Zusammenfassung
Gabriel Anton (1858–1933) leistete grundlegende klinisch-neuropathologische Arbeiten. Sein wissenschaftlicher Werdegang und seine Forschungstätigkeit wurden durch Theodor Meynert maßgeblich bestimmt. Im Gegensatz zu Meynert suchte Anton aber neben der Beschreibung pathologischer Veränderungen auch nach therapeutischen Möglichkeiten. Eine seiner bedeutendsten Leistungen war die Anregung zur operativen Behandlung des Hydrozephalus (Anton-von-Bramann-Balkenstich). Damit gab er der noch jungen Wissenschaft der Neurochirurgie wichtige Impulse. Bekannt ist Anton heute noch durch den Eingang seines Namens in die medizinische Nomenklatur (Anton-Syndrom). Sein Verdienst ist es, eine ausführliche Darstellung bzw. einen Erklärungsversuch der visuellen Anosognosie und Hemiasomatognosie gegeben und auf die Bedeutung dieses Phänomens hingewiesen zu haben. Antons Beitrag zur Erforschung der Basalganglienerkrankungen hingegen ist heute nur wenig bekannt. Diesbezüglich bildeten Antons Überlegungen einen wichtigen Ausgangspunkt für die weitere, systematische Erforschung der Basalganglienerkrankungen. Darüber hinaus leistete er Vorarbeiten für die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Teile seines Werkes, die sich mit der Eugenik beschäftigten, sind heute umstritten.
Summary
Gabriel Anton (1858–1933) attained fundamental clinical neuropathological results. His scientific career and research were highly influenced by Theodor Meynert. However, in contrast to Meynert, Anton sought not only descriptions of pathological changes but also their therapy. The surgical treatment of hydrocephalus was one of his most important achievements. With this, he gave important impetus to the still new science of neurosurgery. Nowadays, Anton is still known in medical nomenclature by Anton’s syndrome. The detailed description and explanation of visual anosognosia and asomatoagnosia and furthermore his emphasis on their importance can be regarded as Anton’s most notable contribution to science. However, his research on basal ganglia disorders is not as well-known, although Anton’s thoughts mark the beginning of further systematic research on these disorders. In addition, he did preliminary work in the development of child and adolescent psychiatry. Today, some of his work in the field of eugenics is controversial.
Notes
Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert ist eng mit dem Namen Carl Frh. von Rokitansky verknüpft. Dieser übte als Anatom und Pathologe einen starken Einfluss auf Theodor Meynert aus, ein Umstand, der die Dominanz der organisch-biologischen Auffassung der Wiener Psychiatrie erklärt (vgl. [35]).
1898 hatte Anton diese zwei Fälle von Anosognosie bei kortikaler Taubheit infolge beidseitiger Temporallappenläsion (Fall Johann F. und Juliane H.) beschrieben [6] bzw. den Fall (Ursula M.) von Anosognosie bei kortikaler Blindheit infolge beidseitiger Schädigung des Okzipitallappens schon 1896 im „Verein der Aerzte in Steiermark“ vorgestellt. Erst 1899 stellte Anton dann zusammenhängend anhand dieser drei Fälle ausführlich die fehlende Selbstwahrnehmung bei zerebralen Ausfallerscheinungen infolge Herderkrankungen dar.
Anton machte 1893 bei einem Patienten (Wilhelm H.) mit linksseitiger Halbseitenlähmung infolge einer ausgedehnten Schädigung der rechten Hemisphäre die Beobachtung, dass dieser sich seiner eigenen Lähmung nicht bewusst war [2]. Der Patient meinte jedoch, den gelähmten Arm bewegen zu können. In diesem Zusammenhang weist der bekannte Neurologe Oliver Sacks auf die Bedeutung Antons für die Neuropsychologie hin, insbesondere auf seine Leistung bei der Erforschung der Ausfallerscheinungen der rechten Gehirnhälfte [40].
Aus heutiger Sicht erscheint es möglich, dass Cassian H. an einer Chorea minor (Chorea Sydenham) erkrankte, einer überwiegend im Kindesalter auftretenden Erkrankung infolge einer Infektion mit α- bzw. β-hämolysierenden Streptokokken. Der Beginn der choreatischen Bewegungen nach einer Scharlacherkrankung ist hierfür typisch. Unklar bleibt, warum Anton die damals bereits bekannte Erkrankung nicht in der Diskussion erwähnte. Sowohl die Angaben im Originalkrankenblatt als auch in den Arbeiten Antons sprechen hingegen für eine hereditäre Genese. Die eindeutige Klärung der Ätiologie ist nach mehr als 100 Jahren nicht mehr möglich.
Alfons Jakob sieht in Antons und in Bonhoeffers Theorie sogar die Wurzeln aller weiteren Ansichten [29]. Nachfolgend gab es verschiedene Theorien z. B. von C. und O. Vogt, Mingazzini, Wilson, von Economo, Kleist oder Foerster, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die extrapyramidalen Bewegungsstörungen zu erklären versuchten. Bezüglich Antons Beitrag zur Erforschung der Basalganglienerkrankungen siehe auch [33].
In seinen letzten Lebensjahren litt Anton selbst unter einer ausgeprägten Schwerhörigkeit. Er veröffentlichte in einer seiner letzten, noch 1932 erschienen Arbeit „Zur Psychologie der Schwerhörigen“, seine eigenen Erfahrungen über den Ersatz der Hörfunktion [19].
An dieser Stelle kann nicht auf die spezifischen Unterschiede zwischen Eugenik und Rassenhygiene eingegangen werden; sie werden im Folgenden synonym gebraucht. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass es innerhalb der Lager der Eugeniker als auch Rassehygieniker unterschiedliche Auffassungen gab. Es wurde zwischen der so genannten positiven (z. B. Schaffung neuer, verbesserter Wohnverhältnisse, Müttererholung, Kindergeld, medizinische Vorsorge) und der so genannten negativen Eugenik (Sterilisierung und Tötung kranker und so genannter „Minderwertiger“) unterschieden(vgl. [51]).
Es sei hier stellvertretend auf Oswald Bumke „Über nervöse Entartung“ [23] verwiesen.
Der Begriff des Sozialdarwinismus ist nicht eindeutig abgegrenzt. Als eigentlicher geistiger Vater wird der englische Philosoph Herbert Spencer angesehen, der den Evolutionismus als erste wissenschaftliche Weltsicht proklamierte. Als Begründer des deutschen Sozialdarwinismus gilt Ernst Haeckel, der mit seinem Werk „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ (1868) Darwins Selektions- und Deszendenztheorie auf Menschen, insbesondere ganze Völker anwendete (vgl. [36] S. 703).
Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden, da nicht sämtliche Mitarbeiter aufgeführt werden können. Für Hinweise sind die Autoren deshalb dankbar.
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Danksagung
Für die freundliche Unterstützung und die wertvollen Hinweise bedanken wir uns bei Herrn Dr. Franz K. von Stockert und Herrn Dr. Theodor R. von Stockert.
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Verwendete Archive
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Kumbier, E., Haack, K. & Herpertz, S. Überlegungen zum Wirken des Neuropsychiaters Gabriel Anton (1858–1933). Nervenarzt 76, 1132–1140 (2005). https://doi.org/10.1007/s00115-005-1964-z
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-005-1964-z