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Gemeinwohlorientiert, ökologisch, sozial

2023, Gemeinwohlorientiert – Ökologisch – Sozial? Aushandlungen um alternative Wirtschaftspraktiken in der Zivilgesellschaft

Vorwort und Inhaltsverzeichnis

Bürgergesellschaft und Demokratie Cornelia Kühn Hrsg. Gemeinwohlorientiert, ökologisch, sozial Aushandlungen um alternative Wirtschaftspraktiken in der Zivilgesellschaft Bürgergesellschaft und Demokratie Reihe herausgegeben von Frank Adloff, Fachbereich Sozialökonomie, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Ansgar Klein, Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, Berlin, Deutschland Holger Krimmer, ZiviZ gGmbH im Stifterverband, Berlin, Deutschland Johanna Mair, Organization, Strategy and Leadership, Hertie School, Berlin, Berlin, Deutschland Britta Rehder, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Simon Teune, Zentrum Technik und Gesellschaft, Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Heike Walk, Fachbereich für Wald und Umwelt, HNE Eberswalde, Eberswalde, Deutschland Annette Zimmer, Institut für Politikwissenschaft, Universität Münster, Münster, Deutschland Die Buchreihe vereinigt qualitativ hochwertige Bände im Bereich der Forschung über Partizipation und Beteiligung sowie bürgerschaftliches Engagement. Ein besonderer Akzent gilt der politischen Soziologie des breiten zivilgesellschaftlichen Akteursspektrums (soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen, Vereine, Verbände, Stiftungen, Genossenschaften, Netzwerke etc.). Die Buchreihe versteht sich als Publikationsort einer inter- und transdisziplinären Zivilgesellschaftsforschung. „Bürgergesellschaft und Demokratie“ schließt an die Buchreihe „Bürgerschaftliches Engagement und Non-Profit-Sektor“ an. The book series is conceived as a forum for inter- and transdisciplinary civil society research. “Civil Society and Democracy” builds on the precursory book series “Civic Engagement and the Non-Profit Sector”. Cornelia Kühn (Hrsg.) Gemeinwohlorientiert, ökologisch, sozial Aushandlungen um alternative Wirtschaftspraktiken in der Zivilgesellschaft Hrsg. Cornelia Kühn Humboldt-Universität zu Berlin Berlin, Deutschland ISSN 2627-3195 ISSN 2627-3209 (electronic) Bürgergesellschaft und Demokratie ISBN 978-3-658-38502-6 ISBN 978-3-658-38503-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-38503-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Vorwort Die gegenwärtig bestehende „multiple Krise“1 (Brand und Welzer 2019, S. 313) beschreibt Sighard Neckel (2018) in seinem Forschungsprogramm „Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit“ mit der Vernutzung grundlegender für die Gesellschaft notwendiger Ressourcen. Er benennt dabei die „natürlichen Ressourcen des Ökosystems, die ökonomischen Ressourcen gesellschaftlichen Wohlstands, die sozialen Ressourcen von Sorge, Fürsorge und Solidarität oder die subjektiven Ressourcen von beruflicher Leistungsfähigkeit und privater Lebensführung“ (ebd., S. 11). Die in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft diskutierten Fragen zur Lösung der verschiedenen Probleme beziehen sich dabei oftmals nur auf einzelne Bereiche der zum Teil als konjunkturell wahrgenommenen Krisen.2 Auch Zukunftsvisionen einer nachhaltigen Entwicklung wie beispielsweise die Green Economy beinhalten meist keine grundlegenden strukturellen Änderungen.3 Da erneuerbare Energien, fruchtbare Böden, sauberes Wasser und viele Rohstoffe auch zukünftig begrenzt sein werden, stehen demgegenüber wissenschaftliche Überlegungen zu einer Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, die den Zwang zum ökonomischen Wachstum überwindet und eine nachhaltige Postwachstumsgesellschaft etabliert, um der als strukturell wahrgenommenen multiplen Krise zu begegnen.4 Denn die genannten Krisen 1 Oft wird sie auch Vielfachkrise genannt, vgl. Demirović et al. (2011). Zu der getrennten Wahrnehmung der verschiedenen Krisen vgl. Brand (2009, S. 4). 3 Zu den verschiedenen Imaginationen von Zukünften der Nachhaltigkeit siehe die DFGKolleg-Forschungsgruppe „Zukünfte der Nachhaltigkeit“ an der Universität Hamburg, vgl. Adloff und Neckel (2019, S. 167–193). 4 Vgl. dazu u. a. Dörre et al. (2019); Göpel (2020); Jackson (2013); Kallis et al. (2015); Latouche (2015); Muraca (2014); Paech (2014); Schmelzer und Vetter (2019); Schneidewind (2018); Sommer und Welzer (2014); Weizsäcker und Wijkman (2017). 2 V VI Vorwort werden in den Postwachstumsüberlegungen vor allem der Expansionslogik und den Externalisierungsmechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft zugeordnet, also dem Zwang der Wirtschaft, immer weiter wachsen zu müssen, um als moderne (Wohlfahrts-)Gesellschaft stabil zu bleiben (vgl. Lessenich 2019, S. 61 ff.). Diese Expansionslogik betrifft dabei nicht nur die kapitalistische Produktionsweise, sondern sie ist auch zum Leitbild für individuelle Handlungsorientierungen geworden. Die als „imperiale Lebensweise“ (Brand und Wissen 2017) bezeichneten Konsumgewohnheiten und Lebensstandards sind somit als kulturelle Normen und Orientierungen in den Alltag eingedrungen, als geteilte sozialregulative Werte internalisiert und als universal geltend naturalisiert. Allerdings lassen sich die Effekte der Wachstums- und Externalisierungsgesellschaft immer weniger auslagern, was zu einer stärkeren Bewusstwerdung der „gesellschaftlichen Produktion von internalisierten Systemzwängen“ (Lessenich 2019, S. 71) und damit zu veränderten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen führt. Entsprechend kommen Vorschläge für alternative Wirtschaftsformen auch aus aktivistischen Bewegungen wie u. a. die Gemeinwohl-Ökonomie (Felber 2010), die Solidarische Ökonomie (Akademie Solidarische Ökonomie et al. 2012) und Commons (Helfrich und Heinrich-BöllStiftung 2014), die Wege in einen strukturellen Wandel zu einer sozial und global gerechten, ökologisch verantwortlichen und solidarischen Zukunft weisen. Mithilfe unterschiedlicher Mittel – von veränderten wirtschaftlichen Anreizmechanismen im Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) über eine solidarische Finanzierung der Mitarbeitenden bis hin zu veränderten Eigentumsformen bei der Bewirtschaftung von Gemeingütern – soll damit ein Pfadwechsel eingeleitet werden, der hinführt zu einer solidarischen Lebensweise, die auf alternativen Leitbildern wie Kooperation und Partizipation, gegenseitiger Wertschätzung und einem empathischen Miteinander und mit der Umwelt basiert. Zugleich proben Alternativprojekte – bislang eher in einer Nische – bereits neue Formen des Zusammenarbeitens und -lebens wie die Solidarische Landwirtschaft, genossenschaftliche Haus- und Wohnprojekte und Ökodörfer oder neue Formen von Commons wie Urban Gardening, Open Source Hard- und Software oder Repair Cafés.5 Aber auch andere Formen und Prozesse nachhaltiger Entwicklung lassen sich durch technologische Innovationen in einigen Wirtschaftsbranchen oder in der nachhaltigen Ausrichtung einiger (Wirtschafts-)Regionen erkennen. 5 Forschungen dazu vgl. beispielhaft Andreas (2015); Baier et al. (2016); Grewe (2017); Habermann (2009); Mohr et al. (2012); Müller (2012); Poehls et al. (2017); Seidl und Zahrnt (2019); Tauschek und Grewe (2015). Vorwort VII Wie aber leben und wirtschaften diese Alternativprojekte? Welche veränderten Wertvorstellungen, welche Wohlstandskonzepte und welche neuen Leitbilder vertreten sie? Und wie können diese neuen sozialen, ökologischen und solidarischen Formen aus der Nische in den Mainstream gelangen – und welche Schwierigkeiten ergeben sich dabei? Diesen Fragen ist der Workshop „Gemeinwohl-Ökonomie, Konvivialismus, Postwachstum – Wege in eine nachhaltige Gesellschaft“6 am 30. September und 1. Oktober 2021 an der Berliner Humboldt-Universität nachgegangen. Das Ziel des Workshops war es, Möglichkeiten und Grenzen der Ausweitung alternativer Wirtschafts- und Lebensformen zu erkunden. Dabei wurden gemeinwohlorientierte Unternehmen und Orte alternativer solidarischer Praktiken genauso betrachtet wie ländliche Regionen oder Großunternehmen auf ihrem Weg in eine nachhaltige Zukunft. Mit unterschiedlichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Methoden und mit verschiedenen Perspektiven und Fragestellungen wurden diese Pionierprojekte unter die Lupe genommen. Die Beiträge des Workshops sind in diesem Band zusammengefasst, um sie einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen. Dabei wurden die Forschungstexte in drei verschiedene, aber sich überschneidende Themenbereiche eingeordnet. Im ersten Themenbereich werden gemeinwohlorientierte Unternehmen in ihren Transformationspotenzialen betrachtet. Den Anfang macht Matthias Kasper mit seiner Analyse der Gemeinwohl-Ökonomie in Hinblick auf ihre Potenziale zur Umsetzung der Sustainable Development Goals (SDG). Er skizziert in seinem Text, wie Unternehmen einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung und zur Umsetzung der Agenda 2030 leisten können, indem sie ihre unternehmerische Ausrichtung auf die Lösung der gesellschaftlichen Herausforderungen legen und damit als Change Agents für eine sozial-ökologische Transformation fungieren. Am Beispiel der Gemeinwohl-Bilanz und der Praxis einiger gemeinwohl-bilanzierter Unternehmen wird diese veränderte unternehmerische Haltung mit ihren alternativen Weltbildern und Entwicklungspfaden exemplarisch dargestellt. Auch im folgenden Beitrag von Katharina Bruns wird die Gemeinwohl-Ökonomie auf ihr Potenzial für eine Transformation der Wirtschaft hin überprüft. Mithilfe der „Kriterien zur Bewertung des Transformationspotentials von Nachhaltigkeitsinitiativen“ (Wunder et al. 2019) fragt diese Forschung, ob und welche 6 Abschlussworkshop des DFG-Projekts „Nachhaltige Entwicklung von unten? Die Gemeinwohl-Ökonomie zwischen utopischen Visionen, zivilgesellschaftlichen Initiativen und basisdemokratischen Entscheidungen“ am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. VIII Vorwort Wirkung sich durch die Gemeinwohl-Bilanzierung für die Mitgestaltung einer sozial-ökologischen Transformation des Wirtschaftssystems entfaltet. Mit teilnehmender Beobachtung des Peer-Verfahrens bei der Gemeinwohl-Bilanzierung und einer anschließenden Online-Umfrage unter gemeinwohl-bilanzierten Unternehmen wird in dem Beitrag herausgearbeitet, welche förderlichen Rahmenbedingungen den Erfolg der Initiative verstetigen können, aber auch welche hemmenden Bedingungen es derzeit gibt sowie welche Paradigmenwechsel bei einem Mainstreaming der Initiative eintreten könnten. In dem Beitrag von Cornelia Kühn wird weniger die unternehmerische Struktur der gemeinwohl-bilanzierten Unternehmen betrachtet, sondern der Blick auf die darunterliegenden Selbstbilder und Selbstverständnisse in der Gemeinwohl-Ökonomie als eine Form des Kulturwandels gerichtet. In der Forschung mit gemeinwohlorientierten Unternehmen und dem Verein der Gemeinwohl-Ökonomie Berlin-Brandenburg wurden die soziokulturellen Praktiken und die neuen Formen des Miteinanders beobachtet und in ihrer Akzeptanz und Verbreitung analysiert. Dabei zeigt sich, dass die Gemeinwohl-Ökonomie und ihre Anwendung in Form der Gemeinwohl-Bilanz den strukturellen Rahmen schaffen, ökologische, soziale, partizipative und demokratische Leitbilder als alternative Wertemaßstäbe in Wirtschaftsunternehmen stärker mit einzubeziehen und werteorientierte, soziale (Alltags-)Praktiken zu begünstigen. Allerdings zeigen die im Text dargestellten Beispiele auch die Widersprüchlichkeit von Praktiken, die sich je nach sozialem Feld, nach Partizipant*innen und nach den entsprechenden Rollenanforderungen verändern können und die dabei die Dynamik der Aushandlung um soziale Anerkennung und Wertschätzung alternativer Selbstverständnisse und Weltverhältnisse sichtbar machen. Der zweite Themenbereich des Bandes öffnet die Perspektive hin zu Großunternehmen, spezifische Wirtschaftsbranchen und ländliche Regionen in ihrem Bemühen um soziale und ökologische Innovationen und eine nachhaltige Entwicklung. Der Beitrag von Josefa Kny fragt danach, inwieweit multinationale Großunternehmen gemeinwohlorientiert wirtschaften können. Anhand der Fallbeispiele dm, E.ON, MAN und Otto Group werden dafür Möglichkeiten und Grenzen gemeinwohlorientierten Unternehmenshandeln ausgelotet. In der Forschung werden sechs zentrale Einflussfaktoren herausgearbeitet, die sich in äußere Rahmenbedingungen und unternehmenseigene Dispositionen unterteilen lassen. Es zeigt sich, dass aufgrund der vorherrschenden Wirtschaftslogik und deren Pfadabhängigkeit das gemeinwohlorientierte Engagement der untersuchten Unternehmen weitgehend dem entspricht, was innerhalb des bestehenden ökonomischen und rechtlichen Rahmens geboten ist und wirtschaftlich vorteilhaft Vorwort IX wirkt. Veränderte gesetzliche Grundlagen, die gleiche Bedingungen für alle Unternehmen schaffen, sowie ein gesamtgesellschaftlicher Wandel, der sozialökologische Prioritäten in den Praktiken aller am Unternehmen beteiligten Akteur*innen verankert, wären für einen Wandel in eine unternehmerische Gemeinwohlorientierung notwendig. Der Beitrag von Sarah May wendet sich demgegenüber der Nutzung von natürlichen Ressourcen und bioökonomischen Innovationen in der Bauindustrie zu. Ihr Fokus liegt auf dem Verständnis der Aushandlungen um die Ressourcennutzung und der Deutungen von Ressourcenknappheit durch verschiedene Akteur*innen in der Bauindustrie. Anhand zweier empirischer Beispiele aus dem Themenbereich „Holz & Handwerk“ wird in dem Beitrag zum einen dargelegt, wie die Erfahrung von Knappheit konkrete Handlungen in Arbeitsalltagen initiiert und damit bioökonomische Innovation konstituiert. Zum anderen wird die Situativität und Relativität von Knappheit im Diskurs über die Bauindustrie analysiert. Im spezifischen Kontext „Bauen mit Holz“ erweist sich Knappheit daher nicht als ein gegebenes Ressourcenproblem, sondern als perspektivgebunden und kontextuell sowie als ein Gegenstand von (kulturellen) Handlungen und Verhandlungen. Cosima Wiemer folgt in ihrem Beitrag der Auseinandersetzung der Inselgemeinschaft Pellworm um eine nachhaltige Entwicklung der Region. Dabei werden mithilfe teilnehmender Beobachtung, qualitativer Interviews und informeller Gespräche die unterschiedlichen Interessen der Insulaner*innen aus den drei Bereichen Landwirtschaft, Tourismus und Naturschutz in ihren Abhängigkeiten und Zwängen nachgezeichnet und die Reibungspunkte durch die jeweils unterschiedliche Gewichtung einer nachhaltigen Entwicklung herausgearbeitet. Die Feldforschung auf der Insel Pellworm kann aufzeigen, wie eine gemeinschaftliche Erarbeitung des Inselleitbilds, bei der die ökonomische Stabilität mit der ökologischen und sozialen Dimension zusammengedacht wird, als Kommunikationsprozess zwischen der Zivilbevölkerung mit ihren verschiedenen Vereinen, Projekten und Initiativen und einer professionellen und hauptberuflichen Leitung in der Kommunalpolitik stattfinden und erfolgreich umgesetzt werden kann. Der dritte Themenbereich wendet sich der Ein- und Ausübung solidarischer Praktiken zu. Juliane Friedrich und Annalena Klauck fragen dafür in ihrem Beitrag nach dem Unternehmerischen in alternativ und werteorientiert wirtschaftenden Landwirtschaftsgemeinschaften. Unternehmerische Praktiken gelten gemeinhin als Leitbilder in innovativen und gewinnorientierten ökonomischen Kontexten. Alternative Perspektiven auf das Unternehmerische X Vorwort sind bislang rar. Mithilfe des von Schwartz (1994) entwickelten Personal Value Questionnaire wurden in der Forschung die Werte bei den Mitgliedern einer Solidarischen Landwirtschaft (Solawi) abgefragt und dabei überprüft, inwieweit unternehmerisches Handeln nicht nur in einem klassisch-ökonomischen Kontext zu finden ist. Im Vergleich mit einer Wertestudie zu Gründer*innen wird dabei herausgearbeitet, wie das Unternehmerische als soziale Innovation auch in Nachhaltigkeitsgemeinschaften produktiv gemacht wird. Aber auch Unterschiede besonders in dem Leitwert „Leistung“ (bei den Gründer*innen) und „Umweltschutz“ (innerhalb der Hofgemeinschaft) werden erkennbar. Philipp Degens und Lukas Lapschieß analysieren in ihrem Beitrag ebenfalls die Solidarische Landwirtschaft als eine Form zivilgesellschaftlichen, kooperativen Wirtschaftens für das Gemeinwohl, wobei zehn idealtypische Merkmale herausgearbeitet werden. Ihre Forschung wendet sich allerdings nicht einer spezifischen Solawi zu, sondern lenkt den Blick auf das „Netzwerk Solidarische Landwirtschaft“ als feldinterne Governance Unit bei dem derzeit stattfindenden dynamischen Wandel dieses sozialen Felds. Denn die Solawis sind durch zahlreiche Neugründungen und einem stetigen Wachstum einerseits sowie einer damit verbundenen Binnendifferenzierung der Hofgemeinschaften andererseits gekennzeichnet, was zu Konflikten und Aushandlungsprozessen führt. Das Netzwerk der Solawis dient durch seine kooperative Konfliktlösung zur Integration und zur Stabilisierung dieser alternativwirtschaftlichen Landwirtschaftsgemeinschaften, wie in dem Beitrag anhand von teilnehmender Beobachtungen, Gesprächen, Interviews und quantitativer Datenerhebung aufgezeigt werden kann. Wie solidarische Praktiken eingeübt werden können, analysiert Heike Derwanz am Beispiel dreier Kleidertausch-Häuschen in Hamburg. Mit ethnografischer Beschreibung und Interviews werden der Weg der abgegebenen Kleidung und das in der Form des Commoning gestaltete und durch ehrenamtlicher Helfer*innen ermöglichte Betreiben der Tauschhäuser nachgezeichnet. Dabei stellt der Beitrag die Frage, ob der produzierte Überfluss an Kleidung dabei helfen kann, die Akzeptanz bereits konsumierter Kleidung zu erhöhen und alternative solidarische Wirtschaftsformen in der Stadtgesellschaft zu erproben. Zum Abschluss nimmt uns Ina Kuhn mit zu einem Utopie-Festival, bei dem alternative solidarische Zukünfte nicht nur entworfen und diskutiert, sondern auch erfahrbar gemacht und ausprobiert werden. Unter dem Motto „teilen statt tauschen“ werden dabei alternative Werte außerhalb tradierter Konventionen gelebt und neue Formen eines (möglichst) geldfreien Miteinanders nach Bedürfnissen und Fähigkeiten getestet. Mit der detaillierten Beschreibung des Vorwort XI „tauschlogikfreien Geldtopfes“ und des Umgangs damit werden in dem Beitrag die neuen Formen des Gebens und Nehmens ethnografisch nachgezeichnet. Damit wird ein Einblick in ein zivilgesellschaftliches Experimentierfeld ermöglicht, in dem ein anderes Zusammenleben für die Welt von morgen verhandelt, entworfen und erprobt wird. Mein Dank geht zu allererst an die Autor*innen, die mir ihre Beiträge für diesen Sammelband zur Verfügung gestellt haben. Die Leser*innen erwartet eine spannende Reise durch verschiedene Projekte und Initiativen, die ohne vorgegebene Blaupause neue Formen des miteinander Wirtschaftens und Lebens für eine sozial-ökologische und nachhaltige Zukunft ausprobieren. In den Forschungen werden die Transformationspotenziale dieser mehrheitlich aus der Zivilgesellschaft kommenden neuen Wirtschaftspraktiken genauso betrachtet wie die Reibungspunkte und die Aushandlungen innerhalb der Projekte und mit der Außenwelt. Dabei werden neue Perspektiven eröffnet, wie beispielsweise das Leitbild des Unternehmerischen – was klassisch als gewinnorientiert konzipiert wird – in Solidarischen Landwirtschaftsgemeinschaften angewandt wird; wozu Ressourcenknappheit in konkreten Kontexten des Bauens führt und wie es dort jeweils konzeptualisiert wird; oder wie die solidarische Praxis des (kostenlosen) Weitergebens und Tauschens von Kleidung zu neuem Konsum anregen kann. Aber auch notwendige politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für eine gemeinwohlorientierte Transformation von Großunternehmen oder eine nachhaltige Entwicklung von Regionen werden in den Forschungsbeiträgen aufgezeigt. Damit wird der Bogen gespannt vom klassisch-unternehmerischen Denken hin zu gesellschaftlichen Werten und (neuen) kulturellen Mustern des Miteinanders, wobei die oftmals getrennt diskutierten sozialen Felder „Wirtschaft“ und „Gesellschaft“ in ihrer Verbundenheit analysiert werden und zum Weiterdenken einladen. Den Auftakt für dieses Buch bildete der Abschlussworkshop des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts „Nachhaltige Entwicklung von unten? Die Gemeinwohl-Ökonomie zwischen utopischen Visionen, zivilgesellschaftlichen Initiativen und basisdemokratischen Entscheidungen“ an der Berliner Humboldt-Universität. Mein Dank gilt daher besonders der DFG für ihre Förderung des Forschungsprojekts sowie dem Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, an dem das Projekt angesiedelt war. Besonders danken möchte ich meiner studentischen Hilfskraft Helena Hick, die mir die gesamte Projektlaufzeit über eine wichtige Gesprächspartnerin war und mich bei meinen Forschungen und bei dem Workshop tatkräftig unterstützt hat. Außerdem danke ich den Herausgeber*innen der Reihe „Bürgergesellschaft und Demokratie“ für die Möglichkeit, den XII Vorwort Sammelband in dieser Buchreihe publizierten zu können und dem Springer-Verlag, besonders den Lektor*innen Madhipriya Kumaran und Jan Treibel, für die Projektkoordination bis hin zur Publikation. 04.06.2022 Cornelia Kühn Institut für Europäische Ethnologie Humboldt-Universität zu Berlin Berlin Literatur Adloff, Frank, und Sighard Neckel. 2019. Modernisierung, Transformation oder Kontrolle? Die Zukünfte der Nachhaltigkeit. In Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften: Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, Hrsg. Klaus Dörre, Hartmut Rosa, Karina Becker, Sophie Bose und Benjamin Seyd, 167–80. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. https://doi.org/10.1007/978-3658-25947-1_8. Akademie solidarische Ökonomie, Harald Bender, Norbert Bernholt, und Bernd Winkelmann, Hrsg. 2012. Kapitalismus und dann? Systemwandel und Perspektiven gesellschaftlicher Transformation. München: oekom verlag. Andreas, Marcus. 2015. Vom neuen guten Leben: Ethnographie eines Ökodorfs. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/9783839428283. Baier, Andrea, Tom Hansing, Christa Müller, und Karin Werner, Hrsg. 2016. Die Welt reparieren: Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/9783839433775. Brand, Ulrich, und Markus Wissen. 2017: Imperiale Lebensweise: Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: oekom verlag. https://doi. org/10.3726/JP2017.21. Brand, Ulrich. 2009. Die Multiple Krise: Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. Brand, Urich, und Harald Welzer. 2019. Alltag und Situation. Soziokulturelle Dimensionen sozial-ökologischer Transformation. In Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften: Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, Hrsg. Klaus Dörre, Hartmut Rosa, Karina Becker, Sophie Bose, und Benjamin Seyd, 313–32. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25947-1_17. Demirović, Alex, Julia Dück, Florian Becker, und Pauline Bader, Hrsg. 2011. VielfachKrise: Im finanzmarktdominierten Kapitalismus. Hamburg: VSA-Verlag. Dörre, Klaus, Hartmut Rosa, Karina Becker, Sophie Bose, und Benjamin Seyd, Hrsg. 2019. Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften: Sonderband des Berliner Journals für Soziologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. Felber, Christian. 2010. Die Gemeinwohl-Ökonomie: Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. Wien: Deuticke. Vorwort XIII Göpel, Maja. 2020. Unsere Welt neu denken: Eine Einladung. Berlin: Ullstein. Grewe, Maria. 2017. Teilen, Reparieren, Mülltauchen: Kulturelle Strategien im Umgang mit Knappheit und Überfluss. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/9783839438589. Habermann, Friederike. 2009. Halbinseln gegen den Strom: Anders leben und wirtschaften im Alltag. Königstein: Ulrike Helmer Verlag. Helfrich, Silke, und Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg. 2014. Commons: Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld: transcript. https://doi. org/10.14361/9783839428351-005. Jackson, Tim. 2013 [2009]. Wohlstand ohne Wachstum: Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. Bonn: oekom verlag. Kallis, Giorgos, Federico Demaria, und Giacomo D’Alisa, Hrsg. 2015. Degrowth: A vocabulary for a new era. London: Routledge. Latouche, Serge. 2015. Es reicht! Abrechnung mit dem Wachstumswahn. München: oekom verlag. Lessenich, Stephan. 2019. Mitgegangen, mitgefangen. Das große Dilemma der Großen Transformation. In Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften: Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, Hrsg. Klaus Dörre, Hartmut Rosa, Karina Becker, Sophie Bose, und Benjamin Seyd, 57–73. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. Mohr, Sebastian, Lydia-Maria Ouart und Andrea Vetter, Hrsg. 2012. (aus)tauschen: Erkundungen einer Praxisform. Sonderheft. Berliner Blätter – Ethnographische und ethnologische Beiträge 61. Müller, Christa, Hrsg. 2012. Urban Gardening: Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München: oekom. https://doi.org/10.14512/9783865816139. Muraca, Barbara. 2014. Gut leben: Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums. Berlin: Wagenbach. Neckel, Sighard. 2018. Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit: Soziologische Perspektiven. In Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit: Umrisse eines Forschungsprogramms, Hrsg. Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah M. Pritz und Timo Wiegand, 11–24. Bielefeld: transcript. https://doi. org/10.14361/9783839441947-002. Paech, Niko. 2014. Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München: Oekom. Poehls, Kerstin, Leonore Scholze-Irrlitz, und Andrea Vetter, Hrsg. 2017. Strategien der Subsistenz: Neue prekäre, subversive und moralische Ökonomien. Sonderheft. Berliner Blätter – Ethnographische und ethnologische Beiträge 74. Schmelzer, Matthias, und Andrea Vetter. 2019. Degrowth/Postwachstum zu Einführung. Hamburg: Junius. Schneidewind, Uwe. 2018. Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch. Schwarz, Shalom H. 2014. Risikoprobleme und Lösungen. In Social Entrepreneurship Projekte: Unternehmerische Konzepte als innovativer Beitrag zur Gestaltung einer sozialen Gesellschaft, Hrsg. Shalom H. Schwartz, 111–171. Wiesbaden: Springer VS. Seidl, Irmi, und Angelika Zahrnt, Hrsg. 2019. Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Marburg: Metropolis. XIV Vorwort Sommer, Bernd, und Harald Welzer. 2014. Transformationsdesign: Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: oekom. Tauschek, Markus, und Maria Grewe, Hrsg. 2015. Knappheit, Mangel, Überfluss: Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen. Frankfurt a. M.: Campus verlag. Weizsäcker, Ernst-Ulrich von, und Anders Wijkman et al. 2017. Wir sind dran: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. 5. Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Wunder, Stephanie, Stefanie Albrecht, Lucas Porsch, und Lisa Öhler. 2019. Kriterien zur Bewertung des Transformationspotentials von Nachhaltigkeitsinitiativen. Umweltbundesamt: Dessau-Rößler. Inhaltsverzeichnis Transformationspotenziale der Gemeinwohl-Ökonomie Gemeinwohl-Ökonomie und die Sustainable Development Goals (SDGs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Kasper 3 Die Gemeinwohl-Bilanz – Baustein für die Mitgestaltung der Großen Transformation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Bruns 25 Wirtschaftswandel als Kulturwandel? Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf den Wertewandel in der Gemeinwohl-Ökonomie . . . . . . Cornelia Kühn 59 Aushandlungen um eine nachhaltige Entwicklung in Wirtschaftsunternehmen und in der Zivilgesellschaft Too big to do good? Einblicke in die Forschungsergebnisse zur Gemeinwohlorientierung von Großunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . Josefa Kny 91 Ökologisch bauen? Knappheit als konstitutives Moment der Bioökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sarah May 115 Im Wandel der Gezeiten. Die Insel Pellworm auf dem Weg einer nachhaltigen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cosima Wiemer 139 XV XVI Inhaltsverzeichnis Einübung solidarischer Praktiken Werte und unternehmerische Haltungen. Eine Einladung für eine neue Perspektive auf das Unternehmerische. . . . . . . . . . . . . . . . . Juliane Friedrich und Annalena Klauck 165 Kooperationen in der Solidarischen Landwirtschaft. Eine feldtheoretische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Degens und Lukas Lapschieß 189 Am Überfluss lernen – Öffentliche Tauschkisten als Postwachstumslabore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Derwanz 215 Der tauschlogikfreie Geldtopf. Ein ethnographischer Einblick in alternativ-ökonomische Zukunftspraktiken auf Utopie-Festivals . . . . . . Ina Kuhn 235