Saussure Grundfragen Fragment
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Kapitel IL
Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit
des Zeichens.
| 1. Unveränderlichkeit.
Wenn die Bezeichnung hinsichtlich der Vorstellung, die sie
vertritt, als frei gewählt erscheint, so ist sie dagegen in Be-
ziehung auf die Sprachgemeinschaft, in der sie gebraucht wird,
nicht frei, sondern ihr auferlegt. Die Masse der Sprachgenossen
wird in der Wahl der Bezeichnung nicht zu Kate gezogen, und
die von der Sprache gewählte Bezeichnung könnte nicht durch
eine andere ersetzt werden. Dieser Sachverhalt scheint einen
Widerspruch zu enthalten, und es ist daher, als ob zu der Sprache
gesagt würde: „Wähle!" — sogleich aber beigefügt: „Dies Zeichen
soll es sein und kein anderes." Nicht nur ein Individuum wäre
außerstande, wenn es wollte, die vollzogene Wahl nur im gering-
sten zu ändern, sondern auch die Masse selbst kann keine
Herrschaft nur über ein einziges Wort ausüben ; sie ist gebunden
an die Sprache so wie sie ist.
Man kann die Sprache also nicht einfach für einen bloßen
Kontrakt halten, und es ist besonders lehrreich, das sprach-
liche Zeichen gerade von dieser Seite aus zu untersuchen; denn
wenn man beweisen will, daß ein in einer sozialen Gemein-
schaft geltendes Gesetz etwas Feststehendes ist, dem man wirk-
lich unterworfen ist, und nicht nur eine freiwillig übernommene
Regel darstellt, so bietet die Sprache das allerüberzeugendste
Beweisstück dafür.
In welcher Weise ist nun das sprachliche Zeichen dem
Einfluß unseres Willens entrückt, und ferner: welches sind die
wichtigsten Folgerungen, die sich daraus ergeben?
In jeder beliebigen Epoche, so weit wir auch zurückgehen
mögen, erscheint die Sprache immer als das Erbe der voraus-
gehenden Epoche. Einen Vorgang, durch welchen irgendwann
den Sachen Namen beigelegt, in dem Vorstellungen und Laut-
bilder einen Pakt geschlossen hätten — einen solchen Vorgang
können wir uns zwar begrifflich vorstellen, aber niemals hat man
so etwas beobachtet und festgestellt. Der Gedanke, daß so etwas
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84 Allgemeine Grundlagen.
hätte vor sich gehen können, wird uns nur durch unser ganz
lebendiges Gefühl von der Beliebigkeit der Zeichen nahegelegt.
In Wahrheit hat keine Gemeinschaft die Sprache je anders
gekannt denn als ein von den früheren Generationen ererbtes
Produkt, das man so, wie es war, zu übernehmen hatte. Daher
ist die Frage nach dem Ursprung der Sprache nicht so wichtig,
wie man im allgemeinen annimmt. Diese Frage sollte man über-
haupt gar nicht stellen; das einzig wahre Objekt der Sprach-
wissenschaft ist das normale und regelmäßige Leben eines schon
vorhandenen Idioms. Der gegebene Zustand einer Sprache ist
immer das Erzeugnis historischer Faktoren, und diese Faktoren
bieten die Erklärung, warum das Zeichen unveränderlich ist,
d. h. jeder willkürlichen Ersetzung widersteht.
Der Umstand, daß die Sprache eine Erbschaft ist, erklärt
aber für sich allein noch nichts, wenn man nicht weitergeht.
Kann man nicht von einem Augenblick zum andern Verände-
rungen vornehmen an den Gesetzen, die ererbt und zur Zeit
in Geltung sind?
Dieser Einwand führt uns darauf, die Sprache in den sozialen
Rahmen einzugliedern und die Frage so zu stellen, wie man
es bei andern sozialen Einrichtungen tun würde. Wie übertragen
sich diese? So gestellt, hat die Frage allgemeine Geltung und
schließt die Frage nach der Unveränderlichkeit in sich. Es gilt
also, zuerst den größeren oder geringeren Grad der Freiheit,
die bei den andern Institutionen obwaltet, zu beurteilen; dabei
zeigt sich, daß bei jeder derselben ein verschiedener Gleich-
gewichtszustand zwischen feststehender Tradition und freier
Tätigkeit der Gesellschaft besteht. Dann gilt es, zu untersuchen,
warum in einer bestimmten Kategorie die Faktoren der ersteren
Art denen der zweiten Art an Wirksamkeit überlegen oder unter-
legen sind. Endlich wird man, auf die Sprache zurückkommend,
sich fragen, warum sie ganz und gar beherrscht wird von der
historischen Tatsache der Übertragung, und warum dies jede
allgemeine und plötzliche sprachliche Änderung ausschließt.
Bei der Beantwortung dieser Frage könnte man viele Gründe
angeben und z. B. sagen, daß die Veränderungen der Sprache
nicht an die Abfolge der Generationen geknüpft sind; denn diese
lagern sich keineswegs in der Weise übereinander wie die Schub-
Unveränderlichkeit des Zeichens. 85
lassen, daß sie nicht frei ist; man muß im Auge behalten, daß
sie jederzeit das Erbe einer vorausgehenden Epoche ist, und
außerdem noch sich vergegenwärtigen, daß jene sozialen Kräfte
vermöge der Zeit und durch ihren Verlauf wirksam sind. Daß
eine wesentliche Eigenschaft der Sprache die Beständigkeit ist,
hat seinen Grund nicht nur darin, daß sie in der Gesamtheit
verankert ist, sondern auch darin, daß sie in der Zeit steht.
Diese beiden Tatsachen sind untrennbar voneinander. Die
Freiheit der Wahl wird in jedem Augenblick durch die Überein-
stimmung mit der Vergangenheit in Schach gehalten: wir sagen
Mensch und Hund, weil man vor uns Mensch und Hund gesagt
hat. Betrachtet man jedoch die Sprache als Gesamterscheinung,
so besteht gleichwohl ein Zusammenhang zwischen diesen beiden
einander widersprechenden Tatsachen: der freien Übereinkunft,
kraft deren die Wahl in das Belieben gestellt ist, und der Zeit,
vermöge deren das Ergebnis der Wahl schon festgelegt ist.
Gerade deshalb, weil das Zeichen beliebig ist, gibt es für dasselbe
kein anderes Gesetz als das der Überlieferung, und weil es auf
die Überlieferung begründet ist, kann es beliebig sein.
§ 2. Veränderlichkeit.
Die Zeit, welche die Kontinuität der Sprache gewährleistet,
hat noch eine andere Wirkung, die anscheinend der vorigen wider-
spricht : nämlich daß die sprachlichen Zeichen mehr oder weniger
schnell umgestaltet werden, und in einem gewissen Sinn kann
man zu gleicher Zeit von der Unveränderlichkeit und von der
Veränderlichkeit des Zeichens sprechen1).
Im letzten Grunde bedingen sich diese beiden Tatsachen
gegenseitig: das Zeichen wird umgestaltet, weil es sich ununter-
brochen in der Zeit fortpflanzt. Das Vorherrschende bei einer
jeden Umgestaltung ist aber, daß die ursprüngliche Materie
*) Es wäre nicht richtig, hier F. de S. vorzuwerfen, daß es un-
logisch oder paradox sei, wenn er der Sprache zwei widersprechende Eigen-
schaften beilegt. Durch die auffällige und überraschende Gegenüberstellung
dieser beiden Ausdrücke wollte er nur mit Entschiedenheit auf die Wahrheit
hinweisen, daß die Sprache sich umgestaltet, ohne daß die Individuen sie
umgestalten können. (Die Herausgeber.)
88 Allgemeine Grundlagen.
Kapitel I I I .
Statische mid evolutive Sprachwissenschaft.
§ 1. Die innere Doppelheit aller der Wissenschaften, die es mit
Werten zu tun haben.
Wohl kaum dürfte ein Sprachforscher es in Zweifel ziehen,
daß der Einfluß der Zeit besondere Schwierigkeiten in der Sprach-
wissenschaft mit sich bringt, und daß um dessentwillen seine
Wissenschaft zwei vollständig auseinandergehende Wege ein-
zuschlagen hat.
Die Mehrzahl der andern Wissenschaften kennt diese tief-
greifende Zweiheit nicht ; die Zeit bringt bei ihnen keine be-
sonderen Wirkungen hervor. Die Astronomie hat festgestellt,
daß die Gestirne merklichen Veränderungen unterworfen sind;
aber sie ist dadurch nicht gezwungen, sich in zwei Disziplinen
zu spalten. Die Geologie beschäftigt sich fast ständig mit Auf-
einanderfolgen; aber wenn sie auf die feststehenden Zustände
der Erde eingeht, so macht sie das nicht zum Gegenstand einer
völlig verschiedenen Untersuchung. Es gibt eine beschreibende
Rechtswissenschaft und eine Rechtsgeschichte, aber niemand
stellt die eine in Gegensatz zur andern. Die politische Geschichte
bewegt sich ganz und gar in der Zeit; doch wenn ein Historiker
das Bild einer Epoche entwirft, so hat man nicht den Eindruck,
sich von der Geschichte zu entfernen. Umgekehrt ist die Staats-