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Saussure Grundfragen Fragment

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Zeichen, Bezeichnung, Bezeichnetes.

77

Betrachtungsweise uns der Wahrheit näherbringen, indem sie


uns zeigt, daß die sprachliche Einheit etwas Doppelseitiges ist,
das aus der Vereinigung zweier Bestandteile hervorgeht.
Wir haben S. 14 beim Kreislauf des Sprechens gesehen, daß
die im sprachlichen Zeichen enthaltenen Bestandteile alle beide
psychisch sind, und daß sie in unserm Gehirn durch das Band
der Assoziation verknüpft sind. Diesen Punkt müssen wir im
Auge behalten.
Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen
und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild1).
Dieses letztere ist nicht der tatsächliche Laut, der lediglich
etwas Physikalisches ist, sondern der psychische Eindruck dieses
Lautes, die Vergegenwärtigung desselben auf Grund unserer
Empfindungswahrnehmungen ; es ist sensorisch, und wenn wir es
etwa gelegentlich „materiell" nennen, so ist damit eben das
Sensorische gemeint im Gegensatz zu dem andern Glied der
assoziativen Verbindung, der Vorstellung, die im allgemeinen
mehr abstrakt ist.
Der psychische Charakter unserer Lautbilder wird ganz
klar, wenn wir uns selbst beobachten. Ohne die Lippen oder
die Zunge zu bewegen, können wir mit uns selbst sprechen oder
uns im Geist ein Gedicht vorsagen. Gerade deshalb, weil die
Worte der Sprache für uns Lautbilder sind, sollte man nicht
von den Lauten als Phonemen sprechen, aus denen sie zusammen-
gesetzt sind. Denn dieser Ausdruck deutet auf mündliche Sprech-
tätigkeit und paßt nur zum gesprochenen Wort, zur Verwirk-
lichung des inneren Bildes in der Rede. Man muß sich stets
daran erinnern, daß es sich nur um das innere Bild der lautlichen
Erscheinung handelt.

*) Der Terminus „Lautbild" könnte vielleicht als zu eng gefaßt er-


scheinen, weil neben der Vorstellung von dem Laut eines Wortes auch die-
jenige seiner Artikulation, die Bewegungsgefühle des Lautgebungsaktes be-
stehen. Jedoch ist für F. de S. die Sprache im wesentlichen ein Vorrat, etwas
von außen Empfangenes (vgl. S. 16). Das Lautbild ist in erster Linie die
natürliche Vergegenwärtigung des Wortes als Sprachbestandteil ohne Rück-
sicht auf die Verwirklichung durch das Sprechen. Die motorische Seite kann
also mit inbegriffen sein oder allenfalls eine untergeordnete Stellung im Ver-
gleich zum Lautbild haben. (Die Herausgeber.)
Beliebigkeit des Zeichens. 79

durch Bezeichnetes und Bezeichnung (Bezeichnendes) ersetzt; die


beiden letzteren Ausdrücke haben den Vorzug, den Gegensatz
hervorzuheben, der sie voneinander trennt und von dem Ganzen,
dessen Teile sie sind. Für dieses selbst begnügen wir uns
mit dem Ausdruck „Zeichen", weil kein anderer sich dafür
finden läßt.
Das so definierte sprachliche Zeichen hat zwei Grundeigen-
schaften. Indem wir sie namhaft machen, stellen wir die Grund-
sätze auf für eine jede Untersuchung dieser Art.

§ 2. Erster Grandsatz: Beliebigkeit des Zeichens.


Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung
verknüpft, ist beliebig; und da wir unter Zeichen das durch die
assoziative Verbindung einer Bezeichnung mit einem Bezeich-
neten erzeugte Ganze verstehen, so können wir dafür auch ein-
facher sagen: das sprachliche Zeichen ist beliebig.
So ist die Vorstellung „Schwester" durch keinerlei innere
Beziehung mit der Lautfolge 'Schwester verbunden, die ihr als
Bezeichnung dient; sie könnte ebensowohl dargestellt sein durch
irgendeine andere Lautfolge: das beweisen die Verschieden-
heiten unter den Sprachen und schon das Vorhandensein ver-
schiedener Sprachen: das Bezeichnete „Ochs" hat auf dieser
Seite der Grenze als Bezeichnung o-k-s, auf jener Seite b-ö-f
(boeuf).
Der Grundsatz der Beliebigkeit des Zeichens wird von
niemand bestritten; aber es ist oft leichter, eine Wahrheit zu
entdecken, als ihr den gehörigen Platz anzuweisen. Dieser
Grundsatz beherrscht die ganze Wissenschaft von der Sprache;
die Folgerungen daraus sind unzählig. Allerdings leuchten sie
nicht alle im ersten Augenblick mit gleicher Deutlichkeit ein;
erst nach mancherlei Umwegen entdeckt man sie und mit ihnen
die prinzipielle Bedeutung des Grundsatzes.
Eine Bemerkung nebenbei: Wenn die Wissenschaft der
Semeologie ausgebildet sein wird, wird sie sich fragen müssen,
ob die Ausdrucksformen, die auf völlig natürlichen Zeichen be-
ruhen — wie die Pantomime —, ihr mit Recht zukommen. Und
auch wenn sie dieselben mitberücksichtigt, so werden ihr Haupt-
80 Allgemeine Grundlagen.

gegenständ gleichwohl die auf die Beliebigkeit des Zeichens be-


gründeten Systeme sein. Tatsächlich beruht jedes in einer Ge-
sellschaft rezipierte Ausdrucksmittel im Grunde auf einer Kollek-
tivgewohnheit, oder, was auf dasselbe hinauskommt, auf der
Konvention. Die Höflichkeitszeichen z. ., die häufig aus
natürlichen Ausdrucksgebärden hervorgegangen sind (man denke
etwa daran, daß der Chinese seinen Kaiser begrüßte, indem er
sich neunmal auf die Erde niederwarf), sind um deswillen doch
nicht minder durch Regeln festgesetzt ; durch diese Regeln, nicht
durch die innere Bedeutsamkeit, ist man gezwungen, sie zu ge-
brauchen. Man kann also sagen, daß völlig beliebige Zeichen
besser als andere das Ideal des semeologischen Verfahrens ver-
wirklichen; deshalb ist auch die Sprache, das reichhaltigste und
verbreitetste Ausdruckssystem, zugleich das charakteristischste
von allen; in diesem Sinn kann die Sprachwissenschaft Muster-
beispiel und Hauptvertreter der ganzen Semeologie werden,
obwohl die Sprache nur ein System unter anderen ist.
Man hat auch das Wort Symbol für das sprachliche Zeichen
gebraucht, genauer für das, was wir die Bezeichnung nennen.
Aber dieser Ausdruck hat seine Nachteile, und zwar gerade
wegen unseres ersten Grundsatzes. Beim Symbol ist es nämlich
wesentlich, daß es niemals ganz beliebig ist ; es ist nicht inhaltlos,
sondern bei ihm besteht bis zu einem gewissen Grade eine natür-
liche Beziehung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem. Das
Symbol der Gerechtigkeit, die Waage, könnte nicht etwa durch
irgend etwas anderes, z. B. einen Wagen, ersetzt werden.
Das Wort „beliebig" erfordert hierbei eine Bemerkung. Es
soll nicht die Vorstellung erwecken, als ob die Bezeichnung von
der freien Wahl der sprechenden Person abhinge (weiter unten
werden wir sehen, daß es nicht in der Macht des Individuums
steht, irgend etwas an dem einmal bei einer Sprachgemeinschaft
geltenden Zeichen zu ändern); es soll besagen, daß es u n m o t i -
v i e r t ist, d. h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten, mit
welchem es in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammen-
gehörigkeit hat.
Zum Schluß will ich noch zwei Einwände erwähnen, die
gegen die Aufstellung dieses ersten Grundsatzes erhoben werden
könnten :
Beliebigkeit des Zeichens. 81

1. Man könnte unter Berufung auf die Onomatopoetika


sagen, daß die Wahl der Bezeichnung nicht immer beliebig ist.
Aber diese sind niemals organische Elemente eines sprachlichen
Systems. Außerdem ist ihre Anzahl viel geringer, als man glaubt.
Wörter wie fouet (Peitsche) und glas (Totenglocke) können für
manches Ohr einen Klang haben, der an sich schon etwas vom
Eindruck der Wortbedeutung erweckt. Daß dies aber jenen
Wörtern nicht von Anfang an eigen ist, kann man aus ihren
lateinischen Ursprungsformen ersehen (fouet von lat. fägus
„Buche", glas = classisum); der Klang ihrer gegenwärtigen Laut-
gestalt, in dem man diese Ausdruckskraft zu finden glaubt,
ist ein zufälliges Ergebnis ihrer lautgeschichtlichen Entwick-
lung.
Was die eigentlichen Onomatopoetika betrifft (von der Art
wie glou-glou „Gluckgluck, Geräusch beim Einschenken", Tick-
tack), so sind diese nicht nur gering an Zahl, sondern es ist
auch bei ihnen die Prägung schon in einem gewissen Grad
beliebig, da sie nur die annähernde und bereits halb kon-
ventionelle Nachahmung gewisser Laute sind (vgl. franz. ouaoua
und deutsch wau wau). Außerdem werden sie, nachdem sie
einmal in die Sprache eingeführt sind, von der lautlichen
und morphologischen Entwicklung erfaßt, welche die andern
Wörter erleiden (vgl. engl, pigeon von vulgärlat. pipiö, das
seinerseits von einem onomatopoetischen Worte kommt): ein
deutlicher Beweis dafür, daß sie etwas von ihrem ursprüng-
lichen Charakter verloren und dafür der allgemeinen Natur der
sprachlichen Zeichen, die unmotiviert sind, sich angenähert
haben.
2. Die Ausrufe, die den Onomatopoetika sehr nahe stehen,
geben Anlaß zu entsprechenden Bemerkungen und gefährden
unsere These ebensowenig. Man ist versucht, in ihnen einen
spontanen Ausdruck des Sachverhalts zu sehen, der sozusagen
von der Natur diktiert ist. Aber bei der Mehrzahl von ihnen
besteht ebenfalls kein natürliches Band zwischen Bezeichnetem
und Bezeichnendem. Es genügt, unter diesem Gesichtspunkt
zwei Sprachen zu vergleichen, um zu erkennen, wie sehr diese
Ausdrücke von einer zur andern wechseln (z. B. entspricht
deutschem au! französisches aïe!). Außerdem waren viele Aus-
F e r d i n a n d de S a u s s u r e , Vorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaft. 6
82 Allgemeine Grundlagen.

rufe bekanntlich zunächst Wörter von bestimmtem Sinn (vgl.


diable! mordieu! = mort Dieu usw.).
Zusammenfassend kann man sagen, die Onomatopoetika
und die Ausrufungen sind von sekundärer Wichtigkeit, und ihr
symbolischer Ursprung ist z. T. anfechtbar.

§ 3. Zweiter Grundsatz; der lineare Charakter des Zeichens.


Das Bezeichnende, als etwas Hörbares, verläuft ausschließ-
lich in der Zeit und hat Eigenschaften, die von der Zeit bestimmt
sind: a) es s t e l l t eine Ausdehnung dar, und b) diese
Ausdehnung ist meßbar in einer einzigen Dimension:
es ist eine Linie.
Dieser Grundsatz leuchtet von selbst ein, aber es scheint,
daß man bisher versäumt hat, ihn auszusprechen, sicherlich,
weil er als gar zu einfach erschien; er ist jedoch grundlegender
Art und seine Konsequenzen unabsehbar; er ist ebenso wichtig
wie das erste Gesetz. Der ganze Mechanismus der Sprache
hängt davon ab (vgl. S. 152). Im Gegensatz zu denjenigen
Bezeichnungen, die sichtbar sind (maritime Signale usw.) und
gleichzeitige Kombinationen in verschiedenen Dimensionen dar-
bieten können, gibt es für die akustischen Bezeichnungen nur
die Linie der Zeit; ihre Elemente treten nacheinander auf; sie
bilden eine Kette. Diese Besonderheit stellt sich unmittelbar
dar, sowie man sie durch die Schrift vergegenwärtigt und die
räumliche Linie der graphischen Zeichen an Stelle der zeitlichen
Aufeinanderfolge setzt.
In gewissen Fällen tritt das nicht so klar hervor. Wenn
ich z. B. eine Silbe akzentuiere, dann scheint es, als ob ich
verschiedene bedeutungsvolle Elemente auf einen Punkt an-
häufte. Das ist jedoch nur eine Täuschung; die Silbe und ihr
Akzent bilden nur einen einzigen Lautgebungsakt ; es gibt
keine Zweiheit innerhalb dieses Aktes, sondern nur verschie-
dene Gegensätzlichkeiten zum Vorausgehenden und Folgenden
(vgl. darüber S. 156).
Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit des Zeichens. 83

Kapitel IL
Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit
des Zeichens.
| 1. Unveränderlichkeit.
Wenn die Bezeichnung hinsichtlich der Vorstellung, die sie
vertritt, als frei gewählt erscheint, so ist sie dagegen in Be-
ziehung auf die Sprachgemeinschaft, in der sie gebraucht wird,
nicht frei, sondern ihr auferlegt. Die Masse der Sprachgenossen
wird in der Wahl der Bezeichnung nicht zu Kate gezogen, und
die von der Sprache gewählte Bezeichnung könnte nicht durch
eine andere ersetzt werden. Dieser Sachverhalt scheint einen
Widerspruch zu enthalten, und es ist daher, als ob zu der Sprache
gesagt würde: „Wähle!" — sogleich aber beigefügt: „Dies Zeichen
soll es sein und kein anderes." Nicht nur ein Individuum wäre
außerstande, wenn es wollte, die vollzogene Wahl nur im gering-
sten zu ändern, sondern auch die Masse selbst kann keine
Herrschaft nur über ein einziges Wort ausüben ; sie ist gebunden
an die Sprache so wie sie ist.
Man kann die Sprache also nicht einfach für einen bloßen
Kontrakt halten, und es ist besonders lehrreich, das sprach-
liche Zeichen gerade von dieser Seite aus zu untersuchen; denn
wenn man beweisen will, daß ein in einer sozialen Gemein-
schaft geltendes Gesetz etwas Feststehendes ist, dem man wirk-
lich unterworfen ist, und nicht nur eine freiwillig übernommene
Regel darstellt, so bietet die Sprache das allerüberzeugendste
Beweisstück dafür.
In welcher Weise ist nun das sprachliche Zeichen dem
Einfluß unseres Willens entrückt, und ferner: welches sind die
wichtigsten Folgerungen, die sich daraus ergeben?
In jeder beliebigen Epoche, so weit wir auch zurückgehen
mögen, erscheint die Sprache immer als das Erbe der voraus-
gehenden Epoche. Einen Vorgang, durch welchen irgendwann
den Sachen Namen beigelegt, in dem Vorstellungen und Laut-
bilder einen Pakt geschlossen hätten — einen solchen Vorgang
können wir uns zwar begrifflich vorstellen, aber niemals hat man
so etwas beobachtet und festgestellt. Der Gedanke, daß so etwas
6*
84 Allgemeine Grundlagen.

hätte vor sich gehen können, wird uns nur durch unser ganz
lebendiges Gefühl von der Beliebigkeit der Zeichen nahegelegt.
In Wahrheit hat keine Gemeinschaft die Sprache je anders
gekannt denn als ein von den früheren Generationen ererbtes
Produkt, das man so, wie es war, zu übernehmen hatte. Daher
ist die Frage nach dem Ursprung der Sprache nicht so wichtig,
wie man im allgemeinen annimmt. Diese Frage sollte man über-
haupt gar nicht stellen; das einzig wahre Objekt der Sprach-
wissenschaft ist das normale und regelmäßige Leben eines schon
vorhandenen Idioms. Der gegebene Zustand einer Sprache ist
immer das Erzeugnis historischer Faktoren, und diese Faktoren
bieten die Erklärung, warum das Zeichen unveränderlich ist,
d. h. jeder willkürlichen Ersetzung widersteht.
Der Umstand, daß die Sprache eine Erbschaft ist, erklärt
aber für sich allein noch nichts, wenn man nicht weitergeht.
Kann man nicht von einem Augenblick zum andern Verände-
rungen vornehmen an den Gesetzen, die ererbt und zur Zeit
in Geltung sind?
Dieser Einwand führt uns darauf, die Sprache in den sozialen
Rahmen einzugliedern und die Frage so zu stellen, wie man
es bei andern sozialen Einrichtungen tun würde. Wie übertragen
sich diese? So gestellt, hat die Frage allgemeine Geltung und
schließt die Frage nach der Unveränderlichkeit in sich. Es gilt
also, zuerst den größeren oder geringeren Grad der Freiheit,
die bei den andern Institutionen obwaltet, zu beurteilen; dabei
zeigt sich, daß bei jeder derselben ein verschiedener Gleich-
gewichtszustand zwischen feststehender Tradition und freier
Tätigkeit der Gesellschaft besteht. Dann gilt es, zu untersuchen,
warum in einer bestimmten Kategorie die Faktoren der ersteren
Art denen der zweiten Art an Wirksamkeit überlegen oder unter-
legen sind. Endlich wird man, auf die Sprache zurückkommend,
sich fragen, warum sie ganz und gar beherrscht wird von der
historischen Tatsache der Übertragung, und warum dies jede
allgemeine und plötzliche sprachliche Änderung ausschließt.
Bei der Beantwortung dieser Frage könnte man viele Gründe
angeben und z. B. sagen, daß die Veränderungen der Sprache
nicht an die Abfolge der Generationen geknüpft sind; denn diese
lagern sich keineswegs in der Weise übereinander wie die Schub-
Unveränderlichkeit des Zeichens. 85

laden eines Möbels, sondern sie mischen sich, durchdringen sich


gegenseitig, und in ihnen allen befinden sich Individuen jeden
Alters. Man könnte auch an die zur Erlernung der Mutter-
sprache erforderliche geistige Arbeitsleistung erinnern, um daraus
auf die Unmöglichkeit einer allgemeinen Umgestaltung zu
schließen. Ferner kann man darauf hinweisen, daß die Über-
legung bei dem Gebrauch eines Idioms nicht beteiligt ist; daß
die Gesetze der Sprache den sprechenden Personen großenteils
nicht bewußt sind ; und wenn sie sich darüber nicht Rechenschaft
geben, wie könnten sie dieselben umgestalten ? Und selbst wenn
sie sich ihrer bewußt wären, so müßte man sich gegenwärtig
halten, daß die sprachlichen Tatsachen kaum zu Kritik Anlaß
geben, insofern nämlich jedes Volk im allgemeinen mit der
Sprache, die es empfangen hat, zufrieden ist.
Diese Überlegungen sind wichtig, aber sie sind nicht ent-
scheidend; größeres Gewicht ist auf die folgenden zu legen, die
wesentlicher, direkter sind, und von denen alle andern abhängen.
1. Die Beliebigkeit des Zeichens. Weiter oben ließ
diese uns die theoretische Möglichkeit einer Änderung annehmen ;
wenn wir tiefer gehen, sehen wir, daß tatsächlich gerade die
Beliebigkeit des Zeichens die Sprache vor jedem Bestreben, das
auf eine Umgestaltung ausgeht, bewahrt. Selbst wenn die
Menge der Sprachgenossen in höherem Grade, als es tatsächlich
der Fall ist, sich der sprachlichen Verhältnisse bewußt wäre,
so könnte sie dieselben nicht in Erörterung ziehen. Denn es
kann etwas nur dann der Diskussion unterstellt werden, wenn
es auf einer vernünftigen Norm beruht. Man kann z. B. er-
örtern, ob die monogamische Ehe vernunftgemäßer ist als
die polygamische und für beide Vernunftgründe anführen. Man
könnte auch ein System von Symbolen einer Diskussion unter-
werfen, weil das Symbol eine rationale Beziehung mit der be-
zeichneten Sache hat (vgl. S. 80) ; bezüglich der Sprache jedoch,
als eines Systems von beliebigen Zeichen, fehlt eine solche Grund-
lage, und deshalb fehlt auch für jede Diskussion der feste Boden.
Es besteht keinerlei Ursache, soeur vor sister, Ochs vor boeuf
usw. vorzuziehen.
2. Die große Zahl der Zeichen, die nötig sind, um
irgendeine Sprache zu bilden. Die Tragweite dieser Tat-
86 Allgemeine Grundlagen.

sache ist beträchtlich. Ein Schriftsystem, das 20—40 Buch-


staben umfaßt, könnte, streng genommen, durch ein anderes
ersetzt werden. Ebenso wäre es mit der Sprache, wenn sie
eine begrenzte Anzahl von Elementen enthielte; aber die
sprachlichen Zeichen sind zahllos.
3. Die zu große K o m p l i z i e r t h e i t des Systems.
Eine Sprache bildet ein System. Wenn sie in dieser Beziehung,
wie wir sehen werden, nicht vollkommen beliebig ist, sondern
dabei auch gewisse Begründungen herrschen, so ist auch das
ein Punkt, wo sich zeigt, daß die Masse der Sprachgenossen
nicht befähigt ist, sie umzugestalten, denn dieses System ist
ein komplizierter Mechanismus; man kann es nur durch Nach-
denken fassen; sogar diejenigen, welche es täglich gebrauchen,
haben keine Ahnung davon. Man könnte sich eine solche Um-
gestaltung nur vorstellen bei Mitwirkung von Spezialisten,
Grammatikern, Logikern usw.; aber die Erfahrung zeigt, daß
bis jetzt Einmischungen dieser Art keinerlei Erfolg gehabt
haben.
4. Das B e h a r r u n g s s t r e b e n der Menge von Sprach-
genossen s t e h t sprachlichen Neuerungen im Wege.
Wichtiger als das alles ist, daß jedermann jeden Augenblick mit
der Sprache zu tun hat ; sie ist in einer Masse verbreitet und wird
von ihr gehandhabt; sie ist etwas, das sämtliche Individuen
tagaus, tagein gebrauchen. In dieser Beziehung ist keine andere
Institution mit ihr vergleichbar. Mit den Vorschriften eines
Gesetzbuches, mit den Gebräuchen einer Pveligion, den Signalen
einer Flotte usw. hat immer nur eine gewisse Anzahl von In-
dividuen gleichzeitig zu tun und nur während einer begrenzten
Zeit ; an der Sprache dagegen hat jedermann in jedem Augenblick
teil, und daher erfährt sie ohne Unterlaß den Einfluß aller. Diese
Haupttatsache genügt, um zu zeigen, wie unmöglich eine völlige
Umwälzung wäre. Die Sprache ist von allen sozialen Einrich-
tungen diejenige, welche am wenigsten zur Initiative Gelegen-
heit gibt. Sie gehört unmittelbar mit dem sozialen Leben der
Masse zusammen, und diese ist natürlicherweise schwerfällig
und hat vor allem eine konservierende Wirkung.
Gleichwohl genügt die Peststellung, daß die Sprache ein
Produkt sozialer Kräfte ist, nicht dazu, um klar erkennen zu
Veränderlichkeit des Zeichens. 87

lassen, daß sie nicht frei ist; man muß im Auge behalten, daß
sie jederzeit das Erbe einer vorausgehenden Epoche ist, und
außerdem noch sich vergegenwärtigen, daß jene sozialen Kräfte
vermöge der Zeit und durch ihren Verlauf wirksam sind. Daß
eine wesentliche Eigenschaft der Sprache die Beständigkeit ist,
hat seinen Grund nicht nur darin, daß sie in der Gesamtheit
verankert ist, sondern auch darin, daß sie in der Zeit steht.
Diese beiden Tatsachen sind untrennbar voneinander. Die
Freiheit der Wahl wird in jedem Augenblick durch die Überein-
stimmung mit der Vergangenheit in Schach gehalten: wir sagen
Mensch und Hund, weil man vor uns Mensch und Hund gesagt
hat. Betrachtet man jedoch die Sprache als Gesamterscheinung,
so besteht gleichwohl ein Zusammenhang zwischen diesen beiden
einander widersprechenden Tatsachen: der freien Übereinkunft,
kraft deren die Wahl in das Belieben gestellt ist, und der Zeit,
vermöge deren das Ergebnis der Wahl schon festgelegt ist.
Gerade deshalb, weil das Zeichen beliebig ist, gibt es für dasselbe
kein anderes Gesetz als das der Überlieferung, und weil es auf
die Überlieferung begründet ist, kann es beliebig sein.

§ 2. Veränderlichkeit.
Die Zeit, welche die Kontinuität der Sprache gewährleistet,
hat noch eine andere Wirkung, die anscheinend der vorigen wider-
spricht : nämlich daß die sprachlichen Zeichen mehr oder weniger
schnell umgestaltet werden, und in einem gewissen Sinn kann
man zu gleicher Zeit von der Unveränderlichkeit und von der
Veränderlichkeit des Zeichens sprechen1).
Im letzten Grunde bedingen sich diese beiden Tatsachen
gegenseitig: das Zeichen wird umgestaltet, weil es sich ununter-
brochen in der Zeit fortpflanzt. Das Vorherrschende bei einer
jeden Umgestaltung ist aber, daß die ursprüngliche Materie
*) Es wäre nicht richtig, hier F. de S. vorzuwerfen, daß es un-
logisch oder paradox sei, wenn er der Sprache zwei widersprechende Eigen-
schaften beilegt. Durch die auffällige und überraschende Gegenüberstellung
dieser beiden Ausdrücke wollte er nur mit Entschiedenheit auf die Wahrheit
hinweisen, daß die Sprache sich umgestaltet, ohne daß die Individuen sie
umgestalten können. (Die Herausgeber.)
88 Allgemeine Grundlagen.

dabei fortbesteht; die Abweichung vom Vergangenen ist nur


relativ. Insofern also beruht die Umgestaltung auf der ununter-
brochenen Fortpflanzung.
Die Umgestaltung in der Zeit hat verschiedene Formen,
deren jede den Gegenstand eines wichtigen Kapitels der Sprach-
wissenschaft ausmachen könnte. Ohne Eingehen auf Einzel-
heiten sei folgendes als wichtig hervorgehoben.
Zunächst darf kein Mißverständnis bestehen über den Sinn,
der hier dem Wort Umgestaltung beigelegt wird. Es könnte den
Eindruck erwecken, als handle es sich speziell um phonetische Ver-
änderungen, welche die Bezeichnung erleidet, oder um Verände-
rungen des Sinnes, welche die bezeichnete Vorstellung betreffen.
Diese Anschauung wäre unzureichend. Was auch immer die
Faktoren der Umgestaltung sein mögen, ob sie einzeln oder in
Verbindung wirken, sie laufen immer hinaus auf eine Verschie-
bung des Verhältnisses zwischen dem Bezeichneten
und der Bezeichnung.
Dafür einige Beispiele: das lat. necäre „töten" wurde franz.
noyer „ertränken". Lautbild und Vorstellung sind beide geändert;
aber es führt nicht weiter, wenn man diese beiden Seiten der
Erscheinung unterscheidet; vielmehr genügt es, für das Ganze
festzustellen, daß das Band zwischen Vorstellung und Bezeichnung
gelockert ist, und daß eine Verschiebung ihres Verhältnisses ein-
getreten ist. Wenn man das klassisch lateinische necäre nicht
mit dem franz. noyer, sondern mit dem vulgärlat. necäre des
4. oder 5. Jahrhunderts zusammenstellt, welches „ertränken"
bedeutet, so ist die Sache ein wenig anders; aber auch dann
besteht, obwohl keine merkliche Umgestaltung des Bezeichnen-
den vorliegt, eine Verschiebung der Beziehung zwischen Vor-
stellung und Bezeichnung.
Ursprüngliches deutsches dritteil ist im modernen Deutschen
zu Drittel geworden. In diesem Falle ist zwar die Vorstellung
die gleiche geblieben, die Beziehung aber in zweierlei Weise
verändert: das Bezeichnende ist modifiziert nicht nur seiner ma-
teriellen Gestalt nach, sondern auch in seiner grammatikalischen
Form ; es enthält nicht mehr die Vorstellung von Teil ; es ist ein
einfaches Wort. So oder so: es ist immer eine Verschiebung
des Verhältnisses.
Veränderlichkeit des Zeichens. 89

Im Angelsächsischen ist die vorliterarische Form föt „Fuß"


föt geblieben (neuengl. foot), während sein Plural *foti „Füße"
fei geworden ist (neuengl. feet). Gleichviel, welche Umgestal-
tungen hier vorgegangen sind, eines steht fest: es besteht eine
Verschiebung des Verhältnisses; es haben sich andere Ent-
sprechungen zwischen der lautlichen Masse und der Vorstellung
ergeben.
Keine Sprache kann sich der Einflüsse erwehren, welche auf
Schritt und Tritt das Verhältnis von Bezeichnetem und Be-
zeichnendem verrücken. Das ist eine Folge der Beliebigkeit
des Zeichens.
Die andern menschlichen Einrichtungen — Sitten, Gesetze
usw. — sind alle in verschiedenem Maße auf natürliche Be-
ziehungsverhältnisse der Dinge begründet ; bei ihnen besteht eine
notwendige Übereinstimmung zwischen den angewandten Mitteln
und den beabsichtigten Zwecken. Selbst die Mode, welche unsere
Kleidung bestimmt, ist nicht völlig beliebig: man kann von ihr
nicht über ein gewisses Maß hinaus abweichen, das von den
im menschlichen Körper selbst liegenden Bedingungen bestimmt
wird. Die Sprache dagegen ist in keiner Weise in der Wahl
ihrer Mittel beschränkt, denn es ist nicht einzusehen, was die
Assoziation irgendeiner beliebigen Vorstellung mit einer be-
liebigen Lautfolge verhindern könnte.
Um deutlich erkennen zu lassen, daß die Sprache lediglich
eine Institution ist, hat Whitney mit vollem Recht die Be-
liebigkeit der Zeichen betont ; und damit hat er die Sprachwissen-
schaft auf die richtige Grundlage gestellt. Aber er hat die Sache
nicht bis zu Ende gedacht und hat nicht gesehen, daß sich die
Sprache durch diese Beliebigkeit ganz und gar von allen andern
Institutionen unterscheidet. Man erkennt das deutlich an der
Art, wie sie sich entwickelt. Das ist ein sehr schwieriger
Vorgang: da sie zugleich in der sozialen Gemeinschaft und in
der Zeit besteht, kann niemand etwas daran ändern, und anderer-
seits bringt die Beliebigkeit ihrer Zeichen theoretisch die Mög-
lichkeit mit sich, jede beliebige Beziehung zwischen der laut-
lichen Materie und den Vorstellungen herzustellen. Daraus
ergibt sich, daß diese zwei Elemente, die im Zeichen vereint sind,
beide ihr eigenes Leben führen in einem übrigens unbekannten
90 Allgemeine Grundlagen.

Verhältnis, und daß die Sprache sich umgestaltet oder vielmehr


entwickelt unter dem Einfluß alles dessen, was entweder auf die
Laute oder auf den Sinn einwirken kann. Diese Entwicklung
ist unvermeidlich; es gibt kein Beispiel einer Sprache, die ihr
widerstanden hätte. Nach einer gewissen Zeit kann man über-
all merkliche Verschiebungen feststellen.
Das ist so richtig, daß dieser Grundsatz sich auch hinsicht-
lich der künstlichen Sprachen bestätigt. Derjenige, welcher eine
Sprache schafft, hat sie in der Hand, solange sie noch nicht im
Umlauf ist; aber von dem Augenblick an, wo sie ihrer Aufgabe
dient und in allgemeinen Gebrauch kommt, entzieht sie sich
der Kontrolle. Das Esperanto ist ein Versuch dieser Art; wenn
er gelänge, würde es dann jenem unvermeidlichen Gesetz ent-
gehen? Nach Verlauf einer kurzen Zeit würde die Sprache
höchstwahrscheinlich in ihr semeologisches Leben eintreten; sie
würde sich fortpflanzen gemäß Gesetzen, die nichts zu tun haben
mit ihrer Entstehung aus Überlegungen, und man könnte nicht
wieder auf ihren Ursprung zurückkommen. Ein Mensch, der
es unternähme, eine unveränderliche Sprache zu schaffen, die
die Nachwelt übernehmen müßte so wie sie ist, würde der Henne
gleichen, die ein Entenei ausgebrütet hat: die durch ihn einmal
geschaffene Sprache würde wohl oder übel fortgerissen durch
den Verlauf, der die Entwicklung aller Sprachen bestimmt.
Das ununterbrochene Fortbestehen des Zeichens in der Zeit,
das geknüpft ist an die Umgestaltung in der Zeit, ist eine Grund-
tatsache der allgemeinen Semeologie ; Bestätigungen davon könnte
man finden in den Schriftsystemen, in der Sprache der Taub-
stummen usw.
Worauf ist aber die Notwendigkeit der Veränderungen be-
gründet ? Man wird mir vielleicht vorwerfen, daß ich über diesen
Punkt nicht ebenso ausführlich gehandelt habe wie über das
Prinzip der Unveränderlichkeit : das hat seinen Grund darin,
daß ich die verschiedenen Faktoren der Umgestaltung nicht
unterschieden habe; man müßte alle diese mannigfachen Fak-
toren einzeln ins Auge fassen, um zu entscheiden, bis zu welchem
Grade sie notwendig sind.
Die Ursachen der ununterbrochenen Fortdauer ergeben sich
dem Beobachter a priori ; anders verhält es sich mit den Ur-
Statische und evolutive Sprachwissenschaft. 93

Kräfte, denen die Sprache ausgesetzt ist, nicht erkennen können.


Um also etwas Wirkliches und Tatsächliches vor sich zu haben,
muß man unserm ersten Schema noch ein Zeichen beifügen,
welches den Verlauf der Zeit andeutet.
Dann aber ist die Sprache nicht mehr frei, weil nun die
Zeit die Möglichkeit bietet, daß die auf die Sprache ein-
wirkenden sozialen Kräfte auch Wirkungen hervorbringen, und
so gelangt man zu der Grundtatsache der Fortdauer, welche die
Freiheit aufhebt. Das Fortbestehen aber trägt notwendiger-
weise die Umgestaltung in sich, eine mehr oder weniger beträcht-
liche Verschiebung der Beziehungen.

Kapitel I I I .
Statische mid evolutive Sprachwissenschaft.
§ 1. Die innere Doppelheit aller der Wissenschaften, die es mit
Werten zu tun haben.
Wohl kaum dürfte ein Sprachforscher es in Zweifel ziehen,
daß der Einfluß der Zeit besondere Schwierigkeiten in der Sprach-
wissenschaft mit sich bringt, und daß um dessentwillen seine
Wissenschaft zwei vollständig auseinandergehende Wege ein-
zuschlagen hat.
Die Mehrzahl der andern Wissenschaften kennt diese tief-
greifende Zweiheit nicht ; die Zeit bringt bei ihnen keine be-
sonderen Wirkungen hervor. Die Astronomie hat festgestellt,
daß die Gestirne merklichen Veränderungen unterworfen sind;
aber sie ist dadurch nicht gezwungen, sich in zwei Disziplinen
zu spalten. Die Geologie beschäftigt sich fast ständig mit Auf-
einanderfolgen; aber wenn sie auf die feststehenden Zustände
der Erde eingeht, so macht sie das nicht zum Gegenstand einer
völlig verschiedenen Untersuchung. Es gibt eine beschreibende
Rechtswissenschaft und eine Rechtsgeschichte, aber niemand
stellt die eine in Gegensatz zur andern. Die politische Geschichte
bewegt sich ganz und gar in der Zeit; doch wenn ein Historiker
das Bild einer Epoche entwirft, so hat man nicht den Eindruck,
sich von der Geschichte zu entfernen. Umgekehrt ist die Staats-

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