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Sonderdruck aus: Manfred Groten/ Andreas Rutz (Hg.) Rheinische Landesgeschichte an der Universität Bonn Traditionen – Entwicklungen – Perspektiven Oktober 2007, ISBN 978-3-89971-410-4 V&R unipress Andreas Rutz Historische Forschung am Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande 1920–2005 unter besonderer Berücksichtigung der Dissertationen I. Einleitung Wissenschaftliche Produktivität wird heutzutage nicht zuletzt quantitativ bemessen. Eine diesbezügliche Bilanz der Abteilung Rheinische Landesgeschichte des Bonner Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande (IGL) kann sich durchaus sehen lassen: Das jüngste Projekt – die von der DFG geförderte »Digitale Gesamtausgabe der autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs« – ist mit ca. 5.000 erfassten handschriftlichen Seiten im Quartformat die wohl größte im Internet verfügbare Quellenedition1. Die »Rheinischen Vierteljahrsblätter« sind zwischen 1931 und 2005 in 69 Bänden erschienen, was bei 400–500 Seiten pro Band insgesamt weit über 30.000 Seiten wissenschaftliche Aufsätze, Miszellen und Rezensionen ergibt2. Nicht nur quantitativ, sondern auch von der thematischen Breite und der Bedeutung der hier vorgelegten Ergebnisse können die Vierteljahrsblätter als die wichtigste Zeitschrift für rheinische Landesgeschichte und als eine der bedeutendsten landesgeschichtlichen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum bezeichnet werden. Der Gliederung des Instituts in drei Abteilungen entsprechend werden auch sprachwissenschaftliche und volkskundliche Themen diskutiert, das Gros der Beiträge wird jedoch von Historikern geliefert. Gleiches gilt für die Buchreihe »Rheinisches Archiv«, in der zwischen 1 http://www.weinsberg.uni-bonn.de; vgl. auch Manfred GROTEN (Hrsg.), Hermann Weinsberg (1518–1597). Kölner Bürger und Ratsherr – Studien zu Leben und Werk (Geschichte in Köln. Beihefte 1), Köln 2005. 2 Anneliese REINHARDT (Bearb.), Rheinische Vierteljahrsblätter. Inhaltsverzeichnis der Bände 1–36, 1931–1972, in: RhVjbll 37 (1973), S. 1–90; Ralf KASPER (Bearb.), Inhaltsverzeichnis Rheinische Vierteljahrsblätter 37–64 (1973–2000), in: RhVjbll 65 (2001), S. 1–158. Zu Geschichte und Inhalt vgl. auch Brigitte KLOSTERBERG, Die Rheinischen Vierteljahrsblätter. Mitteilungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn (1931–1993), Hausarbeit zur Prüfung für den höheren Bibliotheksdienst, Köln (masch.) 1994 [Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn, Abt. für Rheinische Landesgeschichte, Sign.: Z 282/5]. 39 Andreas Rutz 1922 und 2005 149 Bände publiziert wurden3. Schon bei einem flüchtigen Blick auf die Autoren fällt auf, dass ein großer Teil derer, die die rheinische Historikerszene im 20. Jahrhundert geprägt haben bzw. heute prägen, hier ihre Dissertationen veröffentlicht haben. Neben dieser Reihe hat das Institut in unregelmäßigen Abständen und ohne Bandzählung verschiedene Einzelpublikationen unter dem Titel »Veröffentlichung des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, Bonn« vorgelegt. Der OPAC der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet 38 solcher ›Veröffentlichungen‹, von denen etwa zwei Drittel auf die Abteilung Landesgeschichte entfallen. Hierzu zählen Festschriften und Aufsatzsammlungen der Lehrstuhlinhaber Hermann Aubin, Franz Steinbach, Edith Ennen und Georg Droege4, Einzelpublikationen wie ein Nachdruck von Aubins »Entstehung der Landeshoheit« von 19205, Franz Petris nicht zuletzt rassenkundlich argumentierendes ›Volkserbe‹ von 19376, Ennens »Frühgeschichte der europäischen Stadt« von 19537 3 Ein Gesamtverzeichnis findet sich unter http://www.landesgeschichte.unibonn.de/publik/index.htm; vgl. auch RhVjbll 68 (2004), S. 430–438. Als 152. Band ist jüngst erschienen: Martin SCHLEMMER, »Los von Berlin«. Die Rheinstaatbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg (Rheinisches Archiv 152), Köln/ Weimar/Wien 2007. 4 Hermann AUBIN, Grundlagen und Perspektiven geschichtlicher Kulturraumforschung und Kulturmorphologie. Aufsätze zur vergleichenden Landes- und Volksgeschichte aus viereinhalb Jahrzehnten anläßlich der Vollendung des 80. Lebensjahres des Verfassers, hrsg. v. Franz PETRI, Bonn 1965; Franz PETRI / Georg DROEGE (Hrsg.), Collectanea Franz Steinbach. Aufsätze und Abhandlungen zur Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, geschichtlichen Landeskunde und Kulturraumforschung, Bonn 1967; Edith ENNEN, Gesammelte Abhandlungen zum europäischen Städtewesen und zur rheinischen Geschichte, hrsg. v. Georg DROEGE, Klaus FEHN, Dietrich HÖROLDT, Franz IRSIGLER, Walter JANSSEN, Bonn 1977; Marlene NIKOLAY-PANTER / Wilhelm JANSSEN / Wolfgang HERBORN (Hrsg.), Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Regionale Befunde und raumübergreifende Perspektiven. Georg Droege zum Gedenken, Köln/Weimar/ Wien 1994; Wilhelm JANSSEN / Margret WENSKY (Hrsg.), Mitteleuropäisches Städtewesen in Mittelalter und Frühneuzeit. Edith Ennen gewidmet, Köln/Weimar/ Wien 1999. 5 Hermann AUBIN, Die Entstehung der Landeshoheit nach niederrheinischen Quellen. Studien über Grafschaft, Immunität und Vogtei (1920), ND Bonn 1961. 6 Franz PETRI, Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Die fränkische Landnahme in Frankreich und den Niederlanden und die Bildung der westlichen Sprachgrenze, Bonn 1937, hier S. 853–856. Vgl. hierzu die detaillierte inhaltliche Auseinandersetzung von Martina PITZ, Franz Petris Habilitationsschrift in inhaltlich-methodischer und forschungsgeschichtlicher Perspektive, in: Burkhard DIETZ / Helmut GABEL / Ulrich TIEDAU (Hrsg.), Griff nach dem Westen. Die ›Westforschung‹ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960) (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 6), Münster u. a. 2003, Bd. 1, S. 225–246; außerdem Karl DITT, Die Kulturraum- 40 Historische Forschung am Bonner Institut und schließlich die »Rheinische Geschichte in drei Bänden« von Petri und Droege aus den späten 1970er Jahren8 sowie Wilhelm Janssens »Kleine rheinische Geschichte« von 19979. Auch die ersten drei Lieferungen des »Rheinischen Städteatlas« erschienen als ›Veröffentlichung des Instituts‹10. Zahlreiche weitere Titel wurden von Angehörigen des Instituts erarbeitet, ohne dass sie offiziell als Veröffentlichung desselben gekennzeichnet wurden. Nicht zu vergessen bei dieser quantitativen Bilanz ist schließlich das Œuvre der Lehrstuhlinhaber und Mitarbeiter: Aubins Festschrift zum 80. Geburtstag verzeichnet 272 Publikationen11, Steinbach verfasste bis zu seinem Tod 113 Arbeiten12, Petris Publikationsliste zählte am Ende seines Lebens 7 8 9 10 11 12 forschung zwischen Wissenschaft und Politik. Das Beispiel Franz Petri (1903– 1993), in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 73–177, hier S. 83–93; Peter SCHÖTTLER, Die historische ›Westforschung‹ zwischen ›Abwehrkampf‹ und territorialer Offensive, in: DERS. (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 204–261, hier S. 216–220; DERS., Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte oder »Die unhörbare Stimme des Blutes«, in: Winfried SCHULZE / Otto Gerhard OEXLE (Hrsg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 89– 113, hier S. 97–101. Edith ENNEN, Frühgeschichte der europäischen Stadt, Bonn 1953. Franz PETRI / Georg DROEGE (Hrsg.), Rheinische Geschichte in drei Bänden, Düsseldorf 1976–1983. Wilhelm JANSSEN, Kleine Rheinische Geschichte, Düsseldorf 1997. Rheinischer Städteatlas, Lfg. I–II, hrsg. v. Edith ENNEN, Bonn 1972/74, Lfg. III, hrsg. v. Georg DROEGE, Klaus FEHN, Klaus FLINK, Köln/Bonn 1976. Vgl. hierzu Margret WENSKY, Der Rheinische Städteatlas. Eine Forschungsbilanz, in: RhVjbll 69 (2005), S. 275–282. Franz ARTHEN (Bearb.), Hermann Aubin. Verzeichnis seines Schrifttums, in: AUBIN, Grundlagen (wie Anm. 4), S. 799–820. Zu Aubin vgl. u. a. Edith ENNEN, Hermann Aubin und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, in: RhVjbll 34 (1970), S. 9–42; Wiederabdruck in ENNEN, Abhandlungen (wie Anm. 4), S. 444–471; Franz PETRI, Westfalen im Lebenswerk Hermann Aubins, in: RhVjbll 34 (1970), S. 43–56; Hans-Erich VOLKMANN, Historiker aus politischer Leidenschaft. Hermann Aubin als Volksgeschichts-, Kulturboden- und Ostforscher, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 32–49; Eduard MÜHLE, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung (Schriften des Bundesarchivs 65), Düsseldorf 2005; Henning TRÜPER, Die Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und ihr Herausgeber Hermann Aubin im Nationalsozialismus (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 181), Wiesbaden 2005; sowie die zahlreichen Hinweise bei DIETZ/GABEL/TIEDAU, Griff nach dem Westen (wie Anm. 6). Volker HENN (Bearb.), Franz Steinbach. Verzeichnis seines Schrifttums, in: PETRI/ DROEGE, Collectanea (wie Anm. 4), S. 899–912. Zu Steinbach vgl. u. a. Franz PETRI, Franz Steinbach zum Gedächtnis 10.10.1895–7.11.1964, in: RhVjbll 29 (1964), S. 1–27; Matthias ZENDER, Der Dank des Schülers. Zum Tode von Franz 41 Andreas Rutz 306 Titel13, Ennen erreichte die sagenhafte Zahl von 542 Nummern14, Droege kam auf 72 Bücher, Aufsätze und Besprechungen, wobei hier nur ein Teil der Rezensionen berücksichtigt ist, sowie 125 Lexikonartikel15, Janssen hat bis 1999 191 Titel erarbeitet, auch hier ist nur ein Teil der Rezensionen enthalten16, die Publikationen des derzeitigen Lehrstuhlinhabers, Manfred Groten, 13 14 15 16 42 Steinbach, in: RhVjbll 29 (1964), S. 28–31; Franz Steinbach, in: Jürgen PETERSOHN (Hrsg.), Der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte 1951– 2001. Die Mitglieder und ihr Werk. Eine bio-bibliographische Dokumentation, Stuttgart 2001, S. 417–422; sowie die zahlreichen Verweise in DIETZ/GABEL/ TIEDAU, Griff nach dem Westen (wie Anm. 6). Elisabeth BÖHM (Bearb.), Franz Petri. Verzeichnis seines Schrifttums, in: Franz PETRI, Zur Geschichte und Landeskunde der Rheinlande, Westfalens und ihrer westeuropäischen Nachbarländer. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hrsg. v. Edith ENNEN, Alfred Hartlieb von WALLTHOR, Manfred van REY, Bonn 1973, S. 1009–1032; Maria Elisabeth GRÜTER, Franz Petri. Schriftenverzeichnis (1973–1992), in: Bernhard SICKEN (Hrsg.), Herrschaft und Verfassungsstrukturen im Nordwesten des Reiches. Beiträge zum Zeitalter Karls V. (Städteforschung A/35), Köln/Weimar/Wien 1994, S. 349–353. Zu Petri vgl. u. a. Horst LADEMACHER, Franz Petri zum Gedächtnis 22.2.1903–8.3.1993, in: RhVjbll 57 (1993), S. VII–XIX; Wolfgang HERBORN, Der Dank des Schülers. Zum Tode von Franz Petri, in: RhVjbll 57 (1993), S. XX–XXIII; DITT, Kulturraumforschung (wie Anm. 6); DERS., Franz Petri und die Geschichte der Niederlande. Vom germanischen Kulturraum zur Nation Europas, in: Tijdschrift for Geschiedenis 118 (2005), S. 169–187; Hans DERKS, German ›Westforschung‹ 1918 to the present. The case of Franz Petri (1903–1993), in: Ingo HAAR / Michael FAHLBUSCH (Hrsg.), German Scholars and Ethnic Cleansing 1920–1945, New York/Oxford 2005, S. 175–199; sowie die zahlreichen Verweise in DIETZ/GABEL/TIEDAU, Griff nach dem Westen (wie Anm. 6). Manfred HUISKES (Bearb.), Schriftenverzeichnis Edith Ennen 1933–1999, in: JANSSEN/WENSKY, Städtewesen (wie Anm. 4), S. 201–260. Zu Ennen vgl. Franz IRSIGLER, Edith Ennen. Anmerkungen zu Werk und Wirkung, in: JANSSEN/ WENSKY, Städtewesen (wie Anm. 4), S. 1–19; Franz IRSIGLER, Edith Ennen zum Gedenken, in: RhVjbll 64 (2000), S. IX–XVI; Margret WENSKY, Edith Ennen zum Gedenken – der Dank der Schüler, in: RhVjbll 64 (2000), S. XVII–XX. Wolfgang HERBORN / Jutta KOSTER / Ulrike von LESZCZYNSKI / Günter LORBACH / Alexander THON (Bearb.), Schriftenverzeichnis von Georg Droege, in: NIKOLAYPANTER/JANSSEN/HERBORN, Geschichtliche Landeskunde (wie Anm. 4), S. 611– 616. Zu Droege vgl. Wilhelm JANSSEN, Georg Droege 1929–1993, in: RhVjbll 58 (1994), S. VII–XIII; Volker HENN, Der Dank des Schülers. Zum Tode von Georg Droege, in: RhVjbll 58 (1994), S. XIV–XVI. Bastian STEINGIEßER (Bearb.), Wilhelm Janssen. Schriftenverzeichnis, in: RhVjbll 63 (1999), S. 265–275. Zu Janssen vgl. Peter JOHANEK, Wilhelm Janssen in Münster, in: Ellen WIDDER / Mark MERSIOWSKY / Peter JOHANEK (Hrsg.), Vestigia Monasteriensia. Westfalen – Rheinland – Niederlande (Studien zur Regionalgeschich- Historische Forschung am Bonner Institut sind noch ungezählt. Auch für die Mitarbeiter des Bonner Instituts liegen, sofern sie nicht Lehrstühle eingenommen und Festschriften erhalten haben, keine Angaben vor17. Bei dieser Aufzählung persönlicher Leistungen stellt sich natürlich die Frage, inwieweit sie überhaupt auf das Konto des Instituts bzw. der Abteilung Rheinische Landesgeschichte verbucht werden können. Bei Aubin, der bereits 1925 das Institut verließ, bleibt diesbezüglich nicht viel übrig. Bei Ennen hingegen, deren erste Publikationen die Bonner Dissertation18 und ein zusammenfassender Aufsatz in den Rheinischen Vierteljahrsblättern19 waren, die am Institut ihre als Habilitationsschrift geplante »Frühgeschichte der europäischen Stadt« begann20 und schließlich 1968 bis 1974 Direktorin des IGL war, ist eine saubere Scheidung von persönlicher und institutioneller Forschungsleistung schon schwieriger. Auch ihre Vorgänger im Amt, Steinbach und Petri, sowie ihr Nachfolger Droege waren dem Institut eng verbunden und hatten ihre Qualifikationsarbeiten hier (Steinbach, Droege) oder zumindest in engem Kontakt zum Institut (Petri) angefertigt, während Wilhelm Janssen und Manfred Groten erst an das Institut kamen, nachdem sie ihre wissenschaftlichen Meriten schon anderswo erworben hatten. Um den sich hieraus für eine Forschungsbilanz ergebenden Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen und zu vermeiden, dass eine solche Bilanz in der bloßen Charakterisierung der Forschungsgebiete und Publikationstätigkeit einzelner Historikerpersönlichkeiten stecken bleibt, wird im Folgenden versucht, die Forschungstätigkeit des Instituts ausgehend von den dort entstandenen historischen Dissertationen zu analysieren21. Diese können nicht unab- 17 18 19 20 21 te 5), Bielefeld 1995, S. 9–12; Rudolf SCHIEFFER, Laudatio auf Wilhelm Janssen, in: RhVjbll 63 (1999), S. 1–6. Vgl. etwa Horst LADEMACHER, Der europäische Nordwesten. Historische Prägungen und Beziehungen. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Nicole EVERSDIJK, Helmut GABEL, Georg MÖLICH, Ulrich TIEDAU, Münster u. a. 2001, S. 369–384 (Schriftenverzeichnis); Sarah NEUMANN / Silvia SCHMIDT (Bearb.), Verzeichnis der Schriften Franz Irsiglers, in: Dietrich EBELING / Volker HENN / Rudolf HOLBACH / Winfried REICHERT / Wolfgang SCHMID (Hrsg.), Landesgeschichte als multidisziplinäre Wissenschaft. Festgabe für Franz Irsigler zum 60. Geburtstag, Trier 2001, S. 711–724; Manfred GROTEN, Jean Schoos 1924–2005, in: RhVjbll 59 (2005), S. VIIf. Edith ENNEN, Die Organisation der Selbstverwaltung in den Saarstädten vom ausgehenden Mittelalter bis zur französischen Revolution (Rheinisches Archiv 25), Bonn 1933. Edith ENNEN, Die Entwicklung der Selbstverwaltung in den Städten an der Saar bis zur französischen Revolution, in: RhVjbll 3 (1933), S. 1–30. ENNEN, Frühgeschichte (wie Anm. 7). Die Arbeit wurde letztlich nicht als Habilitationsschrift eingereicht, IRSIGLER, Gedenken (wie Anm. 14), S. XI. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt für das Leipziger Institut Uwe SCHIRMER, Graduierungsschriften am Leipziger Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde 43 Andreas Rutz hängig von den Betreuern betrachtet werden und verweisen häufig auf deren Forschungs- und Interessenschwerpunkte. Zugleich repräsentieren sie aber inhaltliche Kontinuitäten in der Institutsarbeit über den gesamten Zeitraum von 1920 bis 2005, die sich aus Selbstverständnis und Forschungsbetrieb des Instituts ergeben22. II. Historische Dissertationen am Bonner Institut. Quantitativer Überblick Zwischen 1920 und 2005 wurden an der Abteilung Rheinische Landesgeschichte 132 Dissertationen verfasst. Einbezogen wurden bei dieser Zählung alle in Bonn abgeschlossenen Promotionsverfahren, auch die, die nach Weggang, Emeritierung oder Pensionierung der Professoren durchgeführt wurden23. Die Verteilung auf die einzelnen Lehrstuhlinhaber ergibt folgendes Bild. (1906–1950). Ein Forschungsbericht, in: Wieland HELD / Uwe SCHIRMER (Hrsg.), Rudolf Kötzschke und das Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde an der Universität Leipzig. Heimstatt sächsischer Landeskunde (Schriften der RudolfKötzschke-Gesellschaft 1), Beucha 1999, S. 91–144. 22 Zur Geschichte des Instituts vgl. u. a. Paul Egon HÜBINGER, Das Historische Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Vorläufer – Gründung – Entwicklung. Ein Wegstück deutscher Universitätsgeschichte (Bonner Historische Forschungen 20), Bonn 1963, S. 130–139; Marlene NIKOLAY-PANTER, Zur geschichtlichen Landeskunde der Rheinlande, in: DIES./JANSSEN/HERBORN, Landeskunde (wie Anm. 4), S. 3–22, zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Institutsarbeit S. 20–22; DIES., Geschichte, Methode, Politik. Das Institut und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande 1920–1945, in: RhVjbll 60 (1996), S. 233–262; Wilhelm JANSSEN, Das Institut für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn nach der Ära Steinbach (seit 1961), in: Werner BUCHHOLZ (Hrsg.), Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme – Analyse – Perspektiven, Paderborn u. a. 1998, S. 315–323. Vgl. auch die oben zu den Lehrstuhlinhabern genannte Literatur, die zahlreichen Verweise in DIETZ/GABEL/ TIEDAU, Griff nach dem Westen (wie Anm. 6) sowie jüngst Bernd-A. RUSINEK, Das Bonner Institut für Rheinische Landeskunde, in: Ulrich PFEIL (Hrsg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz (Pariser Historische Studien 81), München 2007, S. 31–46. 23 Vgl. das von Jochen HERMEL zusammengestellte Verzeichnis der historischen Dissertationen in diesem Band. Zu erwähnen sind außerdem sechs Habilitationen: Franz STEINBACH, Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte (Schriften des Instituts für Grenz- und Auslandsdeutschtum an der Universität Marburg 5), Jena 1926; Jean SCHOOS, Der Machtkampf zwischen Burgund und Orléans unter den Herzögen Philipp dem Kühnen, Johann ohne Furcht von Burgund und Ludwig von Orléans mit besonderer Berücksichtigung der Auseinander- 44 Historische Forschung am Bonner Institut Tab. 1: Betreuer und Anzahl der betreuten Dissertationen 1920–2005 Name Aubin Steinbach Petri Schoos24 Ennen Lademacher25 Droege Janssen Groten Gesamt Amtszeit IGL 1921–1925 1928–1960 1961–1968 1963–1989 1968–1974 1969–1972 1975–1991 1992–1998 seit 1999 Lebensdaten 1885–1969 1895–1964 1903–1993 1924–2005 1907–1999 *1931 1929–1993 *1933 *1949 Dissertationen 7 52 15 16 5 8 12 14 3 132 Interessant sind in unserem Zusammenhang allerdings weniger der quantitative Ertrag als die Themen der Dissertationen und ihre forschungsgeschichtliche Einordnung. Ein statistischer Zugriff vermittelt einen ersten Eindruck von den gewählten epochalen und inhaltlichen Schwerpunkten. Tab. 2: Epochale Schwerpunkte der historischen Dissertationen am IGL 1920–2005 Epoche Mittelalter Mittelalter / Frühe Neuzeit Frühe Neuzeit Frühe Neuzeit / 19. Jahrhundert 19. Jahrhundert 19. / 20. Jahrhundert 20. Jahrhundert übergreifend Gesamt Dissertationen 36 22 19 7 19 8 10 11 132 setzung im deutsch-französischen Grenzraum (Publications de la Section Historique de l’Institut Grand-Ducal de Luxembourg 75), Luxemburg 1956; Georg DROEGE, Landrecht und Lehnrecht im hohen Mittelalter, Bonn 1969; Horst LADEMACHER, Die belgische Neutralität als Problem der europäischen Politik 1830– 1914, Bonn 1971; Walter JANSSEN, Studien zur Wüstungsfrage im fränkischen Altsiedelland zwischen Rhein, Mosel und Eifelnordrand (Beihefte der Bonner Jahrbücher 35), 2 Bde., Bonn 1975; Franz IRSIGLER, Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. Strukturanalyse einer spätmittelalterlichen Exportgewerbe- und Fernhandelsstadt (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 65), Wiesbaden 1979. 24 Seit 1963 außerplanmäßiger Professor, seit 1964 wissenschaftlicher Rat und Professor. 25 Habilitation in Bonn 1969, außerplanmäßiger Professor seit 1970. Die Betreuung der Dissertationen erfolgte von Amsterdam aus, wo Lademacher von 1972 bis 1979 eine Professur innehatte. 45 Andreas Rutz Hinsichtlich des epochalen Fokus der Dissertationen zeigt sich ein eindeutiger Schwerpunkt in der Vormoderne: 36 Arbeiten behandeln das Mittelalter, 19 die Frühe Neuzeit und 22 widmen sich beiden Epochen. Insgesamt beschäftigen sich 77 (58%) der Dissertationen mit der Zeit vor 1800. Hinzu kommen sieben Arbeiten, die die Frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert behandeln. Für das 19. und 20. Jahrhundert fällt die Bilanz schmaler aus: Mit dem 19. Jahrhundert beschäftigen sich 19, mit dem 20. lediglich 10 Dissertationen, beiden Jahrhunderten zusammen sind noch einmal acht Arbeiten gewidmet. Zusammen ergibt das 37 (28%) Dissertationen zur neueren und neuesten Geschichte. Auffällig ist hierbei, dass diese Arbeiten zu einem guten Teil erst seit den 1960er Jahren entstanden sind. Dies entspricht der allgemeinen Entwicklung der historischen Forschung in der Bundesrepublik, die sich seit dieser Zeit zunehmend mit sozialgeschichtlichen Themen des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigte26. Dieser Trend ist am Bonner Institut nicht vollständig vorbeigegangen, wenngleich der Vorwurf der in den siebziger Jahren aufkommenden Regionalgeschichte, die traditionelle Landesgeschichte beschäftige sich nicht oder kaum mit der jüngeren Vergangenheit, sicher berechtigt war27. Immerhin entstanden in Bonn jedoch bereits in den sechziger Jahren neben den Dissertationen verschiedene größere Quelleneditionen zur Geschichte des 19. Jahrhunderts28 und in der dreibändigen »Rheinischen Geschichte« nehmen das 19. und 20. Jahrhundert knapp eineinhalb Bände ein29. Was die zeitlichen Schwerpunkte der Dissertationen betrifft, sind abschließend noch elf epochenübergreifende Arbeiten zu nennen, die Themen über mehrere Epochen hinweg, etwa vom Mittelalter bis in das 19. oder von der Frühen Neuzeit bis in das 20. Jahrhundert, behandeln. 26 Vgl. Georg G. IGGERS, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 400–443. 27 Zum Verhältnis von Regional- und Landesgeschichte vgl. zusammenfassend Werner BUCHHOLZ, Vergleichende Landesgeschichte und Konzepte der Regionalgeschichte von Karl Lamprecht bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1990, in: DERS., Landesgeschichte (wie Anm. 22), S. 11–60, insb. S. 36–41, 47–49; Wilhelm JANSSEN, Landesgeschichte im Nachkriegsdeutschland, in: Ulrich REULING / Winfried SPEITKAMP (Hrsg.), Fünfzig Jahre Landesgeschichtsforschung in Hessen (Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 50), Marburg 2000, S. 403–421, hier S. 418– 420; Matthias WERNER, Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert, in: Peter MORAW / Rudolf SCHIEFFER (Hrsg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005, S. 251–364, hier S. 253f., 342–344. 28 Vgl. die Hinweise bei Franz PETRI, Stand, Probleme und Aufgaben der Landesgeschichte in Nordwestdeutschland und den westlichen Nachbarlanden, in: RhVjbll 34 (1970), S. 57–87, hier S. 79f. 29 PETRI/DROEGE, Rheinische Geschichte (wie Anm. 8), Bd. 2, S. 367–866; Bd. 3. 46 Historische Forschung am Bonner Institut Die Dissertationen spiegeln hinsichtlich ihrer zeitlichen Schwerpunktsetzung im Wesentlichen die Institutsarbeit und die Forschungsinteressen der Lehrstuhlinhaber. Gleiches gilt auch für die vom Institut seit 1954 jährlich veranstalteten Arbeitstagungen, wenngleich der Anteil epochenübergreifender und bis in die jüngere Zeit reichender Themenstellungen hier noch erheblich höher war30. Tab. 3: Epochale Schwerpunkte der Arbeitstagungen des IGL 1954–2005 Epoche Mittelalter Mittelalter / Frühe Neuzeit Frühe Neuzeit Frühe Neuzeit / 19. Jahrhundert 19. Jahrhundert 19. / 20. Jahrhundert 20. Jahrhundert übergreifend Gesamt Tagungen 10 10 4 2 – 3 2 21 52 Von den insgesamt 52 Arbeitstagungen des Instituts zwischen 1954 und 2005 betrafen 10 das Mittelalter, weitere 10 die Vormoderne insgesamt und vier die Frühe Neuzeit. Demgegenüber fallen die anderen Epochen deutlich ab: Mit dem Übergang von Früher Neuzeit zur Moderne befassten sich zwei Tagungen, das 19. und 20. Jahrhundert ist insgesamt fünf Mal vertreten. Allerdings waren 21 Tagungen epochenübergreifend angelegt und behandel30 Die Arbeitstagungen lösten 1954 die seit 1922 insgesamt elf Mal abgehaltenen Fortbildungskurse bzw. Lehrgänge des Instituts ab. Diese richteten sich an Heimatforscher und Lehrer, die man thematisch und epochal umfassend informieren und deren Initiativen man so zumindest ansatzweise wissenschaftlich fundieren wollte, vgl. programmatisch Hermann AUBIN, Die Fortbildungskurse in rheinischer Geschichte des Instituts für geschichtliche Landeskunde an der Universität Bonn, in: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Landeskunde Vorarlbergs 6 (1922), S. 28–31. Mit dem 1925 gegründeten Verein für geschichtliche Landeskunde wurde diese Klientel auch formal an das Institut gebunden, vgl. Marlene NIKOLAYPANTER, Der Verein für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Gründung und frühe Jahre, in: RhVjbll 65 (2001), S. 374–399; Wiederabdruck in diesem Band. Die seit 1954 jährlich durchgeführten Arbeitstagungen waren im Gegensatz zu den Lehrgängen wissenschaftliche Veranstaltungen. Sie wurden zwar hinsichtlich der Nummerierung in die Tradition der Lehrgänge gestellt, weshalb die erste Arbeitstagung 1954 als 12. bezeichnet wurde, zielten aber neben den Vereinsmitgliedern und Lehrern verstärkt auf ein wissenschaftliches Publikum und eine methodisch und inhaltlich fundierte Fachdiskussion, vgl. das von Jochen HERMEL zusammengestellte Verzeichnis der Ferienkurse, Lehrgänge und Arbeitstagungen in diesem Band. 47 Andreas Rutz ten den gesamten Zeitraum vom Mittelalter (teilweise unter Einschluss der Spätantike) bis in das 19. und 20. Jahrhundert. Die neuere und neueste Geschichte war also auch auf den Tagungen immer im Blickfeld des Instituts. Dies gilt zumindest bis 1993, denn seitdem wurden keine Tagungen mit diesem epochalen Schwerpunkt mehr abgehalten, der alte Vorwurf der Vernachlässigung der Moderne könnte heute also durchaus wieder erhoben werden. Stattdessen rückte die Frühe Neuzeit in den neunziger Jahren verstärkt in den Mittelpunkt, seit 1990 waren neun Arbeitstagungen der Frühen Neuzeit bzw. der Vormoderne insgesamt gewidmet. Dies entspricht der Aufmerksamkeit, die die Jahrhunderte zwischen Reformation und Französischer Revolution seit einigen Jahren auf sich gezogen haben31. Die integrierte Behandlung von Frühneuzeit und Mittelalter mit Tagungsthemen wie »Die Zeit der Reformen. Das Rheinland am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit 1450–1550« (2000) oder »Zucht und Ordnung im Rheinland vom 11. bis zum 18. Jahrhundert« (2001) verweist zugleich auf die zunehmende und gerade im landesgeschichtlichen Kontext notwendige Revision vermeintlich gesicherter Epochengrenzen. Eine ähnliche Horizonterweiterung wäre mit Blick auf die ›Sattelzeit der Moderne‹ zwischen 1750 und 1850 wünschenswert, die bislang erst auf zwei Tagungen in den Blick genommen wurde (1977 und 1989). Kommen wir zurück zu den Dissertationen und betrachten deren thematische Schwerpunkte. Zunächst wird eine grobe Zuordnung zu den Bereichen Politik, Recht/Verfassung, Wirtschaft, Kirche und Soziales vorgenommen. Dissertationen, die sich mit mehreren dieser Bereiche beschäftigen, wurden mehrfach gezählt, um dem gesamten inhaltlichen Spektrum dieser Arbeiten Rechnung zu tragen. So wurde etwa Marianne Gechters Dissertation zu »Kirche und Klerus in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter« sowohl als kirchen- als auch als wirtschaftsgeschichtliche Arbeit gezählt32. Tab. 4: Thematische Schwerpunkte der historischen Dissertationen am IGL 1920–2005 Themenbereich Politik Soziales Recht/Verfassung Wirtschaft Kirche Dissertationen 60 (45,5%) 53 (40,2%) 42 (31,8%) 40 (30,3%) 24 (18,2%) 31 Vgl. Wolfgang REINHARD, Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, in: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 9, Stuttgart 2001, S. 1– 107, hier S. 31–47. 32 Marianne GECHTER, Kirche und Klerus in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 28), Wiesbaden 1983. 48 Historische Forschung am Bonner Institut Die Auszählung ergibt ein breites thematisches Spektrum. Alle Themenbereiche sind in den Dissertationen vertreten, am stärksten die Bereiche Politik und Soziales, die in 45 bzw. 40% der Arbeiten behandelt werden. Recht/Verfassung und Wirtschaft werden in jeweils einem Drittel der Dissertationen berücksichtigt. Am geringsten ist mit einem knappen Fünftel der Anteil von Kirchen-, Religions- und Frömmigkeitsgeschichte. Für diese Gewichtung gibt es strukturelle Gründe: Die Kirchengeschichte ist in Deutschland lange Zeit eine Domäne der theologischen Fakultäten gewesen und hat etwa für die frühneuzeitliche Geschichte erst mit der Konfessionalisierungsforschung seit den späten 1970er Jahren und die damit zusammenhängende Integration in politik- und sozialgeschichtliche Analysen ein stärkeres Interesse bei den Allgemeinhistorikern gefunden33. Die landesgeschichtliche Forschung hat sich in Bonn, was die Dissertationen angeht, diesem Trend seit den 90er Jahren angeschlossen. Diese Verspätung ist allerdings nicht auf Bonn beschränkt, sondern betrifft die Rheinische Landesgeschichte insgesamt, die im Bereich der Sozial- und Kulturgeschichte von Kirche und Religion noch erhebliche Forschungslücken aufweist34. Was die Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte angeht, so erklärt sich deren hoher Anteil in den Dissertationen aus der bis 1961 bestehenden Ausrichtung des Lehrstuhls, der neben der Landesgeschichte auch die allgemeine Wirtschaftsgeschichte, auf Steinbachs Wunsch dann auch Verfassungs- und Sozialgeschichte abdeckte35. Zugleich zeigt sich hieran der landesgeschichtliche Neubeginn, der mit der Gründung des Instituts und der Begründung der geschichtlichen Landeskunde als historischer Methode vollzogen wurde. Es war eben keine rein politikgeschichtlich ausgerichtete Territorialgeschichte, sondern eine sämtliche Aspekte menschlichen Handelns integrierende Kulturraumforschung, die in Bonn betrieben wurde36. Dass politische Fragen dennoch in über 40% der Dissertationen eine Rolle spielen, steht hierzu nur in 33 Vgl. zum Diskussionsstand Stefan EHRENPREIS / Ute LOTZ-HEUMANN, Reformation und konfessionelles Zeitalter (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2002. 34 Wilhelm JANSSEN, Niederrheinische Landesgeschichte – Kölnische Bistumsgeschichte, in: Ulrich HELBACH (Hrsg.), Historischer Verein für den Niederrhein 1854–2004. Festschrift zum 150jährigen Bestehen (Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 207), Pulheim 2004, S. 11–32, hier S. 23 mit Anm. 54; vgl. auch den Beitrag von Stephan LAUX in diesem Band. 35 HÜBINGER, Seminar (wie Anm. 22), S. 136, 143; PETRI, Stand (wie Anm. 28), S. 71f.; JANSSEN, Institut (wie Anm. 22), S. 316. 36 Vgl. grundlegend Hermann AUBIN, Aufgaben und Wege der geschichtlichen Landeskunde (1925), in: Pankraz FRIED (Hrsg.), Probleme und Methoden der Landesgeschichte (Wege der Forschung 492), Darmstadt 1978, S. 38–52; sowie zusammenfassend der Beitrag von Marlene NIKOLAY-PANTER zu Geschichte und methodischem Ansatz des Instituts in diesem Band. 49 Andreas Rutz scheinbarem Widerspruch, denn strukturgeschichtliche Arbeiten zur Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte lassen sich nicht völlig ›politikfrei‹ schreiben. Dementsprechend wurde bei der vorgenommenen Auswertung der Dissertationen immer auch dieses politische Element berücksichtigt. Auch wenn die Dissertationen den umfassenden interdisziplinären Anspruch der Gründer nicht einlösen konnten, befassten sie sich gleichwohl fast durchgängig mit Phänomenen, die unterhalb der territorialstaatlichen Ebene angesiedelt waren. Dies waren vor allem die Siedlungs- und Agrargeschichte sowie die Stadtgeschichte. Diese Themenkomplexe dominierten die Arbeiten unter Aubin und Steinbach bis zum Zweiten Weltkrieg, wurden aber auch nach dem Krieg und unter den späteren Lehrstuhlinhabern weiter behandelt. Während jedoch für die Zeit bis 1945 ein fast vollständiges Fehlen von territorialstaatsbezogenen Arbeiten konstatiert werden kann37, ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gewisse Renaissance solcher Arbeiten, also eine Rückkehr zur Landesgeschichte als Territorialgeschichte zu beobachten. Siedlungs- und Agrargeschichte, Stadtgeschichte Zunächst aber zurück zur Zeit vor 1945, für die anhand einiger prominenter Beispiele die beiden Hauptforschungsfelder des Instituts – die Siedlungsund Agrargeschichte sowie die Stadtgeschichte – vorgestellt werden sollen. Ich beschränke mich auf die Dissertationen von Barthel Huppertz auf der einen und Josef Niessen und Edith Ennen auf der anderen Seite. Die Arbeit von Huppertz zu »Räumen und Schichten bäuerlicher Kulturformen in Deutschland« von 1939 ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert38: Zum einen ist sie mit über 300 Seiten eine der umfangreichsten Dissertationen der Zeit bis 1945 – der übliche Umfang waren bis zu 100 Seiten im Oktavformat. Zum anderen ist sie weniger empirisch-positivistisch orientiert, sondern im Gegensatz zu den meisten anderen historischen Dissertationen des Instituts in 37 Vgl. allerdings Bernhard Josef KREUZBERG, Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen des Kurstaates Trier zu Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der französischen Revolution (Rheinisches Archiv 21), Bonn 1932; Heinz RENN, Das erste Luxemburger Grafenhaus (963–1136) (Rheinisches Archiv 39), Bonn 1941; Ruth GERSTNER, Die Geschichte der lothringischen und rheinischen Pfalzgrafen von ihren Anfängen bis zur Ausbildung des Kurterritoriums Pfalz (Rheinisches Archiv 40), Bonn 1941. 38 Barthel HUPPERTZ, Räume und Schichten bäuerlicher Kulturformen in Deutschland. Ein Beitrag zur Deutschen Bauerngeschichte, Bonn 1939. Zu Huppertz vgl. Franz STEINBACH, Barthel Huppertz †, in: RhVjbll 15/16 (1950/51), S. 502; Steffen KAUDELKA, Rezeption im Zeitalter der Konfrontation. Französische Geschichtswissenschaft und Geschichte in Deutschland 1920–1940 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 186), Göttingen 2003, S. 225–228. 50 Historische Forschung am Bonner Institut dieser Zeit konsequent theorie- bzw. methodengeleitet39. Huppertz bedient sich der am Bonner Institut entwickelten Methode der geschichtlichen Landeskunde, die bekanntlich auf der Grundlage von Verbreitungskarten vor allem historischer, volkskundlicher und sprachhistorischer Phänomene so genannte Kulturräume zu ermitteln suchte. Erstaunlicherweise ist die Anwendung dieser interdisziplinären Methode bei Huppertz im Vergleich mit anderen Dissertationen ein Alleinstellungsmerkmal. Keine andere Dissertation der Abteilung Landesgeschichte vor wie auch nach 1945 hat sie in vergleichbarer Konsequenz eingesetzt. Ja, man kann sogar sagen, dass Huppertz der einzige ist, der dies überhaupt je ernsthaft versucht hat. Warum dies so war, wäre genauer zu untersuchen. Interdisziplinarität wurde im Institut in jedem Fall im Sinne einer Arbeitsteilung unterschiedlicher Disziplinen und ihrer Vertreter verstanden und nicht als Spagat eines einzelnen Wissenschaftlers40. Gleichwohl: Huppertz hat einen solchen unternommen und umfangreiches Material zur Wirtschafts-, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Siedlungskunde, Bauernhausforschung und Volkskunde kartographisch erfasst und mit Blick auf die Abgrenzung von Agrarlandschaften und deren historischen Wandel interpretiert. Dabei war er laut Willi Oberkrome »durch die Verwendung quantifizierend-vergleichender Verfahren vor einer zu kurz greifenden Glorifizierung der germanisch-bäuerlichen Lebensweise geschützt«41. Zumindest die Schlussbemerkungen zu »Kulturraumforschung, 39 HUPPERTZ, Räume (wie Anm. 38), S. 20: »Es kommt ihr [der Arbeit] nicht oder wenigstens nicht in erster Linie darauf an, neues und bisher unbekanntes Material auszubreiten. Vielmehr geht es darum, die Tatsachen in einer neuartigen Weise miteinander in Beziehung zu setzen und in bisher nicht gesehene Zusammenhänge einzugliedern. Sind also die mitgeteilten Einzeltatsachen auch alt- und z. T. allbekannt, so dürfen die erzielten Ergebnisse trotzdem den Anspruch erheben, neue Erkenntnisse darzustellen.« 40 Die wichtigste Publikation, die unter Zugrundelegung der Methode der geschichtlichen Landeskunde vom Institut erarbeitet wurde ist eine Gemeinschaftsarbeit der Gründerväter: Hermann AUBIN / Theodor FRINGS / Josef MÜLLER, Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte, Sprache, Volkskunde, Bonn 1926; ND mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Franz PETRI und Nachworten zum geschichtlichen und volkskundlichen Beitrag von Hermann AUBIN und Matthias ZENDER, Darmstadt 1966. Die hierin manifestierte interdisziplinäre Zusammenarbeit ist, wie JANSSEN, Institut (wie Anm. 22), S. 318, kürzlich betont hat, »ein einmaliger Wurf geblieben«. Am unmittelbarsten knüpft hieran der am Institut geplante und dann von der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde unter Leitung von Franz Irsigler in Trier realisierte »Geschichtliche Atlas der Rheinlande« an, Franz IRSIGLER (Hrsg.), Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Köln 1982ff. 41 Willi OBERKROME, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101), Göttingen 1993, S. 204. 51 Andreas Rutz Bauerngeschichte, Volksgeschichte« sprechen allerdings eine etwas andere Sprache42. Ob es sich dabei tatsächlich nur um »Konzessionen an die neuen Machthaber« handelt, wie Kaudelka schreibt43, wage ich zu bezweifeln. Inhaltliche Kritik wurde schon in den 1950er und 60er Jahren vor allem an Huppertz’ Thesen zur Kontinuität bestimmter Phänomene der bäuerlichen Kultur seit dem Neolithikum geäußert44. Mit Blick auf Anlage und Methode würdigte Franz Irsigler die Dissertation jedoch noch 1990 als eine mit Marc Blochs »Les Caractères originaux de l’histoire rurale française« von 1931 vergleichbare Untersuchung45. Kommen wir zum zweiten Forschungsschwerpunkt, der Stadtgeschichte: Die Dissertationen von Niessen zu Bonn und Ennen zu den Saarstädten befassen sich beide mit demselben Themenkomplex, nämlich der Entwicklung der Selbstverwaltung in Landstädten46. Beide Arbeiten behandeln das Thema in der ›longue durée‹ vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und können auf diese Weise langfristige Entwicklungslinien der vormodernen Stadtentwicklung wie auch der obrigkeitlich-territorialen Städtepolitik detailliert nachzeichnen. Niessen betrat mit der Behandlung der Bonner Verfassungsgeschichte völliges Neuland, was die Anlage seiner Arbeit erklärt. Er geht streng chronologisch vor und hat mit Bonn nur eine Stadt und damit als Bezugspunkt lediglich ein Territorium im Blick. Demgegenüber ist die Arbeit von Ennen methodisch ambitionierter. Die Untersuchung ist auf drei Ebenen vergleichend angelegt, denn es werden nicht nur mehrere, sondern auch in unterschiedlichen Territorien gelegene Städte untersucht. Auf diese Weise 42 HUPPERTZ, Räume (wie Anm. 38), S. 309–315. 43 KAUDELKA, Rezeption (wie Anm. 38), S. 227. 44 Günter WIEGELMANN, Zum Problem der bäuerlichen Arbeitsteilung in Mitteleuropa, in: Aus Geschichte und Landeskunde. Forschungen und Darstellungen. Franz Steinbach zum 65. Geburtstag gewidmet von seinen Freunden und Schülern, Bonn 1960, S. 637–671, dort S. 637f. Verweise auf weitere Literatur. 45 Franz IRSIGLER, Zu den gemeinsamen Wurzeln von ›histoire régionale comparative‹ und ›vergleichender Landesgeschichte‹ in Frankreich und Deutschland, in: Hartmut ATSMA / André BURGUIÈRE (Hrsg.), Marc Bloch aujourd’hui. Histoire comparée & Sciences sociales (Recherches d’histoire et de sciences sociales 41), Paris 1990, S. 73–85, hier S. 80f. Vgl. auch die auf Huppertz aufbauende Arbeit von Franz IRSIGLER, Groß- und Kleinbesitz im westlichen Deutschland vom 13. bis 18. Jahrhundert. Versuch einer Typologie, in: Péter GUNST / Tamás HOFFMANN (Hrsg.), Grand Domaine et petites exploitations en Europe au Moyen Age et dans les temps modernes. Rapports nationaux, Budapest 1982, S. 33–59. 46 Josef NIESSEN, Landesherr und bürgerliche Selbstverwaltung in Bonn von 1244– 1794 (Rheinisches Archiv 5), Bonn/Leipzig 1924; ENNEN, Organisation (wie Anm. 18). Zu Niessen vgl. Franz STEINBACH, Nachruf, in: RhVjbll 28 (1963); Edith ENNEN, Josef Niessen 1891–1962, in: Bonner Geschichtsblätter 18 (1964), S. 7–15. Als Summe seiner, auch nach der Dissertation fortgesetzten Forschungen zu Bonn kann gelten Josef NIESSEN, Geschichte der Stadt Bonn, Bd. 1, Bonn 1956. 52 Historische Forschung am Bonner Institut gelangt Ennen nicht nur zu städte-, sondern auch zu territorienvergleichenden Aussagen. Eine dritte Vergleichsebene stellt die Gegenüberstellung von deutscher und französischer Gemeindegesetzgebung und -verwaltung dar. Die noch kürzlich von Matthias Werner geäußerte Einschätzung von Ennens Arbeit als »wegweisende Dissertation«47 ist angesichts dieser methodischen Komplexität sicher gerechtfertigt. Auf die politischen Implikationen insbesondere der dritten Vergleichsebene ist unten noch genauer einzugehen. Westforschung Neben Siedlung, ländlicher Gemeinde und Stadt war in den dreißiger und vierziger Jahren die so genannte Westforschung ein wichtiger Forschungsschwerpunkt des Instituts48. Geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und dessen als ungerecht und bedrohlich empfundenen außenpolitischen Konsequenzen suchten die beteiligten Wissenschaftler mit dem Nachweis der historischen Zugehörigkeit von Gebieten in den Niederlanden, Belgien und Frankreich zum germanisch-deutschen Siedlungsgebiet und Reich tagesaktuelle Expansionsbestrebungen des Deutschen bzw. Dritten Reiches zu legitimieren. Inwieweit Aubin, Steinbach, Petri und andere in diesem Zusammenhang eine nazistisch-rassistische oder ›nur‹ eine völkischnationalistische Ideologie vertraten, soll hier nicht diskutiert werden49. Entscheidend ist, dass das am Institut entwickelte und betriebene Konzept einer historischen Kulturraumforschung per se grenzüberschreitend angelegt war, sich dementsprechend zur Erforschung der Grenzen des (west-)deutschen 47 WERNER, Begrenzung (wie Anm. 27), S. 297, Anm. 169. Vgl. auch die Einschätzungen von IRSIGLER, Anmerkungen (wie Anm. 14), S. 3f.; Rolf WITTENBROCK (Hrsg.), Geschichte der Stadt Saarbrücken, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum industriellen Aufbruch (1860), Saarbrücken 1999, S. 453. 48 In allen bisherigen Publikationen zu ›Volksgeschichte‹ und ›Westforschung‹ nimmt die Bonner Schule eine hervorgehobene Stellung ein, vgl. u. a. OBERKROME, Volksgeschichte (wie Anm. 41); Michael FAHLBUSCH, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik. Die ›Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften‹ 1931–1945, Baden-Baden 1999; Hans DERKS, Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 4), Leipzig 2001; DIETZ/GABEL/TIEDAU, Griff nach dem Westen (wie Anm. 6); Barbara HENKES / Ad KNOTTER (Hrsg.), De ›Westforschung‹ en Nederland, Themenheft der Tijdschrift voor Geschiedenis 118 (2005), Heft 2; Wolfgang FREUND, Volk, Reich und Westgrenze. Deutschtumswissenschaften und Politik in der Pfalz, im Saarland und im annektierten Lothringen 1925–1945 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 39), Saarbrücken 2006. Vgl. auch die oben zu den verschiedenen Lehrstuhlinhabern und zur Institutsgeschichte genannte Literatur. 49 Vgl. die diesbezügliche Differenzierung bei SCHÖTTLER, Westforschung (wie Anm. 6), S. 209. 53 Andreas Rutz ›Kulturraums‹ und des ›Auslandsdeutschtums‹ eignete und die entsprechenden Forschungen nicht nur lammfromm wissenschaftlich, sondern aus einem eindeutigen politischen Impuls heraus betrieben und unter das ›Reichsvolk‹ gebracht wurden. Den Beginn dieses Engagements stellten die Aktivitäten des Instituts im Vorfeld der Saarabstimmung von 1935 dar, das Ende war mit der nochmaligen Saarabstimmung 1955 erreicht50. Bei den Dissertationen schlägt sich dieser Schwerpunkt der Institutsarbeit vor allem in Untersuchungen zum deutsch-französischen Verhältnis sowie zur Westgrenze des Reiches und seiner Territorien nieder. Die erste Arbeit aus diesem Themenkreis, Bernhard Josef Kreuzbergs Dissertation zum kurtrierisch-französischen Verhältnis in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wurde bereits 1931 eingereicht und erschien 1932 als 21. Band des Rheinischen Archivs51. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Kurtrier und Frankreich. Kreuzberg interpretiert die Hinwendung des Kurfürstentums zum westlichen Nachbarn vor allem aus der Schwäche des Reiches, von dem sich insbesondere Kurfürst Clemens Wenzeslaus zu distanzieren versuchte. Auf französischer Seite sei diese Tendenz durch eine »friedliche Durchdringungspolitik« befördert worden, die wie die französische Außenpolitik insgesamt auf eine »Zersetzung und Aushöhlung des Reichskörpers« und Verhinderung der »Bildung eines mächtigen deutschen Staates an der französischen Ostgrenze« zielte52. Die tagespolitische Bedeutung dieser Ausführungen wurde dadurch verstärkt, dass Kreuzberg sich intensiv mit der Grenze zwischen Frankreich und Kurtrier beschäftigte und damit implizit auch die ›Saarfrage‹ anschnitt53. Der Aachener Privatdozent und Grenzlandkundler Hermann Overbeck attestierte der Arbeit dementsprechend 1934 in der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte »ein starkes Gegenwartsinteresse«, sowohl mit Blick auf die »Saar als Grenze« als auch auf die »Gefahren eines überspitzten Föderalismus«54. Die bei Kreuzberg angeschnittene ›Saarfrage‹ entwickelte sich in der ersten Hälfte der 30er Jahre zu einem Schwerpunkt der Institutsarbeit. Im Vorfeld der 1935 anstehenden Volksabstimmung im Saarland wurde eine Viel50 Bernd-A. RUSINEK, ›Westforschungs‹-Traditionen nach 1945. Ein Versuch über Kontinuität, in: GABEL/DIETZ/TIEDAU, Griff nach dem Westen (wie Anm. 6), S. 1140–1201, hier S. 1185. 51 KREUZBERG, Beziehungen (wie Anm. 37). 52 Ebd., S. 46. 53 Ebd., S. 57ff. 54 Hermann OVERBECK, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 27 (1934), S. 398. Zu Overbeck vgl. Thomas MÜLLER, »Ausgangsstellung zum Angriff«. Die ›Westforschung‹ der Technischen Hochschule Aachen, in: DIETZ/ GABEL/TIEDAU, Griff nach dem Westen (wie Anm. 6), S. 819–850, hier S. 824– 828; FREUND, Volk (wie Anm. 48), S. 124–128. 54 Historische Forschung am Bonner Institut zahl von Aktivitäten entfaltet, um die Zugehörigkeit des Saarlandes zum ›Reich‹ mit historischen Argumenten zu untermauern. Dabei handelte es sich nicht um eine politische Instrumentalisierung der Institutsarbeit von außen. Vielmehr nahmen sich die Mitarbeiter des Instituts der Saarfrage sehr bewusst an und entwickelten diesbezüglich einen propagandistischen Ehrgeiz, der mit wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse allein kaum hinreichend zu erklären ist55. Sie steigerten etwa ihre Vortragstätigkeit, »indem sie wochenlang, solange es von französischer Seite noch erlaubt war, oft zweimal am Tag bei Arbeitsgemeinschaften und in den Dörfern des Saargebietes über die deutsche Vergangenheit dieses Raumes sprachen.«56 1934 fand im Rahmen der an ein Laienpublikum gerichteten Fortbildungskurse des Instituts ein Lehrgang mit dem programmatischen Titel »Saarfragen« statt. Dieser beinhaltete sowohl Vorträge in Bonn als auch eine Exkursion in das Saarland selbst. Systematisch wurde in den Vorträgen der ›Kulturraum‹ Saar behandelt. Dabei ging es um Landschaft, geologische Grundlagen und Kunst (jeweils einstündig) sowie Wirtschaft, Sprache und Volkstum, politische Geschichte und Rechtsfragen des ›Saargebietes‹ (jeweils zweistündig). Schließlich sollte noch ein saarländischer Politiker die politische Lage an der Saar erläutern. Abgesehen vom letzten Vortrag entspricht dieses Programm durchaus dem Anspruch der geschichtlichen Landeskunde, eine interdisziplinäre Kulturraumforschung zu betreiben und hierbei landschaftliche bzw. naturräumliche Gegebenheiten ebenso einzubeziehen wie Geschichte, Sprache, Volkskunde etc. In der konkreten Situation der bevorstehenden Saarabstimmung eignete sich dieses Forschungsprogramm freilich, um propagandistisch tätig zu werden und politischen Debatten eine vermeintlich objektive, weil wissenschaftliche Grundlage zu geben. Diese Intention wird bereits in der Ankündigung der Veranstaltung in den Rheinischen Vierteljahrsblättern deutlich, in der es heißt, dass der Lehrgang »die Möglichkeit bieten [soll], 55 Vgl. Heidi GANSOHR-MEINEL, Die Landesstelle des Atlas der deutschen Volkskunde in Bonn und ihre Bedeutung für die rheinische ›Volks-‹ und ›Grenzlandforschung‹ der zwanziger und dreißiger Jahre, in: RhVjbll 59 (1995), S. 271–303, hier S. 279–285; NIKOLAY-PANTER, Geschichte (wie Anm. 22), S. 251–254; DIES., Verein (wie Anm. 30), S. 389f.; Wilfried MAXIM, »Frontabschnitte« der ›Westforschung‹ in der Publizistik der Bonner Schule, in: DIETZ/GABEL/TIEDAU, Griff nach dem Westen (wie Anm. 6), S. 715–740, hier S. 715–722. Zum Gesamtzusammenhang jetzt ausführlich FREUND, Volk (wie Anm. 48), zum Institut S. 71–76 und passim. 56 NIKOLAY-PANTER, Geschichte (wie Anm. 22), S. 252; vgl. auch FREUND, Volk (wie Anm. 48), S. 95. In einer vom Grenzbüchereidienst im Mai 1934 zusammengestellten Liste mit »Saarschrifttum« wird unter »VI. Hilfsmittel zur Propagandaarbeit« darauf hingewiesen, dass »Lichtbildreihen« u. a. von Steinbach zur Verfügung gestellt würden; vgl. den Sonderdruck im Archiv des IGL. 55 Andreas Rutz sich angesichts der nahen Entscheidung an der Saar über die wichtigsten Saarfragen zu unterrichten.«57 Auch in den Rheinischen Vierteljahrsblättern wurde eifrig mit Blick auf die Saarabstimmung publiziert58. Die ersten fünf Jahrgänge (1931–1935) enthalten zehn Beiträge zu saarländischen Themen, wobei sich etwa Martin Herold sehr deutlich für den »Saarkampf« aussprach, »der zu einem die Weltöffentlichkeit überwältigenden Sieg führen muß.«59 Mitarbeiter des Instituts beteiligten sich in diesen Jahren zudem intensiv an dem von der Saargemeinschaft herausgegebenen Saaratlas60 und erarbeiteten zwei Buchveröffentlichungen zum Saarland: zum einen die »Geschichte der französischen Saarpolitik« von Herold, Niessen und Steinbach61 und zum anderen den Band »Franzosen sprechen über die Saar« von Herold und Niessen, in dem französische Texte zur Saar- und Rheinpolitik von 1444 bis 1934 abgedruckt waren62. Schon der vom Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart reichende zeitliche Rahmen der beiden Publikationen suggeriert Kontinuitäten im außenpolitischen Denken des ›Erbfeinds‹, die eher die tagespolitische Agitation als wissenschaftliche Erkenntnisse widerspiegeln. In den Zusammenhang der Saaraktivitäten des Instituts gehört schließlich auch die bereits erwähnte Dissertation von Edith Ennen zur »Organisation der Selbstverwaltung in den Saarstädten« von 1933. Zwar lassen sich kaum tagespolitische Bemerkungen der Autorin in diesem Buch finden63, gleichwohl erörtert Ennen in einem einleitenden Kapitel auf der Grundlage der 57 RhVjbll 4 (1934), S. 125. 58 Vgl. hierzu auch KLOSTERBERG, Vierteljahrsblätter (wie Anm. 2), S. 39f. 59 Martin HEROLD, Von Saarlouis zum Mont-Royal, von der mittleren Saar zur unteren Mosel! Ein Wegstück französischer Rheinpolitik der Vergangenheit und Gegenwart, in: RhVjbll 3 (1933), S. 355–368, hier S. 368. 60 Hermann OVERBECK / Georg Wilhelm SANTE (Hrsg.), Saar-Atlas, Gotha 1934; vgl. NIKOLAY-PANTER, Geschichte (wie Anm. 22), S. 253; FREUND, Volk (wie Anm. 48), S. 113–124, 128–134. 61 Martin HEROLD / Josef NIESSEN / Franz STEINBACH, Geschichte der französischen Saarpolitik. Ausgangsstellung und Angriff – Von der Saar zum Rhein – Wende und Wiederkehr, Bonn 1934. 62 Martin HEROLD / Josef NIESSEN (Bearb.), Franzosen sprechen über die Saar. Politische, wissenschaftliche und publizistische Stimmen zur Saar- und Rheinpolitik von 1444–1934, Köln 1935. Zur Rezeption im Saarland vgl. NIKOLAY-PANTER, Geschichte (wie Anm. 22), S. 252. 63 ENNEN, Organisation (wie Anm. 18), S. 5: »Die Politik hat die allgemeine Aufmerksamkeit auf die früher von der Forschung eher etwas vernachlässigten Lande an der Saar gelenkt. Dieses neu geweckte Interesse brachte eine reiche Literatur hervor, der es ganz besonders darauf ankommen mußte, über die rein heimatkundliche Darstellung hinaus die großen Zusammenhänge aufzudecken und die Einlagerung des Saargebietes in den europäischen Rahmen zu bestimmen.« 56 Historische Forschung am Bonner Institut aktuellen Forschungen, unter anderem ihres Lehrers Steinbach64, ausführlich die engen Beziehungen der »Lande an der Saar« (S. 4) zu Deutschland: »Die Naturlandschaft des Saargebietes [...] schufen Angehörige des deutschen Volkstums zur Kulturlandschaft um.« (S. 6) »Während das Saargebiet [wirtschaftlich] mit seinen deutschen Absatzgebieten organisch verwachsen ist, steht es zu Lothringen, genau wie in früherer Zeit, nur in einem Nachbarschaftsverhältnis«. (S. 8) »Die sprachliche Bindung an den Westen ist ganz geringfügig und unterscheidet sich nicht von der des gesamten Westrandes, der in gleicher Weise wie das Saarland gelegentlich romanisches Sprachgut deutscher Form angepaßt hat.« (S. 10) »Recht und Sitte des Saarlandes sind deutsch.« (S. 11) Auch in der saarländischen Kunst von der Romanik bis zum Barock sieht die Autorin, dass sich »deutscher Kunstwille durchgesetzt« (S. 14) habe. Schließlich sei »auch die politische Geschichte dieser Gegend Zeuge derselben Bindung an Deutschland, die wir bis jetzt immer schon feststellen konnten.« (S. 15) Diese Vorbemerkungen geben als methodische Prämissen den Argumentationsgang der gesamten Arbeit vor, die den Nachweis der spezifisch deutschen Organisation der Selbstverwaltung der saarländischen Städte und umgekehrt des geringen französischen Einflusses zu erbringen sucht: Die Gegenüberstellung der deutschen und französischen Gemeindegesetzgebung und -verwaltung zeige »die gegensätzliche Gesamtstruktur Deutschlands und Frankreichs: Mannigfaltigkeit und Vielheit in Deutschland, Gleichförmigkeit und Einheit in Frankreich.« (S. 16) Anders als in Deutschland sei in Frankreich »die Idee des zentralistischen Staates [...] stärker als die in der Selbstverwaltung Gestalt gewinnenden Gestalten«, was auf »ein verschieden geartetes Rechtsempfinden, [...] einen Gegensatz der im Verfassungsleben der beiden Völker wirksamen Grundkräfte« zurückzuführen sei (S. 16). Die Analyse der städtischen Selbstverwaltung bestätigt somit laut Ennen erneut die in der Einleitung referierte »saarländische Kulturentwicklung« (S. 224), die im Wesentlichen eine deutsche gewesen sei. Auch wenn der Dissertation die Polemik anderer Institutspublikationen der Zeit fehlt und die Autorin mit Blick auf ihre politischen Überzeugungen sicher nicht in die Nähe des NS-Regimes zu stellen ist, fügt sich ihre Arbeit über die Saarstädte doch eindeutig in das Forschungsprogramm eines seit den späten 20er Jahren hoch politisierten Instituts, das den Großteil seiner Kräfte auf die historische Fundierung aktueller außenpolitischer Positionen konzentrierte65. 64 STEINBACH, Studien (wie Anm. 23); DERS., Historische Ortsbilder an der Saar. Bemerkungen zur älteren wirtschaftlichen Orientierung der Saargegend, in: Zeitschrift des rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz 22 (1929) [Themenheft: Saarland], S. 188–206. 65 Vgl. in diesem Zusammenhang zu den Dissertationen NIKOLAY-PANTER, Geschichte (wie Anm. 22), S. 247, Anm. 58. 57 Andreas Rutz Überdeutlich wird diese Tendenz in verschiedenen Dissertationen der späten 1930er Jahre, die sich in zunehmend schärferem Ton mit dem deutschfranzösischen Verhältnis auseinandersetzen. Zu nennen sind hier unter anderem die Arbeiten von Fritz Textor, Karl Gerhard Schneider und Hans Sichelschmidt. Mit unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Schwerpunktsetzungen geht es in diesen Untersuchungen um die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Grundmotiv der Argumentation ist ein angeblicher Gegensatz zwischen deutscher Sicherungs- und französischer Expansionspolitik, ein Gegensatz also zwischen völkerrechtlich und vor allem moralisch legitimer und illegitimer Außenpolitik, der sich mühelos auf die Verhältnisse der Gegenwart projizieren ließ. Hinweise auf die zeitgenössische politische Situation finden sich wie selbstverständlich in allen Einleitungen und Schlussworten. Ein besonders anschauliches Beispiel liefert diesbezüglich Textors Arbeit zu den »Entfestigungen und Zerstörungen im Rheingebiet während des 17. Jahrhunderts als Mittel der französischen Rheinpolitik«66. Es gehe ihm nicht darum, so der Autor in der Einleitung, »die Erinnerung des Volkes an diese Ereignisse zu stärken, weil sie etwa nachzulassen drohte. Es ist ebenso wenig beabsichtigt, damit eine Gegenrechnung aufzumachen. Es liegt uns fern, eine Antwort zu geben auf das geschäftstüchtige Treiben, mit dem man [in Frankreich] die Erinnerung an die Zerstörungen des Weltkrieges in den Dienst der Fremdenverkehrswerbung stellt und sie gleichzeitig zur Verleumdung eines Volkes benutzt, das diesen Krieg nicht gewollt hat und das nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, daß die modernen Waffen eine ungeheure Zerstörungskraft besitzen.«67 Textor wendet sich vordergründig gegen eine Aufrechnung der Kriege zwischen Deutschland und Frankreich, zielt mit seiner Polemik aber letztlich genau auf eine solche Aufrechnung zugunsten Deutschlands. Aus diesem Grund stellt er die deutschen Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg als legitim dar: Deutschland war laut Textor weder schuld am Krieg noch an der hier verwendeten Waffentechnologie. Zu zeigen, dass Mittel und Zwecke der französischen Außenpolitik und Kriegführung im 17. Jahrhundert dagegen illegitim waren, ist die implizite Aufgabe seiner Dissertation. Auf dieser Grundlage kann der Autor im Schlusswort seines Buches noch einmal auf das zurückkommen, was angeblich nicht Zielsetzung seiner Ausführungen ist, nämlich »die Greuelhetze, die man jenseits der Grenzen mit den Zerstörungen des Deutsch-Französischen Krieges und des Weltkrieges betreibt, zum 66 Fritz TEXTOR, Entfestigungen und Zerstörungen im Rheingebiet während des 17. Jahrhunderts als Mittel der französischen Rheinpolitik (Rheinisches Archiv 31), Bonn 1937. 67 Ebd., S. 2. 58 Historische Forschung am Bonner Institut Schweigen zu bringen.«68 Erneut betont Textor, dass man das 17. nicht mit dem 19. und 20. Jahrhundert aufrechnen könne: »Es dürfte doch eigentlich nicht zu übersehen sein, dass es ein großer Unterschied ist, ob bei dem heutigen Einsatz von Millionenheeren und der unbeschränkten Verwendung der neuesten Waffen ganze Landstriche bis auf den letzten Strauch und Baum zerstört werden, oder ob man, ohne dass die Notwendigkeit gegeben wäre, nur um kriegerische Auseinandersetzungen unmöglich zu machen, größte Gebiete planmäßig verwüstet, bevor der Gegner überhaupt im Felde erschienen ist. Und ebenso ist es ein großer Unterschied, ob bei modernen Kampfhandlungen eine Stadt mitsamt ihren geschichtlichen Denkmälern zugrunde geht, oder ob man mit kalter Berechnung an die radikale Beseitigung der letzten befestigten Grenzplätze des Nachbarlandes geht, nur um sie als Hindernisse für ein weiteres Vordringen auszuschalten für alle Zeit.«69 Das Argumentationsmuster der legitimen deutschen Politik- und Kriegführung mit seinem illegitimen französischen Gegenstück tritt hier in seinem ganzen Zynismus offen zutage und zeigt, wie sehr Textors historische Analysen und Interpretationen dem politischen Zeitgeist im Deutschland der dreißiger Jahre entsprechen. Gleiches gilt für die anderen Arbeiten zum deutsch-französischen Verhältnis, auch hier finden sich häufige tagesaktuelle Bezüge. So beendet etwa Schneider 1938 seine Arbeit zu den »Herrschafts- und Rechtsformen des französischen Vordringens nach Osten« in der Überzeugung, dass »das Neue unserer Zeit ist, daß ein deutscher Herrschafts- und Reichsgedanke die Anwendung der französischen Methoden für immer unmöglich macht.«70 Sichelschmidt betrachtet »Die grenzländische Bedeutung des Protestantismus im Elsaß« ganz selbstverständlich vom »völkische[n]« Standpunkt aus, wobei »der Kampf um das deutsche Volkstum des Elsaß […] das Grundthema bilden« müsse71. Dementsprechend kommt er auch für das späte 17. und 18. Jahrhundert zu dem Ergebnis, »daß ein Bruch im völkischen Bewußtsein nicht festzustellen war. Überall da, wo deutsches und französisches Volkstum direkt aufeinanderstießen und sich rieben, siegte das Deutschtum über das Franzosentum, selbst in der Zeit der französischen Oberherrschaft.«72 Nicht 68 Ebd., S. 279. 69 Ebd., S. 280. 70 Karl Gerhard SCHNEIDER, Überblick über die Herrschafts- und Rechtsformen des französischen Vordringens nach Osten in der Zeit von 1550 bis 1812, Düsseldorf 1938, S. 55. 71 Hans SICHELSCHMIDT, Die grenzländische Bedeutung des Protestantismus im Elsaß (Schriften des Wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt N.F. 22), Frankfurt a. M. 1939, S. V. 72 Ebd., S. 124. 59 Andreas Rutz zuletzt sei dies ein Verdienst der evangelischen Kirche, die »durchweg ihr Deutschtum tapfer verteidigt und erhalten« habe73. Neben den Arbeiten zum deutsch-französischen Verhältnis, zum Saarland und den entsprechenden Grenzfragen entstanden in nationalsozialistischer Zeit weitere Dissertationen zur Grenzproblematik74. Im weiteren Sinne gehören in diesen Zusammenhang auch Studien zum Auslandsdeutschtum75 und zur Auswandererforschung. Letztere wurde am Institut von Joseph Scheben betrieben, der in seiner Dissertation durch die Korrelation von deutschen Auswanderungsakten und amerikanischen Volkszählungslisten methodisch neue Wege wies.76 Während Scheben in den 30er Jahren mehrfach Aspekte seiner Forschungen unter anderem in den Rheinischen Vierteljahrsblättern publizieren konnte77, folgten nach der Veröffentlichung der Dissertation keine weiteren Arbeiten zu diesem Thema. Ein Grund hierfür war vermutlich, dass das Deutsche Ausland-Institut (DAI) Schebens Dissertation nach Er- 73 Ebd., S. 125. 74 Hildegard FRANZ, Die Marken Valenciennes, Eename und Antwerpen im Rahmen der kaiserlichen Grenzsicherungspolitik an der Schelde im 10.–11. Jahrhundert, in: RhVjbll 10 (1940), S. 229–276; Ernst Moritz KLINGENBURG, Die Entstehung der deutsch-niederländischen Grenze im Zusammenhang mit der Neuordnung des niederländisch-niederrheinischen Raumes 1813–1815 (Deutsche Schriften zur Landes- und Volksforschung 7), Leipzig 1940; Ingeborg MONHEIM-SCHMIEDEKNECHT, Die Nassauer im Westen des Reiches. Bedeutung der nassauischen Familienbeziehungen für die deutsche Stellung des Geschlechtes in den Grenzlanden, Bonn 1941. 75 Carl MÜLLER, Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte der deutschen Siedlungen bei Sathmar in Rumänien, Tübingen 1932. 76 Joseph SCHEBEN, Untersuchungen zur Methode und Technik der deutschamerikanischen Wanderungsforschung an Hand eines Vergleichs der Volkszählungslisten der Township Westphalia, Clinton County, Michigan, vom Jahre 1860 mit Auswanderungsakten des Kreises Adenau (Rheinland) (Forschungen zur rheinischen Auswanderung 3), Bonn 1939. Zu Scheben vgl. Birgit FORMANSKI, Johann Scheben und seine Nachkommen. Bemerkenswerte Bildungs- und Lebenswege in einer Rheinbacher Handwerker- und Kaufmannsfamilie zwischen 1864 und 1990, in: Jahrbuch des Rhein-Sieg-Kreises 2000, S. 91–99, hier S. 91f.; Jürgen MACHA / Marlene NIKOLAY-PANTER / Wolfgang HERBORN (Hrsg.), »Wir verlangen nicht mehr nach Deutschland«. Auswandererbriefe und Dokumente der Sammlung Joseph Scheben (1825–1938) (Sprachgeschichte des Deutschen in Nordamerika. Quellen und Studien 2), Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. IX–XII. 77 Joseph SCHEBEN, Eifeler Amerika-Auswanderung im neunzehnten Jahrhundert, in: RhVjbll 2 (1932), S. 257–277; DERS., Die Frage nach der Geschichte der deutschen Auswanderung. Eine Aufgabe für die geschichtliche Landeskunde, in: RhVjbll 5 (1935), S. 175–182. 60 Historische Forschung am Bonner Institut scheinen in einer vertraulichen Druckschrift, die an alle maßgeblichen Behörden von Staat und Partei verteilt wurde, heftig kritisiert hatte78. Nationalsozialismus Eine Auseinandersetzung des Instituts mit der Zeit des Nationalsozialismus und der maßgeblichen Beteiligung seiner Mitarbeiter an der ›Westforschung‹ hat nach dem Zweiten Weltkrieg nicht stattgefunden. Der erste Aufsatz in den Rheinischen Vierteljahrsblättern, in dem das Thema Nationalsozialismus – wenn auch nur auf zwei Seiten – behandelt wurde, erschien 196579. In den folgenden Jahrzehnten folgten lediglich drei ausführlichere Beiträge80, bis das Thema »Nationalsozialismus im Rheinland« dann endlich 1993 auf einer Institutstagung umfassender behandelt wurde. Mit einem Beitrag zur Bonner Landesstelle des Atlas der deutschen Volkskunde wurde dort auch ein Aspekt der Institutsgeschichte in dieser Zeit angesprochen81. Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Rolle des IGL im Nationalsozialismus erfolgte dann 1995 – also 50 Jahre nach Kriegsende! – in einem Abendvortrag von Marlene Nikolay-Panter82. 78 Ernst RITTER, Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917–1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit zwischen den Weltkriegen (Frankfurter Historische Abhandlungen 14), Wiesbaden 1976, S. 146; MACHA/NIKOLAY-PANTER/HERBORN, Auswandererbriefe (wie Anm. 76), S. IX, Anm. 1. Zur Auswandererforschung und deren politischen Implikationen vgl. jetzt auch Wolfgang FREUND, Palatines all over the World. Fritz Braun, a German Emigration Researcher in National Socialist Population Policy, in: HAAR/FAHLBUSCH, Scholars (wie Anm. 13), S. 155–174; FREUND, Volk (wie Anm. 48), S. 260–279. Der dort behandelte Fritz Braun war übrigens seit 1933 Assistent am Bonner Institut und koordinierte dessen Saaraktivitäten, NIKOLAY-PANTER, Geschichte (wie Anm. 22), S. 252; FREUND, Volk (wie Anm. 48), S. 266. 79 Rudolf MORSEY, Die Rheinlande, Preußen und das Reich 1914–1945, in: RhVjbll 30 (1965), S. 176–220, hier S. 206–208. Vgl. außerdem die autobiographisch gefärbten Betrachtungen von Franz STEINBACH, Bürger und Bauer im Zeitalter der Industrie. Studien zur Geschichte des Bürgertums III, in: RhVjbll 28 (1963), S. 1– 36, hier S. 2f., 32–34, die freilich kaum als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gelten können. 80 Albert TYRELL, Führergedanke und Gauleiterwechsel. Die Teilung des Gaues Rheinland der NSDAP 1931, in: RhVjBll 39 (1975), S. 237–271; Michael GEYER, Zum Einfluß der nationalsozialistischen Rüstungspolitik auf das Ruhrgebiet, in: RhVjbll 45 (1981), S. 201–264; Paul STOOP, »Kein Wort wird mehr gewagt«. Pressepolitik in den deutsch-niederländischen Beziehungen 1933–1940, in: RhVjbll 50 (1986), S. 253–286. 81 GANSOHR-MEINEL, Landesstelle (wie Anm. 55). Die Tagungsbeiträge von Heinz BOBERACH, Kurt DÜWELL, Heiner FAULENBACH und Wolfgang FRÜHWALD finden sich ebenfalls in RhVjbll 59 (1995). 82 NIKOLAY-PANTER, Geschichte (wie Anm. 22). 61 Andreas Rutz Unter den Dissertationen der landesgeschichtlichen Abteilung finden sich bis 2005 lediglich zwei Arbeiten zum Nationalsozialismus. Während die von Jean Schoos angeregte und betreute Dissertation von Emile Krier zur nationalsozialistischen Kultur- und Volkstumspolitik in Luxemburg aus dem Jahre 1978 noch heute Gültigkeit beanspruchen kann83, ergeben sich bei der von Matthias Georg Haupt 1970 vorgelegten Arbeit zum »›Arbeitseinsatz‹ der belgischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges« erhebliche Schwierigkeiten84. Doktorvater war nämlich Franz Petri, der bekanntlich von 1940 bis 1944 Kulturreferent in der deutschen Militärverwaltung für Belgien und Nordfrankreich gewesen war und dabei unter anderem mit der Organisation des ›Arbeitseinsatzes‹ von belgischen Studenten unmittelbar zu tun hatte85. In dem der Dissertation angefügten Lebenslauf schreibt Haupt, er sei 1965 an Petri mit der Bitte herangetreten, bei ihm eine Dissertation in Neuerer Geschichte schreiben zu dürfen86. Es ist anzunehmen, dass Petri die Themenwahl Haupts entscheidend beeinflusst hat87, denn immerhin stellte er seinem Doktoranden die entsprechenden Akten aus seinem Privatarchiv zur Verfügung88. Das Ergebnis dieser pikanten Betreuungssituation wäre im Licht jüngerer Arbeiten zur Zwangsarbeit in Belgien im Einzelnen zu analysieren. Augenfällig ist in jedem Fall die konsequente Vermeidung des Begriffes ›Zwangsarbeit‹ und die apologetische Grundstimmung des Buches, das der Militärverwaltung bescheinigt, »dass sie sich im Rahmen ihres Auftrags 83 Emile KRIER, Deutsche Kultur- und Volkstumspolitik von 1933–1940 in Luxemburg, Bonn 1978. Noch kürzlich wurde die Arbeit als »ausgezeichnet« bezeichnet, Michael FAHLBUSCH, Rezension zu DERKS, Westforschung (wie Anm. 48), in: H-Soz-u-Kult, 27.06.2002, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ ZG-2002-085. Vgl. auch Paul DOSTERT, Luxemburg zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe. Die deutsche Besatzungspolitik und die Volksdeutsche Bewegung 1940–1945, Luxemburg 1985, S. 10. Ein weiteres ›heißes Eisen‹ wurde ebenfalls von einem Schoos-Schüler angepackt: Heinz DOEPGEN, Die Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahre 1920 (Rheinisches Archiv 60), Bonn 1966. 84 Matthias Georg HAUPT, Der »Arbeitseinsatz« der belgischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges, Bonn 1970. Auch in der Dissertation von Mathilde SCHLEMMER, Arbeitszwang für freie Menschen in der deutschen Geschichte seit dem 14. Jahrhundert, Diss. (masch.) Bonn 1957, wird die nationalsozialistische Zeit knapp behandelt, ebd., S. 142–149: »Arbeitszwang in der Planwirtschaft des totalitären Staates«. 85 DITT, Kulturraumforschung (wie Anm. 6), S. 111f. 86 HAUPT, Arbeitseinsatz (wie Anm. 84), S. 238. 87 Laut LADEMACHER, Petri (wie Anm. 13), S. XVIII, hat Petri die Arbeit angeregt. 88 HAUPT, Arbeitseinsatz (wie Anm. 84), S. 7. 62 Historische Forschung am Bonner Institut und des ihr Möglichen bemühte, die Interessen der belgischen Bevölkerung zu wahren und diese auch zu verteidigen«89. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Geschichte des Instituts in dieser Zeit bildet ganz offensichtlich eine der wesentlichen Lücken der Institutsarbeit. Da aufgrund der personellen Zusammensetzung der landesgeschichtlichen Abteilung der Schwerpunkt der Forschungs- und Lehrtätigkeit weiterhin auf der Vormoderne liegen wird, wäre es unrealistisch, nach einer Ausweitung der NS-Forschung zu rufen. Nachzudenken wäre allerdings über ein Projekt, das mit der Kompetenz des IGL bzw. seiner nach der Auflösung 2005 im Institut für Geschichtswissenschaft und im Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft weiter bestehenden Abteilungen realisiert werden kann, nämlich die Erarbeitung intellektueller Biographien der ersten und zweiten Generation von Institutsmitarbeitern. Zu fragen wäre dabei vor allem nach Geisteshaltung und Denkungsart der jeweiligen Mitarbeiter und deren Einfluss auf die individuelle und kollektive Forschungstätigkeit – auch nach dem zweiten Weltkrieg90. Notwendig hierfür ist neben der Kenntnis der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts vor allem die historische, sprachwissenschaftliche und volkskundliche Sachkompetenz in Fragen der (rheinischen) Landesgeschichte91. Dissertationen nach 1945 Ein großer Teil der Dissertationen nach 1945 war, wie bereits in der Vorkriegszeit, struktur- bzw. sozialgeschichtlich ausgerichtet. Themen wie Ver89 Ebd., S. 222. Vgl. insg. auch DERKS, Westforschung (wie Anm. 48), S. 111, Anm. 55; DERS., German Westforschung (wie Anm. 13), S. 185, 192. 90 Um nur ein frappierendes Beispiel zu nennen: In dem u. a. von Aubin und Petri verantworteten mehrbändigen Werk »Der Raum Westfalen« erschien 1967 (!) der Band von Ilse SCHWIDETZKY / Hubert WALTER, Untersuchungen zur anthropologischen Gliederung Westfalens (Der Raum Westfalen 5/1), Münster 1967. Schwidetzky war Schülerin des Rasse-Anthropologen Egon Freiherr von Eickstedt und hatte als dessen Assistentin in Breslau von 1935–1939 an anthropologischen Erhebungen unter der schlesischen Bevölkerung teilgenommen. In Westfalen wurden zwischen 1955 und 1958 von 22.656 Schülerinnen und Schüler anthropometrische und serologische Daten erhoben, um diese mit Blick auf das Vorkommen des ›fälischen Typus‹ auszuwerten. Wie die Herausgeber in der Einleitung schreiben, war es hierzu notwendig, »viele Vorurteile gegen die Anthropologie aus der Zeit des Dritten Reiches […] bei Behörden und Eltern zu überwinden, ehe die praktische Arbeit beginnen konnte.« (S. XIV) Vgl. hierzu auch DITT, Kulturraumforschung (wie Anm. 6), S. 143–146; RUSINEK, ›Westforschungs‹-Traditionen (wie Anm. 50), S. 1155. 91 Vgl. zu diesem »Beitrag, den die Landesgeschichte selbst zu leisten hat«, WERNER, Begrenzung (wie Anm. 27), S. 328. 63 Andreas Rutz fassung, Wirtschaft und soziale Lebenswelt spielten und spielen weiterhin eine herausragende Rolle. Bezugspunkte sind in der Regel Stadt und Land oder übergreifend das Rheinland als je nach Themenstellung weiterer oder engerer Raum. Wie schon oben angedeutet, ist zugleich eine gewisse Renaissance territorialstaatsbezogener Arbeiten festzustellen, also eine Abkehr von den eigentlichen Prämissen der geschichtlichen Landeskunde, die auf diese Begrenzung gerade keine Rücksicht nehmen wollte. Petri hat diese Wendung bereits 1970 nachdrücklich eingefordert92, Janssen hat sie 2001 noch einmal bekräftigt: »Wir tun also gut daran, uns bei der praktischen Arbeit statt an Geschichtslandschaften und Kulturprovinzen an politisch und administrativ umschriebenen und zusammengefaßten Gebieten unterschiedlicher Zeitstellung: an Städten, Territorien, Ämtern, Départements, Kreisen, Bezirken usw., allenfalls an deutlich konturierten Wirtschaftsregionen zu orientieren.«93 Diese pragmatische Haltung ist aus arbeitspraktischen Gründen sinnvoll, bedenkt man etwa die bestehenden Archivstrukturen. Zugleich stellen politisch-administrative Rahmenbedingungen nicht nur für politik- und verfassungsgeschichtliche Untersuchungen, sondern auch in wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Studien ein wesentliches Analysemoment dar. Zu bedenken ist allerdings, dass jüngere Forschungsfelder wie Alltag, Gender, Mentalität, Kommunikation, Wahrnehmung, Erinnerung, Erfahrung etc. zwar exemplarisch innerhalb von Grenzen untersucht werden können, sie in ihrer kulturgeschichtlichen Dimension aber über diese hinausweisen und damit der Raum im Sinne des aktuellen ›spatial turn‹ doch wieder ins Spiel kommt94. III. Ausblick Im Rahmen dieses Beitrags können nicht alle Dissertationen der letzten Jahrzehnte im Einzelnen diskutiert werden. Daher möchte ich abschließend verschiedene Themenfelder abstecken, die die Institutsarbeit und die dort entstandenen historischen Dissertationen mit jüngeren Forschungstendenzen verknüpfen und die meines Erachtens auch unter den neuen organisatorischen Voraussetzungen weiterzuverfolgen sind: 92 PETRI, Stand (wie Anm. 28), S. 79. 93 JANSSEN, Institut (wie Anm. 22), S. 321f. 94 Michael KAISER / Markus LEIFELD / Andreas RUTZ, Ein Kurfürst macht noch keine Epoche. Eine Standortbestimmung der Frühneuzeitforschung im Rheinland anlässlich eines Ausstellungsprojekts, mit Beiträgen von Andrea BARTSCH, Stephan LAUX und Jürgen LOTTERER, in: Geschichte in Köln 50 (2003), S. 55–87, hier S. 65. Zur Bedeutung des ›spatial turn‹ für die Regional- bzw. Landesgeschichte vgl. jetzt Riccardo BAVAJ, Was bringt der ›spatial turn‹ der Regionalgeschichte? Ein Beitrag zur Methodendiskussion, in: Westfälische Forschungen 56 (2006), S. 457–484. 64 Historische Forschung am Bonner Institut – Netzwerkstudien, wie Leo Peters Arbeit zu den interterritorialen Verflechtungen des rhein-maasländischen Adels in der Frühen Neuzeit95 oder die Studie von Wolfgang Herborn zur politischen Führungsschicht im spätmittelalterlichen Köln96 – Untersuchungen zu Migration und Kulturtransfer, wie Achim Dünnwalds Dissertation zur Aufnahme niederländischer Flüchtlinge im Herzogtum Kleve im 16. Jahrhundert97 – frauen- und geschlechtergeschichtliche Arbeiten, wie Margret Wenskys Dissertation zur Stellung der Frau in der spätmittelalterlichen Kölner Wirtschaft98 – Beiträge zur Konfessionalisierungsdebatte, wie Herbert Kipps Dissertation zur landstädtischen Reformation und Rats-Konfessionalisierung in Wesel99 – sozialisations- und bildungsgeschichtliche Untersuchungen, wie Johannes Kistenichs Studie zu Bettelmönchen im öffentlichen Schulwesen der Frühen Neuzeit100. Die genannten Forschungsfelder bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für künftige Projekte in allen Epochen der rheinischen Geschichte und ermöglichen aufgrund der breiten methodologischen Diskussion in der allgemeinen Geschichtswissenschaft die notwendige Einbindung in den aktuellen Fachdiskurs. Diese Anschlussfähigkeit an die methodische Entwicklung des Gesamtfaches ist bei landesgeschichtlichen Dissertationen – und zwar nicht nur Bonner Provenienz – leider nicht immer gegeben101. Ich plädiere daher nachdrücklich für eine landesgeschichtliche Forschung, die ihre unbestreitbaren Verdienste und Vorteile (Quellennähe, thematische Vielfalt, epochale Breite, 95 Leo PETERS, Geschichte des Geschlechtes von Schaesberg bis zur Mediatisierung. Ein Beitrag zur Erforschung der interterritorialen Verflechtungen des rhein-maasländischen Adels (Schriftenreihe des Kreises Kempen-Krefeld 24), 2 Neustadt a. d. Aisch 1972, Nettetal 1990. 96 Wolfgang HERBORN, Die politische Führungsschicht der Stadt Köln im Spätmittelalter (Rheinisches Archiv 100), Bonn 1977. 97 Achim DÜNNWALD, Konfessionsstreit und Verfassungskonflikt. Die Aufnahme der niederländischen Flüchtlinge im Herzogtum Kleve 1566–1585 (Schriften der Heresbach-Stiftung Kalkar 7), Bielefeld 1998. 98 Margret WENSKY, Die Stellung der Frau in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte N.F. 26), Köln/Wien 1980. 99 Herbert KIPP, »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes«. Landstädtische Reformation und Rats-Konfessionalisierung in Wesel (1520–1600) (Schriften der Heresbach-Stiftung Kalkar 12), Bielefeld 2004. 100 Johannes KISTENICH, Bettelmönche im öffentlichen Schulwesen. Ein Handbuch für die Erzdiözese Köln 1600 bis 1850 (Stadt und Gesellschaft. Studien zum Rheinischen Städteatlas 1), 2 Bde., Köln/Weimar/Wien 2001. 101 So auch JANSSEN, Institut (wie Anm. 22), S. 322. 65 Andreas Rutz regional und überregional vergleichende Perspektive, Interdisziplinarität) mit einer größeren Offenheit für internationale Trends kombiniert. Die von Janssen vor einigen Jahren konstatierte fünfzigjährige Inkubationszeit landesgeschichtlicher Paradigmenwechsel ist meines Erachtens nicht naturgegeben102. Die von ihm als »Landeshistoriker wider Willen« apostrophierten Autoren, die als ›Allgemeinhistoriker‹ neue Fragestellungen in regionalen und lokalen Archiven erproben103, warten damit auch kein halbes Jahrhundert. Die institutionalisierte Landesgeschichte braucht sich nicht zum reinen Dienstleistungsbetrieb – Stichwort Quellenerschließung und Grundlagenforschung – zu degradieren, sondern muss allgemeine Trends offensiver aufgreifen und (landesgeschichtlich) weiterdenken. Dabei geht es nicht um eine neue landesgeschichtliche Methode. Moderne, kulturwissenschaftlich orientierte Geschichtsschreibung ist weitgehend lokal bzw. regional gebunden, ist recht eigentlich Landesgeschichte. Und sie bedarf der intimen Kenntnis territorialer, diözesaner und landschaftlicher Gegebenheiten, Zustände und Entwicklungen. Die Landesgeschichte täte gut daran, hier ganz selbstverständlich mitzuarbeiten – ohne Rücksicht auf Traditionen, angebliche Kernaufgaben, vermeintliche Besitzstände oder Abgrenzungsnöte zwecks inner- und außeruniversitärer Profilierung. Letztere ergibt sich zwangsläufig aus der Verankerung in der regionalbezogenen Sozial- und Kulturgeschichte, wünschenswerterweise ergänzt durch vergleichende Forschungen im deutschen und europäischen Rahmen. 102 JANSSEN, Landesgeschichte (wie Anm. 27), S. 415. 103 Ebd., S. 417. 66