Bürgergesellschaft und Demokratie
Cornelia Kühn Hrsg.
Gemeinwohlorientiert,
ökologisch, sozial
Aushandlungen um alternative
Wirtschaftspraktiken in der
Zivilgesellschaft
Bürgergesellschaft und Demokratie
Reihe herausgegeben von
Frank Adloff, Fachbereich Sozialökonomie, Universität Hamburg, Hamburg,
Deutschland
Ansgar Klein, Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, Berlin,
Deutschland
Holger Krimmer, ZiviZ gGmbH im Stifterverband, Berlin, Deutschland
Johanna Mair, Organization, Strategy and Leadership, Hertie School, Berlin,
Berlin, Deutschland
Britta Rehder, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
Simon Teune, Zentrum Technik und Gesellschaft, Technische Universität Berlin,
Berlin, Deutschland
Heike Walk, Fachbereich für Wald und Umwelt, HNE Eberswalde, Eberswalde,
Deutschland
Annette Zimmer, Institut für Politikwissenschaft, Universität Münster, Münster,
Deutschland
Die Buchreihe vereinigt qualitativ hochwertige Bände im Bereich der Forschung
über Partizipation und Beteiligung sowie bürgerschaftliches Engagement. Ein
besonderer Akzent gilt der politischen Soziologie des breiten zivilgesellschaftlichen Akteursspektrums (soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen, Vereine, Verbände, Stiftungen, Genossenschaften, Netzwerke etc.). Die Buchreihe versteht
sich als Publikationsort einer inter- und transdisziplinären Zivilgesellschaftsforschung. „Bürgergesellschaft und Demokratie“ schließt an die Buchreihe
„Bürgerschaftliches Engagement und Non-Profit-Sektor“ an.
The book series is conceived as a forum for inter- and transdisciplinary civil
society research. “Civil Society and Democracy” builds on the precursory book
series “Civic Engagement and the Non-Profit Sector”.
Cornelia Kühn
(Hrsg.)
Gemeinwohlorientiert,
ökologisch, sozial
Aushandlungen um alternative
Wirtschaftspraktiken in der
Zivilgesellschaft
Hrsg.
Cornelia Kühn
Humboldt-Universität zu Berlin
Berlin, Deutschland
ISSN 2627-3195
ISSN 2627-3209 (electronic)
Bürgergesellschaft und Demokratie
ISBN 978-3-658-38502-6
ISBN 978-3-658-38503-3 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38503-3
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Planung/Lektorat: Jan Treibel
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Vorwort
Die gegenwärtig bestehende „multiple Krise“1 (Brand und Welzer 2019, S. 313)
beschreibt Sighard Neckel (2018) in seinem Forschungsprogramm „Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit“ mit der Vernutzung grundlegender für die Gesellschaft notwendiger Ressourcen. Er benennt dabei die „natürlichen Ressourcen
des Ökosystems, die ökonomischen Ressourcen gesellschaftlichen Wohlstands, die sozialen Ressourcen von Sorge, Fürsorge und Solidarität oder die
subjektiven Ressourcen von beruflicher Leistungsfähigkeit und privater Lebensführung“ (ebd., S. 11). Die in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft diskutierten
Fragen zur Lösung der verschiedenen Probleme beziehen sich dabei oftmals
nur auf einzelne Bereiche der zum Teil als konjunkturell wahrgenommenen
Krisen.2 Auch Zukunftsvisionen einer nachhaltigen Entwicklung wie beispielsweise die Green Economy beinhalten meist keine grundlegenden strukturellen
Änderungen.3 Da erneuerbare Energien, fruchtbare Böden, sauberes Wasser
und viele Rohstoffe auch zukünftig begrenzt sein werden, stehen demgegenüber wissenschaftliche Überlegungen zu einer Transformation von Wirtschaft
und Gesellschaft, die den Zwang zum ökonomischen Wachstum überwindet
und eine nachhaltige Postwachstumsgesellschaft etabliert, um der als strukturell
wahrgenommenen multiplen Krise zu begegnen.4 Denn die genannten Krisen
1
Oft wird sie auch Vielfachkrise genannt, vgl. Demirović et al. (2011).
Zu der getrennten Wahrnehmung der verschiedenen Krisen vgl. Brand (2009, S. 4).
3 Zu den verschiedenen Imaginationen von Zukünften der Nachhaltigkeit siehe die DFGKolleg-Forschungsgruppe „Zukünfte der Nachhaltigkeit“ an der Universität Hamburg, vgl.
Adloff und Neckel (2019, S. 167–193).
4 Vgl. dazu u. a. Dörre et al. (2019); Göpel (2020); Jackson (2013); Kallis et al. (2015);
Latouche (2015); Muraca (2014); Paech (2014); Schmelzer und Vetter (2019); Schneidewind (2018); Sommer und Welzer (2014); Weizsäcker und Wijkman (2017).
2
V
VI
Vorwort
werden in den Postwachstumsüberlegungen vor allem der Expansionslogik
und den Externalisierungsmechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft
zugeordnet, also dem Zwang der Wirtschaft, immer weiter wachsen zu müssen,
um als moderne (Wohlfahrts-)Gesellschaft stabil zu bleiben (vgl. Lessenich
2019, S. 61 ff.). Diese Expansionslogik betrifft dabei nicht nur die kapitalistische
Produktionsweise, sondern sie ist auch zum Leitbild für individuelle Handlungsorientierungen geworden. Die als „imperiale Lebensweise“ (Brand und Wissen
2017) bezeichneten Konsumgewohnheiten und Lebensstandards sind somit als
kulturelle Normen und Orientierungen in den Alltag eingedrungen, als geteilte
sozialregulative Werte internalisiert und als universal geltend naturalisiert.
Allerdings lassen sich die Effekte der Wachstums- und Externalisierungsgesellschaft immer weniger auslagern, was zu einer stärkeren Bewusstwerdung
der „gesellschaftlichen Produktion von internalisierten Systemzwängen“
(Lessenich 2019, S. 71) und damit zu veränderten wissenschaftlichen und
gesellschaftlichen Diskursen führt. Entsprechend kommen Vorschläge für alternative Wirtschaftsformen auch aus aktivistischen Bewegungen wie u. a. die
Gemeinwohl-Ökonomie (Felber 2010), die Solidarische Ökonomie (Akademie
Solidarische Ökonomie et al. 2012) und Commons (Helfrich und Heinrich-BöllStiftung 2014), die Wege in einen strukturellen Wandel zu einer sozial und global
gerechten, ökologisch verantwortlichen und solidarischen Zukunft weisen. Mithilfe unterschiedlicher Mittel – von veränderten wirtschaftlichen Anreizmechanismen im Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) über eine solidarische
Finanzierung der Mitarbeitenden bis hin zu veränderten Eigentumsformen bei
der Bewirtschaftung von Gemeingütern – soll damit ein Pfadwechsel eingeleitet
werden, der hinführt zu einer solidarischen Lebensweise, die auf alternativen
Leitbildern wie Kooperation und Partizipation, gegenseitiger Wertschätzung und
einem empathischen Miteinander und mit der Umwelt basiert. Zugleich proben
Alternativprojekte – bislang eher in einer Nische – bereits neue Formen des
Zusammenarbeitens und -lebens wie die Solidarische Landwirtschaft, genossenschaftliche Haus- und Wohnprojekte und Ökodörfer oder neue Formen von
Commons wie Urban Gardening, Open Source Hard- und Software oder Repair
Cafés.5 Aber auch andere Formen und Prozesse nachhaltiger Entwicklung lassen
sich durch technologische Innovationen in einigen Wirtschaftsbranchen oder in
der nachhaltigen Ausrichtung einiger (Wirtschafts-)Regionen erkennen.
5
Forschungen dazu vgl. beispielhaft Andreas (2015); Baier et al. (2016); Grewe (2017);
Habermann (2009); Mohr et al. (2012); Müller (2012); Poehls et al. (2017); Seidl und
Zahrnt (2019); Tauschek und Grewe (2015).
Vorwort
VII
Wie aber leben und wirtschaften diese Alternativprojekte? Welche veränderten
Wertvorstellungen, welche Wohlstandskonzepte und welche neuen Leitbilder vertreten sie? Und wie können diese neuen sozialen, ökologischen und solidarischen
Formen aus der Nische in den Mainstream gelangen – und welche Schwierigkeiten ergeben sich dabei? Diesen Fragen ist der Workshop „Gemeinwohl-Ökonomie, Konvivialismus, Postwachstum – Wege in eine nachhaltige Gesellschaft“6
am 30. September und 1. Oktober 2021 an der Berliner Humboldt-Universität
nachgegangen. Das Ziel des Workshops war es, Möglichkeiten und Grenzen der
Ausweitung alternativer Wirtschafts- und Lebensformen zu erkunden. Dabei
wurden gemeinwohlorientierte Unternehmen und Orte alternativer solidarischer
Praktiken genauso betrachtet wie ländliche Regionen oder Großunternehmen auf
ihrem Weg in eine nachhaltige Zukunft. Mit unterschiedlichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Methoden und mit verschiedenen Perspektiven und Fragestellungen wurden diese Pionierprojekte unter die Lupe genommen. Die Beiträge
des Workshops sind in diesem Band zusammengefasst, um sie einer breiten
Leserschaft zugänglich zu machen. Dabei wurden die Forschungstexte in drei
verschiedene, aber sich überschneidende Themenbereiche eingeordnet.
Im ersten Themenbereich werden gemeinwohlorientierte Unternehmen in
ihren Transformationspotenzialen betrachtet. Den Anfang macht Matthias Kasper
mit seiner Analyse der Gemeinwohl-Ökonomie in Hinblick auf ihre Potenziale
zur Umsetzung der Sustainable Development Goals (SDG). Er skizziert in seinem
Text, wie Unternehmen einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung und zur Umsetzung der Agenda 2030 leisten können, indem sie ihre
unternehmerische Ausrichtung auf die Lösung der gesellschaftlichen Herausforderungen legen und damit als Change Agents für eine sozial-ökologische
Transformation fungieren. Am Beispiel der Gemeinwohl-Bilanz und der Praxis
einiger gemeinwohl-bilanzierter Unternehmen wird diese veränderte unternehmerische Haltung mit ihren alternativen Weltbildern und Entwicklungspfaden
exemplarisch dargestellt.
Auch im folgenden Beitrag von Katharina Bruns wird die Gemeinwohl-Ökonomie auf ihr Potenzial für eine Transformation der Wirtschaft hin überprüft.
Mithilfe der „Kriterien zur Bewertung des Transformationspotentials von Nachhaltigkeitsinitiativen“ (Wunder et al. 2019) fragt diese Forschung, ob und welche
6
Abschlussworkshop des DFG-Projekts „Nachhaltige Entwicklung von unten? Die
Gemeinwohl-Ökonomie zwischen utopischen Visionen, zivilgesellschaftlichen Initiativen
und basisdemokratischen Entscheidungen“ am Institut für Europäische Ethnologie an der
Humboldt-Universität zu Berlin.
VIII
Vorwort
Wirkung sich durch die Gemeinwohl-Bilanzierung für die Mitgestaltung einer
sozial-ökologischen Transformation des Wirtschaftssystems entfaltet. Mit teilnehmender Beobachtung des Peer-Verfahrens bei der Gemeinwohl-Bilanzierung
und einer anschließenden Online-Umfrage unter gemeinwohl-bilanzierten Unternehmen wird in dem Beitrag herausgearbeitet, welche förderlichen Rahmenbedingungen den Erfolg der Initiative verstetigen können, aber auch welche
hemmenden Bedingungen es derzeit gibt sowie welche Paradigmenwechsel bei
einem Mainstreaming der Initiative eintreten könnten.
In dem Beitrag von Cornelia Kühn wird weniger die unternehmerische
Struktur der gemeinwohl-bilanzierten Unternehmen betrachtet, sondern der Blick
auf die darunterliegenden Selbstbilder und Selbstverständnisse in der Gemeinwohl-Ökonomie als eine Form des Kulturwandels gerichtet. In der Forschung mit
gemeinwohlorientierten Unternehmen und dem Verein der Gemeinwohl-Ökonomie Berlin-Brandenburg wurden die soziokulturellen Praktiken und die neuen
Formen des Miteinanders beobachtet und in ihrer Akzeptanz und Verbreitung analysiert. Dabei zeigt sich, dass die Gemeinwohl-Ökonomie und ihre Anwendung in
Form der Gemeinwohl-Bilanz den strukturellen Rahmen schaffen, ökologische,
soziale, partizipative und demokratische Leitbilder als alternative Wertemaßstäbe
in Wirtschaftsunternehmen stärker mit einzubeziehen und werteorientierte,
soziale (Alltags-)Praktiken zu begünstigen. Allerdings zeigen die im Text dargestellten Beispiele auch die Widersprüchlichkeit von Praktiken, die sich je nach
sozialem Feld, nach Partizipant*innen und nach den entsprechenden Rollenanforderungen verändern können und die dabei die Dynamik der Aushandlung
um soziale Anerkennung und Wertschätzung alternativer Selbstverständnisse und
Weltverhältnisse sichtbar machen.
Der zweite Themenbereich des Bandes öffnet die Perspektive hin zu
Großunternehmen, spezifische Wirtschaftsbranchen und ländliche Regionen
in ihrem Bemühen um soziale und ökologische Innovationen und eine nachhaltige Entwicklung. Der Beitrag von Josefa Kny fragt danach, inwieweit multinationale Großunternehmen gemeinwohlorientiert wirtschaften können. Anhand
der Fallbeispiele dm, E.ON, MAN und Otto Group werden dafür Möglichkeiten
und Grenzen gemeinwohlorientierten Unternehmenshandeln ausgelotet. In der
Forschung werden sechs zentrale Einflussfaktoren herausgearbeitet, die sich in
äußere Rahmenbedingungen und unternehmenseigene Dispositionen unterteilen
lassen. Es zeigt sich, dass aufgrund der vorherrschenden Wirtschaftslogik und
deren Pfadabhängigkeit das gemeinwohlorientierte Engagement der untersuchten
Unternehmen weitgehend dem entspricht, was innerhalb des bestehenden ökonomischen und rechtlichen Rahmens geboten ist und wirtschaftlich vorteilhaft
Vorwort
IX
wirkt. Veränderte gesetzliche Grundlagen, die gleiche Bedingungen für alle
Unternehmen schaffen, sowie ein gesamtgesellschaftlicher Wandel, der sozialökologische Prioritäten in den Praktiken aller am Unternehmen beteiligten
Akteur*innen verankert, wären für einen Wandel in eine unternehmerische
Gemeinwohlorientierung notwendig.
Der Beitrag von Sarah May wendet sich demgegenüber der Nutzung von
natürlichen Ressourcen und bioökonomischen Innovationen in der Bauindustrie
zu. Ihr Fokus liegt auf dem Verständnis der Aushandlungen um die Ressourcennutzung und der Deutungen von Ressourcenknappheit durch verschiedene
Akteur*innen in der Bauindustrie. Anhand zweier empirischer Beispiele aus
dem Themenbereich „Holz & Handwerk“ wird in dem Beitrag zum einen dargelegt, wie die Erfahrung von Knappheit konkrete Handlungen in Arbeitsalltagen
initiiert und damit bioökonomische Innovation konstituiert. Zum anderen wird die
Situativität und Relativität von Knappheit im Diskurs über die Bauindustrie analysiert. Im spezifischen Kontext „Bauen mit Holz“ erweist sich Knappheit daher
nicht als ein gegebenes Ressourcenproblem, sondern als perspektivgebunden
und kontextuell sowie als ein Gegenstand von (kulturellen) Handlungen und Verhandlungen.
Cosima Wiemer folgt in ihrem Beitrag der Auseinandersetzung der Inselgemeinschaft Pellworm um eine nachhaltige Entwicklung der Region. Dabei
werden mithilfe teilnehmender Beobachtung, qualitativer Interviews und
informeller Gespräche die unterschiedlichen Interessen der Insulaner*innen
aus den drei Bereichen Landwirtschaft, Tourismus und Naturschutz in ihren
Abhängigkeiten und Zwängen nachgezeichnet und die Reibungspunkte durch
die jeweils unterschiedliche Gewichtung einer nachhaltigen Entwicklung herausgearbeitet. Die Feldforschung auf der Insel Pellworm kann aufzeigen, wie eine
gemeinschaftliche Erarbeitung des Inselleitbilds, bei der die ökonomische Stabilität mit der ökologischen und sozialen Dimension zusammengedacht wird, als
Kommunikationsprozess zwischen der Zivilbevölkerung mit ihren verschiedenen
Vereinen, Projekten und Initiativen und einer professionellen und hauptberuflichen Leitung in der Kommunalpolitik stattfinden und erfolgreich umgesetzt
werden kann.
Der dritte Themenbereich wendet sich der Ein- und Ausübung solidarischer
Praktiken zu. Juliane Friedrich und Annalena Klauck fragen dafür in ihrem
Beitrag nach dem Unternehmerischen in alternativ und werteorientiert
wirtschaftenden Landwirtschaftsgemeinschaften. Unternehmerische Praktiken
gelten gemeinhin als Leitbilder in innovativen und gewinnorientierten ökonomischen Kontexten. Alternative Perspektiven auf das Unternehmerische
X
Vorwort
sind bislang rar. Mithilfe des von Schwartz (1994) entwickelten Personal Value
Questionnaire wurden in der Forschung die Werte bei den Mitgliedern einer
Solidarischen Landwirtschaft (Solawi) abgefragt und dabei überprüft, inwieweit
unternehmerisches Handeln nicht nur in einem klassisch-ökonomischen Kontext
zu finden ist. Im Vergleich mit einer Wertestudie zu Gründer*innen wird dabei
herausgearbeitet, wie das Unternehmerische als soziale Innovation auch in Nachhaltigkeitsgemeinschaften produktiv gemacht wird. Aber auch Unterschiede
besonders in dem Leitwert „Leistung“ (bei den Gründer*innen) und „Umweltschutz“ (innerhalb der Hofgemeinschaft) werden erkennbar.
Philipp Degens und Lukas Lapschieß analysieren in ihrem Beitrag ebenfalls die Solidarische Landwirtschaft als eine Form zivilgesellschaftlichen,
kooperativen Wirtschaftens für das Gemeinwohl, wobei zehn idealtypische
Merkmale herausgearbeitet werden. Ihre Forschung wendet sich allerdings
nicht einer spezifischen Solawi zu, sondern lenkt den Blick auf das „Netzwerk
Solidarische Landwirtschaft“ als feldinterne Governance Unit bei dem derzeit
stattfindenden dynamischen Wandel dieses sozialen Felds. Denn die Solawis
sind durch zahlreiche Neugründungen und einem stetigen Wachstum einerseits
sowie einer damit verbundenen Binnendifferenzierung der Hofgemeinschaften
andererseits gekennzeichnet, was zu Konflikten und Aushandlungsprozessen
führt. Das Netzwerk der Solawis dient durch seine kooperative Konfliktlösung
zur Integration und zur Stabilisierung dieser alternativwirtschaftlichen Landwirtschaftsgemeinschaften, wie in dem Beitrag anhand von teilnehmender
Beobachtungen, Gesprächen, Interviews und quantitativer Datenerhebung aufgezeigt werden kann.
Wie solidarische Praktiken eingeübt werden können, analysiert Heike
Derwanz am Beispiel dreier Kleidertausch-Häuschen in Hamburg. Mit ethnografischer Beschreibung und Interviews werden der Weg der abgegebenen
Kleidung und das in der Form des Commoning gestaltete und durch ehrenamtlicher Helfer*innen ermöglichte Betreiben der Tauschhäuser nachgezeichnet.
Dabei stellt der Beitrag die Frage, ob der produzierte Überfluss an Kleidung dabei
helfen kann, die Akzeptanz bereits konsumierter Kleidung zu erhöhen und alternative solidarische Wirtschaftsformen in der Stadtgesellschaft zu erproben.
Zum Abschluss nimmt uns Ina Kuhn mit zu einem Utopie-Festival, bei dem
alternative solidarische Zukünfte nicht nur entworfen und diskutiert, sondern
auch erfahrbar gemacht und ausprobiert werden. Unter dem Motto „teilen statt
tauschen“ werden dabei alternative Werte außerhalb tradierter Konventionen
gelebt und neue Formen eines (möglichst) geldfreien Miteinanders nach
Bedürfnissen und Fähigkeiten getestet. Mit der detaillierten Beschreibung des
Vorwort
XI
„tauschlogikfreien Geldtopfes“ und des Umgangs damit werden in dem Beitrag die neuen Formen des Gebens und Nehmens ethnografisch nachgezeichnet.
Damit wird ein Einblick in ein zivilgesellschaftliches Experimentierfeld ermöglicht, in dem ein anderes Zusammenleben für die Welt von morgen verhandelt,
entworfen und erprobt wird.
Mein Dank geht zu allererst an die Autor*innen, die mir ihre Beiträge für
diesen Sammelband zur Verfügung gestellt haben. Die Leser*innen erwartet
eine spannende Reise durch verschiedene Projekte und Initiativen, die ohne vorgegebene Blaupause neue Formen des miteinander Wirtschaftens und Lebens
für eine sozial-ökologische und nachhaltige Zukunft ausprobieren. In den
Forschungen werden die Transformationspotenziale dieser mehrheitlich aus der
Zivilgesellschaft kommenden neuen Wirtschaftspraktiken genauso betrachtet wie
die Reibungspunkte und die Aushandlungen innerhalb der Projekte und mit der
Außenwelt. Dabei werden neue Perspektiven eröffnet, wie beispielsweise das
Leitbild des Unternehmerischen – was klassisch als gewinnorientiert konzipiert
wird – in Solidarischen Landwirtschaftsgemeinschaften angewandt wird; wozu
Ressourcenknappheit in konkreten Kontexten des Bauens führt und wie es dort
jeweils konzeptualisiert wird; oder wie die solidarische Praxis des (kostenlosen)
Weitergebens und Tauschens von Kleidung zu neuem Konsum anregen kann.
Aber auch notwendige politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen
für eine gemeinwohlorientierte Transformation von Großunternehmen oder eine
nachhaltige Entwicklung von Regionen werden in den Forschungsbeiträgen aufgezeigt. Damit wird der Bogen gespannt vom klassisch-unternehmerischen
Denken hin zu gesellschaftlichen Werten und (neuen) kulturellen Mustern des
Miteinanders, wobei die oftmals getrennt diskutierten sozialen Felder „Wirtschaft“ und „Gesellschaft“ in ihrer Verbundenheit analysiert werden und zum
Weiterdenken einladen.
Den Auftakt für dieses Buch bildete der Abschlussworkshop des von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts „Nachhaltige
Entwicklung von unten? Die Gemeinwohl-Ökonomie zwischen utopischen
Visionen, zivilgesellschaftlichen Initiativen und basisdemokratischen Entscheidungen“ an der Berliner Humboldt-Universität. Mein Dank gilt daher
besonders der DFG für ihre Förderung des Forschungsprojekts sowie dem Institut
für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, an dem das
Projekt angesiedelt war. Besonders danken möchte ich meiner studentischen
Hilfskraft Helena Hick, die mir die gesamte Projektlaufzeit über eine wichtige
Gesprächspartnerin war und mich bei meinen Forschungen und bei dem Workshop tatkräftig unterstützt hat. Außerdem danke ich den Herausgeber*innen
der Reihe „Bürgergesellschaft und Demokratie“ für die Möglichkeit, den
XII
Vorwort
Sammelband in dieser Buchreihe publizierten zu können und dem Springer-Verlag, besonders den Lektor*innen Madhipriya Kumaran und Jan Treibel, für die
Projektkoordination bis hin zur Publikation.
04.06.2022
Cornelia Kühn
Institut für Europäische Ethnologie
Humboldt-Universität zu Berlin
Berlin
Literatur
Adloff, Frank, und Sighard Neckel. 2019. Modernisierung, Transformation oder
Kontrolle? Die Zukünfte der Nachhaltigkeit. In Große Transformation? Zur Zukunft
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Hartmut Rosa, Karina Becker, Sophie Bose, und Benjamin Seyd, 313–32. Wiesbaden:
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Dörre, Klaus, Hartmut Rosa, Karina Becker, Sophie Bose, und Benjamin Seyd, Hrsg.
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Berliner Journals für Soziologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.
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Vorwort
XIII
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XIV
Vorwort
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Inhaltsverzeichnis
Transformationspotenziale der Gemeinwohl-Ökonomie
Gemeinwohl-Ökonomie und die Sustainable
Development Goals (SDGs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Matthias Kasper
3
Die Gemeinwohl-Bilanz – Baustein für die Mitgestaltung
der Großen Transformation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Katharina Bruns
25
Wirtschaftswandel als Kulturwandel? Eine kulturwissenschaftliche
Perspektive auf den Wertewandel in der Gemeinwohl-Ökonomie . . . . . .
Cornelia Kühn
59
Aushandlungen um eine nachhaltige Entwicklung in
Wirtschaftsunternehmen und in der Zivilgesellschaft
Too big to do good? Einblicke in die Forschungsergebnisse
zur Gemeinwohlorientierung von Großunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . .
Josefa Kny
91
Ökologisch bauen? Knappheit als konstitutives Moment
der Bioökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sarah May
115
Im Wandel der Gezeiten. Die Insel Pellworm auf dem
Weg einer nachhaltigen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Cosima Wiemer
139
XV
XVI
Inhaltsverzeichnis
Einübung solidarischer Praktiken
Werte und unternehmerische Haltungen. Eine Einladung
für eine neue Perspektive auf das Unternehmerische. . . . . . . . . . . . . . . . .
Juliane Friedrich und Annalena Klauck
165
Kooperationen in der Solidarischen Landwirtschaft.
Eine feldtheoretische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Philipp Degens und Lukas Lapschieß
189
Am Überfluss lernen – Öffentliche Tauschkisten als
Postwachstumslabore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Heike Derwanz
215
Der tauschlogikfreie Geldtopf. Ein ethnographischer Einblick in
alternativ-ökonomische Zukunftspraktiken auf Utopie-Festivals . . . . . .
Ina Kuhn
235