sie fr
den Erwerb von Ruhm Bedeutung haben, muss nun der Reihe nach ber
[54] Deshalb steht es auer Zweifel, dass jene Wohlttigkeit, die auf
Anstrengung und Flei beruht, ehrenwerter ist, ein weiteres Wirkungsfeld hat
und mehreren nutzen kann. Dennoch gilt es manchmal zu schenken, und es
darf diese Art der Wohlttigkeit nicht vllig abgelehnt werden; oft ist wrdigen
Menschen, die Mangel leiden, aus dem Vermgen etwas zu schenken, aber
wohlbedacht und besonnen. Viele nmlich haben ihr Vermgen verschleudert,
indem sie unberlegt Schenkungen machten. Was aber ist trichter als dafr zu
sorgen, dass man das, was man gerne tut, nicht lnger machen kann? Und auf
Schenkung folgt sogar Raub. Denn sobald sie durch Geben zu darben begonnen
haben, werden sie gezwungen, an fremdem Vermgen Hand anzulegen. So
erlangen sie, weil sie, um Wohlwollen zu erwerben, wohlt-tig sein wollen, von
denjenigen, denen sie gegeben haben, eine Zunei- gung, die nicht so gro ist
wie der Hass derer, denen sie genommen haben.
[55] Daher darf das Vermgen einerseits nicht so verschlossen werden, dass die
Wohlttigkeit es nicht zu ffnen vermag, andererseits nicht so geffnet
werden, dass es allen offen steht; Migung soll man ben und diese auf die
eigenen Geldmittel beziehen. Kurz, wir mssen uns an das erinnern, was von
unseren Leuten sehr hufig in den Mund genommen wird und schon zu einem
gebruchlichen Sprichwort geworden ist, dass nmlich das Schenken keinen
Boden hat. Denn welches Ma kann es geben, da zugleich diejenigen, die sich
daran gewhnt haben anzunehmen, und auch andere jenes begehren?
55b-60 Verschwenderische Wohlttigkeit
Im Ganzen gibt es zwei Arten von Freigebigen, von denen die einen
verschwenderisch, die anderen grozgig sind; verschwenderisch sind
diejenigen, die durch Festmhler, Fleischspenden fr das Volk und
Gladiatorenspiele, durch die Vorbereitung von Wettkmpfen und Tierhetzen
Gelder fr solche Dinge verschleudern, an die sie entweder eine kurze oder
berhaupt keine Erinnerung zurcklassen werden; grozgig aber sind
diejenigen, die auf Grund ihrer Mittel Gefangene von Rubern loskaufen,
Schulden ihrer Freunde bernehmen, diese bei der Verheiratung der Tchter
untersttzen oder ihnen bei dem Erwerb oder der Vermehrung von Besitz
helfen.
[56] Daher frage ich mich verwundert, was Theophrast in den Sinn gekommen
ist, in dem Buch, das er ber den Reichtum geschrieben hat, in dem er vieles
vortrefflich, jenes aber unpassend gesagt hat: denn er lobt eifrig den Prunk und
die Vorbereitung der Festspiele fr das Volk und hlt die Mglichkeit, einen
derartigen Aufwand zu betreiben, fr eine Frucht des Reichtums. Mir aber
scheint jene Frucht der Freigebigkeit, fr die ich wenige Beispiele gegeben
habe, viel grer und sicherer zu sein. Um wieviel ernster und aufrichtiger
tadelt uns Aristoteles, weil wir uns nicht ber diese Geldverschwendungen
wundern, die gemacht werden, um die Menge zu beschwichtigen. Denn er sagt,
wenn diejenigen, die vom Feind belagert werden, gezwungen wrden, einen
Krug Wasser fr eine Mine zu kaufen, hielten wir dieses zuerst fr
unglaubwrdig und alle wunderten sich darber; aber bei nherer berlegung
brchten sie Verstndnis wegen der Notlage auf, whrend wir uns bei diesen
Spielen wegen der riesigen Aufwendungen und unbegrenzten Kosten nicht
sonderlich wunderten, zumal da man weder einem wirklichen Notstand abhelfe
noch das Ansehen vermehre und eben jene Unterhaltung der Menge nur fr
eine kurze und knappe Zeit gesucht werde, und zwar gerade von den
unbedeutendsten Gestalten, bei denen dennoch gemeinsam mit der
Befriedigung auch die Erinnerung an die Freude absterbe.
[57] Gut folgerte er auch, dass dieses den Knaben, den schwachen Frauen, den
Sklaven und den Freien, die den Sklaven sehr hnlich sind, willkommen sei; von
einem ernsten Menschen aber und einem solchen, der das, was geschieht,
nach sicherem Urteilsvermgen erwgt, knne es in keiner Weise gebilligt
werden. Indessen erkenne ich, dass sich in unserem Staat bereits in der guten
alten Zeit eingebrgert hat, dass Glanz im Amt des dils von den besten
Mnnern gefordert wird. Und so versah P. Crassus, der den Beinamen der
Reiche trug und reich an Vermgen war, das Amt des dils in
herausragendster Weise, und ein wenig spter verrichtete L. Crassus mit Q.
Mucius, dem mavollsten aller Menschen, die prachtvollste dilitt, danach C.
Claudius, der Sohn des Appius, viele spter, die Luculler, Hortensius, Silanus;
alle Vorgnger aber hat P. Lentulus unter meinem Konsulat bertroffen; ihn
ahmte Scaurus nach; am prchtigsten aber waren die Spiele unseres Pompeius
in seinem zweiten Konsulat; was ich von all diesem halte, siehst du.
[58] Dennoch ist der Verdacht der Habgier zu meiden. Mamercus, einem sehr
reichen Mann, brachte die Unterlassung der Bewerbung um die dilitt eine
Niederlage bei der Bewerbung um das Konsulat ein. Daher mssen es, wenn es
vom Volk gefordert wird, die guten Mnner tun, wenn auch nicht auf ihren
Wunsch hin, aber so doch wenigstens billigend, eben entsprechend ihrer
Geldmittel, wie wir es selbst getan haben, und auch, wenn einmal etwas
Greres und Ntzlicheres durch eine Spende an das Volk erstrebt wird, wie
neulich dem Orest das Frhstck auf der Strae unter dem Namen des Zehnten
groe Ehre bescherte. Nicht einmal dem M. Seius wurde es als Fehler
angerechnet, dass er bei der Teuerung den Scheffel Getreide fr ein As dem
Volk gab; denn von groer und altgewohnter Missliebigkeit befreite er sich
durch eine nicht schimpfliche, da er ja dil war, und nicht sehr groe Ausgabe.
Aber hchste Ehre brachte es neulich unserem Milo ein, dass er, nachdem er
Gladiatoren um des Staates willen gekauft hatte, dessen Wohl von meiner
Rettung abhing, alle Versuche und Verblendungen des P. Clodius unterdrckte.
Es gibt also einen Grund fr eine Spende, wenn es entweder notwendig oder
ntzlich ist.
[59] Bei diesen Spenden aber ist der Grundsatz des Mahaltens am besten. L.
Philippus, der Sohn des Quintus, ein Mann von groer Begabung und
besonders berhmt, pflegte sich zu brsten, er habe ohne jede Gabe alles
erreicht, was fr sehr bedeutend gehalten werde. Dasselbe sagten Cotta und
Curio. Auch uns ist es mglich, in diesem Punkt in gewisser Weise zu prahlen;
denn im Verhltnis zu der Gre der mter, die wir bei allen Abstimmungen im
gesetzlich festgelegten Mindestalter erlangt haben, was niemandem von denen
gelungen ist, die ich eben genannt habe, war der Aufwand fr die dilitt
durchaus gering.
[60] Und auch sind jene Aufwendungen besser, Mauern, Docks, Hfen,
Wasserleitungen und alles, was sich auf den Nutzen fr den Staat bezieht;
gleichwohl ist das angenehmer, was unmittelbar gleichsam in die Hand
gegeben wird; dennoch ist dieses fr die Zukunft erwnschter. Theater,
Sulengnge und neue Tempel tadele ich mit mehr Zurckhaltung wegen
Pompeius, aber die grten Philosophen billigen es nicht, wie auch gerade
dieser Panaetius, dem ich in diesen Bchern viel gefolgt bin, ohne ihn wrtlich
zu bersetzen, und Demetrius aus Phaleron, der Pericles, den ersten Mann in
Griechenland, tadelt, dass er so viel Geld fr jene berhmten Propylen
hinausgeworfen habe. Aber dieser ganze Bereich ist in den Bchern sorgfltig
abgehandelt worden, die ich ber den Staat geschrieben habe. Das ganze
Verfahren solcher Schenkungen also ist an sich verkehrt, zu Zeiten notwendig
und muss gerade dann den Mitteln an- gepasst und durch gesundes Mahalten
gesteuert werden.
dieses im Allgemeinen von unserem Stand gewhnlich getan worden ist, sehen
wir in einer Rede des Crassus ausfhrlich beschrieben. Ich ziehe diese
Gewohnheit gtig zu sein dem groen Aufwand fr Spiele bei weitem vor; diese
private Wohlttigkeit zeichnet wrdevolle und groe Menschen aus, jene ist
typisch gleichsam fr Schmeichler des Volkes, die die wankelmtige Menge
durch Lust sozusagen kitzeln.
[64] Es wird sich aber schicken, im Geben mildttig zu sein und auch beim
Eintreiben nicht hart und beim Abschluss eines jeden Geschftes, beim
Verkaufen und Kaufen, beim Mieten und Vermieten, in Nachbarschafts- und
Grenzverhltnissen gerecht und umgnglich, vielen vieles von seinem eigenen
Recht abtretend, vor Streitigkeiten aber zurckschreckend, soweit es mglich
ist und vielleicht sogar ein wenig mehr als mglich. Es ist nmlich nicht nur
anstndig, manchmal ein wenig auf sein Recht zu verzichten, sondern zuweilen
auch ntzlich. Es muss aber auf das Vermgen Rcksicht genommen werden,
das verfallen zu lassen schndlich ist, aber so, dass der Verdacht auf
Knauserigkeit und Habgier fern liegt. Denn grozgig sein zu knnen, ohne sich
seines Vermgens zu berauben, ist ohne Zweifel der grte Vorteil des Geldes.
Zu Recht ist die Gastfreundlichkeit auch von Theophrast gelobt worden. Denn
es macht, wie ich glaube, einen sehr guten Eindruck, wenn die Huser
berhmter Menschen fr berhmte Gastfreunde offen stehen, und auch fr
den Staat bedeutet es eine Auszeichnung, wenn Menschen aus dem Ausland
diese Art der Freigebigkeit in unserer Stadt nicht vermissen. Aber es ist sehr
ntzlich fr diejenigen, die mit rechtlichen Mitteln Bedeutung gewinnen
wollen, durch Gastfreunde bei fremden Vlkern mittels Vermgen und
Beliebtheit Einfluss zu haben. Theophrast schreibt, Ci- mon sei in Athen sogar
gegenber den Laciaden, den Angehrigen seines Demos, gastfreundlich
[67] Die Gelegenheit wrde mich locken, auch an dieser Stelle die zeitweise
Unterbrechung der Beredsamkeit, um nicht zu sagen ihren Untergang zu
beweinen, wenn ich nicht frchtete, den Eindruck zu erwecken, ich stimmte
ber mich selbst die Klage an. Aber dennoch sehen wir, welche Redner
gestorben sind, auf wie wenigen die Hoffnung ruht, wie viel we- niger noch
ber die Redegabe verfgen, wie viele Vermessenheit an den Tag legen. Aber
obwohl nicht alle, nicht einmal viele, rechtskundig oder beredt sein knnen, ist
es dennoch mglich, wenigstens durch eigene Mhe vielen zu nutzen, indem
man Wohltaten fr sie erbittet, sie Rich- tern und Beamten empfiehlt, fr die
Sache eines anderen wachsam ist und eben die bittet, die entweder um Rat
gefragt werden oder verteidigen; diejenigen, die dieses tun, erlangen sehr viel
Dankbarkeit, und ihre Ttigkeit greift sehr weit um sich.
[68] Ferner brauchen sie nicht daran erinnert zu werden - denn es liegt auf der
Hand -, dass sie achtgeben sollen, wenn sie anderen helfen wollen, niemanden
vor den Kopf zu stoen. Oft nmlich verletzen sie diejenigen, die sie nicht
verletzen drfen, oder die, die zu verletzen nicht frderlich ist; wenn sie es aus
Versehen tun, ist es ein Zeichen von Nachlssigkeit, wenn wissentlich, zeugt es
von Leichtfertigkeit. Auch muss man sich gegenber denjenigen entschuldigen,
die man wider Willen krnkt, auf jede mgliche Weise, weshalb das, was man
getan hat, notwendig gewesen ist und man es anders nicht htte tun knnen;
und durch Dienste und pflichtgeme Handlungen wird das auszugleichen sein,
worin man jemanden verletzt zu haben scheint.
[69] Aber da man bei der Untersttzung von Menschen entweder auf ihren
Charakter oder auf ihre Lage zu sehen gewohnt ist, ist es leicht zu sagen - und
so reden sie im Allgemeinen -, dass sie sich, wenn Wohltaten erwiesen werden
sollen, an den Charakter der Menschen, nicht an ihre Lage halten. Eine
schnklingende Rede ist das, aber wen gibt es schlielich, der beim Erweis
eines Dienstes nicht den Dank eines Reichen und Mchtigen der Sache eines
armen Mannes, auch wenn er der beste ist, vorzieht? Denn demjenigen ist
unser Wille in der Regel eher zugetan, von dem offenbar eine raschere und
schnellere Erwiderung kommt. Aber man muss sorgfltiger beachten, was das
Wesen der Dinge ist. Ohne Zweifel nmlich kann jener Arme, falls er ein guter
Mann ist, auch wenn er keinen Dank abstatten kann, gewiss dankbar sein.
Treffend aber hat gesprochen, wer auch immer gesagt hat: Wer Geld habe,
habe es nicht zurckgegeben, wer es zurckgegeben habe, habe es nicht; wer
dagegen Dank abgestattet habe, sei dankbar, und wer dankbar sei, habe auch
Dank abgestattet. Aber diejenigen, die sich fr reich, angesehen und glcklich
halten, wollen nicht einmal durch eine Wohltat verpflichtet werden; ja sogar
glauben sie, eine Wohltat erwiesen zu haben, obwohl sie selbst eine auch noch
so groe angenommen haben, und sie mutmaen, dass auch von ihnen etwas
gefordert oder erwartet wird; aber Schutz gebraucht zu haben oder als Klienten
bezeichnet zu werden gilt ihnen als der Tod.
[70] Aber da jener Geringe glaubt, dass man, was auch immer getan worden
sei, auf ihn gesehen habe, nicht auf seine Lage, bemht er sich, nicht nur
gegenber jenem, der sich um ihn verdient gemacht hat, sondern auch
gegenber jenen, von denen er etwas erwartet - denn er bedarf vieler -,
dankbar zu erscheinen, andererseits aber vermehrt er seine Leistung, falls er
vielleicht eine erbringt, nicht durch Worte, sondern schwcht sie sogar ab. Man
muss die Tatsache bercksichtigen, dass, wenn man einen wohlhabenden und
begterten Mann verteidigt, in diesem allein oder gnstigen Falles in seinen
Kindern der Dank fortbesteht; wenn man aber einen armen, aber gleichwohl
rechtschaffenen und mavollen Menschen verteidigt, sehen alle Geringen, die
nicht unredlich sind und von denen es eine groe Zahl im Volk gibt, dass ihnen
Hilfe verschafft worden ist.
[71] Deshalb glaube ich, dass es besser ist, guten Menschen eine Wohltat zu
erweisen als begterten. Wir mssen uns beraus Mhe geben, dass wir
imstande sind, jeder Art von Menschen Genge zu tun, aber wenn es zur
Entscheidung kommt, muss natrlich Themistocles als Gewhrsmann
hinzugezogen werden, der, als er befragt wurde, ob er seine Tochter mit einem
guten, aber armen Mann oder mit einem weniger ehrbaren, aber reichen
verheirate, sagte: Ich mchte lieber den Mann, der Geld ntig hat, als das
Geld, das den Mann ntig hat. Aber gute Sitten sind durch die Bewunderung
des Reichtums verdorben und verunstaltet worden; was aber geht dessen
Gre jeden Einzelnen von uns an? Vielleicht hilft er jenem, der ihn hat; nicht
einmal dieses trifft immer zu; aber setze den Fall, er hilft; mag es auch jemand
sein, der mehr ausgeben kann, wieso aber ist er ehrbarer? Wenn er nun auch
ein guter Mann ist, so soll sein Reichtum nicht verhindern, dass ihm geholfen
wird, wenn nur der Reich- tum selbst nicht hilft, und die Entscheidung soll ganz
davon abhngen, nicht wie reich jeder ist, sondern welchen Charakter er hat.
Die letzte Weisung aber, wenn Wohltaten und Hilfe zu erweisen sind, besteht
darin, dass man sich nicht wider die Gerechtigkeit bemht, nicht zugunsten des
Unrechts; denn die Grundlage einer bestndigen Anerkennung und eines eben
solchen Rufes ist die Gerechtigkeit, ohne die nichts lblich sein kann.
72-74 Wohlttigkeit bei steter Rcksicht auf das Wohl des Einzelnen
[72] Aber da ja ber die Art von Wohltaten gesprochen worden ist, die auf
einzelne zielen, mssen nun folgerichtig diejenigen errtert werden, die sich
auf alle und auf den Staat beziehen. Ein Teil dieser Wohltaten aber ist von der
Art, dass er sich auf alle Brger bezieht, der andere Teil ist so, dass er einzelne
mitbetrifft; dieser wird um so dankbarer empfunden. Mhe muss man
durchaus auf beide verwenden, falls es mglich ist, aber ebenso auch darauf,
dass fr einzelne gesorgt wird, allerdings nur insoweit, dass dieses dem Staat
entweder ntzt oder wenigstens nicht schadet. Gro war die Getreidespende
des C. Gracchus, sie erschpfte also die Staatskasse; mig war die des M.
Octavius, ertrglich fr den Staat und notwendig fr das Volk, also sowohl fr
die Brger als auch fr den Staat ntzlich.
[73] Vor allem aber wird derjenige, der den Staat lenken wird, darauf achten
mssen, dass jeder das Seine behlt und nicht durch staatlichen Eingriff eine
Verringerung des Privatvermgens eintritt. Denn staatsgefhrdend handelte
Philippus whrend seines Tribunates, als er das A- ckergesetz einbrachte,
dessen Verwerfung er dennoch gelassen ertrug, wobei er sich sehr gemigt
zeigte; aber bei seiner Ansprache an das Volk sagte er vieles demagogisch,
jenes aber auf ble Weise: Im Staat seien nicht zweitausend Menschen, die
Eigentum htten. Eine verderb- liche Rede ist es, da sie auf Gterausgleich
zielt: Welches Unheil kann grer sein als dieses? Besonders nmlich aus dem
Grunde, dass Eigentum erhalten wird, wurden Staatsverfassungen und Staaten
ge- schaffen. Denn auch wenn sich die Menschen unter Fhrung der Natur
sammelten, suchten sie dennoch in der Hoffnung auf Bewahrung ihres Eigentums den Schutz der Stdte.
[74] Man muss auch darauf sehen, dass nicht, was bei unseren Vorfahren
wegen der Armut der Staatskasse und der Fortdauer der Kriege oft geschah,
eine Abgabe aufgebracht werden muss, und damit dieses nicht passiert, dafr
wird man viel frher zu sorgen haben. Wenn aber irgendeine Notwendigkeit
dieser Leistung auf einen Staat zukommt - ich will nmlich lieber einem
fremden Staat weissagen als unserem, und brigens errtere ich nicht unseren,
sondern jeden Staat -, wird man sich Mhe geben mssen, damit alle erkennen,
dass der Notwendigkeit zu gehorchen ist, falls sie mit dem Leben
davonkommen wollen. Und auch alle Staatslenker werden dafr zu sorgen
haben, dass eine Flle von Dingen da ist, die fr den Lebensunterhalt
notwendig sind. Wie die Beschaffung dieser Mittel gewhnlich erfolgt und
erfolgen muss, braucht man nicht zu errtern; denn es liegt auf der Hand; nur
durfte dieser Punkt nicht bergangen werden.
75-77 Der Politiker darf sich nicht bereichern
[75] Der Hauptgrundsatz aber bei jeder Besorgung einer ffentlichen Aufgabe
und eines solchen Amtes lautet, dass auch nur der geringste Verdacht auf
Eigennutz ferngehalten werden soll. Wenn mich doch das Schicksal, sagte der
Samniter C. Pontius, fr jene Zeiten aufbewahrt htte und ich dann geboren
wre, da die Rmer begannen Geschenke an- zunehmen. Ich htte es nicht
zugelassen, dass diese lnger herrschten. Jener htte wahrlich nicht viele
Menschenalter zu warten brauchen: Denn vor kurzem drang dieses bel in
unseren Staat ein. Daher ist es mir recht, dass es Pontius eher damals gegeben
hat, da er so viel Strke besa. Es sind noch keine 110 Jahre vergangen, da von
L. Piso ein Gesetz ber wiederzuerstattende Geldsummen eingebracht worden
ist, nachdem es zuvor keines gegeben hatte. Aber spter waren so viele
Gesetze vor- handen, das nchste immer schrfer als das vorige, so viele
Angeklagte, so viele Verurteilte, gab es einen so erbitterten Krieg in Italien,
ausge- lst wegen der Furcht vor Prozessen, nach Aufhebung der Gesetze und
Gerichte eine solche Ausplnderung und Ausraubung der Bundesge- nossen,
dass wir durch die Schwche anderer, nicht dank unserer eige- nen Kraft Macht
besitzen.
[76] Panaetius lobt Africanus, weil er unei- genntzig gewesen sei. Warum
sollte er ihn nicht loben? Aber jener hat- te noch andere bedeutendere
Eigenschaften. Das Lob der Uneigenntzigkeit gehrt nicht nur dem Menschen,
sondern auch jenen Zeiten. Des ge- samten Schatzes der Macedonen, der sehr
gro war, bemchtigte sich Paulus; so viel Geld brachte er in die Staatskasse,
dass die Beute eines einzigen Feldherrn den Tributen ein Ende bereitete. Aber
dieser nahm nichts mit in sein Haus auer der ewigen Erinnerung an seinen
Namen. Africanus ahmte seinen Vater nach und wurde um nichts reicher nach
der Zerstrung Carthagos. Wie? Derjenige, der sein Kollege im Zensoramt war,
L. Mummius, war er etwa wohlhabender, nachdem er die wohl- habendste
Stadt vllig vernichtet hatte? Er wollte lieber Italien schm- cken als sein Haus;
allerdings scheint mir das Haus selbst mehr ge- schmckt zu sein als das
geschmckte Italien.
[77] Kein Laster also ist abscheulicher - damit die Rede zu dem Punkt
zurckkehrt, von dem sie abgeschweift ist - als die Habgier, zumal bei den
fhrenden Leuten und denen, die den Staat leiten. Denn den Staat als
Erwerbsquelle zu betrachten ist nicht nur schimpflich, sondern auch ein
nichtswrdiges Verbrechen. Daher hat offenbar Apoll in Delphi das Orakel, das
er verkndet hat, nmlich dass Sparta durch nichts anderes als durch Habgier
umkommen werde, nicht nur den Lacedaemoniern, sondern auch allen
wohlhabenden Vlkern prophezeit. Durch nichts aber knnen die Staatslenker
leichter das Wohlwollen der Menge fr sich gewinnen als durch strengste
Uneigenntzigkeit.
78-85 Fehlgeschlagene Reformen unter Antastung des Privatvermgens
[78] Diejenigen aber, die als Volksfreunde gelten wollen und aus diesem
Grunde entweder die Agrarfrage in Angriff nehmen, damit die Besitzer von
Staatsgtern von ihren Wohnsitzen vertrieben werden, oder glauben,
geliehene Gelder mssten den Schuldnern nachgelassen werden, erschttern
die Grundlagen des Staates, zuerst die Eintracht, die es nicht geben kann, wenn
den einen das Geld genommen, den anderen nachgelassen wird, zweitens die
Gerechtigkeit, die gnzlich beseitigt wird, wenn es jemandem nicht mglich ist,
das Seine zu besitzen. Das nmlich zeichnet, wie ich oben gesagt habe, eine
Brgerschaft und eine Stadt aus, dass sie frei ist und ungestrt durch die
Bewahrung des Besitzes eines jeden.
[79] Und bei diesem Untergang des Staates erlangen sie nicht einmal jene
Gunst, die sie zu erlangen glauben. Denn derjenige, dem Besitz entrissen
wurde, ist ein Feind; derjenige, dem er gegeben wurde, tut sogar so, als habe er
ihn nicht annehmen wollen, und verbirgt besonders bei Schulden seine Freude,
um nicht den Eindruck zu erwecken, er sei nicht zahlungsfhig gewesen. Aber
jener, der das Unrecht erlitten hat, erinnert sich daran und zeigt seinen
Schmerz deutlich, und wenn diejenigen, denen zu Unrecht gegeben wurde, in
der Mehrheit sind gegenber jenen, denen zu Unrecht genommen wurde, sind
sie, die Beschenkten, deswegen nicht auch noch mchtiger. Denn dieses wird
nicht nach der Zahl der Menschen bemessen, sondern nach ihrer Bedeutung.
Denn worin liegt die Gerechtigkeit, wenn derjenige, der kein Grundstck hatte,
nun eines besitzt, welches viele Jahre oder sogar Jahrhunderte zuvor in Besitz
genommen worden war, derjenige aber, der eines hatte, es nun verliert?
[80] Und wegen dieser Art des Unrechts vertrieben die Lacedaemonier den
Ephoren Lysander, Knig Agis - was niemals zuvor bei ihnen geschehen war tteten sie, und seit dieser Zeit folgten so groe Zwistigkeiten, dass Tyrannen
auftraten, die Optimaten verjagt wurden und der prchtigst eingerichtete Staat
zerfiel. Aber nicht nur er selbst ging unter, sondern er brachte auch das brige
Griechenland durch Ansteckung mit den beln zu Fall, die, nachdem sie von
den Lacedaemoniern ausgegangen waren, weiter um sich griffen. Was? Haben
unsere Gracchen, die Shne des Tiberius Gracchus, die Enkel des Africanus,
nicht die Kmpfe um eine Bodenreform zugrunde gerichtet?
[81] Aber Aratus aus Sicyon wird zu Recht gelobt, der, als dessen Brgerschaft
fnfzig Jahre von Tyrannen beherrscht wurde, aus Argos nach Sicyon aufbrach
und sich in einem heimlichen Einmarsch der Stadt bemchtigte und, nachdem
er den Tyrannen Nicocles unversehens berwltigt hatte, sechshundert
Verbannte, die die Wohlhabendsten dieser Brgerschaft gewesen waren,
zurckfhrte und den Staat durch seine Ankunft befreite. Aber als er die groe
Schwierigkeit bei den Vermgens- und Besitzverhltnissen erkannte, da er
glaubte, es sei sehr ungerecht, wenn diejenigen, die er selbst zurckgefhrt,
deren Hab und Gut andere in Besitz genommen hatten, Not litten, und er es
auch nicht fr allzu ge- recht hielt, an fnfzig Jahre alte Besitzverhltnisse zu
rhren, deswe- gen weil man in einem so langen Zeitraum vieles durch
Erbschaften, vie- les durch Kufe, vieles durch Mitgift ohne Unrecht besa, kam
er zu der Einsicht, man drfe jenen nichts wegnehmen und msse denjenigen
Genge tun, denen jenes Hab und Gut gehrt hatte;.
[82] Nachdem er also festgestellt hatte, dass Geld ntig sei, um diese
Angelegenheit zu ord- nen, sagte er, er wolle nach Alexandria aufbrechen, und
befahl, die Sa- che bis zu seiner Rckkehr unangetastet zu lassen; schnell kam
er zu Ptolemaeus, seinem Gastfreund, der damals als zweiter Ptolemaeer nach
der Grndung Alexandrias regierte. Als er ihm seine Absicht, das Vaterland zu
befreien, dargelegt und ihn ber den Rechtsfall unterwie- sen hatte, erwirkte
der hchststehende Mann ohne Mhe vom reichen K- nig, dass er mit einer
groen Geldsumme untersttzt wurde. Als er die- se nach Sicyon mitgebracht
hatte, zog er fnfzehn fhrende Mnner zu einer Beratung hinzu, mit denen er
die Rechtsflle untersuchte, die Rechtsflle derer, die fremdes Eigentum
besaen, und derer, die ihren Besitz verloren hatten; er erreichte, indem er den
Wert des Besitzes ab- schtzte, dass er die einen dazu berreden konnte, lieber
Geld annehmen zu wollen, den Besitz aber aufzugeben, die anderen, dass sie es
fr gnstiger hielten, sich den entsprechenden Preis auszahlen zu lassen als ihr
Eigentum wiederzuerlangen. So wurde durchgesetzt, dass alle in festgefgter
Eintracht ohne Klage auseinandergingen.
[83] Welch bedeutender Mann und wrdig, in unserem Staat geboren zu sein!
So ziemt es sich, mit den Brgern zu verfahren, nicht, wie wir es schon zweimal
gesehen haben, die Lanze auf dem Forum aufzupflanzen und das Vermgen der
Brger der Stimme des Ausrufers preiszugeben. Aber jener Grieche glaubte,
das, was die Aufgabe eines weisen und vortrefflichen Mannes gewesen ist, fr
alle sorgen zu mssen, und dieses ist die hchste Maxime und Weisheit eines
guten Brgers, den Besitz der Brger nicht zu vernichten, sondern alle mit
derselben Gleichheit des Rechts zusammenzuhalten. Sie sollen unentgeltlich
bei einem Fremden wohnen. Warum dies? Damit du, whrend ich gekauft und
gebaut habe, in gutem baulichen Zustand erhalte und Geld aufwende, gegen
meinen Willen mein Eigentum geniet? Das heit doch, den einen ihr Eigentum
zu entreien, den anderen fremdes Gut zu geben!
[84] Welchen Zweck aber haben neue Schuldenbcher, auer dass du fr mein
Geld ein Grundstck kaufst, du dieses hast, ich aber kein Geld habe? Deshalb ist
Vorsorge zu treffen, dass es keine Schulden gibt, die dem Staat schaden, was
durch viele Manahmen sichergestellt werden kann, nicht aber so, falls
Schulden vorhanden sind, dass die Wohlhabenden ihren Besitz verlieren, die
Schuldner aber fremdes Eigentum gewin- nen. Denn nichts hlt den Staat
strker zusammen als das Vertrauen, das keines sein kann, wenn die Abzahlung
geliehenen Geldes nicht notwendig sein wird. Dass nicht abgezahlt wurde,
betrieb man niemals energischer als unter meinem Konsulat. Mit einem
bewaffneten Heerlager wurde die Angelegenheit von Menschen jeden Schlags
und Standes in Angriff ge- nommen; diesen habe ich einen solchen Widerstand
geleistet, dass die- ses ganze bel aus dem Staat entfernt wurde. Niemals gab
es grere Schulden, und niemals wurden sie besser und leichter abbezahlt;
denn nachdem die Hoffnung zu betrgen genommen war, folgte der Zwang zur
Zahlung. Aber dieser, der jetzt Sieger ist, damals Besiegter war, fhrte das, was
er ausgedacht hatte, da, wo es wichtig fr ihn war, auch aus, obwohl ihn selbst
nichts mehr daran lag. Eine solche Lust am Bsen hatte er, dass es ihn selbst
freute sich zu vergehen, auch wenn es keinen Grund gab.
[85] Von dieser Art Schenkung also, dass den einen gegeben, den anderen
genommen wird, werden sich diejenigen fernhalten, die den Staat schtzen
werden, und vor allem werden sie sich Mhe geben, dass jeder durch gerechte
Handhabung von Rechtsvorschriften und Gerichtsverfahren seinen Besitz
bewahrt und weder die Minderbemittelten wegen ihres niedrigen Standes
bedrngt werden noch den Wohlhabenden, wenn sie das Ihre bewahren oder
zurckgewinnen wollen, Neid im Wege steht, auer- dem, dass sie mit allen nur
mglichen Mitteln des Krieges oder Friedens den Machtbereich des Staates
erweitern und seine Lndereien und Ein- knfte vergrern. Dieses sind die
Aufgaben bedeutender Menschen; die- ses wurde bei unseren Vorfahren
gewhnlich verrichtet; diejenigen, die diese Arten von Pflichten mit hchstem
Nutzen fr den Staat ausfhren, werden auch persnlich groe Beliebtheit und
Ruhm erlangen.
86-87 Anhang: Wert der Gesundheit und des Geldes
[86] In dieser Lehre ber den Nutzen sind, wie Antipater von Tyros, ein Stoiker,
der neulich in Athen gestorben ist, glaubt, zwei Punkte von Panaetius
bergangen worden, die Sorge um die Gesundheit und das Geld; nach meiner
Meinung hat der sehr bedeutende Philosoph diese Punkte bergangen, weil sie
selbstverstndlich waren; ntzlich sind sie sicherlich. Aber die Gesundheit wird
erhalten durch Kenntnis des eigenen Krpers und durch Beachtung dessen, was
dass der Ruhm dem Reichtum, die Einknfte in der Stadt denen auf dem Lande
vorgezogen werden.
[89] Zu dieser Art von Vergleich gehrt jener Ausspruch des greisen Cato; als er
gefragt wurde, was hinsichtlich des Vermgens am meisten Vorteil einbringe,
antwortete er: Gute Viehzucht treiben; was an zweiter Stelle: Recht gute
Viehzucht treiben; was an dritter: Schlechte Viehzucht treiben; was an
vierter: Ackerbau treiben. Und als jener, der gefragt hatte, gesagt hatte: Wie
steht es mit der Geldausleihe gegen Zinsen?, da entgegnete Cato: Das ist ja
das Gleiche wie einen Menschen tten. Hieraus und aus vielem anderen muss
erkannt werden, dass Vergleiche des Nutzens gewhnlich angestellt werden
und dieser vierte Bereich, die Pflichten zu erforschen, zu Recht hinzugefgt ist.
Den Rest werden wir der Reihe nach darstellen.
Drittes Buch
was gibt es noch nach der Entmachtung des Senates und der Unterdrckung
der Gerichte, das wir, unser wrdig, entweder in der Kurie oder auf dem Forum
tun knnten?
[3] So meiden wir jetzt, whrend wir einst vor aller Welt und vor den Augen der
Brger gelebt haben, den Anblick verruchter Menschen, von denen alles
berstrmt, wir verbergen uns, soweit es mglich ist, und sind oft allein. Aber
weil wir von gebildeten Menschen vernommen haben, dass man nicht nur aus
den beln die geringsten auswhlen, sondern auch aus ihnen selbst aussuchen
soll, falls etwas Gutes darin enthalten sei, deswegen geniee ich einerseits die
Mue, freilich nicht jene, die derjenige genieen msste, der einst den Frieden
fr die Brgerschaft ermglicht hatte, und lasse andererseits nicht zu, dass die
Einsamkeit langweilig ist, die meine Notsituation, nicht mein Wille mir
einbringt.
[4] Indessen erlangte Africanus nach meiner Meinung greren Ruhm. Denn
keine schriftlich niedergelegten Erinnerungszeichen seines Geistes, kein Werk
seiner Mue, keine Frucht seiner Einsamkeit sind erhalten; hieraus muss
erkannt werden, dass jener infolge der Regsamkeit seines Geistes und der
Erforschung der Gegenstnde, ber die er nachdachte, weder mig noch
jemals allein gewesen ist; wir aber, die wir nicht so viel Kraft haben, dass wir
durch geistige Arbeit im Stillen von der Einsamkeit loskommen, richten unseren
ganzen Eifer und unsere Bemhung auf diese schriftstellerische Ttigkeit.
Daher haben wir in kurzer Zeit nach der Zerstrung des Staates mehr
geschrieben als in den vielen Jahren, da er Bestand hatte.
[5] Aber weil die ganze Philosophie, mein Cicero, fruchtbar und ersprielich ist
und kein Teil von ihr de und unfruchtbar, gibt es sodann in ihr kein
ertragreicheres und ergiebigeres Thema als das ber die Pflichten, von denen
zu sagen, wie kein Maler gefunden worden sei, der bei der Venus von Kos den
Teil, den Apelles im Anfangsstadium aufgegeben habe, fertigstelle - denn die
Schnheit ihres Antlitzes nahm die Hoffnung, den restlichen Krper in gleicher
Weise darzustellen -, so habe niemand das, was Panaitios bergangen habe,
wegen der Vortrefflichkeit dessen, was er vollendet habe, zu Ende gefhrt.
11-19a Berechtigung der Frage nach dem Konflikt zwischen Tugend und Nutzen
[11] Daher darf an der Meinung des Panaitios nicht gezweifelt werden; ob er
aber diesen dritten Teil seiner Untersuchung ber die Pflicht zu Recht
angeschlossen hat oder zu Unrecht, darber kann vielleicht disputiert werden.
Denn sei es, dass das Sittlichgute allein ein Gut ist, wie die Stoiker meinen, sei
es, dass das, was sittlich gut ist, in der Weise das hchste Gut ist, wie eure
Peripathetiker glauben, dass nmlich alles, was auf die andere Seite gelegt
worden sei, kaum den geringsten Ausschlag gebe, es darf nicht daran
gezweifelt werden, dass der Nutzen niemals mit dem Sittlichguten in Konflikt
kommen kann. Und so haben wir erfahren, dass Socrates diejenigen zu
verwnschen gewohnt war, die zuerst diesen von Natur aus bestehenden
Zusammenhang in der Vorstellung aufgelst hatten. Ihm stimmten die Stoiker
in der Wiese zu, dass sie meinten, alles, was sittlich gut sei, sei ntzlich und
nichts sei ntzlich, was nicht sittlich gut sei.
[12] Wenn nun Panaitios so wre, dass er sagte, die Tugend msse deswegen
gewahrt werden, weil sie den Nutzen bewirke, wie diejenigen es tun, die
erstrebenswerte Dinge entweder an der Lust oder an dem Freisein von
Schmerz messen, wre es ihm mglich zu sagen, der Nutzen widerspreche
manchmal dem Sittlichguten. Aber weil er so ist, dass er meint, das allein sei
gut, was sittlich gut ist, das Leben aber werde weder durch das Hinzukommen
dessen, was mit einem scheinbaren Nutzen dem Sittlichguten widerstreite,
besser noch durch die Verminderung desselben schlechter, scheint es, er habe
eine solche berlegung nicht vorbringen drfen, bei der das, was ntzlich
erscheint, mit dem, was sittlich gut ist, verglichen wird.
[13] Denn was das hchste Gut von den Stoikern genannt wird, im Einklang mit
der Natur zu leben, das bedeutet, wie ich meine, immer mit der Natur
bereinzustimmen, das brige aber, was der Natur gem ist, dann
auszuwhlen, wenn es der Tugend nicht widerspricht. Obwohl dieses so ist,
glauben manche, dieser Vergleich sei nicht zu Recht angefhrt worden und in
diesem Bereich htte berhaupt nichts vorgeschrieben werden drfen. Und
jenes Sittlichgute, das im eigentlichen Sinn so genannt wird, gibt es allein bei
den Weisen und kann niemals von der Tugend getrennt werden. Bei denjenigen
aber, die keine vollendete Weisheit haben, kann es jenes vollendete
Sittlichgute in keiner Weise geben, wohl aber Annherungen an das
Sittlichgute.
[14] Diese pflichtmigen Handlungen nmlich, ber die wir in diesen Bchern
disputieren, nennen die Stoiker die mittleren; diejenigen gehen alle an und
erstrecken sich weithin, die viele auf Grund ihrer glcklichen Anlage und ihrer
fortschreitenden Besserung erreichen knnen. Jene pflichtmige Handlung
aber, welche sie das Richtige nennen, ist vollendet und, wie dieselben sagen,
ohne Einschrnkung vollkommen und kann nur auf einen Weisen zutreffen.
[15] Wenn aber etwas getan worden ist, bei dem die mittleren pflichtmigen
Handlungen zum Vorschein kommen, scheint dieses deswegen gnzlich
vollkommen zu sein, weil das Volk das, was zur Vollkommenheit fehlt, nur
ausnahmsweise erkennt; sofern es dieses aber erkennt, glaubt es, nichts sei
unterlassen worden. Das Gleiche kommt bei Gedichten, bei Gemlden und
mehreren anderen Werken vor, dass nmlich die Unkundigen sich daran
erfreuen und das loben, was nicht lobenswert ist, aus dem Grunde, wie ich
glaube, weil in diesen Kunstwerken etwas Richtiges enthalten ist, das die
Unwissenden fr sich einnimmt, die zugleich nicht beurteilen knnen, was an
jedem einzelnen Gegenstand fehlerhaft ist. Wenn sie daher von wirklichen
Sachkennern unterwiesen worden sind, lassen sie leicht von ihrer Meinung ab.
Diese pflichtmigen Handlungen also, die wir in diesen Bchern errtern, sind,
wie sie sagen, sozusagen Tugenden zweiten Grades, die nicht nur den Weisen
zu Eigen sind, sondern fr das ganze Menschengeschlecht gelten.
[16] Daher lassen sich von diesen pflichtmigen Handlungen alle bewegen, die
ber eine angeborene Tchtigkeit verfgen. Nicht aber nimmt man sich, wenn
die beiden Decier oder die beiden Scipionen als tapfere Mnner angefhrt oder
wenn Fabricius oder Aristides gerecht genannt werden, an jenen ein Beispiel
fr Tapferkeit oder an diesen ein Beispiel fr Gerechtigkeit wie an einem
Weisen; denn niemand von ihnen war so weise, wie wir einen Weisen
verstanden wissen wollen, und auch diejenigen, die fr weise gehalten und so
genannt wurden, M. Cato und C. Laelius, waren nicht weise, nicht einmal jene
sieben, sondern sie hatten, da sie das mittlere rechte Handeln hufig ausbten,
eine gewisse hnlichkeit mit Weisen und den Anschein derselben.
[17] Daher ist es weder schicklich, wenn das, was wirklich sittlich gut ist, mit
dem angeblich widerstreitenden Nutzen verglichen wird, noch darf das, was wir
gemeinhin das Sittlichgute nennen, was von denjenigen gepflegt wird, die fr
gute Mnner gehalten werden wollen, jemals mit dem Nutzen verglichen
werden, vielmehr mssen wir dieses Sittlichgute, das Gegenstand unseres
Erkennens ist, so bewahren und erhalten wie die Weisen jenes, was im
eigentlichen Sinne und wirklich das Sittlichgute genannt wird; denn sonst kann
der Fortschritt nicht beibehalten werden, falls er auf die Tugend hin erfolgt ist.
Aber dieses habe ich ber diejenigen gesagt, die, da sie die Pflichten bewahren,
als die Guten angesehen werden.
[18] Diejenigen aber, die alles nach Vorteil und Nutzen beurteilen und nicht
wollen, dass das Sittlichgute diese berwiegt, vergleichen gewhnlich in ihren
berlegungen das Sittlichgute mit dem, was sie fr ntzlich halten, gute
Mnner pflegen dieses nicht zu tun. Und so glaube ich, dass Panaitios, als er
sagte, dass Menschen bei diesem Vergleich zu zgern pflegen, eben das
gemeint hat, was er gesagt hat, dass sie es nur zu tun pflegen, nicht aber auch
mssen. Denn es ist nicht nur sehr schmhlich, das, was ntzlich erscheint,
hher zu schtzen als das, was sittlich gut ist, sondern auch diese beiden
untereinander zu vergleichen und hierbei Zweifel zu hegen. Was also ist das,
was manchmal Zweifel zu verursachen pflegt und bedenkenswert erscheint?
Ich glaube, wenn einmal ein Zweifel darber entsteht, von welcher Art das ist,
was erwogen wird.
[19a] Oft nmlich geschieht es durch die Umstnde, dass das, was meistens fr
schndlich gehalten zu werden pflegt, fr nicht schndlich befunden wird. Um
eines Beispiels willen soll etwas angefhrt werden, was weite Geltung hat.
Welches Verbrechen ist grer als nicht nur einen Menschen, sondern sogar
einen befreundeten Menschen zu tten? Hat sich also jemand eines
Verbrechens schuldig gemacht, wenn er einen Tyrannen gettet hat, mochte
dieser auch noch so befreundet mit ihm sein? Dem rmischen Volk jedenfalls
scheint es nicht so zu sein, das von allen glnzenden Taten jene fr die
schnste hlt. Es hat also der Nutzen ber das Sittlichgute gesiegt? Im
Gegenteil, dem Sittlichguten ist der Nutzen gefolgt.
[22] Wie der gesamte Krper geschwcht werden und zugrunde gehen msste,
wenn jedes einzelne Glied folgende Meinung htte, dass es glaubte, es knne
wohlauf sein, wenn es die Lebenskraft des ihm nchsten Gliedes fr sich
gewonnen htte, so wird notwendigerweise die Verbindung der Menschen und
ihre Gemeinschaft zerstrt, wenn jeder einzelne von uns die Vorteile der
anderen an sich reit und wegnimmt, was er jedem um seines persnlichen
Nutzens willen wegnehmen kann. Denn dass jeder lieber fr sich erwerben will,
was zum Bedarf des Lebens gehrt, als fr einen anderen, ist zugestanden
worden, ohne dass die Natur widerspricht; jenes aber duldet die Natur nicht,
dass wir durch Ausplnderung anderer unsere Mittel, unser Vermgen und
unseren Reichtum vermehren.
[23] Aber nicht nur durch die Natur, d.h. durch das Vlkerrecht, sondern auch
durch die Gesetze der Vlker, auf denen in einzelnen Staaten die
Staatsverfassung beruht, ist dieses auf dieselbe Weise bestimmt worden, dass
es nicht erlaubt ist, um des eigenen Vorteils willen einem anderen zu schaden.
Denn danach streben die Gesetze, dieses wollen sie, dass die Vereinigung der
Brger wohlbehalten ist; diejenigen, die diese Vereinigung aufheben, strafen
sie mit Tod, Verbannung, Gefngnis und Geldbue. Und diese Einschrnkung
bewirkt viel strker die natrliche Weltordnung selbst, welche das gttliche
und menschliche Gesetz ist; wer dieser gehorchen will - alle aber werden
gehorchen, die gem der Natur leben wollen -, wird es niemals dazu kommen
lassen, dass er fremdes Eigentum begehrt und das fr sich beansprucht, was er
einem anderen weggenommen hat.
[24] Denn Erhabenheit und Gre der Gesinnung und ebenso Freundlichkeit,
Gerechtigkeit und Freigebigkeit entsprechen viel mehr der Natur als Lust,
Leben und Reichtum; diese Werte zu verachten und gering zu schtzen, wenn
man sie mit dem allgemeinen Nutzen vergleicht, zeugt von einer groen und
derselbe ist; wenn jeder den Nutzen an sich reit, wird sich die ganze
menschliche Gemeinschaft auflsen.
[27] Und wenn sogar die Natur dieses vorschreibt, dass der Mensch fr den
Mitmenschen, wer auch immer es sein mag, gesorgt wissen will, aus eben dem
Grunde, weil dieser ein Mensch ist, muss gem derselben Natur der Nutzen
aller ein gemeinsamer sein. Wenn dieses so ist, stehen wir alle unter ein und
demselben Gesetz der Natur, und wenn eben dieses so ist, werden wir gewiss
durch das Naturgesetz daran gehindert, einen anderen zu verletzen. Der
Vordersatz aber ist wahr, folglich ist es auch der Schlusssatz.
[28] Denn jenes ist absurd, dass einige sagen, sie wrden ihrem Vater oder
ihrem Bruder um ihres Vorteils willen nichts wegnehmen, das Verhltnis zu den
brigen Brgern sei dagegen ein anderes. Diese stellen den Satz auf, sie htten
keine Rechtssatzung, kein Bndnis wegen eines gemeinsamen Nutzens
zusammen mit den Brgern, eine Ansicht, die das gesamte Bndnis der
Brgerschaft auflst. Diejenigen aber, die behaupten, auf Brger msse man
Rcksicht nehmen, nicht hingegen auf Fremde, heben das gemeinsame Bndnis
des Menschengeschlechtes auf; wenn dieses beseitigt ist, werden Gte,
Freigebigkeit, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit von Grund auf beseitigt;
diejenigen, die diese Verhaltensweisen beseitigen, mssen fr ruchlos auch
gegenber den unsterblichen Gttern gehalten werden. Denn die von diesen
unter den Menschen begrndete Gemeinschaft zerstren sie, deren engstes
Band auf der Meinung beruht, es sei mehr gegen die Natur, wenn ein Mensch
einem Menschen um des eigenen Vorteils willen etwas wegnehme als alle
Nachteile uerlicher oder krperlicher Art auf sich nehme, oder sogar des
Geistes < zu erwerben> (vgl. Atzert 1971 z.St.), sofern es dabei an Gerechtigkeit
fehlt. Denn die Gerechtigkeit ist als einzige Tugend die Herrin und Knigin aller
Tugenden.
[29] Vielleicht knnte jemand einwenden: Wrde also nicht ein Weiser, wenn
er selbst durch Hunger erschpft wird, einem anderen Menschen, der fr
nichts ntzlich ist, die Nahrung wegnehmen? [Keineswegs aber: Denn mein
Leben ist fr mich nicht ntzlicher als eine solche Verhaltensdisposition, dass
ich niemanden um eines Vorteils willen verletze.] Ferner, wenn den Phalaris,
einen grausamen und unmenschlichen Tyrannen, ein guter Mann, um selbst
nicht vor Klte umzukommen, seiner Kleidung berauben knnte, wrde er es
nicht tun?
[30] Dieses ist sehr leicht zu beurteilen. Denn wenn du einem Menschen, der in
keiner Beziehung ntzlich ist, nur zu deinem eigenen Nutzen etwas
wegnimmst, wrdest du unmenschlich handeln und damit gegen das
Naturgesetz; wenn du aber so beschaffen bist, dass du dem Staat und der
menschlichen Gemeinschaft, falls du am Leben bleibst, groen Nutzen bringen
kannst, wrdest du, wenn du einem anderen aus diesem Grund etwas
wegnimmst, keinen Tadel verdienen. Wenn aber die Lage nicht derartig ist,
muss jeder seinen Nachteil ertragen statt einem anderen seine Vorteile zu
nehmen. Also sind Krankheit, Armut oder etwas anderes dieser Art genauso
gegen die Natur wie die Wegnahme fremden Besitzes und das Streben nach
ihm, aber die Vernachlssigung des gemeinsamen Nutzens ist gegen die Natur;
sie ist nmlich ungerecht.
[31] Daher wird das Naturgesetz selbst, das den Nutzen der Menschen bewahrt
und festhlt, sicherlich verfgen, dass die lebensnotwendigen Dinge von einem
trgen und unntzen Menschen auf einen weisen, guten und tchtigen Mann
bergehen, dessen Tod dem Gemeinwohl viel entziehen wrde, vorausgesetzt
er handelt so, dass er nicht selbst aus berheblichkeit und Eigenliebe dieses als
Vorwand nimmt, um Unrecht zu tun. Auf diese Weise wird er immer seine
sein. Ganz ebenso gilt: Wenn wir fr das Sittlichgute bestimmt sind und dieses
entweder allein erstrebenswert ist, wie Zenon meint, oder ohne Zweifel fr
unendlich gewichtiger als alles brige gehalten werden muss, was die Ansicht
des Aristoteles ist, dann muss das Sittlichgute entweder das einzige oder das
hchste Gut sein, das aber, was das Gute ist, sicherlich ntzlich, folglich alles
Sittlichgute auch ntzlich.
[36] Daher trennen nicht rechtschaffene Menschen in ihrem Irrtum, sobald sie
etwas, was ihnen ntzlich erscheint, ergriffen haben, dieses unverzglich vom
Sittlichguten. Dieses ist der Ursprung von Meuchelmorden, Vergiftungen,
falschen Testamenten, hierdurch entstehen Diebsthle, Unterschlagungen,
Ausplnderungen und Beraubungen von Bundesgenossen und Brgern, die
Gier nach bermigem Vermgen, nach unertrglicher Macht und schlielich
auch nach Alleinherrschaft in freien Brgerschaften, was das Schndlichste und
Abscheulichste ist, das man sich ausdenken kann. Denn die Vorteile der Dinge
erkennen sie in ihrem getrbten Urteil, die Strafe hingegen nicht, ich meine
nicht die der Gesetze, die sie oft mit Fen treten, sondern die der
Unsittlichkeit selbst, die am hrtesten ist.
[37a] Deswegen sollen Zweifler dieser Art fortgejagt werden - sie sind nmlich
alle verbrecherisch und ruchlos -, diejenigen, die berlegen, ob sie dem folgen
sollen, was nach ihrer Erkenntnis sittlich gut ist, oder sich wissentlich mit einer
Untat beflecken sollen; denn schon im bloen Zweifel liegt eine Untat, auch
wenn sie nicht zu ihrer Ausfhrung gekommen sind. Also darf das gar nicht
berlegt werden, bei dem die berlegung an sich schon schndlich ist.
37b-39 Das Bse ist grundstzlich zu meiden
[37b] Und auch die eitle Hoffnung zu verheimlichen und zu verbergen ist von
jeder berlegung fernzuhalten; denn wir mssen, wenn wir nur irgendeinen
Fortschritt in der Philosophie gemacht haben, vllig berzeugt sein, dass wir,
auch wenn wir es vor allen Gttern und Menschen verheimlichen knnten,
dennoch nichts habgierig, nichts ungerecht, nichts ausschweifend, nichts
unmig verrichten drfen.
[38] Aus diesem Grunde wird jener bekannte Gyges von Platon eingefhrt, der,
als die Erde sich infolge einiger Wolkenbrche gespalten hatte, in jenen Spalt
hinabstieg und ein ehernes Pferd, wie Sagen berichten, bemerkte, in dessen
Flanken sich Tren befanden; als er diese geffnet hatte, erblickte er den
Krper eines toten Menschen von noch nie gesehener Gre und einen
goldenen Ring an seinem Finger; sobald er ihn abgezogen hatte, steckte er ihn
sich selbst an (er war aber ein kniglicher Hirte), dann begab er sich in die
Versammlung der Hirten. Sooft er dort den Stein dieses Ringes zu seiner
Handflche hin umgedreht hatte, wurde er von niemandem gesehen, er selbst
aber sah alles; umgekehrt wurde er wieder gesehen, wenn er den Ring an den
richtigen Platz gedreht hatte. Daher machte er sich den Vorteil zu Nutze, den
der Ring bot, schndete die Knigin und beseitigte mit ihrer Hilfe seinen
kniglichen Herrn, er rumte diejenigen aus dem Wege, die ihm seiner
Meinung nach hinderlich waren, ohne dass ihn jemand bei diesem
verbrecherischen Treiben htte sehen knnen. So trat er pltzlich durch den
Vorteil eines Ringes als Knig ber Lydien auf. Wenn also ein Weiser genau
diesen Ring htte, drfte er genauso wenig glauben, dass ihm ein Vergehen
erlaubt sei, wie wenn er ihn nicht htte; sittlich Gutes nmlich erstreben gute
Mnner, nicht Verborgenes.
[39] Und an dieser Stelle sagen einige Philosophen, jene keinesfalls schlechten,
aber nicht hinreichend scharfsinnigen, die von Platon vorgebrachte Geschichte
sei nur erfunden und erlogen, als ob jener tatschlich behaupten wrde, dieses
sei entweder geschehen oder htte geschehen knnen. Folgendes ist die
Bedeutung dieses Rings und dieses Beispiels: Falls niemand wissen, niemand
nicht einmal ahnen wird, sobald du etwas um des Reichtums, der Macht, der
Alleinherrschaft und der Begierde willen tust, falls dieses Gttern und
Menschen immer unbekannt sein wird, ob du es dann tun wirst. Sie sagen,
dieses knne nicht geschehen. Keineswegs kann dieses geschehen, aber ich
frage, was sie tun wrden, wenn das, von dem sie sagen, es knne nicht
geschehen, sich zutragen knnte. Sie bleiben hartnckig dabei. Sie behaupten
nmlich, es knne nicht geschehen, und beharren auf diesem Standpunkt; was
dieses Wort "knnen" bedeutet, begreifen sie nicht. Denn wenn wir fragen,
was sie tun wrden, wenn sie es verheimlichen knnten, fragen wir nicht, ob
sie es verheimlichen knnten, sondern wir wenden gleichsam einige
Zwangsmittel an, damit sie, falls sie antworten, sie wrden unter Gewhrung
von Straffreiheit tun, was ntzt, eingestehen, dass sie Verbrecher sind, und
einrumen, falls sie nein sagen, dass alles Schndliche um seiner selbst willen
gemieden werden muss. Aber wir wollen nun zum Thema zurckkehren.
40-95 Scheinbar Ntzliches ohne Verletzung der Sittlichkeit
40-42 Gemeinwohl im Streit mit Pflichten gegen Einzelmenschen
[40] Oft ereignen sich viele Flle, welche die Menschen durch einen
scheinbaren Nutzen verwirren, nicht weil die Frage bedacht wird, ob das
Sittlichgute wegen der Gre des Nutzens geopfert werden muss - denn dieses
wre auf jeden Fall schlecht -, sondern jene, ob das, was ntzlich erscheint,
ohne Schndlichkeit getan werden kann. Als Brutus seinem Kollegen Collatinus
die Amtsgewalt entzog, konnte es scheinen, als tue er dieses zu Unrecht; denn
bei der Vertreibung der Knige beteiligte er sich an den Plnen des Brutus und
untersttzte sie. Als aber der Senat den Plan gefasst hatte, die Blutsverwandten
des Superbus, den Namen der Tarquinier und die Erinnerung an die Monarchie
beseitigen zu mssen, war das, was ntzlich war, nmlich fr das Vaterland zu
sorgen, so ehrenhaft, dass es sogar die Zustimmung selbst des Collatinus finden
musste. Und so hatte der Nutzen wegen des Sittlichguten Gewicht, ohne das es
auch den Nutzen nicht htte geben knnen.
[41] Aber bei dem Knig, der die Stadt gegrndet hat, verhielt es sich nicht so.
Denn scheinbarer Nutzen beeinflusste seine Gedanken; weil es ihm ntzlicher
erschien, allein als mit einem anderen zu herrschen, ttete er seinen Bruder. Er
lie Bruderliebe und Menschlichkeit auer Acht, um das, was ntzlich erschien,
aber nicht war, erlangen zu knnen, und dennoch schtzte er die Mauer als
Grund vor, um den Schein von Ehrenhaftigkeit zu erwecken, was weder gut
noch sonderlich geschickt war. Er hat sich also vergangen, mit seiner
Zustimmung mchte ich dieses sagen, ob er nun Quirinus oder Romulus ist.
[42] Dennoch drfen wir unsere Vorteile nicht aufgeben und anderen
berlassen, da wir sie selbst ntig haben, sondern man muss jedem
persnlichen Nutzen dienen, soweit dieses ohne Unrecht an einem
Mitmenschen geschehen kann. Geistreich sagte Chrysippus wie vieles sonst:
'Wer in der Rennbahn um die Wette luft, muss sich anstrengen und bemhen,
so sehr er kann, um zu siegen, aber demjenigen ein Bein stellen, mit dem er
streitet, oder ihn mit der Hand aus der Bahn werfen darf er in keiner Weise;
daher ist es nicht ungerecht, wenn jeder im Leben fr sich erstrebt, was dem
Nutzen dient, einem anderen aber etwas zu entreien ist ein Unrecht.'
43-46a Pflicht im Konflikt mit Freundschaft
[43] Am meisten aber werden die Begriffe von Pflicht bei Freunden in
Unordnung gebracht, denen nicht zuzugestehen, wozu man in rechter Weise
imstande ist, und zuzugestehen, was nicht rechtens ist, gegen die Pflicht
verstt. Aber die Vorschrift ber diesen ganzen Bereich ist kurz und nicht
schwierig. Was nmlich ntzlich erscheint, Ehren, Reichtum, Freuden und
anderes derselben Art, das darf niemals der Freundschaft vorgezogen werden.
Aber weder gegen den Staat noch gegen einen Treueid wird ein
rechtschaffener Mann um eines Freundes willen handeln, auch dann nicht,
wenn er Richter ber seinen eigenen Freund sein wird; er legt nmlich die Rolle
des Freundes ab, wenn er die Rolle des Richters anlegt. Nur so weit wird er der
Freundschaft Rechnung tragen, dass er es lieber sieht, wenn es die Sache des
Freundes ist, die mit der Wahrheit bereinstimmt, dass er, solange es durch
das Gesetz mglich ist, dem Freund die Zeit fr den Vortrag seines Falles
gnstig einrichtet.
[44] Wenn aber unter Eid das Urteil verkndet werden muss, soll er daran
denken, dass er Gott als Zeugen hinzuzieht, d.h., wie ich glaube, seinen Geist,
das Gttlichste, das Gott selbst dem Menschen gegeben hat. Daher haben wir
von unseren Vorfahren die vortreffliche Gewohnheit bernommen, wenn wir
uns nur an sie halten wrden, den Richter um das zu bitten, was er guten
Gewissens tun knne. Diese Forderung bezieht sich auf das, was, wie ich kurz
zuvor gesagt habe, einem Freund vom Richter auf ehrenhafte Weise
eingerumt werden kann. Denn wenn alles getan werden msste, was Freunde
wollen, drften Freundschaften nicht fr solche gehalten werden, sondern fr
Verschwrungen.
[45] Ich spreche aber ber gewhnliche Freundschaften; denn bei weisen und
vollkommenen Mnnern kann es solches nicht geben. Man erzhlt, die
Pythagorer Damon und Phintias seien untereinander so gesinnt gewesen,
dass, als der Tyrann Dionysius dem einen von ihnen den Tag der Hinrichtung
bestimmt und der, welcher dem Tod geweiht war, einige Tage fr sich
gefordert hatte, um das Seine dem Schutz von Freunden zu empfehlen, der
andere zum Brgen dafr gemacht worden sei, dass er ihn vor Gericht
erscheinen lasse, unter der Bedingung, selbst sterben zu mssen, falls jener
aufbrachte als jemals unter glcklichen Umstnden; es gab kein Anzeichen von
Furcht, keine Erwhnung des Friedens. So gro ist die Macht des Sittlichguten,
dass sie den scheinbaren Nutzen in den Schatten stellt.
[48] Als die Athener dem Angriff der Perser auf keine Weise standzuhalten
vermochten und beschlossen, die Schiffe zu besteigen, nachdem sie die Stadt
aufgegeben und Frauen und Kinder in Troezen in Sicherheit gebracht htten,
und die Freiheit Griechenlands mit der Flotte zu verteidigen, berschtteten sie
einen gewissen Cyrsilus mit Steinen, da er ihnen riet, in der Stadt zu bleiben
und Xerxes aufzunehmen. Und doch schien jener dem Nutzen zu folgen, aber
es war keiner, da die Sittlichkeit dem widerstrebte.
[49a] Themistocles sagte nach seinem Sieg in dem Krieg, der gegen die Perser
gefhrt wurde, in der Volksversammlung, er habe einen fr den Staat
vorteilhaften Plan, aber es sei nicht zweckmig, dass dieser allgemein bekannt
werde; er forderte, das Volk solle jemanden nennen, mit dem er sich
besprechen knne; Aristides wurde genannt. Diesem sagte jener, die Flotte der
Spartaner, die bei Gytheus an Land gezogen worden sei, knne heimlich
angezndet werden, wodurch die Macht der Lacedaemonier notwendigerweise
gebrochen werde. Als Aristides dieses gehrt hatte, kam er unter groer
Erwartung in die Volksversammlung und sagte, der Plan, den Themistocles
vorlege, sei zwar sehr ntzlich, aber keineswegs sittlich gut. Daher glaubten die
Athener, weil er nicht sittlich gut sei, sei er auch nicht ntzlich, und sie wiesen
auf Aristides' Veranlassung das ganze Unterfangen zurck, das sie nicht einmal
gehrt hatten. Diese fassten einen besseren Entschluss als wir, die wir
abgabenfreie Piraten, aber steuerpflichtige Bundesgenossen haben.
Hinterhalt tun und, da er ja verkaufe, auch mglichst gut verkaufen wollen. "Ich
habe meine Ladung herangebracht und zum Verkauf angeboten, ich verkaufe
sie nicht teurer als die brigen, vielleicht sogar billiger, wenn mein Vorrat
grer ist; wem geschieht da ein Unrecht?"
[52] Auf der anderen Seite erhebt sich die Argumentation Antipaters: "Was
sagst du da? Whrend du fr die Menschen Sorge tragen und der menschlichen
Gemeinschaft dienen musst sowie unter einem solchen Gesetz geboren bist
und ber derartige Prinzipien der Natur verfgst, denen du gehorchen musst,
dass dein Nutzen zugleich der Nutzen der Gemeinschaft ist und umgekehrt der
Nutzen der Gemeinschaft auch deiner, willst du den Menschen verheimlichen,
welcher Vorteil und welche Menge ihnen zur Verfgung steht?" Diogenes wird
vielleicht so antworten: "Etwas anderes bedeutet es zu verheimlichen, etwas
anderes zu schweigen, und nicht verheimliche ich dir jetzt etwas, wenn ich dir
nicht sage, was das Wesen der Gtter, was das hchste Gut ist, ein Wissen, das
dir mehr nutzen wrde, wenn es dir bekannt wre, als der geringe Preis des
Getreides. Aber nicht alles, was fr dich zu hren ntzlich ist, brauche ich dir zu
sagen."
[53] "Aber ja", wird jener sagen, "ich muss es, wenn du dich daran erinnerst,
dass unter den Menschen durch die Natur eine Verbindung geknpft ist." "Ich
erinnere mich", wird jener sagen, "aber ist diese Verbindung etwa so, dass
nichts Privateigentum ist? Wenn dieses so ist, darf auch nichts verkauft,
sondern muss alles verschenkt werden."
53b-60 Keine Lge oder Tuschung bei Verkufen!
[53b] Du siehst, dass bei diesem ganzen Meinungsaustausch nicht gesagt wird
"Auch wenn dieses schndlich ist, will ich es dennoch tun, da es ntzt", sondern
es sei ntzlich, ohne allerdings schndlich zu sein, dass auf der anderen Seite
aber gesagt wird, es drfe deswegen nicht getan werden, weil es schndlich sei.
[54] Stelle dir vor, es verkauft ein rechtschaffener Mann sein Haus wegen
irgendwelcher Mngel, die er selbst kennt, die anderen aber nicht; das Haus ist
verseucht, gilt aber als gesundheitsfrdernd; man wei nicht, dass in allen
Zimmern Schlangen zu sehen sind; es ist aus schlechtem Bauholz hergestellt
und baufllig, aber auer dem Besitzer wei dieses niemand; ich frage, wenn
dieses der Verkufer den Kufern nicht sagen, sondern er das Haus viel teurer
verkaufen sollte als er meint, es verkaufen zu knnen, ob es widerrechtlich
oder doch wenigstens unredlich ist, wenn er dieses getan hat. "Jener wrde in
der Tat so handeln", sagt Antipater. "Denn was anderes bedeutet es, einem,
der sich verirrt, den Weg nicht zu zeigen, was in Athen unter ffentlichen
Verfluchungen verboten worden ist, wenn nicht dasselbe wie zuzulassen, dass
der Kufer ins Verderben strzt und aus Irrtum einem sehr groen Schaden
erliegt. Es bedeutet sogar mehr als den Weg nicht zu zeigen, denn es meint
wissentlich einen anderen in die Irre zu fhren."
[55] Diogenes entgegnet: "Hat dich etwa zu kaufen gezwungen, wer dich nicht
einmal dazu ermuntert hat? Jener hat ffentlich angeboten, was ihm nicht
gefiel, du hast gekauft, was dir gefiel. Wenn man nun nicht glaubt, dass
diejenigen, die ein gutes und richtig gebautes Haus ffentlich anbieten, einen
Betrug begangen haben, auch wenn jenes Haus weder gut noch ordentlich
erbaut ist, wie viel weniger nimmt man es von denjenigen an, die das Haus
nicht gelobt haben. Wie nmlich kann dort, wo es die eigene Urteilsbildung des
Kufers gibt, ein Betrug des Verkufers vorhanden sein? Wenn also nicht alles,
was gesagt ist, erfllt werden muss, ist dann deiner Meinung nach das zu
erfllen, was nicht gesagt worden ist? Was aber ist trichter als dass ein
Verkufer die Fehler des Gegenstandes erwhnt, den er verkauft? Was aber ist
so absurd, wie wenn auf Befehl des Besitzers ein Ausrufer folgendermaen
anbietet: 'Ein verseuchtes Haus verkaufe ich'?"
[56] So nmlich wird in etlichen ungewissen Fllen einerseits das Sittlichgute
verteidigt, andererseits so ber den Nutzen gesprochen, dass das, was ntzlich
erscheint, nicht nur zu tun zulssig ist, sondern es sogar unzulssig ist, wenn
man es nicht tut. Dieses ist jener Widerstreit des Ntzlichen mit dem
Sittlichguten, der oft zu entstehen scheint. Diese Flle mssen entschieden
werden; denn nicht um nur Streitfragen aufzuwerfen, haben wir dieses
dargestellt, sondern um deren Lsung zu entfalten.
[57] Es scheint also, dass weder jener Getreidehndler die Rhodier noch dieser
Hausverkufer die Kufer htte in Unkenntnis lassen drfen. Denn
verheimlichen bedeutet nicht etwas zu verschweigen, von welcher Art auch
immer es ist, wohl aber, wenn du willst, dass das, was du weit, um deines
Vorteils willen diejenigen nicht wissen, fr die es wichtig wre, dass sie es
wissen. Wer aber erkennt nicht die Beschaffenheit dieser Art von
Verheimlichung und zu welchen Menschen sie gehrt? Sicherlich nicht zu
einem offenen, nicht zu einem ehrlichen, nicht zu einem aufrichtigen, nicht zu
einem gerechten, nicht zu einem guten Mann, eher zu einem verschlagenen,
verschlossenen,
listigen,
hinterhltigen,
boshaften,
heimtckischen,
Landgut kaufen, wohin er seine Freunde einladen und wo er sich ohne strende
Besucher erheitern knne. Als dieses bekannt geworden war, sagte ihm ein
gewisser Pythius, der in Syracus ein Bankhaus hatte, er habe zwar keinen Park
zu verkaufen, aber es sei Canius erlaubt, wenn er wolle, diesen wie seinen
eigenen zu benutzen, und zugleich lud er ihn fr den nchsten Tag zu einem
Essen in seinen Park ein. Nachdem jener zugesagt hatte, rief Pythius, der als
Bankier bei allen Stnden beliebt war, Fischer zu sich und bat sie, vor seinem
Park am folgenden Tag zu fischen. Und er sagte, was sie tun sollten. Pnktlich
kam Canius zum Essen; prchtig wurde von Pythius das Gastmahl vorbereitet,
vor seinen Augen lag eine Vielzahl von Khnen, nach seinen Krften brachte
jeder herbei, was er gefangen hatte; vor die Fe des Pythius wurden die
Fische geworfen.
[59] Da sagte Canius: "Um Himmels willen! Was bedeutet das, Pythius? So viele
Fische? So viele Khne?" Und jener sprach: "Was Wunder? An diesem Ort fngt
man alle Fische, die es in Syracus gibt, ohne dieses Landgut knnen diese da
nicht sein." Zuerst machte jener Schwierigkeiten. Wozu viele Worte? Canius
setzte sein Ansinnen durch. Der versessene und wohlhabende Mann kaufte den
Park fr so viel Geld, wie Pythius es wollte, und zwar mit allem Zubehr. Er lie
die Schuldposten eintragen, er schloss das Geschft ab. Canius lud tags darauf
seine Freunde ein, er selbst kam rechtzeitig, nicht einen einzigen Ruderpflock
erblickte er. Er fragte seinen nchsten Nachbarn, ob die Fischer einige
Ferientage htten, weil er gar keinen sehe. "Es gibt keine Ferientage", sagte
jener, "aber hier fischt gewhnlich keiner. Daher konnte ich gestern nicht
begreifen, was geschehen war."
[60] Canius rgerte sich, aber was htte er tun sollen? Denn C. Aquilius, mein
Kollege und Freund, hatte noch nicht die Rechtsformeln bezglich bswilliger
Tuschung verffentlicht; als er gefragt wurde, was in eben diesen
[62] Nachdem Quintus Scaevola, ein Sohn des Publius, gefordert hatte, der
Preis fr das Anwesen, dessen Kufer er war, solle ihm nur einmal genannt
werden, und der Verkufer dieses getan hatte, sagte er, er schtze das
Anwesen hher ein; er fgte 100.000 Sesterze hinzu. Es gibt niemanden, der
bestreitet, dass diese Tat die eines rechtschaffenen Mannes gewesen ist; dass
sie die eines weisen Mannes gewesen ist, bestreiten sie, als wenn er das
Anwesen billiger als mglich verkauft htte. Darauf also beruht jene
verderbliche Lehre, dass sie die einen fr rechtschaffen, die anderen fr weise
halten. Aus diesem Grund schreibt Ennius, 'vergeblich weise sei der Weise, der
sich selbst nicht ntzen knne'. Der Wahrheit gem hat Ennius dieses gesagt,
falls ich mit Ennius darin bereinstimmte, was die Bedeutung von 'ntzen' ist.
[63] Ich sehe, dass der Rhodier Hecaton, ein Schler des Panaitios, in den
Bchern, die er dem Q. Tubero ber die Pflicht geschrieben hat, sagt, es sei die
Pflicht eines Weisen, sich um sein Vermgen zu kmmern, ohne dass er gegen
Sitten, Gesetze und Bruche verstoe. Denn wir wollen nicht nur fr uns reich
sein, sondern auch fr Kinder, Verwandte, Freunde und besonders den Staat.
Die Mittel und das Vermgen von Einzelpersonen sind nmlich der Reichtum
der Brgerschaft. Diesem kann Scaevolas Tat, ber die ich kurz zuvor
gesprochen habe, in keiner Weise gefallen. Denn er sagt deutlich, um eines
persnlichen Vorteils willen werde er nur das nicht tun, was nicht rechtmig
sei. Ihm sind weder groes Lob noch Dank zu erweisen.
[64] Aber sei es, dass Vortuschung und Verstellung bswillige Tuschung
bedeuten: es gibt nur sehr wenige Dinge, in denen diese bswillige Tuschung
nicht wirkt; sei es, dass ein rechtschaffener Mann derjenige ist, der ntzt, wem
er ntzen kann, und niemandem schadet: gewiss finden wir diesen
rechtschaffenen Mann nicht leicht. Niemals also ist verkehrtes Handeln
ntzlich, weil es immer schndlich ist, und weil es immer sittlich gut ist, ein
rechtschaffener Mann zu sein, ist es immer auch ntzlich.
[65] Und bezglich des Grundstcksrechts ist bei uns durch das brgerliche
Recht festgelegt worden, dass bei ihrem Verkauf die Mngel genannt werden
sollen, die dem Verkufer bekannt sind. Denn whrend es nach den
Zwlftafelgesetzen ausreichte, dass man nur fr das einstand, was man
ausdrcklich angegeben hatte, und derjenige, der diese Mngel nicht
eingestanden hatte, das Doppelte der Strafe zahlte, wurde von den
Rechtskundigen auch eine Strafe fr das Verschweigen bestimmt. Sie
beschlossen nmlich, man msse fr all das einstehen, was an einem
Grundstck fehlerhaft sei, falls der Verkufer es wisse und es nicht namentlich
genannt worden sei.
[66] Beispiel: Als auf dem Capitol die Vogelschauer ein Augurium vornehmen
wollten und dem T. Claudius Centumalus befohlen hatten, der auf dem Caelius
ein Haus hatte, den Teil einzureien, dessen Hhe die Auspizien beeintrchtige,
schrieb Claudius das Mietshaus zum Verkauf aus und P. Calpurnius kaufte es.
Diesem wurde von den Auguren genau dasselbe gemeldet. Nachdem daher
Calpurnius das Haus eingerissen und in Erfahrung gebracht hatte, dass Claudius
dieses erst zum Verkauf angeboten habe, als ihm der Abriss von den Auguren
befohlen worden sei, lud er jenen vor den Schiedsrichter: 'Er msse ihm alles
geben und leisten nach Treu und Glauben'. M. Cato fllte den Urteilsspruch,
der Vater dieses unseres Cato. Wie nmlich die brigen nach ihren Vtern, so
muss dieser, der jenes leuchtende Vorbild hervorbrachte, nach seinem Sohn
benannt werden. Also entschied dieser als Richter folgendermaen: Da er beim
Verkauf von diesem Mangel gewusst und ihn nicht angegeben habe, msse
dem Kufer Ersatz geleistet werden.
[67] Also beschloss er, dass es zum Wesen von Treu und Glauben gehre, wenn
der Fehler, den der Verkufer kenne, dem Kufer bekannt sei. Wenn er daher
recht entschieden hat, so war es nicht recht, dass jener Getreidehndler und
der Verkufer des verseuchten Hauses schwiegen. Aber derartige Flle von
Verschweigen knnen durch das brgerliche Recht nicht erfasst werden; was
aber erfasst werden kann, wird sorgfltig geahndet. M. Marius Gratidianus,
unser Verwandter, hatte C. Sergius Orata das Haus verkauft, das er selbst von
demselben wenige Jahre zuvor gekauft hatte. Dieses Haus war belastet, aber
davon hatte Marius im Kaufvertrag nichts gesagt; die Angelegenheit wurde vor
Gericht gebracht. Crassus verteidigte Orata, Antonius Gratidianus. Crassus
betonte den juristischen Standpunkt: "Der Verkufer msse fr den Fehler, den
er nicht genannt habe, obwohl er ihn kenne, einstehen"; Antonius beharrte auf
dem Billigkeitsprinzip: "Da dieser Fehler dem Sergius nicht unbekannt gewesen
sei, da er jenes Haus gekauft habe, htte nichts gesagt werden mssen und
derjenige sei nicht getuscht worden, der die Rechtslage des gekauften
Gegenstandes genau kannte."
[68a] Wohin zielt diese Darstellung? Dass du erkennst, dass verschlagene
Charaktere unseren Vorfahren nicht gefallen haben.
68b-72 Nicht durch die "Maschen des Gesetzes" schlpfen
[68b] Aber anders gehen die Gesetze, anders die Philosophen gegen Intrigen
an: Die Gesetze, insofern sie diese mit Gewalt ahnden, die Philosophen,
insofern sie dieses mit Vernunft und Einsicht tun. Also fordert die Vernunft,
dass nichts hinterhltig, nichts zum Schein, nichts betrgerisch geschieht.
Bedeutet es also nicht einen Hinterhalt, Netze auszuspannen, auch wenn du
Tiere nicht aufscheuchen und jagen willst? Denn die Tiere geraten oft von
selbst hinein, ohne dass jemand sie verfolgt. Wrdest du auf diese Weise ein
Haus zum Verkauf anbieten, ein Verkaufsplakat wie ein Netz aufstellen, soll
jemand, ohne es zu wissen, in dieses hineinlaufen?
[69] Obwohl ich sehe, dass ein solcher Betrug wegen der entarteten
ffentlichen Meinung weder nach der heutigen Sitte fr schndlich gehalten
noch durch das Gesetz oder das brgerliche Recht bestraft wird, ist er dennoch
durch das Gesetz verboten. Auch wenn dieses schon oft gesagt worden ist,
muss es gleichwohl noch hufiger gesagt werden: Die Gemeinschaft nmlich,
die sich am weitesten ausbreitet, ist die aller unter allen, eine engere
Gemeinschaft bilden diejenigen, die zu demselben Volk gehren, eine
vertrautere diejenigen, welche dieselbe Brgerschaft bilden. Daher wollten
unsere Vorfahren, dass das eine das Vlkerrecht, das andere das brgerliche
Recht sei; was das brgerliche Recht ist, muss nicht ohne Weiteres das
Vlkerrecht sein, was aber das Vlkerrecht ist, muss zugleich das brgerliche
Recht sein, aber wir haben nicht die wirkliche und lebensechte Gestalt des
wahren Rechts und der echten Gerechtigkeit, nur einen Schatten und Bilder
gebrauchen wir. Wenn wir doch nur diesen folgen wrden! Sie sind nmlich
den besten Beispielen der Natur und der Wahrheit entnommen.
[70] Denn wie hoch mssen jene Worte geschtzt werden: 'Dass ich nicht durch
deine Schuld oder das Vertrauen zu dir getuscht oder bervorteilt bin!' Wie
herrlich sind jene Worte: 'Wie unter Rechtschaffenen gut gehandelt werden
muss und ohne Betrug'. Aber wer die Rechtschaffenen sind und was es heit,
gut zu handeln, ist eine wichtige Frage. Q. Scaevola, der hchste Priester, sagte,
grere Bedeutung komme all jenen Schiedssprchen zu, bei denen
hinzugefgt werde 'auf Treu und Glauben', und er meinte, der Begriff 'Treu und
Glauben' greife am weitesten um sich und spiele eine Rolle bei
Vormundschaften, Verbindungen, anvertrauten Gtern, Auftrgen, Kufen und
Verkufen, Pachtung und Verpachtung, worauf das gemeinschaftliche Leben
ffentlicher Gelder gesprochen werden, denen man nicht mit Worten und
einer philosophischen Abhandlung, sondern mit Gefngnis und Kerker zusetzen
muss; wir wollen vielmehr erwgen, was diejenigen tun, die fr rechtschaffen
gehalten werden. Das geflschte Testament des reichen L. Minucius Basilus
brachten einige aus Griechenland mit nach Rom. Damit sie dieses umso leichter
durchsetzen konnten, schrieben sie als Miterben M. Crassus und Q. Hortensius
hinein, die mchtigsten Menschen derselben Zeit. Obwohl sie vermuteten, dass
jenes Testament geflscht sei, verschmhten sie nicht, da sie sich andererseits
keiner Schuld bewusst waren, das kleine Geschenk aus einem fremden
Verbrechen. Wie also? Reicht dieses aus, dass sie glauben, sich nicht vergangen
zu haben? Ich jedenfalls glaube es nicht, obwohl ich den einen, als er noch
lebte, geliebt habe, den anderen nach seinem Tod nicht hasse.
[74] Aber als Basilus den M. Satrius, den Sohn seiner Schwester, adoptiert und
ihn zu seinem Erben gemacht hatte, ich meine den jetzt lebenden Patron des
pikenischen und sabinischen Gebietes (welche Schande fr unsere Zeit!), war
es nicht gerecht, dass die vornehmsten Brger Geld besaen, Satrius aber
nichts auer seinem Namen zuteil wurde. Denn wenn derjenige, der das
Unrecht nicht abwehrt und nicht von den Seinen abwendet, obwohl er es kann,
ungerecht handelt, wie ich im ersten Buch errtert habe, wie ist dann erst
derjenige zu betrachten, der das Unrecht nicht nur nicht abwehrt, sondern es
sogar frdert? Mir jedenfalls scheinen auch rechtmige Erbschaften nicht
ehrenhaft zu sein, wenn sie durch heimtckische Schmeicheleien, nicht aber
durch aufrichtige, sondern durch vorgetuschte Dienste erworben worden
sind. Gleichwohl scheint in solchen Situationen das eine bisweilen ntzlich, das
andere sittlich gut zu sein. Zu Unrecht! Denn der Mastab fr den Nutzen ist
derselbe wie fr das Sittlichgute.
[75] Wer dieses nicht erkennt, wird zu jeder Art von Betrug fhig sein, zu jeder
Untat. Denn wer denkt 'jenes ist zwar sittlich gut, aber dieses ist ntzlich', wird
es wagen, von Natur aus verbundene Dinge durch eine Fehleinschtzung zu
trennen, welche die Quelle aller Tuschungen, beltaten und Verbrechen ist.
Wenn daher ein rechtschaffener Mann diese Macht htte, dass sich sein Name,
falls er mit den Fingern schnalzte, in die Testamente wohlhabender Leute
einschleichen knnte, so wrde er diese Macht nicht gebrauchen, nicht einmal
wenn er sicher wsste, dass berhaupt niemand dieses jemals vermuten
werde. Aber gbe man diese Macht M. Crassus, dass er durch das Schnalzen
der Finger zum Erben eingesetzt werden knnte, obwohl er tatschlich kein
Erbe wre, er wrde, glaube mir, auf dem Forum tanzen. Ein rechtschaffener
Mann aber und ein solcher, den wir als einen rechtschaffenen Mann ansehen,
wird niemandem etwas entziehen, um es sich zu bertragen. Wer sich hierber
wundert, gibt wohl zu nicht zu wissen, was ein rechtschaffener Mann ist.
[76] Aber wenn er die Vorstellung davon, die in seiner Seele zusammengefalten
ist, klren mchte, wrde er alsbald sich selbst lehren, dass derjenige ein
rechtschaffener Mann ist, der ntzt, wem er kann, und niemandem schadet,
wenn er nicht durch ein Unrecht herausgefordert worden ist. Was also? Wrde
sich derjenige nicht schuldig machen, der gleichsam durch ein Zaubermittel
erreicht, dass er die wirklichen Erben verdrngt und selbst an deren Stelle tritt?
"Also wrde er nicht tun", knnte jemand sagen, "was ntzlich, was zutrglich
ist?" Im Gegenteil, er wrde erkennen, dass nichts zutrglich oder ntzlich ist,
was ungerecht. Wer dieses nicht gelernt hat, wird kein rechtschaffener Mann
sein knnen.
[77] Ich hrte als Junge von unserem Vater, dass der Konsular C. Fimbria zum
Richter fr M. Lutatius Pinthia bestellt worden sei, einen beraus ehrenhaften
rmischen Ritter, nachdem dieser eine Prozesswette eingegangen war, 'wenn
er kein rechtschaffener Mann wre'. Daher habe Fimbria ihm gesagt, er werde
niemals jenes Richteramt ausben, weder um einen trefflichen Menschen
seines guten Rufes zu berauben, falls er ihn verurteile, noch um den Eindruck
zu erwecken, er habe entschieden, jemand sei ein rechtschaffener Mann, wenn
dieses Urteil auf unzhligen Verrichtungen und ruhmvollen Taten beruhe.
Einem solchen rechtschaffenen Mann also, den schon Fimbria, nicht nur
Socrates kannte, kann in keiner Weise etwas ntzlich erscheinen, was nicht
sittlich gut ist. Daher wird ein solcher Mann es nicht wagen, nicht nur etwas zu
tun, sondern nicht einmal an etwas zu denken, was er nicht auch ffentlich
auszusprechen wagt. Ist es nicht eine Schande, wenn Philosophen im Zweifel
hierber sind, wo doch nicht einmal Bauern diesbezglich Bedenken tragen?
Von ihnen stammt das Sprichwort, das infolge seines Alters schon
abgedroschen ist. Denn wenn sie jemandes Treue und Gutmtigkeit loben,
sagen sie, er sei es wert, dass man mit ihm im Finstern wrfelt. Welche
Bedeutung hat dieses Sprichwort wenn nicht jene, dass nichts ntzlich ist, was
sich nicht ziemt, auch wenn man dieses erreichen kann, ohne dass einen
jemand berfhrt?
[78] Siehst du, dass nach diesem Sprichwort weder jenem Gyges verziehen
werden kann noch diesem, der, wie ich kurz zuvor mir ausdachte, durch das
Schnalzen der Finger die Erbschaften aller zusammenscharren kann? Wie
nmlich das, was schndlich ist, auch wenn es verheimlicht wird, dennoch in
keiner Weise sittlich gut genannt werden kann, so kann nicht bewirkt werden,
dass das, was nicht sittlich gut, ntzlich ist, da die Natur dem widerstreitet und
widerstrebt.
[81] Solche Flle sind es, die bisweilen beim Abwgen Verwirrung stiften, wenn
die Sache, bei der die Gerechtigkeit verletzt wird, nicht so bedeutend, jenes
aber, was hieraus erwchst, sehr bedeutend erscheint, so wie Marius es nicht
fr so schndlich hielt, den Kollegen und dem Volkstribunen die Gunst des
Volkes zu entreien, hingegen Konsul zu werden, deswegen weil er es sich
damals vorgenommen hatte, fr sehr ntzlich. Aber in allen Fllen gibt es einen
Mastab, der dir, wie ich es mir wnsche, sehr bekannt ist: entweder soll jenes,
was ntzlich erscheint, nicht schndlich oder, wenn es schndlich ist, nicht
ntzlich erscheinen. Was also? Knnen wir jenen Marius fr einen
rechtschaffenen Mann halten oder diesen Gratidianus? Entfalte und prfe dein
Erkenntnisvermgen, damit du begreifst, welche Vorstellung und welcher
Begriff von einem rechtschaffenen Mann in ihm enthalten sind. Passt es also zu
einem rechtschaffenen Mann, um eines eigenen Vorteils willen zu lgen, zu
verleumden, vorwegzunehmen und zu tuschen? In der Tat nichts weniger.
[82a] Ist also irgendetwas so viel wert oder ist ein Vorteil so erstrebenswert,
dass du dafr den ruhmvollen Namen eines rechtschaffenen Mannes verlierst?
Was bedeutet es, dass dieser so genannte Nutzen genauso viel herbeischaffen
wie wegnehmen kann, wenn er den Namen eines rechtschaffenen Mannes
entrissen und das Vertrauen zu dessen Gerechtigkeit entzogen hat? Was
nmlich macht es fr einen Unterschied, ob sich jemand aus einem Menschen
in ein Tier verwandelt oder mit der ueren Gestalt eines Menschen die
Entsetzlichkeit eines Ungeheuers an den Tag legt?
82-b85 Tyrannis als Konfliktsfall zwischen Nutzen und Moral
[82b] Was? Diejenigen, die alles Rechte und Sittlichgute vernachlssigen, wenn
sie nur Macht erlangen, tun sie nicht dasselbe wie derjenige, der sogar den zum
Schwiegervater haben wollte, durch dessen Khnheit er selbst mchtig zu sein
[84] Ich wei nicht, welcher Nutzen nach der Meinung der Menge grer sein
kann als der zu herrschen; im Gegenteil, nichts, finde ich, ist unntzer fr
denjenigen, der dieses auf ungerechte Weise erreicht hat, sobald ich beginne,
den Gedanken auf die Wirklichkeit zu richten. Knnen denn fr
irgendjemanden Anwandlungen von Angst ntzlich sein, Besorgnisse, Furcht
bei Tage und bei Nacht, ein Leben reich an Hinterhalt und Gefahren? "Viele
sind ungerecht und untreu gegen die Knigsherrschaft, wenige nur
wohlwollend" sagt Accius. Aber gegen welche Knigsherrschaft? Diese von
Tantalus und Pelops vererbte wurde zu Recht innegehabt. Denn wieviel mehr
waren deiner Meinung nach demjenigen Knig feindlich gesinnt, der mit dem
Heer des rmischen Volkes das rmische Volk selbst unterdrckt und eine nicht
nur freie, sondern auch ber Vlker herrschende Brgerschaft gezwungen
hatte, ihm zu dienen.
[85] Welchen Verfall des Gewissens, welche Wunden hatte er deiner Ansicht
nach in seinem Innern? Wessen Leben aber kann fr ihn selbst ntzlich sein,
wenn der Zustand dieses Lebens so ist, dass derjenige, der jenes entrissen hat,
in der grten Gunst und dem grten Ruhm stehen wird? Wenn also diese
Dinge nicht ntzlich sind, muss man, weil das am meisten ntzlich erscheint,
was reich an Schmach und Schande ist, hinreichend berzeugt sein, dass nichts
ntzlich ist, was nicht sittlich gut ist.
86-88 Beispiele aus Roms Geschichte
[86] Allerdings ist so oft zu anderer Zeit, besonders aber im Krieg mit Pyrrhus
von C. Fabricius in seinem zweiten Konsulat und von unserem Senat
entschieden worden. Als nmlich Knig Pyrrhus mit dem rmischen Volk ohne
Grund Krieg angefangen hatte und es mit dem vornehmen und mchtigen
Knig einen Kampf um den Bestand des Reiches gab, kam ein berlufer von
ihm in das Lager des Fabricius und versprach ihm, falls er ihm eine Belohnung in
Aussicht stelle, werde er, wie er heimlich gekommen sei, so auch wieder
heimlich in das Lager des Pyrrhus zurckkehren und ihn mit Gift tten. Diesen
lie Fabricius zu Pyrrhus zurckfhren, und diese seine Tat wurde vom Senat
gelobt. Wenn wir nun aber nach dem scheinbaren und vermeintlichen Nutzen
fragen, so htte ein einziger berlufer jenen groen Krieg beendet und einen
schweren Gegner des Reiches vernichtet, aber es wre eine schlimme Schmach
und Schandtat gewesen, wenn derjenige, mit dem es einen Kampf um den
Ruhm gegeben hatte, nicht durch Tapferkeit, sondern durch ein Verbrechen
besiegt worden wre.
[87] War es also fr Fabricius ntzlicher, der in dieser Stadt ein solcher
gewesen ist wie Aristides in Athen, oder fr unseren Senat, der niemals den
Nutzen von der Wrde getrennt hat, mit Waffen gegen den Feind zu kmpfen
oder mit Gift? Wenn die Herrschaft um des Ruhmes willen erstrebenswert ist,
so soll das Verbrechen fern sein, auf dem sich Ruhm nicht grnden kann; wenn
aber die Macht um ihrer selbst willen unter allen Umstnden erstrebt wird, so
wird sie nicht ntzlich sein knnen, wenn Schande daran klebt. Also ist jener
Gesetzesvorschlag des L. Philippus, des Sohnes von Quintus, nicht ntzlich, dass
diejenigen Brgerschaften, die L. Sulla gegen Erhalt einer Geldsumme
entsprechend einem Senatsbeschluss von Tributen befreit hatte, von neuem
steuerpflichtig sein und wir ihnen das Geld, das sie fr ihre Freiheit gezahlt
hatten, nicht zurckgeben sollten. Ihm stimmte der Senat zu. Eine Schande fr
das Reich! Denn die Zuverlssigkeit von Piraten ist besser als die des Senates.
'Aber vermehrt worden ist das Steueraufkommen, also ist es ntzlich.' Wie
lange noch werden sie es wagen, etwas ntzlich zu nennen, was nicht sittlich
gut ist?
[88] Knnen aber fr irgendein Reich, das auf Ruhm und Wohlwollen der
Bundesgenossen gesttzt sein muss, Hass und Schmach ntzlich sein? Sogar
mit meinem Cato stimmte ich oft nicht berein. Allzu schroff schien er mir die
Staatskasse und die Steuern zu verteidigen, alles den Steuerpchtern
abzuschlagen, vieles den Bundesgenossen, obwohl wir diesen gegenber
htten gefllig sein und mit jenen htten so verfahren mssen, wie wir es mit
unseren Privatpchtern zu tun pflegten, und zwar um so mehr, weil jene
Verbindung unter den Stnden das Wohlergehen des Staates betraf. Schlecht
handelte auch Curio, als er sagte, die Sache der Transpadaner sei gerecht, aber
immer hinzufgte 'Es siege der Nutzen'. Lieber htte er darlegen sollen, sie sei
nicht gerecht, weil nicht ntzlich fr den Staat, als eingestehen, sie sei gerecht,
wobei er aber sagte, sie sei nicht ntzlich.
89-92a Weitere Konflikte
[89] Das sechste Buch Hecatons "ber die Pflichten" ist reich an derartigen
Untersuchungen, ob es zu einem rechtschaffenen Mann gehrt, bei einer sehr
starken Teuerung des Getreides die Dienerschaft nicht zu ernhren. Er errtert
das Fr und Wider, aber dennoch beurteilt er schlielich die Pflicht mehr nach
dem Nutzen, wie er ihn sich denkt, als nach der Menschlichkeit. Er wirft die
Frage auf, ob er fr den Fall, dass auf dem Meer etwas ber Bord geworfen
werden muss, lieber ein wertvolles Pferd oder einen billigen Sklaven verlieren
soll. In diesem Fall zieht ihn der Besitz hierhin, die Menschlichkeit dorthin.
"Wenn ein Tor ein Brett aus einem Schiffbruch an sich gerissen hat, wird ein
Weiser ihm dieses entreien, wenn er es kann?" Er sagt nein, weil es ungerecht
sei. Was? Wird der Eigentmer des Schiffes ihm den Balken wegnehmen, weil
es sein Eigentum ist? Keineswegs, ebensowenig wie er jemanden, der auf dem
Meer segelt, vom Schiff werfen will, weil es ihm gehrt. Denn bis man an das
Ziel gelangt, fr das ein Schiff angemietet worden ist, gehrt das Schiff nicht
seinem Eigentmer, sondern dem Segelnden.
[90] Was? Wenn es ein einziges Brett gibt, aber zwei Schiffbrchige, und zwar
weise, sollen dann beide dieses an sich reien oder soll der eine dem anderen
nachgeben? Er soll natrlich nachgeben, aber demjenigen, dessen Leben
wertvoller ist entweder um seiner selbst oder um des Staates willen? Was?
Wenn diese Bedingungen auf beide in gleicher Weise zutreffen? Es wird keinen
Streit geben, sondern gleich als ob er durch das Los oder im Moraspiel besiegt
worden wre, wird der eine dem anderen nachgeben. Was? Wenn ein Vater
Heiligtmer plndern und unterirdische Gnge zur Staatskasse vorantreiben
wrde, soll sein Sohn dieses den Beamten anzeigen? Dieses wre ein Unrecht,
ja sogar soll er den Vater verteidigen, wenn dieser angeklagt wird. Ist also nicht
das Vaterland allen Pflichten bergeordnet? Gewiss, aber es ist fr das
Vaterland selbst zutrglich, Brger zu haben, die gegenber ihren Eltern
pflichtmig handeln.
Vater
strittigen Rechtsfragen mit den Stoikern. Gefragt wird, ob beim Verkauf eines
Sklaven seine Fehler genannt werden mssen, nicht diejenigen, durch die,
wenn man sie nicht nennt, der Sklave nach dem brgerlichen Recht
zurckgegeben wird, sondern folgende, ein Lgner zu sein, ein Wrfelspieler,
ein Dieb, ein Trunkenbold. Der eine glaubt, sie mssten genannt werden, der
andere nicht.
[92a] Wenn jemand Gold verkauft und meint, er verkaufe Messing, soll ein
rechtschaffener Mann diesem anzeigen, dass jenes Gold ist, oder soll er fr
einen Denar kaufen, was tausend Denare wert ist? Es ist nunmehr klar, was ich
denke und was die Streitfrage unter den Philosophen ist, die ich genannt habe.
92b-95 Wann muss man ein Versprechen nicht halten?
[92b] Gefragt wird, ob Vertrge und Versprechen immer eingehalten werden
mssen, die weder durch Gewalt noch durch bswillige Tuschung, wie die
Prtoren es zu sagen pflegen, entstanden sind. Wenn jemand irgendeinem ein
Medikament gegen Wassersucht gegeben und festgesetzt hat, dass er, falls er
durch dieses Medikament gesund gemacht worden sei, jenes Medikament
spter niemals benutzen solle, wenn er durch dieses Medikament gesund
geworden und einige Jahre spter derselben Krankheit verfallen ist, aber von
demjenigen, mit dem er diese Vereinbarung getroffen hatte, nicht erreicht,
dass er dieses ein zweites Mal benutzen darf, was da zu tun sei, wird gefragt.
Da derjenige unmenschlich ist, der dieses nicht zugesteht, und jenem dennoch
kein Unrecht zugefgt wird, muss fr sein Leben und seine Gesundheit gesorgt
werden.
[93] Was? Wenn irgendein Weiser von demjenigen gebeten worden ist, der ihn
zum Erben macht, indem ihm im Testament 100 Millionen Sesterze
hinterlassen werden, er mge, bevor er die Erbschaft antrete, am hellen Tage
ffentlich auf dem Forum tanzen, und wenn er dieses zu tun versprochen hat,
weil jener ihn sonst nicht zum Erben einsetzen will, soll er das, was er
versprochen habe, tun oder nicht? Ich wollte, er htte es nicht versprochen,
und ich glaube, es wre ein Zeichen von Wrde gewesen; da er es versprochen
hat, wird es fr ihn, wenn er das Tanzen auf dem Forum fr schndlich halten
wird, ehrenvoller sein zu lgen, falls er nichts von der Erbschaft genommen hat,
als zu lgen, wenn er sie genommen hat, es sei denn, er hat dieses Geld fr
eine schwere Lage des Staates hergegeben, so dass sogar das Tanzen, da er fr
das Vaterland Sorge tragen wird, nicht schndlich ist.
[94] Auch sind jene Versprechen nicht einzuhalten, die genau fr diejenigen
nicht ntzlich sind, denen du jenes versprochen hast. Der Sonnengott sagte zu
seinem Sohn Phaeton, um zu den Mythen zurckzukehren, er werde alles tun,
was er wnsche. Er wnschte auf den Wagen seines Vaters zu steigen; er stieg
hinauf; und noch ehe er auf dem Wagen stand, ging er infolge eines Blitzschlags
in Flammen auf; wie viel besser wre es gewesen, wenn in diesem Fall das
Versprechen des Vaters nicht eingehalten worden wre. Was? Welches
Versprechen forderte Theseus von Neptun? Als Neptun ihm drei Wnsche
eingerumt hatte, wnschte er sich den Tod seines Vaters Hippolytus, weil
dieser seinem Vater wegen seiner Stiefmutter verdchtig war; nachdem
Theseus diesen Wunsch durchgesetzt hatte, befand er sich in tiefster Trauer.
[95] Und Agamemnon? Weil er Diana das Schnste gelobt hatte, was in seinem
Knigreich in jenem Jahr geboren war, opferte er Iphigenie; Schneres als sie
war in diesem Jahr nicht geboren worden. Besser wre es gewesen, das
Versprechen nicht zu erfllen als ein so schreckliches Verbrechen zu begehen.
Also drfen Versprechen zuweilen nicht erfllt und anvertraute Gter nicht
immer zurckgegeben werden. Wenn jemand bei dir bei gesundem Verstand
sein Schwert abgelegt hat und es als Wahnsinniger zurckverlangt, ist es wohl
wollen. Ein nicht ehrenhafter, aber ntzlicher Plan, Knig zu sein, auf Ithaka in
Frieden zu leben gemeinsam mit den Eltern, mit der Gattin und dem Sohn.
Glaubst du, dass irgendeine Ruhmestat bei tglichen Strapazen und Gefahren
mit dieser Ruhe zu vergleichen ist? Ich aber glaube, dass diese Ruhe verachtet
und aufgegeben werden muss, da sie meiner Meinung nach, weil nicht
ehrenhaft, auch nicht ntzlich ist.
[98] Was nmlich htte Odysseus, glaubst du, zu hren bekommen, wenn er
mit jenem Vorwand fortgefahren wre? Obwohl er sehr bedeutende Taten im
Krieg vollbracht hat, soll er dennoch folgende Worte von Aiax zu hren
bekommen:
"Er, der selbst als erster dieses eidliche Versprechen gegeben hat, wollte als
einziger den Eid nicht erfllen, was ihr alle wisst. Zu wten und sich zu
verstellen begann er, um nicht einzurcken. Wenn nicht die scharfsichtige
Klugheit des Palamedes seine boshafte Unverschmtheit bemerkt htte, wrde
er fortwhrend den geheiligten Treueid nicht erfllen."
[99] Fr jenen aber war es besser nicht nur gegen die Feinde, sondern auch
gegen die Fluten zu kmpfen, wie er es auch wirklich tat, als Griechenland im
Stich zu lassen, das sich darin einig war, mit den Barbaren einen Krieg
anzufangen. Aber wir wollen die Mythologie und fremde Vorgnge beiseite
lassen. Als M. Atilius Regulus in seinem zweiten Konsulat in Afrika infolge eines
Hinterhalts unter dem Kommando des Lakedaimoniers Xanthippus gefangen
genommen worden war, whrend Hamilkar, der Vater Hannibals, Feldherr war,
wurde er, nachdem er einen Eid abgelegt hatte, zum Senat geschickt unter der
Bedingung, dass er von sich aus nach Karthago zurckkehre, falls den Puniern
nicht einige adlige Kriegsgefangene zurckgegeben wrden. Als dieser nach
Rom gekommen war, erkannte er den scheinbaren Nutzen, aber er hielt diesen
fr falsch, wie der Vorgang verdeutlicht; dieser scheinbare Nutzen sah so aus:
Im Vaterland zu bleiben, im eigenen Haus gemeinsam mit der Gattin und den
Kindern zu leben, die Niederlage, die er im Krieg erlitten hatte, fr ein
Missgeschick zu halten, das jeden im Krieg treffen kann, und die Wrde seines
konsularischen Ranges beizubehalten. Wer sagt, dieses sei nicht ntzlich? Wer
bestreitet dieses deiner Meinung nach? Gromut und Tapferkeit bestreiten es.
[100] Suchst du etwa gewichtigere Gewhrsleute? Es ist nmlich fr diese
Tugenden kennzeichnend, sich vor nichts zu frchten, alles Menschliche gering
zu schtzen, nichts, was einem Menschen widerfahren kann, fr unertrglich zu
halten. Was hat er daher getan? Er kam in den Senat, er legte seine Auftrge
dar und weigerte sich, mit darber abzustimmen; solange er durch einen Eid
gegenber den Feinden gebunden werde, sei er kein Senator. Und auch jenes
muss erwhnt werden (Welch trichter Mensch, knnte jemand sagen, der sich
seinem eigenen Vorteil widersetzt): Dass man die Kriegsgefangenen
zurckgebe, sei nicht ntzlich, sagte er; jene seien nmlich junge Mnner und
gute Befehlshaber, er hingegen schon durch das Greisenalter geschwcht. Als
sich sein Rat durchgesetzt hatte, wurden die Kriegsgefangenen zurckbehalten,
er selbst kehrte nach Karthago zurck. Damals wusste er aber genau, dass er zu
dem grausamsten Feind und zu ausgesuchten Strafen aufbrach, aber er
glaubte, den Eid einhalten zu mssen. Und so befand er sich dann, meine ich,
als er durch Schlafentzug gettet wurde, in einer besseren Situation, als wenn
er als kriegsgefangener Greis und meineidiger Konsular zu Hause geblieben
wre.
[101a] Aber tricht handelte derjenige, der nicht nur dagegen votierte, dass die
Kriegsgefangenen zurckgeschickt werden mssten, sondern sogar davon
abriet. Auf welche Weise tricht? Auch, falls es dem Staat ntzte? Kann aber
das, was fr den Staat unntz ist, fr irgendeinen Brger ntzlich sein?
sittlich gut sei; z.B. erscheine gerade sein Verhalten, zur qualvollen Hinrichtung
zurckgekehrt zu sein, um den Eid zu halten, als sittlich gut, aber es werde nicht
sittlich gut, weil das, was durch Gewalt seitens der Feinde erzwungen sei, nicht
verbindlich habe sein drfen. Sie fgen sogar hinzu, alles, was sehr ntzlich sei,
werde sittlich gut, auch wenn es vorher nicht so zu sein scheine. Ungefhr
diese Worte fhren sie gegen Regulus an. Aber lasst uns den ersten Einwand
betrachten.
[104] Nicht brauchte man zu befrchten, dass Jupiter im Zorn Schaden zufgte,
der weder zu zrnen noch zu schaden gewohnt ist. Diese Begrndung gilt nicht
nur gegenber dem Eid des Regulus, sondern gegenber jedem Eid. Aber bei
einem Eid muss man sich darber im Klaren sein, nicht was man zu befrchten
hat, sondern was seine Bedeutung ist. Der Eid ist nmlich eine heilige
Beteuerung; was man aber unter Beteuerungen und gleichsam bei Gott als
Zeugen versprochen hat, das ist zu halten. Denn der Eid bezieht sich nicht mehr
auf den Zorn der Gtter, den es nicht gibt, sondern auf die Gerechtigkeit und
Treue. Denn vortrefflich sagt Ennius: "Segen spendende, geflgelte Treue und
bei Jupiter geschworener Eid." Wer also einen Eid verletzt, der verletzt die
Treue, die nach dem Willen unserer Vorfahren auf dem Capitol eine Nachbarin
des Jupiter Optimus Maximus ist, wie es in einer Rede Catos steht.
[105] Aber nicht einmal im Zorn htte Jupiter dem Regulus mehr geschadet, als
Regulus sich selbst geschadet hat. Das trifft zu, wenn nichts auer Schmerz zu
empfinden ein bel wre. Dass dieses aber nicht nur nicht das hchste bel ist,
sondern nicht einmal ein bel, versichern Philosophen von grter Autoritt.
Deren nicht geringen, sondern vielleicht bedeutendsten Zeugen, Regulus,
tadelt bitte nicht. Denn welchen glaubwrdigeren Zeugen suchen wir als den
grten Mann des rmischen Volkes, der, um seine Pflicht zu erfllen,
freiwillige Folter auf sich genommen hat? Denn wenn sie sagen 'Aus beln
mssen die geringsten ausgewhlt werden', d.h. dass wir eher schndlich
handeln sollen: Gibt es etwa ein greres bel als die Schande? Wenn diese im
Falle krperlicher Hsslichkeit Ansto erregt, wie gro muss dann offenbar jene
gemeine Entstellung eines sittenlosen Charakters sein?
[106] Daher wagen es diejenigen, die dieses kraftvoller errtern, allein das ein
bel zu nennen, was schndlich ist, diejenigen aber, die es nachlssiger tun,
zgern dennoch nicht, von einem hchsten bel zu sprechen. Denn jener Vers
"Weder habe ich erwiesen noch erweise ich einem Treulosen Treue" wurde
deswegen zu Recht von einem Dichter gesagt, weil er sich an die Rolle halten
musste, als Atreus dargestellt wurde. Aber wenn sie dieses fr sich annehmen
werden, dass ein Versprechen ungltig ist, das einem Untreuen gegeben
worden ist, sollen sie zusehen, dass fr einen Meineid kein Schlupfwinkel
gesucht wird.
[107] Es sind aber auch das Kriegsrecht und die Einhaltung eines Eides
gegenber dem Feind oft zu beachten. Was nmlich in der Weise geschworen
worden ist, dass der Verstand sich ber dessen Notwendigkeit im Klaren ist,
muss eingehalten werden. Was anders geschworen worden ist, gilt, wenn der
Schwrende dieses nicht getan hat, nicht als Meineid. Wenn man z.B. Rubern
das pro Kopf ausbedungene Lsegeld nicht bringt, so ist es kein Betrug, auch
dann nicht, wenn man dieses nach einem Schwur nicht getan hat. Denn der
Pirat ist nicht der Zahl der Staatsfeinde zugerechnet, sondern er ist der
gemeine Feind aller; denn mit diesem darf es kein verbindliches Versprechen
und keinen verbindlichen Eid geben.
[108] Denn nicht Falsches zu schwren macht einen Meineid aus, sondern das
nicht zu tun bezeichnet einen Meineid, was man 'mit seiner ehrlichen
berzeugung' geschworen hat, wie es nach unserer Art in Worte gefasst ist.
Treffend sagte nmlich Euripides: "Ich habe mit der Zunge geschworen, mein
Gewissen aber wei nichts von diesem Schwur." Regulus aber durfte nicht die
im Krieg und mit dem Feinde geschlossenen bereinkommen und Vertrge
durch einen Meineid brechen. Denn gegen einen regulren und rechtmigen
Feind wurde gekmpft, gegenber dem das Fetialrecht und viele Rechte
verbindlich sind. Andernfalls htte der Senat niemals den Feinden berhmte
Mnner in Fesseln bergeben.
[109] Aber weil T. Veturius und Sp. Postumius whrend ihres zweiten Konsulats
nach ihrem erfolglosen Kampf bei Caudium, als unsere Legionen unter das Joch
geschickt worden waren, mit den Samniten Frieden geschlossen hatten,
wurden sie diesen bergeben, denn nicht auf Befehl des Volkes und des
Senates hatten sie ihn geschlossen. Zur selben Zeit wurden Ti. Numicius und Q.
Maelius, die damals Volkstribunen waren, weil durch deren Autoritt Frieden
geschlossen worden war, berstellt, damit der Friede mit den Samniten
zurckgewiesen werden konnte. Und Postumius selbst, der bergeben wurde,
war der Frsprecher und Urheber dieser Auslieferung. Genau dasselbe tat viele
Jahre spter C. Mancinus, der, damit er den Numantinern berstellt werden
konnte, mit denen er ohne den Willen des Senates einen Vertrag
abgeschlossen hatte, zu diesem Antrag riet, den L. Furius und Sex. Atilius
aufgrund
eines
Senatsbeschlusses
einbrachten;
der
Antrag
wurde
also brach er zum Senat auf, zumal er von den Kriegsgefangenen abraten
wollte? Was am bedeutendsten an ihm ist, das tadelt ihr. Denn er blieb nicht
bei seinem Urteil stehen, sondern bernahm die Vertretung der Sache, damit
der Senat entscheide; wenn nicht er selbst Ratgeber fr den Senat gewesen
wre, wren die Kriegsgefangenen in der Tat den Puniern zurckgegeben
worden. So wre Regulus wohlbehalten in seinem Vaterland zurckgeblieben.
Weil dieses seiner Meinung nach fr das Vaterland nicht ntzlich war,
deswegen glaubte er, es sei fr ihn ehrenvoll, seine Meinung auszusprechen
und zu leiden. Denn was das anbetrifft, dass sie behaupten, was sehr ntzlich
sei, werde sittlich gut [richtiger msste gesagt werden, sehr ntzlich werde,
was sittlich gut sei], so htte im Gegenteil gesagt werden mssen, es sei und
nicht es werde sittlich gut. Denn nichts ist ntzlich, was nicht zugleich sittlich
gut ist, und es ist nicht, weil ntzlich, sittlich gut, sondern weil sittlich gut, auch
ntzlich.
Deswegen
drfte
schwerlich
jemand
das
von
den
vielen
lobenswerter
oder
[112] Als L. Manlius, der Sohn des Aulus, Diktator gewesen war, lud ihn der
Volkstribun M. Pomponius auf einen bestimmten Tag vor Gericht, weil sich
dieser wenige Tage zur Ausbung der Diktatur hinzugefgt habe. Er
beschuldigte ihn auch, dass er seinen Sohn Titus, der spter Torquatus genannt
wurde, von den Menschen fortgeschickt und ihm befohlen habe, auf dem Land
zu leben. Als der junge Sohn dieses gehrt hatte, dass man seinem Vater zu
schaffen mache, soll er nach Rom geeilt und bei Tagesanbruch zum Haus des
Pomponius gekommen sein. Nachdem ihm dieses gemeldet worden war, erhob
er sich, da er glaubte, jener werde im Zorn etwas gegen den Vater vorbringen,
von seinem Ruhelager und lie den jungen Mann ohne Zeugen zu sich
kommen. Aber nachdem jener eingetreten war, zog er sofort das Schwert und
schwor, jenen auf der Stelle zu tten, wenn er ihm nicht das eidliche
Versprechen geben werde, dass er jenen gehen lasse. Aus Angst hierber
leistete Pomponius den Eid; er brachte die Sache vor die Volksversammlung,
unterwies diese, warum er den Prozess fallen lasse msse, und lie Manlius
gehen. (Und dieser T. Manlius ist derjenige, der am Anio einem Gallier, den er
nach einer Provokation durch ihn gettet hatte, seine Halskette wegriss und so
seinen Beinamen fand, in dessen drittem Konsulat die Latiner an der Veseris
geschlagen und verjagt worden waren, ein ganz bedeutender Mann, der sehr
nachsichtig gegenber seinem Vater, zugleich aber unerbittlich streng
gegenber seinem Sohn gewesen war.)
[113] Aber wie Regulus wegen seiner Eidestreue gelobt werden muss, so sind
jene zehn, wenn sie wirklich nicht zurckkehrten, zu tadeln, die Hannibal nach
der Schlacht bei Cannae zum Senat schickte, nachdem sie geschworen hatten,
sie wrden in das Lager zurckkehren, dessen sich die Punier bemchtigt
hatten, falls sie keinen Erfolg mit dem Loskauf der Gefangenen htten.
Hierber berichten nicht alle auf dieselbe Art und Weise. Denn Polybius, ein
die Tat des Regulus gewesen, wenn er bezglich der Kriegsgefangenen das
beantragt htte, was ihm selbst und nicht dem Staat zweckmig erschien,
oder wenn er htte zu Hause bleiben wollen -, nicht ntzlich ist, weil
schmachvoll, abscheulich und schndlich.
116-120
Konflikte
des
scheinbaren
Nutzens
mit
den
Pflichten
der
Selbstbeherrschung
[116] Es bleibt der vierte Bereich brig, der auf Anstand, Mahalten,
Bescheidenheit, Selbstbeherrschung und Migung beruht. Kann also etwas
ntzlich sein, das dieser Reihe so herrlicher Tugenden entgegengesetzt ist?
Gleichwohl verlegten die Cyrenaiker, die Anhnger Aristipps, und die
Annikerier, so genannte Philosophen, jedes Gut in die Freude und meinten, die
Tugend msse deswegen gelobt werden, weil sie die Urheberin der Freude sei;
als diese aus der Mode gekommen waren, stand Epikur in Ansehen, ein
Frderer und Vertreter fast derselben Lehrmeinung. Mit aller Macht, wie man
sagt, muss gestritten werden, wenn es unser Wille ist, das Sittlichgute zu
schtzen und zu bewahren.
[117] Denn wenn nicht nur der Nutzen, sondern das gesamte glckselige Leben
auf einer starken Verfassung des Krpers beruht und darauf, dass die Hoffnung
auf ein Fortbestehen dieses Zustandes ausgemacht ist, wie Metrodorus
geschrieben hat, wird dieser Nutzen, und zwar der hchste - so nmlich meinen
sie - sicher mit dem Sittlichguten im Streit liegen. Denn wo wird erstens der
Klugheit eine Stelle eingerumt? Etwa zu dem Zweck, dass sie die Gensse
berall zusammensucht? Wie erbrmlich ist die Dienstbarkeit der Tugend,
wenn sie der Freude dient. Was aber ist die Aufgabe der Klugheit? Etwa die
Freuden intelligent auszuwhlen? Setze den Fall, dass nichts angenehmer ist als
dieses, was kann da Schndlicheres gedacht werden? Ferner, welchen
Stellenwert hat bei demjenigen, der den Schmerz fr das grte bel hlt, die
Tapferkeit inne, welche in der Verachtung von Schmerzen und Strapazen
besteht? Denn auch wenn Epikur an vielen Stellen, wie er es auch wirklich tut,
recht energisch ber den Schmerz spricht, so ist dennoch nicht darauf zu
achten, was er sagt, sondern was fr ihn zu sagen konsequent wre, da er ja die
Gter nach der Freude, die bel nach dem Schmerz bemessen hat. Und wenn
ich auf ihn hren wollte hinsichtlich der Selbstbeherrschung und Migung:
Jener sagt zwar vieles an vielen Stellen, aber das Wasser fliet nicht, wie man
sagt. Denn wie kann derjenige die Migung loben, der das hchste Gut auf die
Freude verlegt? Die Migung ist nmlich die Feindin der Begierden, die
Begierden aber sind Anhngerinnen der Freude.
[118] Und dennoch suchen sie bei den drei besprochenen Kardinaltugenden so
gut sie knnen nicht ungeschickt Ausflchte. Die Klugheit fhren sie als Wissen
ein, das reichlich Freuden gewhrt, Schmerzen aber vertreibt. Auch die
Tapferkeit erklren sie irgendwie, wenn sie lehren, sie sei ein vernnftiges
Mittel, den Tod zu vernachlssigen und den Schmerz zu erdulden. Sogar die
Migung fhren jene auf, zwar mit grter Mhe, aber dennoch so gut sie
knnen. Sie sagen nmlich, dass sich die Gre der Freude nach der Befreiung
vom Schmerz bemisst. Die Gerechtigkeit steht auf schwachen Fen oder liegt
vielmehr danieder und all die Tugenden, die sich im Gemeinschaftsleben und in
der Verbindung des Menschengeschlechts zeigen. Denn Rechtschaffenheit,
Freigebigkeit und Freundlichkeit knnen nicht existieren ebensowenig wie die
Freundschaft, wenn diese nicht um ihrer selbst willen begehrt, sondern auf die
Freude oder den Nutzen bezogen werden. Wir wollen also kurz
zusammenfassen.
[119] Denn wie wir gezeigt haben, dass es keinen Nutzen gibt, der dem
Sittlichguten entgegengesetzt ist, so sagen wir, dass jeder sinnliche Genuss
erkenne, dass du dich ber diese Art des Wissens freust, werde ich persnlich
mit dir in nchster Zeit, wie ich hoffe, und fr die Zeit deiner Abwesenheit als
Abwesender sprechen. Lebe also wohl, mein Cicero, und berzeuge dich davon,
dass du fr mich sicherlich der liebste Mensch bist, dass du mir aber viel lieber
sein wirst, wenn du dich ber derartige Werke und Weisungen freust.