Umschriebene Entwicklungsstörungen
& Einführung
Helmut Remschmidt
In der ICD-10 werden zwei Arten von Entwicklungsstörungen unterschieden: Umschriebene Entwicklungsstörungen
(F80–F83) und tiefgreifende Entwicklungsstörungen. Erstere sind dadurch gekennzeichnet, dass die Entwicklung der
betroffenen Kinder und Jugendlichen in einem eingegrenzten Bereich (z. B. in der expressiven oder rezeptiven Sprache
oder der Motorik) Rückstände aufweist, während andere
Entwicklungsdomänen der Altersnorm entsprechen; letztere weisen in der Regel weitaus schwerer wiegende Beeinträchtigungen der Entwicklung auf, die sich auf eine Vielzahl von Entwicklungsdomänen erstrecken, wobei folgende
Merkmale charakteristisch sind: Beeinträchtigung in gegenseitigen sozialen Interaktions- und Kommunikationsmustern sowie ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten.
Diese Auffälligkeiten stellen ein grundlegendes Funktionsmerkmal der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen dar,
treten situationsübergreifend auf, variieren aber im Ausprägungsgrad.
Beide Arten von Entwicklungsstörungen haben aber auch
Merkmale gemeinsam (ICD-10):
& Sie beginnen ausnahmslos im Kleinkindalter oder in der
Kindheit.
& Sie sind gekennzeichnet durch Entwicklungsverzögerungen, die eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems zusammenhängen.
& Sie zeigen einen stetigen Verlauf, der nicht die für viele
psychische Störungen typischen charakteristischen Remissionen und/oder Rezidive aufweist.
Die folgenden vier Kapitel beschäftigen sich ausschließlich
mit umschriebenen Entwicklungsstörungen.
12.1 Sprachentwicklungsstörungen
Waldemar von Suchodoletz,
Michele Noterdaeme
Fallbeispiel
Vorgeschichte: Sascha ist zum Untersuchungszeitpunkt 4
Jahre alt. Schwangerschaft, Geburt, Neugeborenenzeit
und die statomotorische Entwicklung seien seinerzeit unauffällig verlaufen. Erste Wörter spricht er um den 28. Lebensmonat. Im Alter von 4 Jahren bildet er noch keine Sätze, und
seine Spontansprache ist unverständlich. Im Verhalten ist er
motorisch unruhig, und vor allem im Kindergarten treten
häufig Wutanfälle auf. An Kommunikation ist er interessiert,
reagiert aber bei Aufforderungen oft falsch. Sein Spielverhalten ist altersentsprechend.
Diagnostik: Die Untersuchungsbefunde ergeben eine multiple Dyslalie, einen massiv eingeschränkten aktiven und passiven Wortschatz, Sprachverständnisstörungen auf Wortund Satzebene sowie eine deutliche motorische Unruhe
und reduzierte Aufmerksamkeitsspanne. Hinweise auf eine
Intelligenzstörung (IQ 110 im SON), Hörminderung oder
neurologische Schädigungen finden sich nicht. Diagnostisch
wird die Symptomatik als rezeptive Sprachstörung, verbunden mit einer hyperkinetischen Störung, eingeordnet.
Therapie: Durch den Aufbau des Wortschatzes unter Einsatz
von Bildkarten und Gebärden verbessern sich Sprachverständnis und Kommunikationsfähigkeit. Später erhöht sich
auch die Artikulationsgenauigkeit, wobei im Vorschulalter
in der Therapie Schriftsprache unterstützend eingesetzt
wird. In der Grundschulzeit erfolgt eine medikamentöse Behandlung der hyperkinetischen Symptomatik.
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12
12
& Grundlagen
Definition, Klassifikation und Symptomatik
Sprachentwicklungsstörungen sind durch eine Verzögerung und Störung beim Spracherwerb gekennzeichnet.
Die drei wichtigsten Entwicklungsstörungen des Sprechens
und der Sprache sind nach der ICD-10:
& Artikulationsstörungen (F80.0),
& expressive Sprachstörungen (F80.1) und
& rezeptive Sprachstörungen (F80.2).
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12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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*
*
*
*
*
Sprech- bzw. Sprachfähigkeit außerhalb der Norm, bezogen
auf das Intelligenzalter und mit deutlicher Differenz zum
Sprachgebrauch
Störung nicht durch Intelligenz- oder Hörstörung, hirnorganische Erkrankung, emotionale Störung, anregungsarme
Umwelt bedingt
Altersentsprechendes Kommunikationsbedürfnis
Relativ ungestörte nonverbale Kommunikation und
keine längere Phase mit normaler Sprech- bzw. Sprachfähigkeit
Eine Artikulationsstörung ist durch Auffälligkeiten in der
Lautbildung bei unauffälligem Sprachverständnis und ungestörter Sprachproduktion gekennzeichnet. Obwohl es
sich um eine Sprechstörung handelt, werden Artikulationsstörungen in diesem Kapitel mit besprochen, da sich
Sprech- und Spracherwerbsstörungen deutlich überschneiden. Eine expressive Sprachstörung ist durch Abweichungen
in der aktiven Sprache (Dysgrammatismus, geringer aktiver
Wortschatz, kurze Äußerungslänge, Probleme im sprachlichen Ausdruck) charakterisiert bei weitgehend unauffälligem Sprachverständnis. Im Mittelpunkt der Symptomatik
einer rezeptiven Sprachstörung stehen Beeinträchtigungen
im Sprachverständnis, oft verbunden mit Störungen der
Sprachproduktion. Expressive und rezeptive Sprachstörungen gehen häufig mit Lautbildungsstörungen sowie motorischen und Verhaltensbesonderheiten einher.
Die Kinder beginnen verspätet zu sprechen. Im 2. Lebensjahr steht ein geringer aktiver und passiver Wortschatz und
im 3. Lebensjahr eine verminderte Äußerungslänge im Vordergrund. Im Kindergarten- und Vorschulalter prägen
grammatische Fehler das Bild und im Schulalter kurze, einfache Sätze sowie Probleme beim Erzählen bzw. Aufschreiben von Geschichten. Typische Symptome einer Sprachverständnisstörung sind Missverständnisse (falsche Antworten auf Fragen), keine zuverlässigen Reaktionen auf sprachliche Anforderungen, häufiges Antworten mit „ja“ oder
„weiß ich nicht“ sowie Echolalien.
Sind Sprachstörungen noch im Vorschulalter zu beobachten, dann ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 70–80 % mit
Sprachauffälligkeiten bis ins Jugend- und Erwachsenenalter
hinein zu rechnen. Zusätzlich beeinträchtigen eine Leseund Rechtschreibstörung (50–80 %), abfallende IQ-Werte
(ca. 25 %) und emotionale bzw. Verhaltensstörungen (ca.
50 %) die Entwicklungschancen dieser Kinder. Insgesamt
ist die Prognose bei einer Artikulationsstörung am besten
und bei einer rezeptiven Sprachstörung am schlechtesten
(Übersicht: v. Suchodoletz 2004).
Epidemiologie
Nach der American Speech-Language-Hearing Association
ist bei 5 % aller Vorschulkinder mit einer expressiven und
bei 3 % mit einer rezeptiven Sprachentwicklungsstörung
zu rechnen. Artikulationsstörungen treten im Vorschulalter
mit einer Häufigkeit von 5–8 % auf. Jungen sind 2- bis 3-mal
so häufig wie Mädchen betroffen. Für eine von den Medien
immer wieder behauptete Zunahme von Sprech- und
Sprachentwicklungsstörungen in den letzten Jahrzehnten
gibt es keine Belege (Law et al. 2000).
Ätiologie und Störungsmodell
Eine familiäre Häufung von Sprachentwicklungsstörungen
ist seit langem bekannt. In Zwillings- und Adoptionsstudien
konnte der genetische Anteil belegt werden. Größere Mehrgenerationenstudien sprechen dafür, dass bei etwa der
Hälfte der familiären Formen eine Sprachentwicklungsstörung autosomal-dominant vererbt wird, während in
den restlichen Familien unterschiedliche Erbgänge anzutreffen sind. Erste Kandidatengene wurden auf den Chromosomen 2, 7 und 13 beschrieben. Neben dieser genetischen Hauptkomponente spielen Umweltfaktoren eine modifizierende Rolle. Eine unzureichende Förderung erhöht
das Risiko für die Manifestation einer genetisch bedingten
Disposition zu Spracherwerbsproblemen. Ob frühkindliche
Hirnschädigungen für die Ätiologie einer umschriebenen
Sprachentwicklungsstörung von Bedeutung sind, wird
eher bezweifelt (Noterdaeme 2000). Dass eine vorübergehende Schallleitungsschwerhörigkeit zu Sprachentwicklungsstörungen führt, kann heute als widerlegt angesehen
werden (v. Suchodoletz 2007).
Ob Sprachentwicklungsstörungen die Folge von Defiziten
elementarer kognitiver Fähigkeiten in der auditiven Verarbeitung sind, wird kontrovers diskutiert. Bislang gibt es
dafür keinen empirischen Nachweis.
Grobe strukturelle Veränderungen des Gehirns werden bei
Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen nicht beobachtet.
Tabelle 12.2
störungen
Störungsprofil: Sprech- und Sprachentwicklungs-
Klassifikation
nach ICD-10
*
*
*
Artikulationsstörung (F80.0)
Expressive Sprachstörung (F80.1)
Rezeptive Sprachstörung (F80.2)
Definition
Sprech- und/oder Spracherwerbsstörung,
die nicht durch eine erkennbare Ursache
zu erklären ist
Symptomatik
Verspätetes Erreichen sprachlicher
Meilensteine
Altersabhängigkeit der Symptomatik
F80.0: Lautbildungsstörung
F80.1: Sprachproduktionsstörung
(Dysgrammatismus, Wortschatzdefizite)
F80.2: Sprachverständnisstörung
(semantisch und syntaktisch)
Epidemiologie
F80.0: ca. 7 % (im Vorschulalter)
F80.1: ca. 5 %
F80.2: ca. 3 %
Ätiologie
Hauptkomponente: genetischer Faktor
Moderierende Komponente: sprachliche
Anregung durch das Umfeld
Fragliche Komponente: frühkindliche Hirnschädigung
Störungsmodell
Verzögerungen und Störungen bei der
Herausbildung sprachspezifischer neuronaler Netze; Defizite von Low-LevelFunktionen als zugrunde liegende Störung
werden diskutiert.
12.1 Sprachentwicklungsstörungen
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Tabelle 12.1 Diagnostische Leitlinien von Entwicklungsstörungen
des Sprechens und der Sprache nach der ICD-10
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& Therapie
Diagnostische Maßnahmen
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Wesentlich für die diagnostische Zuordnung ist eine Beurteilung der Spontansprache des Kindes. Für die operationalisierte Diagnostik stehen für das Kindergarten- und frühe
Schulalter standardisierte Tests zur Verfügung. Mit Sprachtests werden allerdings häufig falsch positive und falsch negative Befunde erhoben. Außerdem sind im Rahmen der
Diagnostik Sprachstörungen durch eine definierte Ursache
auszuschließen und häufig auftretende Begleitsymptome
zu erfassen (Amorosa 2006; v. Suchodoletz 2006a).
Vor dem Alter von 24 Monaten gelingt derzeit keine befriedigende Erfassung von sprachlichen Risikokindern. Zur
Früherkennung (Sachse 2005) von Kindern mit Sprachentwicklungsverzögerungen im Alter von 24 Monaten (Late
Talkers) eignet sich der „Elternfragebogen für zweijährige
Kinder: Sprache und Kommunikation (ELFRA-2)“. Etwa
50 % der Late Talkers haben länger andauernde Sprachprobleme.
Tabelle 12.3 Diagnostik bei Kindern mit Sprech- oder Sprachentwicklungsstörungen
Sprachdiagnostik
Ausschluss von
Sprachstörungen
aufgrund
definierter
Ursachen
Altersnormierte Testverfahren (operationalisierte Diagnostik):
*
Sprachentwicklungstest für zweijährige
Kinder – SETK 2 (Grimm 2000) bzw. für
drei- bis fünfjährige Kinder – SETK 3–5
(Grimm 2001)
*
Kindersprachtest für das Vorschulalter
– KISTE (Häuser et al. 1994)
*
Heidelberger Sprachentwicklungstest –
HSET (Grimm u. Schöler 1991)
Informelle Testverfahren (Therapieplanung):
*
Evozierte Sprachdiagnose grammatischer Fähigkeiten – ESGRAF (Motsch
2000)
*
Psycholinguistische Diagnostik
bei Sprachentwicklungsstörungen –
PLD-SES (Kauschke u. Siegmüller 2002)
*
Psycholinguistischer Sprachverständnis- und Sprachentwicklungstest – PSST
(Wettstein 1995)
*
Psycholinguistische Analyse kindlicher
Sprechstörungen – PLAKSS (Fox 2005)
*
Lautproduktions- und Lautunterscheidungstests
*
*
*
*
Erfassung
häufiger Begleitsymptome
*
*
*
*
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Intelligenzdiagnostik
Pädaudiologische Diagnostik (insbesondere Hörprüfung)
Ausschluss hirnorganischer Erkrankungen
Ausschluss autistischer Störungen
Psychischer Befund
Motorische Fertigkeiten
Vorläuferfertigkeiten für den Schriftspracherwerb (Vorschulalter)
Lese- und Rechtschreibfertigkeiten
(Schulalter)
Obwohl sprachtherapeutische Interventionen seit langem
etabliert sind und bis zum Vorschulalter an erster Stelle
der verordneten Fördermaßnahmen stehen, ist die Effektivität einer Sprachtherapie nur unzureichend untersucht.
Law et al. (2004) führten für die Cochrane Collaboration
eine Meta-Analyse zur Effektivität sprachtherapeutischer
Interventionen durch. Sie stuften von den innerhalb der
letzten 25 Jahre publizierten Evaluationsstudien 25 als aussagefähig ein. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass eine logopädische Behandlung die Lautbildungsfähigkeit und den
aktiven Wortschatz verbessern kann. Hinsichtlich grammatischer Fähigkeiten sind die Ergebnisse widersprüchlich,
und für Verbesserungen des Sprachverständnisses fanden
sich keine Belege. Eine Behandlung in Kleingruppen erwies
sich als genauso wirksam wie eine Einzeltherapie. Sprachtherapeuten erreichen keine besseren Effekte als ausreichend angeleitete Eltern. Eine Behandlungsdauer unter
zwei Monaten ist insgesamt weniger wirksam als eine länger dauernde Therapie. Verbesserungen treten nur in unmittelbar trainierten Bereichen ein.
Es deutet sich an, dass direkte Verfahren für Kinder mit
relativ guter Sprachkompetenz und höherem IQ besser geeignet sind als indirekte Methoden, von denen eher Kinder
mit schlechter Sprachkompetenz und/oder niedrigem IQ
profitieren (Bode 2001).
Neben logopädischen Methoden werden in der Praxis
zahlreiche Verfahren zum Training psychischer Grundfunktionen eingesetzt. Für die spezifische Wirksamkeit all dieser
Behandlungsangebote gibt es bislang keine Beweise (v.
Suchodoletz 2006b).
Tabelle 12.4
Einschätzung sprachtherapeutischer Verfahren
1. Empirisch gut abgesicherte und allgemein anerkannte
Verfahren:
*
Sprachtherapie zur Verbesserung der Lautbildungsfähigkeit
und des aktiven Wortschatzes
2. Empirisch mäßig abgesicherte, aber potenziell wirksame
Verfahren:
*
*
Sprachtherapie zur Verbesserung grammatischer Fähigkeiten
und des Sprachverständnisses
Training der Sprachwahrnehmung
3. Empirisch nicht abgesicherte, aber in bestimmten Fällen
hilfreiche Verfahren:
*
*
*
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Empirische Evidenz zu
sprachtherapeutischen Interventionen
Training der auditiven Merkfähigkeit und Aufmerksamkeit
Auditives Wahrnehmungstraining
Oralmotorische Übungen
4. Zweifelhafte Methoden:
*
*
*
*
*
*
*
*
Tomatis-, Klang- und Schalltherapie
Richtungshör-, Hochton-, Ordnungsschwellen-, Automatisierungs-, Lateral- und dichotisches Training
FastForWord
Training von Rechtsohrigkeit
Kranio-Sakral-Therapie (Osteopathie)
Spiraldynamik
Neurofunktionelle Reorganisation nach Padovan
Edu-Kinestetik
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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Zentrale Zielstellungen einer Sprachtherapie sind eine Verbesserung der Sprech- bzw. Sprachfähigkeit, eine Erhöhung
des Sprechantriebs und der Sprechfreude sowie eine Förderung der allgemeinen Kommunikationsfähigkeit. Je nachdem, welches Therapieziel als wichtig angesehen wird,
werden unterschiedliche Behandlungsstrategien eingesetzt.
Zur Verbesserung der Sprech- und Sprachfähigkeit wird
das Sprachangebot erhöht und sprachfördernd gestaltet.
Hierzu stehen direkte und indirekte logopädische Techniken zur Verfügung. Bei den direkten Verfahren wird den
Kindern ersichtlich, welche sprachlichen Kompetenzen in
der Therapiestunde verbessert werden sollen. Beispiele
sind Imitations- und Modulierungstechniken, ggf. unter
Einsatz von Spiegel, Tonband oder Computerprogrammen.
Ein korrigierendes Modulieren erfolgt, indem die Äußerungen des Kindes mit Variationen und korrekter Satzbildung
aufgegriffen werden. Bei ausgeprägten Störungsbildern
können Gesten, Schrift und Bildmaterial unterstützend eingesetzt werden, um den Kindern durch eine Einbeziehung
mehrerer Sinneskanäle korrekte Sprachstrukturen zu verdeutlichen. Indirekte Verfahren haben einen vordergründig
spielerischen Charakter, sind kindgeleitet, aktivitätsbasiert
und bevorzugen einen naturalistischen Zugang (kontextoptimierter Ansatz). Die sprachtherapeutische Zielstellung
wird den Kindern kaum bewusst.
Welche linguistischen Zielstrukturen in der Therapie bearbeitet werden, richtet sich nach den sprachlichen Auffälligkeiten des Kindes. Bei Artikulationsstörungen stehen
Wahrnehmung und Produktion von Lauten im Mittelpunkt,
bei Wortschatzdefiziten eine Erweiterung des aktiven und
passiven Wortschatzes, bei einem Dysgrammatismus die
Bildung korrekter Sätze und bei Sprachverständnisstörungen das genaue Zuhören und die Sinnentnahme aus sprachlichen Angeboten. In der sprachtherapeutischen Praxis finden Sprachverständnisstörungen bislang zu wenig Beachtung. Um Sprachtherapeuten ein Instrumentarium für
eine gezielte Behandlung rezeptiver Sprachstörungen an
die Hand zu geben, wurde von Amorosa und Noterdaeme
(2003) ein störungsspezifisches Therapiemanual erarbeitet.
Eine Erhöhung von Sprechantrieb und Sprechfreude wird
in der Therapie dadurch angestrebt, dass diese in einer
emotional entspannten Atmosphäre ohne Leistungsdruck
erfolgt. Bei Kindern mit schwer- bzw. unverständlicher
Sprache werden auch nonverbale Interaktionen gefördert.
Es wird z. B. mit dem Kind geübt, wie es sich durch Gesten,
Mimik und Bilder am besten mitteilen kann.
Medikamentöse Therapie
Relevante Verbesserungen der sprachlichen Fähigkeiten
durch Nootropika, Psychostimulanzien oder andere Medikamente konnten nicht erreicht werden, sodass eine medikamentöse Behandlung nicht indiziert ist. Der Einsatz von
Medikamenten kann zur Therapie komorbider Störungen,
wie z. B. hyperkinetischer Syndrome, sinnvoll sein.
Psychotherapie
Eine psychotherapeutische Behandlung wird erforderlich,
wenn ein erhebliches Störungsbewusstsein mit Sprachhemmung oder primäre bzw. psychoreaktive emotionale
oder Verhaltensstörungen beobachtet werden. Eine positive Beeinflussung der Sprachfähigkeit ist durch eine Psychotherapie nicht zu erwarten.
Psychische Auffälligkeiten zeigen etwa die Hälfte aller
Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen. Besonders häufig treten eine verstärkte motorische Unruhe, Konzentrationsstörungen und ein trotzig-oppositionelles Verhalten
auf. Neben extroversiven Verhaltensauffälligkeiten ist bei
vielen Kindern eine emotionale Verunsicherung zu beobachten. Sie sind sensibel und reagieren überempfindlich
auf Kritik. Von Eltern werden begleitende psychische Auffälligkeiten oft als belastender erlebt als die Sprachstörung
selbst.
Die psychischen Auffälligkeiten sprachentwicklungsgestörter Kinder sind zum Teil Folge der Kommunikationsstörung. Kinder mit Sprachstörungen werden im Schulalter
dreimal so häufig Opfer von Bullying als ihre sprachlich unauffälligen Klassenkameraden. Insbesondere die Zahl sozialer Phobien nimmt bis zum Erwachsenenalter kontinuierlich zu. Psychische Auffälligkeiten zeigen insbesondere Kinder mit rezeptiven Sprachstörungen. Deren falsches bzw.
Nichtverstehen führt zu einer erheblichen Verunsicherung
in sozialen Situationen und wird von der Umgebung häufig
fehlinterpretiert.
Die Verhaltensauffälligkeiten sind jedoch nicht allein als
Sekundärsymptomatik aufzufassen. Soziale Anpassungsstörungen sind zum Teil von der Sprachauffälligkeit unabhängige Störungen (Komorbidität). Sie zeigen keine Korrelation zum Schweregrad der Sprachstörung und bleiben bei
Rückbildung der Sprachauffälligkeiten bestehen. Sie sind
insbesondere bei jenen Kindern zu beobachten, die weitere
Entwicklungsauffälligkeiten wie motorische Retardierungen oder sensorische Teilleistungsschwächen aufweisen.
Die Art des einzusetzenden psychotherapeutischen Verfahrens richtet sich nach der Art der psychischen Störungen.
Während der Therapie bedürfen die sprachlichen Beeinträchtigungen des Kindes besonderer Beachtung. So ist
bei Kindern mit Sprachverständnisstörungen sicherzustellen, dass Fragen, Erklärungen und Aufforderungen richtig
erfasst werden.
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Allgemeine Struktur der Therapie
und Therapieprogramme
Eltern- und familienbezogene Maßnahmen
Eltern und Kinder sind über vermutete Ursachen, Aufrechterhaltung und Prognose der Sprech- bzw. Sprachstörung zu
informieren. Eine wichtige Zielstellung der Elterngespräche
besteht darin, bei diesen Verständnis für die besondere Situation des Kindes zu wecken. Insbesondere beim Vorliegen
von Sprachverständnisstörungen sind die fehlgedeuteten
Kommunikationsprobleme der Kinder zu thematisieren.
Außerdem ist nach stigmatisierenden Reaktionen auch innerhalb der eigenen Familie zu fragen, damit ggf. Bewältigungsstrategien besprochen werden können.
12.1 Sprachentwicklungsstörungen
151
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Umfeldbezogene Maßnahmen
Erzieher und Lehrer sollten über die sprachlichen Besonderheiten des Kindes ausführlich informiert werden. Insbesondere ist auf Sprachverständnisstörungen einzugehen, da
sonst Missverständnisse in alltäglichen Interaktionen vorprogrammiert sind.
Bei Vorschulkindern mit Sprachentwicklungsauffälligkeiten können Erzieherinnen auch aktiv in die Sprachförderung einbezogen werden. In Pilotstudien ergaben sich Hinweise darauf, dass ein Sprachtraining durch spezifisch angeleitete und weitergebildete Kindergärtnerinnen zu deutlichen Sprachfortschritten führt. Bei Therapieresistenz, erheblicher Einschränkung der Verständlichkeit der Sprache
oder ungünstigen sozialen Entwicklungsbedingungen sollte
die Betreuung im Rahmen einer pädagogischen Fördereinrichtung (z. B. Sprachheilkindergarten, -schule) erwogen
werden. Dass Kinder von dem Besuch einer Sprachheilschule tatsächlich profitieren, ist allerdings nicht belegt.
Ergänzende Therapiemaßnahmen
Sprachentwicklungsstörungen treten häufig kombiniert
mit Retardierungen in anderen Entwicklungsbereichen
auf. Besonders häufig finden sich auch Schwächen in der
auditiven Merkfähigkeit und Aufmerksamkeit. Eine gezielte
Förderung dieser Bereiche kann im Rahmen einer Ergotherapie erfolgen. Allerdings muss eine Überforderung von
Kind und Eltern durch mehrere gleichzeitig laufende Förderprogramme vermieden werden.
152
Tabelle 12.5
störungen
Therapieprofil: Sprech- und Sprachentwicklungs-
Diagnostische
Maßnahmen
*
*
*
*
*
*
Anamnese
Beurteilung der Spontansprache und
des Sprachverständnisses
Altersnormierte und informelle
Sprachtests
Intelligenztest
Pädaudiologische Untersuchung
Ausschluss hirnorganischer und
autistischer Störungen
Empirische
Evidenz
Empirisch gut abgesichert: logopädisches
phonologisches und Wortschatztraining
Empirisch mäßig abgesichert: logopädisches Grammatik- und Sprachverständnistraining
In bestimmten Fällen hilfreich: Training von
auditiver Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit
und Wahrnehmung, oralmotorische
Übungen
Zweifelhaft und entbehrlich: Training von
Low-Level-Funktionen
Therapieprinzipien
Erhöhung der Anzahl sprachlicher Interaktionen in sprachfördernder Weise
Therapieprogramme
Direkte und indirekte sprachtherapeutische Verfahren
Medikamentöse
Therapie
Nur zur Behandlung komorbider Störungen
Psychotherapie
Behandlung primärer und sekundärer
psychischer Störungen
Eltern- und familienbezogene
Maßnahmen
Anleitung der Eltern zu sprachförderndem
Verhalten
Umfeldbezogene
Maßnahmen
Beratung von Erziehern und Lehrern,
ggf. Betreuung in Sprachheilkindergärten
oder -schulen
Ergänzende
Maßnahmen
*
*
Ergotherapie
Mototherapie
Bei Schulkindern mit Sprachentwicklungsstörungen gehört eine LRS-Diagnostik zur Routine, und ggf. ist eine gezielte LRS-Therapie einzuleiten.
Häufig gestellte Fragen mit Antworten
? In welchem Alter sollte eine genaue Diagnostik erfolgen, wenn
bei einem Kind Störungen bei der Sprachentwicklung auffallen?
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Die Eltern sind dahingehend zu beraten, dass sie Äußerungen und sprachliche Anforderungen an die Fähigkeiten
ihres Kindes anpassen. Sie sollten deutlich und nicht zu
schnell sprechen und durch Sing-, Sprach- und Rollenspiele
ihre Kinder zum Sprechen anregen. Die Kinder werden auf
diese Angebote allerdings nur eingehen, wenn diese entspannt und sprachmotivierend unter Vermeidung von
Tadel und Kritik gestaltet werden.
Die Eltern sind über das konkrete Vorgehen während der
Therapiestunden laufend zu unterrichten. Dabei sollte auch
eine Anleitung gegeben werden, wie das Therapieziel zu
Hause unterstützt werden kann. Eine Anleitung der Eltern
zu sprachförderndem Verhalten ist bis zum dritten Lebensjahr wesentlicher oder auch alleiniger Bestandteil einer
Sprachtherapie. Einzeln oder in Elterngruppen werden
Grundregeln sprachfördernden Verhaltens vermittelt. Die
Effektivität eines solchen Vorgehens konnte inzwischen belegt werden. Es zeigte sich, dass die Mütter lernen, langsamer und weniger komplex zu sprechen und sich auf Wörter
zu konzentrieren, die neu erworben werden sollen. Die Therapieeffekte spiegeln sich sowohl in einem schnelleren Aufholen des sprachlichen Rückstands als auch in einer Verbesserung des Sozialverhaltens der Kinder wider, was sich auf
die Mutter-Kind-Interaktion positiv auswirkt.
Ein Vergleich der Sprachfortschritte durch eine direkte
Sprachtherapie des Kindes und einer Sprachförderung
über eine Anleitung der Eltern ergab, dass die Effektivität
beider Herangehensweisen vergleichbar ist.
씰씰 Wenn im Alter von 6–8 Monaten kein Silbenlallen einsetzt,
ist eine Diagnostik zum Ausschluss einer hochgradigen Hörstörung und einer kognitiven Entwicklungsretardierung erforderlich. Eine ausführliche Untersuchung der sprachlichen Fähigkeiten ist angeraten, wenn ein Kind mit 15 Monaten noch
kein sinnbezogenes Wort versteht, mit 18 Lebensmonaten
kein Wort spricht, mit 24 Monaten keine Zweiwortsätze benutzt und mit 36 Monaten keine geformten Mehrwortsätze
bildet.
? Wächst sich eine Sprachentwicklungsstörung ohne besondere
Maßnahmen aus?
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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Lebensjahren ist die spontane Rückbildungsrate hoch. Wenn
allerdings auch noch im Vorschulalter Sprachstörungen zu beobachten sind, ist mit einer langfristigen sprachlichen Beeinträchtigung und dem Auftreten sekundärer Symptome zu
rechnen.
? Wie können Eltern die Sprachentwicklung ihres Kindes fördern?
씰씰 Eltern sollten sprachliche Interaktionen anregen, mit ihren
Kindern viel sprechen, ihnen viel vorlesen und sie zum Erzählen ermutigen. Dabei sollten sie sich an das sprachliche Niveau
ihres Kindes anpassen. Verbesserungen und Kritik sind zu vermeiden.
& Weiterführende Informationen
einschließlich Internetadressen
&
&
&
&
Informationen zum frühen Spracherwerb:
www.mutterspracherwerb.de;
Informationsseite zum Thema „Mehrsprachigkeit“ des
Forschungsinstituts für Sprachtherapie und Rehabilitation (FSR): www.mehrsprachigkeit.net;
Sprech- und Sprachspiele und Materialien für die Förderung und Behandlung: www.logoflexis.de;
www.trialogo.de; www.lingoplay.de;
Linksammlung zu Sprech- und Sprachstörungen:
www.medknowledge.de/kinder-familie/logopaedie.htm.
& Literatur
(Weiterführende Literatur ist mit * versehen)
*Amorosa H, Noterdaeme M. Rezeptive Sprachstörungen – Ein Therapiemanual. Göttingen: Hogrefe; 2003.
*Amorosa H. Expressive und rezeptive Sprachstörung. In: Petermann
U, Petermann F, Hrsg. Diagnostik sonderpädagogischen Förderbedarfs. Göttingen: Hogrefe; 2006: 163–185.
Bode H. Sprachentwicklungsstörungen im Vorschulalter – Ist die Behandlung effektiv? Kinderärztliche Praxis. 2001; 72: 298–303.
Fox AV. Psycholinguistische Analyse kindlicher Sprechstörungen.
Frankfurt: Swets & Zeitlinger; 2005.
Grimm H, Schöler H. Heidelberger Sprachentwicklungstest – H-S-E-T.
Göttingen: Hogrefe; 1991.
Grimm H. Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder – SETK-2.
Göttingen: Hogrefe; 2000.
Grimm H. Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder –
SETK 3–5. Göttingen: Hogrefe; 2001.
Häuser D, Kasielke E, Scheidereiter U. Kindersprachtest für das Vorschulalter – KISTE. Weinheim: Beltz Test; 1994.
Kauschke C, Siegmüller J. Patholinguistische Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen. München: Urban & Fischer; 2002.
Law J, Boyle J, Harris F, Harkness A, Nye C. Prevalence and natural history of primary speech and language delay: Findings from a systematic review of the literature. International Journal of Language &
Communication Disorders/Royal College of Speech & Language
Therapists. 2000; 35: 165–188.
Law J, Garrett Z, Nye C. The efficacy of treatment for children with developmental speech and language delay/disorder: a meta-analysis.
Journal of Speech, Language, and Hearing Research. 2004; 47:
924–943.
Motsch H-J. ESGRAF-Testmanual – Evozierte Sprachdiagnose grammatischer Fähigkeiten. 2. Aufl. München: Ernst Reinhardt Verlag;
2000.
*Noterdaeme M. Bedeutung genetischer, biologischer und psychosozialer Risiken. In: Von Suchodoletz W, Hrsg. Sprachentwicklungsstörung und Gehirn. München: Kohlhammer; 2000: 148–159.
*Sachse S. Frühe Identifikation von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen. In: Von Suchodoletz W, Hrsg. Früherkennung von Entwicklungsstörungen – Frühdiagnostik bei motorischen, kognitiven,
sensorischen, emotionalen und sozialen Entwicklungsauffälligkeiten. Göttingen: Hogrefe; 2005: 155–189.
*Suchodoletz W von. Diagnostik bei Artikulationsstörungen. In: Petermann U, Petermann F, Hrsg. Diagnostik sonderpädagogischen Förderbedarfs. Göttingen: Hogrefe; 2006a: 187–209.
*Suchodoletz W von. Alternative Angebote im Überblick. In: Von
Suchodoletz W, Hrsg. Therapie der Lese-Rechtschreibstörung
(LRS) zwischen etablierten und alternativen Angeboten. 2. Aufl.
Stuttgart: Kohlhammer; 2006b: 167–282.
*Suchodoletz W von. Zur Prognose von Kindern mit umschriebenen
Sprachentwicklungsstörungen. In: Von Suchodoletz W, Hrsg.
Welche Chancen haben Kinder mit Entwicklungsstörungen?
Göttingen: Hogrefe; 2004: 155–189.
*Suchodoletz W von. Prävention von Sprachstörungen. In: Von
Suchodoletz W, Hrsg. Prävention von Entwicklungsstörungen.
Göttingen: Hogrefe; 2007: 45–79.
Wettstein P. Psycholinguistischer Sprachverständnis- und Sprachentwicklungstest – PSST. Uster, Schweiz: BSSI; 1995.
12.2 Legasthenie
Andreas Warnke, Gerd Schulte-Körne
& Grundlagen
Definition, Klassifikation und Symptomatik
Die Legasthenie (Lese- und Rechtschreibstörung [ICD-10,
F81.0; DSM-IV, 325.00]) ist definiert als die umschriebene
Beeinträchtigung beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens, die sich nicht wesentlich durch das Entwicklungsalter, andere internistisch-neurologische Beeinträchtigungen oder nicht hinreichende Beschulung erklären
lässt. Die schulische Leistung im Lesen und der Rechtschreibung liegt deutlich unter dem Intelligenzniveau und ist
nicht durch eine Intelligenzminderung verursacht. Es handelt sich nicht um den Verlust einer bereits erworbenen
Lese-Rechtschreib-Fähigkeit (Alexie, Agraphie).
Klassifikatorisch ist nach ICD-10 die Lese-RechtschreibStörung den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten zugeordnet. Die in DSM-IV gesondert
definierte „Störung des schriftlichen Ausdrucks“ hat in
ICD-10 keine Entsprechung und müsste dort als „andere
umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten“ (F81.8) verschlüsselt werden. Die Diagnose benennt
die Schwäche im Abfassen schriftlicher Texte, die sich in
abnorm erhöhter Zahl der Rechtschreibfehler, dysgrammatischem Satzbau, ungenügender textlicher Strukturierung
und unleserlicher Handschrift symptomatisch darstellt.
Die Symptomatik der Lesestörung äußert sich in:
& Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von
Wörtern oder Wortteilen;
& verlangsamtem Lesetempo;
& Startschwierigkeiten beim Vorlesen, zögerndem, stockendem Lesen, Verlieren der Zeile im Text, nicht sinnentsprechender Betonung;
& Vertauschen von Wörtern im Satz oder von Buchstaben
in den Wörtern;
12.2 Legasthenie
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씰씰 Bei Sprachentwicklungsverzögerungen in den ersten drei
153
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unzureichender Fähigkeit, das Gelesene wiederzugeben
und aus dem Gelesenen Schlüsse zu ziehen.
Die Lesestörung ist in aller Regel mit einer Rechtschreibstörung verbunden. Die meisten Kinder mit Legasthenie
lernen das Lesen von einfachen Wörtern bis zum Ende
der 4. Grundschulklasse (Warnke et al. 2002). Das Lesetempo bleibt jedoch bis in das Erwachsenenalter hinein
verlangsamt.
Die Rechtschreibstörung ist durch folgende Auffälligkeiten gekennzeichnet:
& hohe Anzahl von Fehlern beim Schreiben,
& Reihenfolgefehler (Umstellungen von Buchstaben im
Wort [alt/atl]),
& Auslassungen von Buchstaben (ihn/in),
& Einfügungen von falschen Buchstaben,
& Regelfehler (Fehler in der Dehnung [Hölle anstatt
Höhle]); Fehler in der Dopplung [Tase anstatt Tasse];
Fehler in Groß- und Kleinschreibung),
& lautlich getreues Schreiben (Fuks anstatt Fuchs),
& Wortverstümmelungen,
& Inkonstanz von richtigem und fehlerhaftem Schreiben
ein- und desselben Wortes.
Ungeübte Diktate werden in der Regel mit einem Mangelhaft und Ungenügend benotet, das Schreiben aus dem Gedächtnis wie etwa beim Aufsatz gelingt nur extrem fehlerhaft.
Komorbid sind Sprech- und Sprachstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (Hyperkinetische
Störung), Rechenstörung, schulbezogene Angststörungen
und Störungen des Sozialverhaltens und emotionale Anpassungsstörungen (depressive Entwicklung) zu beachten
(Warnke et al. 2004).
Differenzialdiagnostisch lassen sich Rechtschreibschwierigkeiten aufgrund einer erworbenen Hirnschädigung (z. B.
Schädel-Hirn-Trauma) oder aufgrund mangelnder schulischer Förderung (Analphabetismus) durch die Anamnese
klären. Die isolierte Rechtschreibstörung (ICD-10, F81.1)
setzt voraus, dass sich anamnestisch eine Lesestörung nicht
eruieren lässt. Wenn zusätzlich eine Rechenstörung besteht, so handelt es sich um eine kombinierte Störung
schulischer Fertigkeiten (F81.3). Die Intelligenzminderung
setzt einen IQ 5 70 voraus. Intelligenzminderungen und
psychiatrische Störungen beeinflussen nicht nur die LeseRechtschreib-Fertigkeit, sondern allgemein das Lern-Leistungs-Vermögen. Auszuschließen sind als Ursache Einschränkungen des Hör- und Sehvermögens und der Motorik
(Zerebralparese).
Epidemiologie
Die Häufigkeit der Lese-Rechtschreib-Störung liegt bei bis
zu 5 % im Kindes- und Jugendalter. Im Erwachsenenalter
haben bis zu 6 % nicht das Lese-Rechtschreib-Niveau eines
Kindes in der 4. Klasse der Grundschule. In diesen Prozentsatz fließen auch andere Ursachen ein, wie z. B. Analphabetismus. Jungen sind 2- bis 3-mal häufiger betroffen als
Mädchen. Im Längsschnitt ist das Niveau von Schul- und
Berufsausbildung niedriger, als es der Quote der gleich in-
154
telligenten Normalbevölkerung entspricht. Die Arbeitslosenrate im Erwachsenenalter ist um das 6-Fache erhöht.
Zusätzliche psychische Störungen und eine ungünstige
soziale Entwicklung verschlechtern die Prognose. Prognostisch günstig sind gute allgemeine Intelligenz, therapeutische Förderung, adäquater schulischer Nachteilsausgleich,
Beschulung in Spezialeinrichtungen (z. B. Internaten mit
speziellen Legasthenie-Förderprogrammen und Nachteilsregelungen), emotional stützende familiäre und schulische
Umgebung sowie die allgemeine Unterstützung der Lernentwicklung.
Ätiologie und Störungsmodell
Bisher sind die Ursachen der Legasthenie nicht bekannt.
Erste Hinweise auf kausale Faktoren sind Kandidatengene
für die Legasthenie (Schumacher et al. 2007), die kürzlich
gefunden wurden, und Ergebnisse von Therapiestudien,
die zeigen, dass das Training von Sprachfunktionen zur Verminderung des Risikos für eine Legasthenie führt (Schneider et al. 1999).
Besonderheiten der Hirnfunktion in der Verarbeitung visueller und insbesondere akustisch-sprachlicher Informationen sind relevant (Schulte-Körne 2007). Umwelteinflüssen wie z. B. der sozialen Schicht wird eine symptombeeinflussende, jedoch keine kausale Bedeutung beigemessen.
Zu den bedeutenden pathogenetischen Faktoren zählt die
„phonologische Bewusstheit“, deren Behandlung eine hohe
Therapierelevanz zukommt (Schulte-Körne 2001). Phonologische Bewusstheit bezeichnet die Fertigkeit zur Lautanalyse und Lautsynthese und der Unterscheidung von Sprachreizen. Der erweiterte Begriff umfasst das Erkennen von Silben, Wörtern und Reimen. Die Schwächen in der phonologischen Bewusstheit lassen sich bereits vor dem und während des Kindergartenalters feststellen und sind prognostische Indikatoren für Lese- und Rechtschreibstörungen. Dies
gilt insbesondere dann, wenn bereits in der Elterngeneration eine Legasthenie vorliegt.
Unter therapeutischem Gesichtspunkt sind Auffälligkeiten der Sprachentwicklung zu beachten. Dazu gehören: verlangsamter Erwerb des Wortschatzes und grammatikalischer Fertigkeiten, Beeinträchtigungen des sprachlichen
Gedächtnisses, Verlangsamung in der Benennung von
Buchstaben, Wörtern, Gegenständen, Farben oder Zahlen
(erschwerter Zugriff zum „sprachlichen Lexikon“). Damit
ist erklärt, dass Personen mit Legasthenie im Vergleich
mit Kontrollgruppen durchschnittlich umso schlechter abschneiden, je mehr eine Aufgabenstellung durch sprachliches Wissen und sprachliche Strategien lösbar ist (Warnke
et al. 2004).
Besonderheiten der visuellen Informationsverarbeitung
und Defiziten im Tempo der Verarbeitung zeitlich aufeinanderfolgender Reize (serielle Informationsverarbeitung)
wird eine geringere Bedeutung beigemessen.
Probleme im orthographischen Wissen beinhalten
Aspekte visueller Wahrnehmung. Hierzu sind jedoch die
empirischen Befunde wesentlich geringer und auch weniger einheitlich im Vergleich zu den akustisch-sprachlichen
Forschungsergebnissen. Im Einzelfall sind bereits Schwierigkeiten im Trennschärfesehen bei Buchstabenketten be-
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&
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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& Therapie
Diagnostische Maßnahmen
Die Diagnose ergibt sich aus Anamnese, Exploration und
körperlicher Untersuchung sowie der Durchführung von
Testverfahren.
Im Grundschulalter lassen sich meist erhebliche Hausaufgabenprobleme, schulische Lernleistungsschwierigkeiten und körperliche Beschwerden eruieren. Die Hausaufgaben sind konfliktreich, die Kinder lehnen bereits in den ersten Wochen der ersten Grundschulklasse Lese- und Rechtschreibaufgaben ab, sie reagieren aggressiv-oppositionell,
sehr bald auch mit Traurigkeit und Rückzug und Schulangstsymptomen (Schulverweigerung, Bauch- und Kopfschmerzen), insbesondere vor Klassenarbeiten mit schriftsprachlichen Anforderungen (Warnke et al. 2002). Diese
Symptomatik führt fatalerweise u. U. zu Krankmeldungen
und somit zu weiteren Schulversäumnissen. Die Diagnostik
beginnt entscheidend bereits damit, an die Möglichkeit
einer Lese-Rechtschreib-Störung zu denken. Die störungsspezifische Diagnostik muss folgende Punkte einbeziehen:
& Eigen-, Familien- und Fremdanamnese (Beratung mit
Lehrkräften);
& vorschulische Besonderheiten wie z. B. Sprachentwicklungsstörungen;
& nicht selten ist auch ein Geschwister oder Elternteil betroffen (zu 40–50 %);
& wegweisend ab der 2. Klasse sind die Schulnoten im
Diktat (meist Noten „mangelhaft“ und „ungenügend“);
& die Diskrepanz zwischen Schulnoten im Deutschen (insbesondere im Diktat) und den Noten in anderen Schulfächern;
& im Mündlichen deutlich bessere Leistungen als bei
schriftlichen Prüfungen;
& aufschlussreich sind die Zeugnisnoten insbesondere in
den Grundschuljahren.
Die standardisierte Erfassung der Lese- und Rechtschreibfähigkeit erfolgt durch standardisierte Lese-RechtschreibTests. Die kognitiven Fähigkeiten werden mit einem Intelligenztest (z. B. Hamburg-Wechsler-Intelligenztest) erfasst.
Hierbei ist zu berücksichtigen, das sprachgebundene Aufgaben zu einer Unterschätzung des Intelligenzquotienten
führen können. Daher sind Testverfahren zu bevorzugen,
die es erlauben, den IQ ohne sprachgebundene Untertests
zu erfassen und die Schätzung des IQ anhand dieser Aufgaben vorzunehmen.
Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (2007) empfiehlt
ein doppeltes Diskrepanzkriterium, bestehend aus einer
Minderleistung im Lesen oder Rechtschreiben oder Lesen
und Rechtschreiben und einer Diskrepanz zwischen den
Leistungen in diesen Teilleistungsbereichen und der allgemeinen Intelligenz.
Zur Diagnose einer Lese-Rechtschreib-Störung wird ein
_10 im Lese-Rechtschreib-Test verlangt. Die
Prozentrang 5
Diskrepanz zwischen Lese- bzw. Rechtschreibtest und Intelligenz sollte größer als 12 T-Wertpunkte sein, wobei
die Anwendung eines Regressionskriteriums zur Berechnung der Diskrepanz gerade bei Extremwerten methodisch
angemessener ist. Entsprechende Tabellen sind im Internet
verfügbar (siehe Abschnitt „Weiterführende Informationen
einschließlich Internetadressen“).
Aufgrund der Häufigkeit einzelner komorbider Störungen
ist anhand von Fragebogen, klinischen Interviews und der
Exploration das Vorliegen solcher komorbider Störungen
zu überprüfen: insbesondere Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, andere umschriebene Entwicklungsstörungen der Motorik, der Sprache, des Rechnens, Depression, Schulangst und somatische Beschwerden als Folge der
chronischen psychischen Belastung.
Die neurologische und internistische Untersuchung dient
dem Ausschluss von Sinnesstörungen (Hör- und Sehtest)
12.2 Legasthenie
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einträchtigend (nicht die Wahrnehmung des Einzelbuchstabens, sondern der eng aneinander gereihten Einzelbuchstabenketten [ = Wort] bereitet Schwierigkeiten). Störungen
der Augenbewegungen sind sehr wahrscheinlich ausschließlich die Folge und nicht die Ursache der Lese-Rechtschreib-Störung; die Verarbeitung rasch aufeinander folgender visueller Reize ist verlangsamt; überzufällig häufig
sind Defizite in der orthographischen Kodierung zu verzeichnen (Verlangsamung bei Aufgaben, bei denen phonologisch gleichlautende Wörter oder Pseudowörter durch visuell-orthographische Merkmale zu unterscheiden sind:
z. B. „sein/sain“). Besondere Bedeutung haben Befunde
zur Bewegungs- und Kontrastwahrnehmung.
Hirnstrukturelle und hirnfunktionelle (hirnelektrische,
stoffwechselbezogene) Korrelate bestehen sowohl im Bezug zur visuellen Informationsverarbeitung als auch im Bezug zur akustisch-sprachlichen Informationsverarbeitung.
Anatomische Korrelate finden sich betont linkshemisphärisch in der Region des klassischen „Lese-Rechtschreib-Zentrums“ (Gyrus angularis, Gyrus supramarginalis). Hier liegt
eine Schaltstelle, in der visuelle Informationen in sprachliche Informationen übertragen werden.
Hinweise auf verminderte Zellgrößen und Verteilung von
magnozellulären und parvozellulären Anteilen in einem
Kern der Sehbahn (Corpus geniculatum laterale) erscheinen
relevant. In diesem thalamischen Hirnbereich erfolgt eine
Punkt-zu-Punkt-Verbindung vom Netzhautbild zu visuellem Kortex. Für eine Besonderheit der Informationsverarbeitung im „magnozellulären visuellen System“ sprechen
verzögerte Aktivierungen hirnelektrischer visueller Potenziale und von Stoffwechselveränderungen (Durchblutung)
bei visuellen Aufgaben zu Bewegungs- und Kontrastwahrnehmung.
Genetische Einflüsse erklären etwa 60–70 % der Varianz
der Fähigkeit, Lesen und Rechtschreiben zu erlernen. Kandidatenregionen für schriftsprachrelevante Teilleistungen liegen auf den Chromosomen 1, 2, 3, 6, 15, 18 und dem X-Chromosom (Schumacher et al. 2007). Mehrere Kandidatengene
wurden inzwischen identifiziert. Diese Befunde unterstützen die Annahme, dass die bisher identifizierten vier Kandidatengene eine Bedeutung bei der neuronalen Zellmigration in kortikalen Arealen haben, die auch wesentlich an der
visuellen und akustischen Informationsverarbeitung beteiligt sind. Daten von Längsschnittstudien unterstützen die
Annahme, dass auch bei der Legasthenie eine Gen-Umwelt-Interaktion ursächlich ist.
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und anderen organischen Erkrankungen, die die Lernleistung beeinträchtigen können. Eine einmalige EEG-Untersuchung ist bei Vorliegen von spezifischen Symptomen oder
z. B. einer familiären Belastung für eine Epilepsie indiziert.
Unerlässlich ist die klinisch-neurologische Untersuchung.
Lässt sich auch anamnestisch keine Lesestörung, sondern
nur eine Rechtschreibproblematik eruieren, so liegt eine
isolierte Rechtschreibstörung (ICD-10, F81.1) vor. Verbindet
sich die Legasthenie mit einer Rechenstörung, so ist eine
„kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten“ (ICD-10,
F81.3) zu diagnostizieren.
Abb. 12.1 Netzwerk der Behandlung/Förderung (aus SchulteKörne u. Remschmidt 2003).
Aufgrund der Komplexität des Störungsbildes ist für die Behandlung der Legasthenie ein multimodaler Ansatz sinnvoll
(Schulte-Körne 2006). Dieser Ansatz orientiert sich an den
folgenden Aspekten:
& Form der Störung (Lese- und Rechtschreibstörung bzw.
isolierte Lese- oder Rechtschreibstörung);
& Schweregrad der Störung;
& Entwicklungsstand in der Schriftsprachentwicklung;
& Vorliegen von komorbiden Störungen (z. B. Hyperkinetische Störung, Emotionalstörung);
& Alter des Kindes (z. B. Unterscheidung zwischen vorschulischer und schulischer Förderung);
& soziales Umfeld (z. B. häusliche Unterstützung oder Förderung beim Schriftspracherwerb);
& schulisches Umfeld (z. B. Angebot von Förderunterricht).
Zur Versorgung eines Kindes mit einer Legasthenie ist das
Zusammenarbeiten verschiedener Institutionen zu empfehlen. Dieses Netzwerk (siehe Abb. 12.1) versucht, die unterschiedlichen Sichtweisen und Herangehensweisen zur
Hilfe für das betroffene Kind zu integrieren. Insbesondere
die Kooperation der Eltern mit der Schule ist häufig erschwert und bedarf nicht selten der Vermittlung durch
einen unbeteiligten Dritten, z. B. den Kinder- und Jugendpsychiater oder den Schulpsychologen.
Konzeptionelle Einordnung der Förderung
Die Formen der Förderung können nach verschiedenen Gesichtspunkten differenziert werden (Schulte-Körne 2006).
Ausgehend von der Annahme, dass der Legasthenie spezifische Defizite in der Wahrnehmung und Verarbeitung
von auditiver und visueller Information zugrunde liegen,
wird versucht, diese Defizite zu behandeln, um dadurch
die Voraussetzungen für das Erlernen der Schriftsprache
zu verbessern (v. Suchodoletz 2006).
Hierzu gehören Verfahren, die die auditive Wahrnehmung nicht-sprachlicher Reize trainieren, wie z. B. das Trainieren der sog. Ordnungsschwelle. Ziel dieses Verfahrens ist
es, das Intervall zwischen zwei Tönen, das zur Getrenntwahrnehmung dieser Reize notwendig ist, zu verkürzen.
Im Bereich visueller Wahrnehmung werden überwiegend Trainingsmethoden zur Verbesserung der Steuerung
der Blickbewegung eingesetzt.
156
Die Wirksamkeit dieser Wahrnehmungstrainings ist umstritten, vielfach liegen keine Wirksamkeitsstudien vor (v.
Suchodoletz 2006).
Dem gegenüber stehen die Förderprogramme, die
schriftsprachnah sind und in der Regel Teilprozesse des Lesens und Rechtschreibens fördern. Zu diesen symptomspezifischen Förderansätzen gehören z. B. Programme zur Verbesserung der phonologischen Bewusstheit, der Buchstaben-Laut-Zuordnung und des orthographischen Wissens
(Scheerer-Neumann 1979).
Die symptomspezifischen Trainings lassen sich nach dem
Modell des Schriftspracherwerbs von Frith (1985) verschiedenen Entwicklungsstufen zuordnen (Abb. 12.2). Das Stufenmodell von Frith (1985), das in seinen grundlegenden
Annahmen wiederholt bestätigt wurde, geht von drei aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen aus: Die vorschulische Entwicklungsstufe (logographische Entwicklungsstufe) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kinder bereits
eine Vorstellung davon haben, dass Laute bzw. Wörter in
Zeichen ausgedrückt werden können, sie haben jedoch
noch kein Wissen über die Buchstaben-Laut-Beziehung. Daher verschriftlichen Vorschulkinder häufig Zeichen (Logogramm) für ein Wort (z. T. aber schon einzelne Buchstaben
eines Wortes). Das Lesen auf dieser Entwicklungsstufe ist
durch das Erkennen von besonderen Merkmalen einzelner
Wörter gekennzeichnet. Es werden einzelne Wörter aufgrund ihres Symbol- oder Zeichencharakters (z. B. Wiedererkennen des eigenen Namens an einzelnen Buchstaben)
wiedererkannt, ohne dass ein Verständnis über die Buchstaben-Laut-Beziehung vorliegt.
Im Vordergrund der vorschulischen Förderung steht die
phonologische Bewusstheit.
Das am weitesten im deutschsprachigen Raum verbreitete Programm ist das von Küspert und Schneider entwickelte
Präventionsprogramm „Hören, lauschen, lernen“ (2001).
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Allgemeine Struktur der Therapie
und Therapieprogramme
Abb. 12.2 Stufenmodell des Schriftspracherwerbs (nach Frith
1985, aus Schulte-Körne 2001).
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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Dieses Frühförderprogramm wird im Kindergarten in
Gruppen (4–8) mit Kindern in den letzten sechs Monaten
vor der Einschulung täglich 10–15 Minuten durchgeführt.
Die Wirksamkeit von Frühförderprogrammen zur Verbesserung der phonologischen Bewusstheit, der Lese- und Rechtschreibfähigkeit in ersten und zweiten Klassen wurde
wiederholt bei englischsprachigen Kindern gezeigt. Schneider und Mitarbeiter konnten in zwei Längsschnittstudien
die Wirksamkeit des Programms „Hören, lauschen, lernen“
belegen (Schneider et al. 1999). Durch die Ergänzung mit
einem Programm zur Förderung der Buchstaben-Laut-Zuordnung konnte der Fördereffekt noch gesteigert werden
(Küspert et al. 2001).
Förderung auf der alphabetischen Entwicklungsstufe:
Die Verschriftlichung auf der alphabetischen Entwicklungsstufe ist im Wesentlichen lautgetreu. Das Lesen ist durch
das Erlesen von einzelnen Buchstaben und das Verbinden
der einzelnen Laute charakterisiert. Diese Stufe kennzeichnet überwiegend den Entwicklungsfortschritt in der ersten
Grundschulklasse.
Die Förderung von Kindern mit einer Legasthenie auf
dieser Entwicklungsstufe ist durch die Vermittlung der
Buchstaben-Laut-Zuordnung und der phonologischen Bewusstheit geprägt. Mittlerweile liegt eine Vielzahl von
Therapiestudien vor, die die Wirksamkeit dieses Ansatzes
belegen (Scheerer-Neumann 2002). Im Vordergrund dieses
Förderansatzes stehen folgende Aspekte:
& Analyse (Zerlegen von Wörtern in Laute),
& Synthese (Zusammenfügen von Lauten zu Wörtern),
& Silbengliederung,
& Lautgedächtnis.
Zur Förderung von phonologischer Bewusstheit gehört die
Förderung folgender Bereiche, die sich bei der LRS als
schwächer ausgebildet erwiesen haben:
& Buchstaben-Laut-Zuordnung,
& Förderung der Wortlesefähigkeit.
Ein sehr verbreitetes Programm zur Förderung der Lesefähigkeit ist der Kieler Leseaufbau (Dummer-Smoch u.
Hackethal 1994; Dummer-Smoch 1996). Ein wesentlicher
Bereich des Trainings ist die Vermittlung der Buchstaben-
Laut-Beziehung anhand von Lautgebärden. Das Förderprogramm eignet sich gut als Bestandteil des Erstleseunterrichts.
Leseförderung zu Hause und in der Schule als ein einheitliches Konzept ist Gegenstand des von Tacke entwickelten Leseförderprogramms „Flüssig lesen lernen“ (Tacke
1996/1999). Ausgehend von der Förderung phonologischer
Bewusstheit werden die Wortlesefähigkeit und das Textverständnis geübt. Auch dieses Training integriert das
Gliedern von Wörtern in Silben als Hilfe für das Wortlesen.
Förderung auf der orthographischen Entwicklungsstufe: Die orthographische Entwicklungsstufe kennzeichnet den Erwerb von Wissen über Regelmäßigkeiten von
Buchstabenfolgen, über Morphem und grammatikalische
und semantische Strukturen der Schriftsprache. Auf dieser
Entwicklungsstufe erwerben die Kinder die Fähigkeiten,
Wörter nicht mehr durch das Verbinden einzelner Laute
zu erlesen, sondern einzelne Wörter als Ganzes zu lesen.
Im Vordergrund der Förderung auf der orthographischen
Entwicklungsstufe stehen regelgeleitete Rechtschreibförderprogramme. Der Einsatz eines Regeltrainings ist unter
dem Gesichtspunkt sinnvoll, dass Regelfehler einen großen
Anteil an den Rechtschreibfehlern von Grundschulkindern
haben. Bei Kindern der zweiten Klasse sind 66 % der Rechtschreibfehler Regelfehler. Außerdem haben Legastheniker
häufig kein Regelwissen oder sind bei ausreichender Regelkenntnis oft nicht in der Lage, die Regeln anzuwenden.
Rechtschreibstrategien, die im Einzelnen oft richtig durchgeführt werden (z. B. Verdopplung des Konsonanten nach
kurz gesprochenem Stammvokal), können nicht auf den gesamten Schriftsprachprozess übertragen werden.
Das Ziel eines Rechtschreibtrainings geht daher über die
reine Vermittlung von Regelwissen hinaus und sollte auch
Handlungs- und Lösungsstrategien vermitteln (ScheererNeumann 1988).
Ein weiterer positiver Aspekt von Rechtschreibregeltrainings ist, dass sie sich gut in den Schulalltag integrieren lassen. Die Abgrenzung vom normalen Förderunterricht besteht zum einen darin, dass der Bereich Rechtschreibregeln,
der im normalen Unterricht nur einen verschwindend geringen Raum in Anspruch nimmt (weniger als 1 %, Gasteiger-Klicpera u. Klicpera 1988), in den Vordergrund rückt.
Zum anderen werden im Regeltraining auch gezielt Lösungsstrategien vermittelt (z. B. Schulte-Körne und Mathwig 2004). Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass legasthene Kinder nicht nur einfach intensiveren, sondern tatsächlich anderen Förderunterricht benötigen.
Das Marburger Rechtschreibtraining (Schulte-Körne und
Mathwig 2004) ist ein Beispiel für ein Förderprogramm auf
der orthographischen Ebene, das die Verbindung von Lernstrategien mit Rechtschreibregelwissen vermittelt.
Inhalte des Marburger Rechtschreibtrainings sind:
& Selbstlaute erkennen und unterscheiden;
& Mitlaute erkennen und unterscheiden;
& Unterscheidung von kurz und lang gesprochenen Selbstlauten;
& Wortstamm erkennen;
& Regeln zur Verschriftlichung von Mitlauten (im Wortstamm und in Wortendungen, bei Nomen, Verben und
Adjektiven);
12.2 Legasthenie
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Folgende Übungseinheiten gehören zum Programm:
Sprachspiele für Kinder im Vorschulalter (Würzburger
Trainingsprogramm zur Vorbereitung auf den Schriftspracherwerb von P. Küspert und W. Schneider 2001):
– Lauschspiele (1. Trainingswoche: Ausrichten der Aufmerksamkeit auf Geräusche in der Umgebung);
– Reime (Reime hören, erkennen, selbst bilden);
– Sätze und Wörter (ab 3. Trainingswoche: Wörter erkennen, Wörter verbinden, z. B. aus „Schnee“ und „Mann“
wird „Schneemann“);
– Silben (ab der 5. Woche: Silben erkennen, Wörter in
Silben zergliedern, Silben verbinden, anhand von Bewegungsspielen);
– Anlaute (ab der 7. Woche: Anlaute erkennen und unterscheiden);
– Phoneme (Laute) (ab der 11. Woche: Laute erkennen
und unterscheiden innerhalb eines Wortes, Laute verbinden).
&
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&
&
&
12
&
&
&
Groß- und Kleinschreibung;
Verschriftlichung des stummen h,
Ausnahmen bei der Verschriftlichung des stummen h;
Regeln zum lang gesprochenen Selbstlaut i und Dehnungs-e;
Selbstlaute trennendes h,
Schreibung gleichklingender Umlaute;
Schreibung von Auslauten.
Das Marburger Rechtschreibtraining ist für Kinder ab Ende
der zweiten Klasse geeignet. Die Buchstaben-Laut-Zuordnung sollte beherrscht werden. Daher ist dieses Förderprogramm als Weiterführung nach einem Programm zur
Förderung der phonologischen Bewusstheit sehr gut geeignet. Das Programm wurde bisher als geleitetes ElternKind-Training in der Einzelförderung und der schulischen
Förderung eingesetzt. Auch nach der Grundschulzeit werden mit diesem Trainingsprogramm Therapieerfolge im
Lesen und in der Rechtschreibung erzielt.
Empirische Evidenz der Förderung
Im Gegensatz zu der hohen Anzahl betroffener Kinder (im
Grundschulbereich ca. 200 000) und dem Bedarf an qualifizierter Förderung liegen insgesamt nur wenige Studien vor,
die die Effektivität der Intervention überprüfen (Übersicht
bei Mannhaupt 2002; Tacke 2002; v. Suchodoletz 2006). Im
Vordergrund der Interventionsstudien zur Verbesserung
der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten stehen Ansätze,
die sich an dem Schriftspracherwerbsmodell orientieren.
Obwohl Kinder mit einer LRS häufig psychische Auffälligkeiten zeigen (Schulte-Körne u. Remschmidt 2003; Warnke
et al. 2002), spielt dieser Aspekt in der Interventionsforschung nur eine geringe Rolle.
Im Gegensatz zur Popularität der Programme zum Training basaler Wahrnehmungsfunktionen ist die überwiegende Anzahl an Methoden nicht evaluiert.
Nach von Suchodoletz (2006) gehören die folgenden Trainings zu den nicht zu empfehlenden Förderansätzen, da sie
entweder nicht evaluiert oder nicht wirksam sind:
& Trainings zur Verbesserung der Raum-Lage-Labilität,
& Training der visuomotorischen Koordination,
Tabelle 12.6
&
&
&
&
&
&
&
Training der Koordination der Hemisphären (Edu-Kinestetik),
psychomotorisches Training,
taktil-kinesthetische Methode,
Davis-Methode (Lesen als Talentsignal),
Neurolinguistisches Programmieren (NLP),
Trainings zur Unterscheidung von Sinustönen,
Trainings zur Steuerung der Blickbewegung.
Förderung auf der alphabetischen Entwicklungsstufe:
Die Wirksamkeit der Förderung von phonologischer Bewusstheit ist gut untersucht und wiederholt bestätigt
(Übersicht in Schulte-Körne 2001). Insbesondere in englischsprachigen Ländern ist der Ansatz zur Förderung von
Lautunterscheidung, Lautgedächtnis, Lauteverbinden und
metaphonologischen Fähigkeiten verbreitet. Die Kombination von phonologischen Trainings mit Methoden zur
Förderung von Teilprozessen des Lesenlernens, wie z. B.
die Buchstaben-Laut-Zuordnung, ist zur Verbesserung der
Lese- und Rechtschreibleistung am wirksamsten (Schneider
et al. 1999). Allerdings ist die Wirksamkeit des Trainings
phonologischer Bewusstheit in der deutschen Sprache auf
die erste bis Mitte der zweiten Klasse beschränkt. Die
Tab. 12.6 stellt die Ergebnisse von einzelnen Interventionsstudien auf der alphabetischen Entwicklungsstufe dar.
Die Wirksamkeit von Rechtschreibregeltrainings wurde
wiederholt empirisch bestätigt (Tab. 12.7). Scheerer-Neumann (1988) untersuchte den Einfluss eines verhaltenstherapeutisch orientierten Regeltrainings auf die Rechtschreibleistung von Hauptschülern der fünften und sechsten Klassenstufe. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe
erreichte die Experimentalgruppe signifikant bessere Ergebnisse beim Schreiben von Wörtern einer Prüfliste.
Auch die Überprüfung des Marburger Rechtschreibtrainings
zeigte die Wirksamkeit dieses Ansatzes bei Grundschulkindern mit einer Legasthenie (Tab. 12.7).
Reuter-Liehr (1993, 2001) zeigte bei Fünft- und Sechstklässlern, dass eine Kombination aus Regeltraining und
„syllabierendem Mitsprechen“ zu einer bedeutsamen Verbesserung der Rechtschreibfähigkeit führte (Tab. 12.8).
Auch Tacke und Mitarbeiter (1993) fanden anhand der
Methode des syllabierenden Mitsprechens eine deutliche
Reduktion von Rechtschreibfehlern bei Drittklässlern.
Übersicht über Studien zur Wirksamkeit von Förderprogrammen zur phonologischen Bewusstheit
Studie
Förderansatz
Wirksamkeit
Fox u. Routh 1984;
Torgesen et al. 1992
Analyse und Synthese von Lauten
Verbesserung der Leseleistung bei den leseschwachen Kindern
Blumenstock 1979
Analyse und Synthese von Lauten,
Buchstaben-Laut-Zuordnung
Deutliche Verbesserung der Lese- und Rechtschreibleistung von Erstklässlern
Wallach u. Wallach 1979
Analyse und Synthese von Lauten,
Buchstaben-Laut-Zuordnung,
Zusammenschleifen von Lauten
Deutliche Verbesserung der Leseleistung bereits
nach 7 Monaten
Mannhaupt 1992
Lerntheoretisch begründetes
lautanalytisches Training
Verbesserung der lautanalytischen Fähigkeiten,
der Lese- und Rechtschreibfähigkeit bei Erstklässlern mit einer LRS
Forster u. Martschinke 2002
Hören, lauschen, lernen, BuchstabenLaut-Assoziation, Wortlesen
Verbesserung der lautanalytischen Fähigkeiten,
der Lesefähigkeit bei Erstklässlern mit einer LRS
Heruntergeladen von: UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
&
LRS = Lese-Rechtschreib-Störung
158
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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Tabelle 12.7 Übersicht über Studien zur Wirksamkeit von Förderprogrammen zur Förderung auf der orthographischen Entwicklungsstufe
(Rechtschreibregeltraining)
Förderansatz
Wirksamkeit
Scheerer-Neumann 1988
Rechtschreibregellernen auf verhaltenstherapeutischer Basis
Signifikante Verbesserung der Rechtschreibleistung bei Hauptschülern der 5. und 6. Klasse
Reuter-Liehr 1993
Phonologisches Training, syllabierendes
Mitsprechen und Rechtschreibregeltraining
Signifikante Verbesserung der Rechtschreibleistung von Kindern der 5. und der 6. Klasse
Schulte-Körne et al. 1997,
1998
Strukturiertes Lern- und Übungsprogramm
(Marburger Rechtschreibtraining) basierend auf
Rechtschreibregellernen vermittelt durch Eltern
Signifikante Verbesserung der Rechtschreibleistung bei Grundschülern.
Signifikante Verbesserung des Selbstwertgefühls
nach 2 Jahren Training
Schulte-Körne et al. 2001
Marburger Rechtschreibtraining, vermittelt durch
Studenten
Signifikante Verbesserung der Rechtschreibleistung und des Lesens bei Grundschülern bereits nach 3 Monaten
Schulte-Körne et al. 2003
Marburger Rechtschreibtraining, vermittelt durch
Lehrer in schulischen Fördergruppen
Signifikante Verbesserung der Rechtschreibleistung und des Lesens bei Grundschülern nach
2 Jahren Förderung
Tabelle 12.8
Übersicht über Studien zur Wirksamkeit von Förderprogrammen zur Förderung von Lese- und Rechtschreibteilprozessen
Studie
Förderansatz
Wirksamkeit
Foorman et al. 1991
Explizites Training von Buchstaben-LautZuordnung
Signifikanter Zusammenhang zwischen der
Intensität des Einübens und der Zunahme der
Lesefertigkeit
Scheerer-Neumann 1981
Wortsegmentierung in Silben
Deutliche Verminderung der Lesefehler bei
leseschwachen Drittklässlern
Reuter-Liehr 1993
Silbensegmentierung, syllabierendes
Mitsprechen,
Morphemwissen
Signifikante Verbesserung der quantitativen und
qualitativen Rechtschreibleistung von Fünftklässlern
Strehlow et al. 1999
Leseförderung: Lautgebärden,
Wortsegmentierung anhand von Silben
Rechtschreibung: Förderung anhand von
Regeln
Signifikante Verbesserung der Rechtschreibleistung und des Leseverständnis der Zweit- und
Drittklässler
Trainingsprogramme, die auf der Vermittlung von Rechtschreibregeln beruhen, sind erst ab Ende der 2. Klasse sinnvoll durchzuführen. Hingegen sind Trainingsansätze, wie
das syllabierende Mitsprechen, meist schon zu Beginn
der zweiten Klasse einsetzbar.
In praktisch allen Therapiestudien wird das Training außerschulisch durchgeführt. Es liegen bisher nur wenige Studien vor, die die Anwendbarkeit eines Trainingsprogramms
im schulischen Setting untersuchen oder schulische und
außerschulische Fördermaßnahmen in ihrer Effektivität
vergleichen (Tacke et al. 1987; Einsiedler et al. 2000).
Tacke et al. (1987) verglichen in ihrer Studie konventionellen Förderunterricht mit zwei Varianten eines Regeltrainings bei rechtschreibschwachen Hauptschülern der 5.
Klasse. Förderunterricht und Training wurden von den Lehrern durchgeführt. Die Trainingsgruppen zeigten nach
einem Jahr gegenüber der Kontrollgruppe (Fördergruppe)
keine signifikant verbesserte Rechtschreibung. Die Autoren
stellten außerdem fest, dass die Motivation zur Mitarbeit
bei den Trainingsgruppen (im Gegensatz zur Förderunterrichtsgruppe) extrem gesunken war. Dies zeigt, dass eine
didaktisch und graphisch geschickte Umsetzung des Trainings von entscheidender Bedeutung ist; die eigentliche
Fragestellung der Studie bleibt aufgrund dieses offensichtlichen Motivationsdefizits der Schüler aber unbeantwortet.
Umfeldbezogene Maßnahmen
Schulische Förderung
Da die wirksamen Förderansätze sowohl schulisch als
auch außerschulisch angewandt werden, sind für die schulische Förderung im Wesentlichen die Organisation und die
praktische Umsetzung der Förderung von großer Bedeutung.
Schulische Förderung kann in Förderung im regulären
Klassenunterricht (Binnendifferenzierung) und Förderung
in sog. zusätzlich eingerichteten Fördergruppen (Förderunterricht) sinnvoll unterschieden werden.
Der Binnendifferenzierung liegt die Annahme zugrunde,
dass die individuelle Lerngeschwindigkeit der Schüler einer
Klasse sehr unterschiedlich und es notwendig sei, in der
Klasse Leistungsgruppen zu bilden, die dem individuellen
Lerntempo der Kinder angepasst sind. Probleme bei dieser
Art von Förderung bestehen u. a. darin, dass ein nicht unerheblicher Teil des Lese- und Rechtschreibunterrichts mit
der ganzen Klasse abgehalten wird. Nach Klicpera und
Gasteiger-Klicpera (1995) bringt die Binnendifferenzierung
mithilfe von Leistungsgruppen in der Klasse für die schwächeren Schüler keinen wesentlichen Vorteil (vgl. Klicpera
et al. 2003).
12.2 Legasthenie
12
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Studie
159
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Behandlung der komorbiden Störungen
Zu den häufigen komorbiden Störungen zählen die emotionalen Störungen und die hyperkinetischen Störungen. Bei
Jugendlichen mit einer LRS treten gehäuft eine Störung
des Sozialverhaltens und depressive Störungen auf. Für
den Erfolg der Förderung ist das Erkennen dieser komorbiden Störungen und deren frühzeitige Behandlung wesentlich. Für die Praxis bedeutet das Vorliegen von komorbiden
Störungen, dass nach Aufklärung und Beratung des Kindes
und seiner Eltern die Therapie mehrere Bausteine, abhängig
von den Störungsbildern, umfasst. So kann es z. B. bei der
Behandlung eines Kindes mit einer LRS und einer HKS zunächst notwendig sein, die Hypermotorik und Aufmerksamkeitsstörung zu behandeln, um die Voraussetzung für
die Lernförderung zu schaffen. Vor allem bei emotional gestörten Kindern ist es notwendig, eine förderliche Lernhaltung zu erreichen (z. B. durch den Aufbau eines positiven
Selbstkonzeptes, Verminderung von Misserfolgserwartungen). Voraussetzung für die Konzeption der Intervention
ist die eingehende Diagnostik, die familiäre sowie schulische Bedingungsfaktoren mit einbezieht.
Förderung durch die Eltern
In mehreren empirischen Arbeiten konnte gezeigt werden,
dass Eltern in der Lage sind, ihr leseschwaches Kind im Lesen zu fördern (Tacke 1998/1999; Schulte-Körne 2004). Für
die deutsche Schriftsprache fanden Schulte-Körne et al.
(1997, 1998), dass Eltern, wenn sie systematisch und regelmäßig angeleitet werden, in der Lage sind, die Rechtschreibleistung ihres Kindes zu verbessern. Ein weiterer
wesentlicher Befund dieser Untersuchungen war, dass
sich durch das Eltern-Kind-Training die Interaktion positiv
verändert hatte und das Selbstwertgefühl der Kinder signifikant verbessert wurde. Daher ist ein zentraler Aspekt der
Elternarbeit, dass Eltern lernen, ihr legasthenes Kind kontinuierlich emotional zu stützen. Dieser Aspekt ist von besonderer Bedeutung, da legasthene Kinder häufig emotional in
der Schule durch die Lehrkräfte nicht unterstützt und von
Mitschülern gehänselt werden.
Allerdings ist es für Eltern eine hohe Belastung, ihr legasthenes Kind mit einer meist chronisch verlaufenden Lernstörung durch die Schulzeit zu stützen. Die Eltern sorgen
meist dafür, dass ihr Kind die notwendige Förderung und
Therapie bekommt. Die finanzielle Belastung für die außerschulische Förderung ist meist sehr hoch, wenn sie nicht
durch das Jugendamt übernommen wird. Die Beantragung
160
solcher Hilfen ist meist schwierig und bleibt nicht selten
ohne Erfolg. Daher ist es therapeutisch sehr wichtig, die Eltern zu begleiten und zu entlasten.
Die Bedeutung der Eltern als Therapeuten ihres Kindes
wird kontrovers diskutiert. Während insbesondere Pädagogen davon abraten, Eltern in die Förderung mit einzubeziehen, zeigen klinische Erfahrungen und die Ergebnisse empirischer Studien, dass einzelne Eltern sehr gut in der Lage
sind, ihr Kind spezifisch zu fördern (siehe hierzu z. B. Marburger Rechtschreibtraining, Schulte-Körne u. Mathwig
2004).
Häufig gestellte Fragen mit Antworten
? Wird die Legasthenietherapie von den Krankenkassen bezahlt?
씰씰 Die Legasthenie wird nicht zu den Krankheiten gezählt.
Daher besteht auch kein Leistungsanspruch gegenüber den
gesetzlichen Krankenversicherungen (Heilmittelverordnung
schließt die Legasthenie explizit aus). In Einzelfällen ist es jedoch gelungen, die Therapiekosten über eine Krankenversicherung abzudecken, wenn erstens der LRS eine Hirnstörung
zugrunde liegt und zweitens eine Person die Behandlung im
Sinne einer medizinischen Behandlung oder im Sinne einer
medizinischen Rehabilitation durchführt. Die überwiegende
Zahl der Therapien wurde bisher über das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) finanziert, wenn bei einem Kind nach § 35a
eine drohende oder eine bereits bestehende seelische Behinderung vorliegt.
? Helfen basale Wahrnehmungstrainings bei der LRS?
씰씰 Trotz der Verbreitung und den zunächst plausibel erscheinenden Wirkmechanismen sind Fördermethoden, die ausschließlich die Wahrnehmung von auditiven oder visuellen
Reizen fördern (z. B. Brain Boy oder Blickbewegungstrainings),
hinsichtlich ihrer Wirksamkeit sehr umstritten, und Wirksamkeitsnachweise liegen bisher nicht vor.
? Wie lang soll eine Legasthenietherapie durchgeführt werden?
씰씰 Abhängig vom Schweregrad und dem Vorliegen komorbider Störungen ist meist von einer mindestens ein- bis zweijährigen Therapiedauer auszugehen. Die Therapie sollte mindestens einmal wöchentlich durchgeführt werden.
? Sollte die Behandlung in Gruppen oder als Einzelförderung erfolgen?
씰씰 Bei einer ausgeprägten Legasthenie ist eine Einzelförderung dringend zu empfehlen. Auch bei Kindern mit einer komorbiden Störung ist die Einzeltherapie zu empfehlen. Generell gilt, dass die Intensität der Förderung in der Gruppe geringer ist. Der Vorteil einer Gruppenförderung, die auf maximal 5 Kinder beschränkt sein sollte, ist, dass die Kinder lernen,
dass auch andere Kinder unter demselben Problem leiden.
Auch der Aspekt der Partnerarbeit und gegenseitigen Unterstützung kann nur in der Gruppenförderung realisiert werden.
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Durch die Einrichtung von Fördergruppen wird versucht,
für die Kinder eine entlastende Situation zu schaffen und
motivationale Barrieren abzubauen. Im Rahmen dieses zusätzlichen Förderunterrichtes sind die Möglichkeiten für
die individuelle Zuwendung zum Kind im Vergleich zum
binnendifferenzierten Fördern deutlich besser. Voraussetzung für den Erfolg der Fördergruppen sind die Gruppengröße und die Zusammensetzung der Fördergruppe. Gruppengrößen von maximal 5 Kindern werden empfohlen
(Schulte-Körne 2002).
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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Einschlägige Internetadressen:
www.legasthenie-info.de;
& www.legasthenie.net;
& www.legakids.net.
&
& Literatur
(Weiterführende Literatur ist durch * gekennzeichnet)
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Dummer-Smoch L. Laute, Silben, Wörter. Kiel: Veris Verlag; 1996.
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Kiel: Veris Verlag; 1994.
Einsiedler W, Frank A, Kirschock EM, Martschinke S, Treinies G. Der
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Bewusstheit sowie auf Lese- und Rechtschreibleistung im 1. Schuljahr. Erlangen-Nürnberg: Berichte und Arbeiten aus dem Institut
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Literatur
12
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& Weiterführende Informationen
einschließlich Internetadressen
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12.3 Rechenstörungen
Andreas Warnke, Ellen Plume,
Claudia Oehler
Fallbeispiel
Vorgeschichte: Die achteinhalbjährige Mia wird zu Beginn
des 3. Schuljahres von ihrer Mutter aufgrund erheblicher Leistungsprobleme im Fach Mathematik vorgestellt. Im Jahreszeugnis der 2. Klasse hat Mira in Mathematik eine noch ausreichende Leistung, in allen anderen Fächern hat sie gute
Noten erhalten. Die Förderung durch den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst der Schule mit vielfältigen Veranschaulichungsmitteln hat bis dahin keinerlei Erfolge gezeigt.
In der Familie sind keine psychiatrischen Erkrankungen oder
Teilleistungsstörungen bekannt. Mia wurde termingerecht
auf normalem Wege entbunden. Sämtliche Eckdaten der
frühkindlichen Entwicklung sind unauffällig. Die soziale Entwicklung wird als altersgemäß beschrieben.
Bezüglich der Mathematik besteht eine zunehmende Misserfolgsorientierung und Leistungsängstlichkeit. Das Selbstbild des Mädchens hat gelitten, sie äußere bei Versagenserfahrungen im schulischen Bereich: „Ich bin dumm.“
Zunehmend häufiger treten im Zusammenhang mit dem
Schulbesuch Bauch- und Kopfschmerzen auf, die als Ausdruck von Schulangst zu werten sind.
Diagnostik: Die testpsychologische Untersuchung kann ein
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom ausschließen. Die Überprüfung der intellektuellen Leistungsfähigkeit
mit der K-ABC erbringt eine durchschnittliche intellektuelle
Begabung. Die akustische Merkfähigkeit (Zahlennachsprechen) liegt im unteren Durchschnittsbereich der Bezugspopulation. Im Rechentest ZAREKI (2002) erreicht Mia einen
Prozentrang von 3, was einer deutlich unterdurchschnittlichen Rechenleistung entspricht. Weit unterdurchschnittlich
fallen die Ergebnisse im Bereich Kopfrechnen, in der Addition
und Subtraktion sowie beim Lösen von Textaufgaben auf. Im
Index 2 des ZAREKI, der das Rechnen im Vergleich zur Altersgruppe überprüft, erreicht Mia einen Prozentrang von 1. Bei
nochmaliger individualisierter Überprüfung fällt auf, dass
Mia sowohl in der Addition, aber auch besonders in der Subtraktion im Zahlenraum bis 9, über ein noch nicht automa-
162
tisiertes Faktenwissen verfügt und Fehlstrategien mit innerem Hochzählen unter teilweiser versteckter Benutzung
der Finger anwendet.
Setzt man das Ergebnis des Begabungstests (K-ABC) mit
einem T-Wert von 49 und das Ergebnis des Rechentests
mit einem T-Wert von 31 zueinander in Bezug, so ergibt
sich eine T-Wert-Diskrepanz von 18, die testmetrisch einer
Dyskalkulie entspricht (ICD-10, F81.2).
Interventionen: Nach Erörterung der Diagnose mit Schule
und Elternhaus wird die Notengebung für das laufende
Schuljahr zur Entlastung des Mädchens ausgesetzt.
Das Konzept der Übungsbehandlung wird mit Mia und den
Eltern besprochen. Ergänzend zur zweimal wöchentlichen
Einzeltherapie wird ein tägliches Üben im „Team“ Mutter
und Mia oder Vater und Mia in kleinen Portionen (3-mal
5–7 Minuten) – beginnend auf der niedrigsten notwendigen
Ebene – mit dem Ziel der Automatisierung begonnen.
Modellhaft wird in der ersten Therapiestunde die KärtchenMethode vorgeführt (Born u. Oehler 2006). Hier kann Mia
die Zuversicht erleben „Ich kann das schaffen“, indem sie
sich ohne größere Anstrengung drei Kombinationen durch
häufige Wiederholungsdurchgänge in der Addition im 9er
Raum einprägen kann.
Der Mutter wird der systematische Aufbau des Lernprogramms, das zu Hause durchgeführt werden soll und das
in ca. 2- bis 4-wöchigen Abständen durch den Therapeuten
hinsichtlich seiner Feinabstimmung überprüft wird, erörtert:
* Automatisierung in der Addition und Subtraktion im 9er
Raum;
* Vorbereitung des 10er Übergangs – „das Pärchen-Spiel“;
* Rechnen im 20er bzw. im 100er Raum ohne 10er Übergang;
* der 10er Übergang;
* Einmaleins;
* Textaufgabenmuster auf der jeweiligen Rechenstufe.
Anfang der 4. Klasse hat Mia die Grundrechenarten der Addition und Subtraktion weitgehend automatisiert und kann
im 1000er Raum rechnen. Einfache Textaufgabenmuster auf
der jeweiligen Stufe kann sie lösen. Das Einmaleins wird sicher beherrscht.
Mia erlebt einen kontinuierlichen Angstabbau im Bereich
Mathematik durch ihre Fortschritte und die unterstützende
und wertschätzende Haltung sowohl der Eltern als auch der
Schule, verbunden mit deren realistischer Zielsetzung. Regelmäßige Erfolgserlebnisse verändern die emotionale Bewertung des Rechnens bei Mia und begünstigen damit
auch eine erhöhte Aufmerksamkeit und bessere Abspeichermöglichkeiten.
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12
Tacke G. Flüssig lesen lernen. Übungen, Spiele und spannende Geschichten. Ein Leseprogramm für den differenzierenden Unterricht,
für Förderkurse und für die Freiarbeit. Je ein Heft für Klasse 1/2, 2/3
und 4/5. Donauwörth: Auer; 1996/1999.
Tacke G. Mit Hilfe der Eltern: Flüssig lesen lernen. Übungen, Spiele und
eine spannende Geschichte. Je ein Heft für Klasse 1/2, 2/3 und 4/5.
Donauwörth: Auer; 1998/1999.
*Torgesen J, Morgan S, Davis C. Effects of two types of phonological
awareness training on word learning in kindergarten children. Journal of Educational Psychology. 1992; 84: 364–370.
Wallach MA, Wallach L. Helping disadvantaged children learn to read
by teaching them phoneme identification skills. In: Resnick LB,
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Warnke A, Hemminger U, Plume E, Schneck S. Legasthenie. Leitfaden
für die Praxis. Göttingen: Hogrefe-Verlag; 2002.
*Warnke A; Hemminger U, Plume E. Ratgeber Lese-Rechtschreibstörung. Göttingen: Hogrefe-Verlag; 2004.
& Grundlagen
Definition, Klassifikation und Symptomatik
Eine Rechenstörung liegt vor, wenn mit Beginn des Erlernens des Rechnens in der Grundschule die Rechenfertigkeiten deutlich unter dem Niveau liegen, das nach Alter, Intelligenz und Schulausbildung zu erwarten wäre.
Klassifikatorisch ist die Rechenstörung nach ICD-10 den
umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertig-
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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Bei einem ersten Subtyp liegt die Rechenstörung isoliert
vor, ohne dass Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben bestehen, beim zweiten Subtyp liegt gleichzeitig zur
Rechenstörung eine Störung im Erlernen des Lesens und
Rechtschreibens vor (kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten, nach ICD-10, F81.3).
Komorbid liegt in Patientengruppen zu 40 % eine Aufmerksamkeitsstörung vor, bei der kombinierten Störung
finden sich vermehrt auch Störungen im Sozialverhalten.
Vorschulisch lassen sich meist Schwächen im Mengenund Zahlenbegriff und relativ häufig auch visomotorische
Schwierigkeiten feststellen. Rechenstörungen reichen bis
in das Erwachsenenalter hinein.
Epidemiologie
Die Prävalenzrate ist bei 3–6 % anzunehmen. Die Kombination mit Lese- und Rechtschreibstörung ist bei bis zu
zwei Dritteln der Kinder mit Rechenstörung gegeben. Mädchen sind gleich häufig oder sogar häufiger als Jungen betroffen.
12
Ätiologie und Störungsmodell
Ursachen für Rechenstörungen liegen in genetischen und
anderen hirnorganisch begründeten Hirnfunktionsbesonderheiten. Psychische, soziokulturelle und schulische Einflüsse wirken modifizierend. Die sprachliche und die visuelle – arabische beziehungsweise alphabetische – Zahlenverarbeitung erscheint gemäß zerebralen Bildgebungsbefunden funktionell links-frontotemporal und okzipital repräsentiert, semantische Zahlenverarbeitung in beidseitigen Parietalregionen. Störungen in diesen Netzwerken werden für Rechenstörungen pathogenetisch verantwortlich
gemacht. Schlechter Mathematikunterricht und chronische
Misserfolgserlebnisse mit dem Rechnen haben einen ungünstigen Einfluss auf die Rechenfertigkeit.
Das Störungsmodell lässt sich aus Abb. 12.3 ableiten.
Aus dem Störungsmodell ergibt sich hinsichtlich der
Therapie als Schlussfolgerung:
& Die Behandlung sollte so früh wie möglich beginnen
(spätestens 2. Grundschulklasse).
& Der schulische Mathematikunterricht sollte qualifizierend auf die individuelle Rechenstörung Rücksicht nehmen – Vermeidung chronischer Misserfolge und Versagensängste (leider gibt es bislang keine kultusministe-
Abb. 12.3 Entwicklung und neuronale
Verknüpfung numerischer Repräsentationen
(v. Aster 2003).
12.3 Rechenstörungen
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keiten als „umschriebene Entwicklungsstörung des Rechnens“ (F81.2) zugeordnet.
Die Symptomatik ist gekennzeichnet durch:
& Schwierigkeiten in der Zahlensemantik: Rechenoperationen werden nicht verstanden (z. B. mehr/weniger; ein
Teil von einem Ganzen; Mengen werden nicht erfasst);
& Mängel im sprachlichen Umgang mit Zahlen: Schwächen
im Einmaleins, das Zählen gelingt nur fehlerhaft;
& mangelhaften Erwerb des arabischen Stellenwertsystems, der syntaktischen Regeln und Rechenprozeduren:
Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division gelingen nicht; das Einordnen von „Einer-“, „Zehner-“ oder
„Hunderter-Stellen“ wird nicht verstanden; der „Zehner-Übergang“ ist eine Hürde;
& Unfähigkeit, eine Zahl in eine andere Kodierung zu übertragen: von einer arabischen Ziffer kann nicht auf eine
entsprechende Menge geschlossen werden;
& Rechenzeichen werden nicht beachtet oder falsch geschrieben.
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& Therapie
&
&
&
&
&
Diagnostische Maßnahmen
&
&
Zur Bestimmung einer Rechenstörung empfehlen die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJPP
2007) die Anwendung der multiaxialen Diagnostik (Remschmidt et al. 2006), die vorsieht, dass die Störung im Rechnen auf verschiedenen Ebenen beschrieben wird. Auf der
1. Achse wird im Rahmen der Eigenanamnese und ärztlicher
Untersuchungen das Vorliegen eines klinisch-psychiatrischen Syndroms als Ursache für die Rechenstörung
oder als komorbide Störung (z. B. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Schulangst, Depression) überprüft.
Störungsspezifisch fußt die Diagnose auf einer standardisierten Testung von Intelligenz und Rechenfertigkeiten sowie störungsbezogener Exploration.
Die 2. Achse befasst sich mit der Untersuchung der Entwicklungsstörung im Bereich von Motorik, Sprache, Lesen,
Rechtschreiben oder Rechnen. Zur quantitativen Erfassung
der Rechenstörung werden standardisierte Testverfahren
eingesetzt, die sich inhaltlich am Wissensstand der jeweiligen Klassenstufe orientieren und dementsprechende Normen bereitstellen. Für den Grundschulbereich sind relativ
aktuelle Rechentests vorhanden: Deutscher Mathematiktest für 1., 2., 3. und 4. Klassen (DEMAT 1+, Krajewski et
al. 2002; DEMAT 2+, Krajewski et al. 2004; DEMAT 3+, Roick
et al. 2004; DEMAT 4+, Gölitz et al. 2004), Heidelberger
Rechentest für 1.–4. Klassen (HRT 1–4, Haffner et al.
2005) sowie ZAREKI-R (Neuropsychologische Testbatterie
für Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Kindern – Revision, v. Aster u. Weinhold 2006). Darüber hinaus liegen der
Mathematiktest für 2. Klassen (MT 2, Feller u. Hugow
1992) und der Diagnostische Rechentest für 3. Klassen
(DRE 3, Samstag et al. 1992) vor. Die Testverfahren erfassen
mathematische Basiskompetenzen (Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren, Dividieren), Zahlen- und Mengenverständnis sowie visuell-räumliche Fähigkeiten, die zur Zahlenraumvorstellung notwendig sind. Liegt die Einzelleistung des Kindes in dem standardisierten Testverfahren
bei einem Prozentrang von 10, dann ist das erste Kriterium
für die Diagnose einer Rechenstörung erfüllt.
Neben der quantitativen Bestimmung der Rechenschwäche ist insbesondere die qualitative Fehleranalyse für die
therapeutische Intervention von Nutzen. Geprüft werden:
& die Beherrschung der Zählfertigkeit (Vorwärts- und Rückwärtszählen einer Zahlenreihe);
& die Zählhandlung (Abzählen einer kleineren Anzahl von
Gegenständen mit den Fingern);
& das Transkodieren (Übertragung von Zahlen aus der
Wortform in die arabischen Ziffernzeichen, z. B. „sieben“ = 7);
164
&
die Zuordnung von Zahlwörtern und später arabischen
Ziffern zu Mengen (konkrete, abgebildete oder abstrakte
Mengen werden einem Zahlwort zugeordnet);
die Zahlenbewusstheit;
die Zuordnung von Zahlen zu analogen Repräsentationen
(Zahlenstrahl);
die Grundrechenarten (gedankliches und schriftliches
Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren);
auditive und visuelle Zahlworterkennung;
Transfer- und Analogieverständnis sowie
das Gedächtnis (Arbeits-, Langzeitgedächtnis) und
die Lösung von Textaufgaben (Warnke et al. 2007).
Die 3. Achse beschreibt das vorliegende Intelligenzniveau.
Hierzu werden die gängigen Intelligenztests eingesetzt
(HAWIK-III, AID 2, K-ABC etc.). Ausschlaggebend für die
Diagnose der Rechenstörung ist eine signifikante Diskrepanz
zwischen der Intelligenz- und Rechenleistung, d. h., die erfasste Rechenleistung befindet sich mindestens um eine
Standardabweichung von 1,2 unter dem IQ. Ist darüber hi_10 als
naus ein Rechenprozentrang im Rechentest von 5
weiteres Kriterium erfüllt, dann ist sehr wahrscheinlich
von einer Rechenstörung auszugehen (doppeltes Diskrepanzkriterium; weiterführend: DGKJPP 2007).
Für die Diagnose ist meist auch die Voraussetzung gegeben, dass in Mathematik die Schulnoten „mangelhaft“ und
„ungenügend“ vorherrschen und die Noten diskrepant
schlechter sind als in anderen Schulfächern.
Von Aster (2000) unterschied im Rahmen einer Clusteranalyse 3 Subtypen von Rechenstörungen. Kinder, die den
sog. tiefgreifenden Subtyp aufweisen, lagen mehr als 1,5
Standardabweichungen unter der Norm in verschiedenen
numerischen Fertigkeitsbereichen. Weiterhin identifizierte
von Aster (2000) einen sprachlichen Subtypen, der durch defizitäre Zählstrategien kennzeichnet ist und oft Rückstände
in der Sprach- und Schriftsprachentwicklung aufweist, sowie einen arabischen Subtypen, bei dem die betroffenen
Kinder Schwierigkeiten bei der Übertragung von Zahlwörtern in die arabische Kodierung und umgekehrt
haben. Dementsprechend zeigen die betroffenen Kinder
Schwächen in den spezifischen Rechenfähigkeiten und in
den Teilaspekten der Intelligenzleistung.
Auf der 4. Achse werden körperlich-neurologische Erkrankungen (z. B. Hör-, Sehstörung, Zerebralparese) zum
differenzialdiagnostischen Ausschluss überprüft, die evtl.
das Auftreten der Lernstörung erklären könnten. Die 5.
Achse erfasst die psychosozialen Umstände des Kindes und
schließt aus, dass eine unzureichende Förderung oder Beschulung als Ursache für die Rechenschwäche infrage
kommt. Schließlich beschreibt die 6. Achse die psychosoziale Beeinträchtigung aufgrund des Schweregrades der
Störung, was beispielsweise entsprechende schulische
Maßnahmen (Notenschutz im Rechnen) oder Förderhilfen
(über § 35a SGB VIII) nach sich ziehen kann.
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&
riellen Erlasse zum Nachteilsausgleich, wie sie für die
Legasthenie gegeben sind).
Therapeutisch indiziert ist die Übungsbehandlung mit
verhaltenstherapeutischen und heilpädagogischen Prinzipien.
Empirische Evidenz zur Therapie
Im deutschen Sprachraum mangelt es bislang an Wirksamkeitsstudien zur Therapie von Rechenstörungen. Kaufmann,
Handl und Thöny (2003) veröffentlichten kürzlich eine
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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&
Allgemeine Struktur der Therapie und
Therapieprogramme
Das therapeutische Vorgehen leitet sich maßgeblich aus
einer sorgfältigen Diagnostik ab. Die Übungsbehandlung
beginnt auf der Stufe der Rechenfertigkeit, die gemäß der
diagnostischen Fehleranalyse vom Kind gerade noch beherrscht wird (Warnke et al. 2007). Diese Einstiegsstufe
kann bei einem Kind bereits bei der „Zählfertigkeit“ liegen,
bei einem anderen auf der Stufe des „Transkodierens“ oder
bei der „Zahlenbewusstheit“. Das Tempo des Vorgehens
wird stets von den Fortschritten des Kindes bestimmt.
Um die Lernmotivation zu steigern, eignet sich verhaltenstherapeutisch ein Verstärkerplan (Token-System), nach
dem jedoch nicht der Lernerfolg, sondern der Lernaufwand
und die Anstrengung des Kindes belohnt werden.
& Die Zählfertigkeit wird eingeübt, indem das Kind, bei „1“
beginnend, die Zahlenreihe bis 10 und dann über die 10
hinaus in der richtigen Reihenfolge vor- oder rückwärts
zählt. Diese Übung lässt sich mit „Handlungen am konkreten Material“ (Lorenz u. Radatz 1993, S. 30) einführen.
Dabei wird etwa ein Tuch über eine Anzahl Würfel gelegt
und das Kind soll sie ohne Sichtkontakt mit den Händen
ertasten und abzählen (vgl. „verdeckte Handlung“ mit
dem „Fühlsack“; Dihlmann u. Lorenz 1998).
& Zur Einübung der Zählhandlung wird das Kind gebeten,
vorgegebene Gegenstände (z. B. Äpfel) abzuzählen, indem
es mit dem Finger darauf zeigt. Dabei ist darauf zu achten,
dass die Zeigebewegungen den verbalisierten Ziffern und
den gezeigten Objekten entsprechen.
& Mit dem Transkodieren wird das Zahlwort in eine arabische Ziffer übertragen, d. h. etwa dem Wort „Fünf“ die
Ziffer „5“ zugeordnet. Auch hier kann die Einprägung
wieder durch den Tastsinn gesteigert werden, indem es
sich bei den zu findenden Ziffern um „Fühlziffern“ handelt (Dihlmann u. Lorenz 1998).
& Auf der nächsten Stufe werden Zahlwörter zunächst konkreten Mengen, z. B. fünf Holzstäbchen, zugeordnet: Das
Kind lernt, zu den Stäbchen die Karte mit dem richtigen
Zahlwort zu finden. Weitergehend wird dann von den
konkreten Gegenständen zu deren Abbildung übergegangen und schließlich dem abstrakten Korrelat (also z. B.
der Vorstellung von vorher gezeigten fünf Holzstäbchen)
das richtige Zahlwort zugeordnet.
& Die Stufe der „Zahlenbewusstheit“ ist ein entscheidender
Schritt zum Erwerb der sicheren Beherrschung der Rechenoperationen. Ziel ist es, die Verbindung zwischen
Mengen, Zahlwörtern und Ziffern zu stabilisieren. Hierzu
kann z. B. die Menge von drei Streichhölzern gezeigt und
dann zugedeckt werden; anschließend soll das Kind aus
&
&
vorgegebenen Karten diejenige mit dem richtigen Zahlwort („Drei“) finden; diese Karte wird daraufhin weggenommen, und das Kind soll aus dem Gedächtnis die Ziffer
„3“ schreiben. Oder der Therapeut zeigt die Ziffer „3“, das
Kind sucht aus verschiedenen abgebildeten Mengen die
passende heraus und schreibt das entsprechende Zahlwort darunter usw.
Das Zuordnen von Zahlen zu analogen Repräsentationen
lässt sich mit dem „Zahlenstrahl“ einführen. Dazu lernt
das Kind, zunehmend sicherer die Position einer bestimmten Zentimeterangabe auf einem Zollstock zu bestimmen. Eine Schwierigkeitssteigerung besteht darin,
das Kind bestimmen zu lassen, ob eine bestimmte Zahl
links (kleinere Zahl) oder rechts (größere Zahl) von einer
anderen Zahl liegt. Diese Übungen werden auch mit einer
senkrecht gestellten Zahlenskala durchgeführt, sodass
das Kind die Erfahrung macht, dass Addition einem Größerwerden und Subtraktion einem Kleinerwerden entspricht („intuitive Bedeutung der Operationen“; Lorenz
u. Radatz 1993, S. 101).
Das Einüben des Kopfrechnens erfolgt in erster Linie über
eine visuelle Darstellung der Aufgabe und „lautes Denken“. Entscheidend ist, dass sich die Rechenoperationen
so lange im Zahlenraum bis 10 bewegen, bis das Kind dabei ganz sicher ist. Begonnen wird mit der Addition von
konkreten Gegenständen (z. B. zu fünf Äpfeln kommen
zwei dazu). Wird dieser Schritt beherrscht, folgt ebenfalls
mithilfe von konkreten Gegenständen das Erlernen der
Subtraktion (z. B. von fünf Äpfeln werden zwei weggenommen). Erst wenn das Kind im Zahlenraum bis 10
das Addieren und Subtrahieren sicher beherrscht, wird
zu den ebenfalls konkret dargestellten Operationen der
Multiplikation und Division übergegangen, indem etwa
dreimal zwei Äpfel nebeneinander gelegt werden oder
von sechs Äpfeln in drei Schritten jeweils zwei weggenommen werden. Auf dieser Stufe ist die Gefahr des zu
schnellen Vorangehens besonders groß. Erst wenn eine
Grundrechenart im Zahlenraum bis 10 mit konkreten
Mengen sicher beherrscht wird, sollte die Schwierigkeit
gesteigert werden. Diese Steigerung sollte zunächst darin
bestehen, dass die konkreten Gegenstände gegen bildlich
dargestellte ausgewechselt werden. Erst bei erfolgreicher
Bewältigung dieser Stufe sollte der Zahlenraum erweitert
werden.
Das schriftliche Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und
Dividieren besteht aus einer Zusammenführung der vorigen Stufe mit früher geübten Stufen. Zunächst soll das
Kind die jeweilige Lösung (bei Bedarf auch Zwischenschritte) aussprechen und dann notieren.
12
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österreichische Evaluationsstudie, in der ein hierarchisch
aufgebautes Förderkonzept, das über ein halbes Jahr in
der 3. Klasse durchgeführt wurde, bedeutsame Fortschritte
in der Rechenleistung erzielte. Allerdings handelte es sich
um eine sehr kleine Stichprobe von nur sechs Drittklässlern.
Insgesamt scheint jedoch ein hierarchisches Vorgehen im
Rahmen der individuellen Förderung, die das Kind auf
der Stufe abholt, auf der es sich befindet, Erfolg versprechend.
Medikamentöse Therapie
Eine medikamentöse Therapie von Rechenstörungen gibt es
nicht. Falls jedoch bestimmte Begleitstörungen, wie z. B. die
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS),
Depressionen oder Angsterkrankungen auftreten, die die
Kinder in ihrer Lernfähigkeit beeinträchtigen können, ist
deren medikamentöse Behandlung in Betracht zu ziehen.
12.3 Rechenstörungen
165
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12
Bestimmte emotionale und motivationale Bedingungen
können die Lernbereitschaft fördern oder behindern (v.
Aster u. Dosch 2006). Misserfolge im Rechnen können Prüfungsängste und eine geringe Leistungsmotivation hervorrufen, die den Erwerb der Rechenfähigkeiten erschweren. In
solchen Fällen bezieht sich die Psychotherapie ebenfalls auf
Begleitstörungen der Rechenschwäche, wie Schulangst,
Prüfungsangst und Depression. In die Therapie der Rechenstörung selbst fließen im Wesentlichen verhaltenstherapeutische Maßnahmen ein (vor allem Verstärkung von einzelnen Lernbemühungen und Lernschritten).
Tabelle 12.9
Therapieprofil: Rechenstörungen
Diagnostische
Maßnahmen
Multiaxiale Diagnostik: fachärztliche Untersuchung, Einsatz von standardisierten
Rechentests und Intelligenztests
Empirische
Evidenz
Bislang kaum gesichert
Therapieprinzipien
Hierarchische Struktur der Förderung,
individualisierte Vorgehensweise orientiert an der Fehleranalyse
Therapieprogramme
Bislang existieren keine evaluierten
Therapieprogramme.
Medikamentöse
Therapie
Ggf. von Begleitstörungen wie ADHS,
Depressionen und Angsterkrankungen
Psychotherapie
Ggf. von Begleitstörungen wie
Depressionen und Angsterkrankungen
Eltern- und familienbezogene Maßnahmen
Wird bei einem Kind eine Rechenschwäche diagnostiziert,
sind die Eltern über die Untersuchungsergebnisse zu informieren und bezüglich Fördermöglichkeiten bzw. Hausaufgabengestaltung entsprechend zu beraten (v. Aster u. Dosch
2006). In Abstimmung mit dem zuständigen Therapeuten
können einzelne Förderschritte auch zu Hause unter Anleitung der Eltern durchgeführt werden, sodass eine tägliche
Übungszeit eine kontinuierliche Förderung ermöglicht. Eltern können auch im Alltag Kinder zum Rechnen anregen
(kleine Einkäufe, Abzählen von Gegenständen im Alltag, Abrechnen kleiner Geldmengen etc.). Eine erzieherische Unterstützung („Was tue ich, wenn mein Kind wieder mit
der Note 6 in Mathematik nach Hause kommt, wenn es
vor einer Mathematikarbeit über Bauchweh klagt, schlaflos
ist, nicht in die Schule will?“) und Unterstützung in der elterlichen Interessenvertretung bei schulischen Angelegenheiten sind regelhaft notwendig.
Umfeldbezogene Maßnahmen
Neben den Eltern empfiehlt sich ebenfalls eine Beratung der
zuständigen Lehrkräfte über die spezifischen Schwächen
des betroffenen Kindes im Rechnen. Idealerweise kann in
Rücksprache mit der Schule ein Nachteilsausgleich im Sinne
eines Notenschutzes in Mathematik sowie Physik (Nichtbenoten von Rechenleistungen, evtl. Zeitzuschlag bei Leistungserhebungen) umgesetzt werden, um die Schullaufbahn durch die Rechenschwäche nicht zu gefährden. Einen
Rechtsanspruch für einen Nachteilsausgleich gibt es leider –
und wissenschaftlich unbegründet – bislang in Deutschland
nicht. Nachteilsausgleich sehen Erlasse der Kultusministerien bereits für Lese- und Rechtschreibstörungen vor, und
sie wären für Rechenstörungen dringend einzuführen.
Ergänzende Therapiemaßnahmen
Sollten bei dem betreffenden Kind neben der Rechenschwäche noch spezielle Funktionsstörungen, z. B. im Bereich der
Konzentration, der Grapho- oder Visomotorik vorliegen,
können gezielte Trainingsmaßnahmen unterstützend eingesetzt werden (Tab. 12.9).
166
Eltern- und familienbezogene
Maßnahmen
*
*
*
Information bezüglich
Untersuchungsergebnissen
Hausaufgabenberatung
Anleitung zu häuslichen Förderhilfen
Umfeldbezogene
Maßnahmen
Lehrerberatung, schulische Fördermaßnahmen, schulischer Nachteilsausgleich
(Notenschutz in Mathematik und Physik)
Ergänzende
Maßnahmen
Ggf. Konzentrationstraining, Förderung
der Graphomotorik und Visomotorik
Häufig gestellte Fragen mit Antworten
? Welcher Therapeut ist geeignet, eine wirksame Förderung
durchzuführen?
씰씰 Ein kompetenter Therapeut informiert die Eltern ausführlich über die Therapie und macht sein Vorgehen transparent.
Er verfügt über ausreichend Erfahrung mit betroffenen Kindern und setzt sich mit aktuellen Forschungsergebnissen auseinander. Der Therapie geht eine differenzierte Fehleranalyse
voraus, um das Kind dort abzuholen, wo es steht. Es ist notwendig, dass die Eltern in die Förderung einbezogen werden,
indem sie angeleitet werden, zwischen den Förderstunden zu
Hause kontinuierliche Übungen durchzuführen, und/oder gestützt werden in der erzieherischen Führung („Was tue ich,
wenn wieder die Note 6 für Mathematik heimgebracht
wird?“). Ebenso ist es notwendig, dass sich die Eltern im schulischen Bereich auf eine Interessenvertretung stützen können.
? Was können Eltern tun, um ihre Kinder adäquat zu fördern?
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Psychotherapie
씰씰 Es ist zu empfehlen, die Erwartungshaltung im Rechnen
gegenüber den Kindern niedrig zu halten, um keinen unnötigen Leistungsdruck auszuüben, der zu Versagensängsten und
Misserfolgserwartungen führen könnte. Nicht der Erfolg sollte
belohnt werden, sondern die Anstrengung, die ein Kind aufbringt, um im Rechnen zu üben und Fortschritte zu erzielen.
Neben gezielten Übungen im Rechnen ist es wichtig, das Kind
auch in den Bereichen zu unterstützen, in denen es leichter zu
Erfolgen kommt, um das Selbstvertrauen zu stärken (z. B.
Sport, Sprachen, Hobbys). Elterliche Kooperationsbemühungen mit der Schule sind zu unterstützen.
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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&
&
Eltern von betroffenen Kindern mit Lese-RechtschreibStörung und/oder Rechenstörung haben sich im Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. bundesweit
organisiert.
Informationen über den Elternverband finden sich im
Internet unter www.bvl.de. Dem Verband steht ein wissenschaftlicher Beirat zur Seite, der Eltern in Fragen zur
Diagnostik und Therapie von Legasthenie und Dyskalkulie berät.
& Literatur
(Weiterführende Literatur ist mit einem * versehen)
Aster M von. Developmental cognitive neuropsychology of number
processing and calculation: Varieties of developmental dyscalculia.
European Journal of Child and Adolescent Psychiatry. 2000; 9:
41–58.
Aster M von. Neurowissenschaftliche Ergebnisse und Erklärungsansätze zu Rechenstörungen. In: Fritz A, Ricken G, Schmidt S, Hrsg.
Rechenschwäche. Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfe bei Dyskalkulie. Weinheim: Beltz; 2003: 163–178.
*Aster M von, Lorenz H, Hrsg. Rechenstörungen bei Kindern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2005.
Aster M von, Dosch, M. Entwicklungsbezogene Rechenstörungen. In:
Steinhausen H-Ch, Hrsg. Schule und psychische Störungen. Stuttgart: Kohlhammer; 2006: 205–217.
Aster M von, Weinhold M. ZAREKI-R: Neuropsychologische Testbatterie für Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Kindern – Revision. 2.
Aufl. Göttingen: Hogrefe; 2006.
*Born A, Oehler C. Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern.
Stuttgart: Kohlhammer; 2005.
Born A, Oehler C. Lernen mit ADS-Kindern. 5., überarb. u. erw. Aufl.
Stuttgart: Kohlhammer; 2006.
DGKJPP (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie), Hrsg. Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindesund Jugendalter. 3. Aufl. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2007.
Dihlmann G, Lorenz JH. Materialien zur Entwicklung mathematischer
Vorstellungen. Stuttgart: Landesinstitut für Erziehung und Unterricht; 1998.
Feller G, Hugow K. Mathematiktest für 2. Klassen (MT 2). 2. Aufl. Göttingen: Hogrefe; 1992.
Gölitz D, Roick T, Hasselhorn M. Deutscher Mathematiktest für vierte
Klassen (DEMAT 4). Göttingen: Hogrefe; 2004.
*Grünke M. Zur Effektivität von Fördermethoden bei Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen. Eine Synopse vorliegender MetaAnalysen. Zeitschrift für Kindheit und Entwicklung. 2006; 15:
239–254, Göttingen: Hogrefe.
Haffner J, Baro K, Parzer P, Resch F. Heidelberger Rechentest (HRT 1–4).
Erfassung mathematischer Basiskompetenzen im Grundschulalter.
Göttingen: Hogrefe; 2005.
K-ABC: Kaufman-Assessment Battery Scale for Children. Deutschsprachige Fassung: Melchers P, Preuß U. 5., korrig. und erg. Aufl. Frankfurt am Main; 2001.
Kaufmann L, Handl P, Thöny B. Evaluation of numeracy intervention
program focusing on basic numerical knowledge: A pilot study.
Journal of Learning Disabilities. 2003; 36: 564–573.
Krajewski K, Küspert P, Schneider W, Visé M. Deutscher Mathematiktest für erste Klassen 1 (DEMAT 1+). Göttingen: Hogrefe; 2002.
Krajewski K, Liehm S, Schneider W. Deutscher Mathematiktest für
zweite Klassen (DEMAT 2+). Göttingen: Hogrefe; 2004.
Lorenz JH, Radatz H. Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht. Hannover: Schroedel; 1993.
Remschmidt H, Schmidt M, Poustka F, Hrsg. Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter
nach ICD-10 der WHO, 5. Aufl. Bern: Huber; 2006.
Roick T, Gölitz D, Hasselhorn M. Deutscher Mathematiktest für dritte
Klassen (DEMAT 3+). Göttingen: Hogrefe; 2004.
Samstag K, Sander A, Schmidt R. Diagnostischer Rechentest für 3. Klassen (DRE 3). Göttingen: Hogrefe; 1992.
Warnke A, Küspert P, Plume E. Rechenschwäche. In: Lauth GW, Linderkamp F, Schneider S, Brack UB, Hrsg. Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Hogrefe; 2007.
*Wejda S. Rechenschwäche – der Kampf mit den Zahlen. Hilfen bei
Dyskalkulie. Berlin: Cornelsen; 2004.
ZAREKI: Neuropsychologische Test-Batterie für Zahlenverarbeitung
und Rechnen bei Kindern, Manual: von Aster M. 2., korrig. Aufl.
Frankfurt am Main: Swets und Zeitlinger B. V. Testservices
GmbH; 2002.
12.4 Umschriebene motorische
Entwicklungsstörungen
Rainer Blank
Fallbeispiel
Julia, 9 Jahre, schreibt in der Schule zu langsam, kommt
nicht mehr mit und macht zunehmend Fehler. Wenn sie
längere Zeit schreibt, hat sie Schmerzen im Unterarm
bzw. an der Hand. Sie bastelt seit dem Kleinkindalter ungern, schnitt damals auch Formen recht grob aus, malte
kaum.
Bei der Untersuchung fällt eine „verkrampfte“ Stifthaltung
mit hohem Stiftdruck auf. Die Schrift erscheint noch
kaum automatisiert. Der Finger-Oppositionstest ist etwas
verplumpt, teilweise mit kontralateralen Synkinesien, Diadochokinese verplumpt, Finger-Nase-Versuch, Armvorhalteversuch mit unruhiger Handhaltung. Die Grobmotorik ist unauffällig. Der HAWIK ergibt durchschnittliche Werte.
Im Rahmen eines aufgabenspezifischen Trainings in der Ergotherapie mit entsprechenden täglichen Übungsaufgaben
zu Hause bessert sich die Problematik binnen 4 Monaten.
Das Kind hat noch weiterhin leicht auffällige neurologische
Zeichen, zeigt jedoch im Alltag keine wesentlichen Einschränkungen mehr.
& Grundlagen
Definition, Klassifikation und Symptomatik
Nach ICD-10 werden unter F82 sog. „umschriebene motorische Entwicklungsstörungen“ klassifiziert, nach DSM-IV
„entwicklungsbezogene Koordinationsstörungen“ (Developmental Coordination Disorder [DCD], 315.40). Die beste
deutschsprachige Entsprechung für DCD ist „Teilleistungsstörung im Bereich der Motorik“, da die Koordination der
Bewegung, streng genommen, nur einen Teil der hier tatsächlich beschriebenen Störungen darstellt. Weitere Synonyme der Störung sind Entwicklungsdyspraxie, motorische
Ungeschicklichkeit, „Perceptual Motor Dysfunction“ sowie
„Deficits in Attention, Motor Control and Perception“
(DAMP) (Gillberg 2003).
Das Störungsbild umfasst nach DSM-IV:
A) „motorische Koordination schwächer als durch Alter
oder Intelligenz erklärbar“;
12.4 Umschriebene motorische Entwicklungsstörungen
12
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& Weiterführende Informationen
einschließlich Internetadressen
167
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12
„allgemeine Ungeschicklichkeit, Schreibprobleme,
verzögerte Entwicklung motorischer Meilensteine“;
C) „Koordinationsprobleme interferieren mit schulischer Leistungsfähigkeit oder mit Alltagsfunktionen“;
D) „nicht durch definierte Bewegungsstörung oder neuromuskuläre Erkrankung definiert“;
E) „Kriterien für tiefgreifende Entwicklungsstörung
nicht erfüllt“.
Nach ICD-10 werden zusätzlich ein Intelligenzquotient
von mindestens 70 und eine Abweichung von 2 Standardabweichungen unterhalb der motorischen Leistungen eines
gleichaltrigen Kindes in einem standardisierten motorischen Testverfahren gefordert.
Nach ihrer gründlichen Analyse schlagen Geuze et al.
(2001) für den klinischen Gebrauch und für wissenschaftliche Zwecke getrennte Kriterien vor:
Für den klinischen Gebrauch raten sie zu den DSM-IVKriterien (qualitative Kriterien) sowie zusätzlich zu einem
quantitativen Kriterium, z. B. das Verfahren M-ABC mit
einem Cut-off beim 15. Perzentil. Dies soll zu einer Detektion von 75 % der Kinder mit umschriebenen motorischen
Entwicklungsstörungen führen. Die Hälfte der verbleibenden nichtdiagnostizierten 25 % der Kinder hätten isolierte
Schreibstörungen, die mit dem M-ABC nicht entdeckt werden (keine Schreibaufgaben). Die Spezifizität für eine Behandlungsindikation soll bei zusätzlich zu erfüllenden Kriterien (Alltagsrelevanz, Relevanz im Bereich der schulischen Leistungen) über 90 % liegen. Die v. a. im Schulalter
Tabelle 12.10 Phänomenologie von Schreibstörungen und mögliche Ätiologien
Schreibdruck ständig
erhöht
Kraftdosierung, somatosensorisches Defizit, kortikospinale
Störungen
Schreibdruck nimmt
während eines Graphems
oder bei längerem
Schreiben zu
Kraftdosierung, psychomotorische Problematik, (wenig
Übung)
Schreibdruck erniedrigt
Myopathie, kortikospinale
Störung (wenig Übung bzw.
physiologisch: nicht-dominante
Hand)
Alle oder spezifische
elementare Schreibbewegungen verlangsamt
bzw. auffällige
Automatisation von
Graphemen
Kortikospinale Störung,
zerebelläre Störung, extrapyramidale Störung (physiologisch:
nicht-dominante Hand, Entwicklung)
Nur komplexe
Schreibbewegungen verlangsamt
Visuodyspraktische Störung,
visuoperzeptive Störung,
psychomotorische Problematik
(Leistungsdruck), (physiologisch: nicht-dominante Hand,
wenig Übung, Entwicklung)
„Verschreiben“ sowie
häufig wechselnde
Formgebung
168
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (motorischer
Antrieb erhöht, Planungszeit
verringert), Lese-RechtschreibStörung (semantische Problematik etc.), schwere psychische
Störungen
wichtigen Schreibstörungen sind häufig komplexer Natur
und bedürfen einer genaueren Analyse (Tab. 12.10).
Das Störungsbild der motorischen Teilleistungsstörungen
setzt sich aus isolierten oder meist kombinierten Störungen
auf folgenden Funktionsebenen zusammen (Tab. 12.11):
Auf der Ebene der elementaren Funktionen werden Maximalkraftdefizite bei Kindern mit umschriebenen motorischen Entwicklungsstörungen sowie Koaktivationen als
Zeichen einer noch unreifen segmentalen motorischen
Steuerung und Organisation beobachtet (Raynor 2001).
Auf der Ebene der basal-koordinativen Funktionen wurden Probleme mit dem Timing von Bewegungen sowie
mit der Kraftkontrolle und -dosierung bei der Objektmanipulation gezeigt (Pereira et al. 2001; Pitcher et al. 2002).
Auffällige sensomotorische Leistungen können sich z. B.
beim Nachmalen von Figuren oder beim Nachfolgen von
Bewegungen bemerkbar machen oder auch bei „verkrampfter“ Objektmanipulation, bei häufigem Entgleiten oder
Zerbrechen von Gegenständen vorliegen.
Die Kinder mit umschriebenen motorischen Entwicklungsstörungen zeigen bei Gesten nach auditivem Kommando eher Schwierigkeiten als nach visuellem, taktilem
sowie visuellem mit taktilem Input (Zoia et al. 2002).
Auf der Ebene der motorischen Organisation (Praxie), d. h.
bei der Planung und Integration von Bewegungen zu Handlungen und deren Automatisation, bestehen häufig Schwierigkeiten. Beispiele sind fehlerhafte Reihenfolge oder Richtungsumkehr beim sog. Finger-Oppositionstest. Schwierigkeiten im Bereich der internen Repräsentanz von visuo-spatialen Koordinaten willkürlicher Bewegungen (Handlungsplanung!) sind beschrieben (Wilson et al. 2001).
Auffällige Wahrnehmungsleistungen wurden nur bezüglich der Kinästhesie gefunden (Coleman et al. 2001), nicht
hingegen im visuellen oder taktilen Bereich (Schoemaker
et al. 2001).
Eigene kinematische und kinetische Daten zeigen auffällige Elementarfunktionen bei etwa 12 %, auffällige
basal-koordinative und sensomotorische Funktionen bei
ca. 30 % der Patienten mit feinmotorischen Teilleistungsstörungen. Bei 80 % finden sich kombinierte Störungen,
nur ca. 20 % der Kinder zeigen isoliert Störungen der motorischen Organisation („isolierte Dyspraxie“).
Tabelle 12.11 Störungsprofil: Umschriebene motorische Entwicklungsstörungen
*
*
*
*
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B)
Störungen auf elementarer Ebene
(Kraftdefizit, Verlangsamung einfacher Bewegungen;
DD: Bewegungsstörungen)
Störungen auf basal-koordinativer Ebene
(Kraftdosierung, Abstimmung von Kraft und Bewegung;
DD: Bewegungsstörungen)
Störungen auf sensomotorischer Ebene
(Integration von sensorischer Wahrnehmung und Handlungsplanung bzw. -durchführung; DD: visuoperzeptive
Störungen)
Bewegungs- bzw. Handlungsorganisation
(sequenzielle und/oder parallele sowie komplementäre
Durchführung von Bewegungen bzw. Objektmanipulation
ein- bzw. beidhändig; DD: Apraxie im Rahmen einer definierten hirnorganischen Störung)
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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Epidemiologisch wird eine Prävalenz von ca. 5–8 % beschrieben, wobei die erhebliche Variabilität durch die nosologische Unsicherheit der Diagnose bedingt ist. Zum Beispiel beschreiben Dunford et al. (2004), dass nur 38 % der
5- bis 10-jährigen Kinder, bei denen eine umschriebene motorische Entwicklungsstörung diagnostiziert wurde und die
für eine Ergotherapie vorgesehen waren, die DSM-IV-Kriterien erfüllten.
Ätiologie und Erklärungsmodell
Ätiologisch sind die Störungen entsprechend der Vielfalt
der funktionellen Störungsmuster (siehe Abschnitt „Definition, Klassifikation und Symptomatik“) vielgestaltig. Neben
kortikalen Funktionen scheint eine Involvierung u. a. von
Kleinhirnfunktionen wahrscheinlich (Geuze 2005). Möglicherweise spielen unreife Abstimmungsvorgänge zwischen
Zerebellum und entsprechenden Kortexregionen eine Rolle
(Unreife oder Dysfunktionalität des kortiko-ponto-zerebellären Regulationskreises).
Die sog. „Neuronal-Group-Selection“-Theorie bietet derzeit das am besten untermauerte Erklärungsmodell für die
Störungsgenese bzw. auch für Erfolge bestimmter Behandlungsmethoden (Hadders-Algra 2000).
Diverse psychische bzw. neuropsychologische Störungen
gehen gehäuft mit Auffälligkeiten der Finger-Hand-Motorik
einher, wie z. B. die Komorbidität mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei ca. 41 % und von
56 % bei Kindern mit Lern- bzw. Leistungsstörungen (Dewey
u. Wilson 2001; Macnab et al. 2001).
& Therapie
Diagnostik
Strategie
Nachdem ätiologisch keine Behandlungsmöglichkeiten bestehen, ist eine differenzierte funktionale Beschreibung
für die therapeutische Intervention von hoher Bedeutung.
Entscheidend für die Verordnung einer Therapie ist
1. die Frage der Alltagsrelevanz,
2. die Frage, ob bei Nichtbehandlung eine Aggravierung,
auch z. B. einer psychischen Begleitstörung droht,
3. die Frage, inwiefern die Partizipation im sozialen Kontext
des Kindes und der Familie eingeschränkt ist.
Diese Fragen müssen in einer entsprechenden Diagnostik
geklärt werden.
Allgemeine und spezifische klinische
Diagnostik
Die klinische Diagnostik umfasst:
Anamnese: Familienanamnese, individuelle Anamnese
einschließlich Fragen zu potenzieller Ätiologie (Hinweise
für hirnorganische Störungen bzw. Störungen des neuromuskulären Systems, zentral wirksame Medikamente?).
& Spezifische Störungsanamnese: Was? Mit welchen konkreten Auswirkungen im Alltag? Seit wann? Welche bisherige Diagnostik, welche Therapieversuche? In welcher
Intensität und über welchen Zeitraum?
& Allgemeine Fragebogenverfahren: Erhebung von Alltagsfunktionen bzw. entwicklungspsychologische Skalen,
Diagnostik von relevanten psychischen Begleitstörungen,
v. a.
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung,
psychoorganische Störungen, Gedächtnisstörungen.
& Spezifische Fragebogenverfahren auf Störungsebene: DCDQ, M-ABC-Checklist, bzw. auf der Ebene der Alltagsfertigkeiten: z. B. M-ADL (Blank 2007).
& Klinisch-neurologische Untersuchungen: Ziel ist primär
der Ausschluss einer sensorischen Störung und einer Bewegungsstörung aus dem kortikospinalen, extrapyramidalen oder zerebellären Regulationskreis sowie der Ausschluss von sensorischen/sensiblen Störungen. Klinische
Untersuchungen zur Praxie sollten von neuropsychologischen bzw. entwicklungspsychologischen Verfahren ergänzt werden.
– Sehfähigkeit? Gnosie? Hinweise für sensorische Störung?
– Reflexstatus: kortikospinale Zeichen wie z. B. Hyperreflexie, Rossolimo, Adduktorenreflex? Extrapyramidale
Zeichen, z. B. Schmetterlingsphänomen?
– Spontanmotorik und funktionell-neurologische Tests:
Halteversuche mit Hinweisen für extrapyramidale Regulationsstörungen (Myoklonien, Hyperkinesien bei
Halteversuchen, choreoathetoide Bewegungen) oder
zerebelläre Auffälligkeiten (Intentionstremor, Dysdiadochokinese, auffällige Zielbewegungen) oder auffällige
motorische Organisation (Praxie), z. B. Finger-Oppositionstest mit sequenziellen Problemen, Synkinesien?
& Allgemeine und spezifische Motoriktests (siehe Abschnitt
„Standardisierte Testverfahren“).
& Allgemeine klinisch-psychologische Testverfahren (Intelligenzdiagnostik [K-ABC; HAWIK etc.], Diagnostik von
Aufmerksamkeitsstörungen [DLKG, CPT etc.]).
& Evtl. spezielle Diagnostik von Teilleistungsstörungen zur Erfassung von visuoperzeptiven Leistungen, Rechtschreibproblematik.
&
12
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Epidemiologie
Standardisierte Testverfahren
Standardisierte Testverfahren vermischen leider häufig die
verschiedenen funktionalen Ebenen mit der Folge von Unschärfen in der Diagnostik. Meist kann hiermit nur die Diagnose „auffällig“ vs. „unauffällig“ getroffen werden. Die
Übereinstimmung der Testverfahren ist mäßig (Crawford
et al. 2001) und daher nicht unumstritten.
12.4 Umschriebene motorische Entwicklungsstörungen
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Tabelle 12.12 Vorschlag zu einer differenzierten klinischen FingerHand-motorischen Untersuchung
Elementare Funktionen
*
*
*
Maximalkraft, Fingertapping, Handtapping
Einfache Zielbewegungen, nach Üben auch blind durchführbar (Finger-Nase-Versuch, Fingerzeige-Versuch, Zeigeversuch)
Repetitive Auf- und Abbewegungen mit dem Stift (möglichst
schnell): Aufstriche (links unten – rechts oben; aus dem
Handgelenk), Abstriche (links oben – rechts unten; aus den
Fingern)
Basal-koordinative Funktionen
*
*
*
*
Diadochokinese (einfache rotatorische Bewegungen)
Kreise mit dem Stift (repetitives Kreiseln auf der Stelle,
möglichst schnell, desgleichen große Kreise)
Einfache Objektmanipulation (Glas mit Wasser hochheben
und ausschütten)
Werfen und Fangen
Motorische Organisation (Handlungen) mit geringer
visueller Kontrolle
Sequenzieller Finger-Oppositionstest, simultane FingerDaumen-Opposition (Finger II-V sollen gleichzeitig den
Daumen berühren),
*
Knöpfen
*
Halbkreise (möglichst schnell, wie kreiseln, jedoch mit
Richtungsumkehr nach Halbkreis), eigenen Namen schreiben
*
Einfache standardisierte Testverfahren:
– Purdue-Pegboardtest: Einhändig: rechts, links; beidhändig:
simultan und sequenziell
– K-ABC (mit visueller und Gedächtniskomponente): Subtest
Handbewegungen
*
Sensomotorische (im Wesentlichen visuomotorische)
Funktionen (sensorisch stark kontrollierte Bewegungen)
*
*
*
Nachfolgebewegungen (Tracking)
Nachmalen, Abmalen, Abschreiben
Klinisch-psychologische bzw. neuropsychologische Testverfahren, z. B. DTVP-2 (visuomotorische Subtests)
Visuelle Wahrnehmung
*
Klinisch-psychologische bzw. neuropsychologische Testverfahren, z. B. DTVP-2 (visuoperzeptive Subtests), Teile des
K-ABC und anderer Intelligenzverfahren etc.
Komplexe Funktionen
*
*
Bauen bzw. Nachbauen mit Legobausteinen oder Holzklötzen
Nicht geübten Satz schreiben
DTVP = Developmental Test of Visual Perception
170
Hinzu werden häufig freie Malaufgaben, Malen von Haus,
Baum und Mensch, und andere feinmotorische Aufgaben
durchgeführt. Von entwicklungspsychologischer Seite
kommen Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung bzw. der Developmental Test of Visual Perception
(DTVP-2), die motorische Leistungsserie (Hamster 1980).
Andere klinisch-psychologische Testverfahren oder Untertests von anerkannten Intelligenzverfahren wären zu ergänzen (z. B. SON-R oder CFT, Subtest Handbewegungen
der Kaufman-Assessment Battery for Children).
Die Korrelation der Komplexität der motorischen Aufgaben mit psychischen und kognitiven Hintergrundvariablen (v. a. Aufmerksamkeit und Gedächtnis) erschwert die
Diagnostik.
Nach unserer Erfahrung – auch vor dem Hintergrund
langjährig angewandter kinematischer und kinetischer
Untersuchungen – hat sich ein systematisches stufenweises
Vorgehen als erfolgreich erwiesen (Tab. 12.12).
Indikation zur Behandlung
Die Indikation zur Behandlung richtet sich nach der Relevanz für die Erledigung von Alltagsfertigkeiten bzw. für
die Bewältigung schulischer Aufgaben. Nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit (ICF) geht es bei
der Indikation von Behandlungen in erster Linie um Zielsetzungen im Bereich der „Activities“ und der „Participation“, d. h. der Alltagsfunktionalität und der Teilhabe in der
Gesellschaft, wobei auch Umweltfaktoren beachtet werden
müssen (Förderung von häuslicher, schulischer, öffentlicher
Seite).
Bei feinmotorischen Störungen ist eine Behandlung oder
spezielle Förderung in der Vorschulphase gerade als Vorbereitung auf den Schreiblernprozess, der vielen ungeschickten Kindern besonders schwerfällt, sehr wichtig. Besonderes Augenmerk sollte daher bei Schulkindern dem Schreiben gelten, das in besonderer Weise schulische Leistungen
beeinflussen kann. Zuweilen kann eine motorische Schreibstörung auch eine Rechtschreibstörung vortäuschen, da die
Kinder sehr viel Energie auf das mechanische Schreiben verwenden müssen oder aus Langsamkeit einfach nicht mehr
mitkommen. Daher empfehlen wir, bei jedem Verdacht auf
eine Rechtschreibstörung eine motorische Schreibstörung
auszuschließen.
Die psychosoziale Bedeutung der motorischen Entwicklungsstörung spielt ebenfalls eine Rolle. Dabei ist zu beachten, dass bereits geringe motorische Funktionsstörungen
gelegentlich zu erheblichen Eingliederungsproblemen, Verlust des Selbstwertgefühls und anderen sekundären psychischen Problemen führen können und damit die oben genannte Teilhabe in der Gesellschaft einschränken.
Bestehen gleichzeitig Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen oder eine Hyperaktivität, so sollten weitergehende Therapiemaßnahmen einschließlich medikamentöser Maßnahmen, verhaltenstherapeutische bzw. psychotherapeutische Maßnahmen und Beratung der Bezugspersonen eingeleitet werden (siehe Kap. 16 „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen“).
Eine Behandlung ist aber nicht bei jedem Kind erforderlich. Insbesondere wenn es dem Kind, den Angehörigen und
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Das mit Abstand am häufigsten verwendete Testverfahren ist nach einer umfangreichen Analyse der MovementABC (50 % ), danach folgen mit deutlichem Abstand der Bruininks-Oseretsky-Test (Duger et al. 1999), der Gubbay’s Test
(Gubbay 1975) sowie der SCSIT von J. Ayres (Case-Smith
1991).
In Deutschland häufig angewandte Verfahren zur motorischen Teilleistungsdiagnostik sind:
& die motoskopische Untersuchung nach Touwen (Touwen
u. Kalverboer 1973),
& der Züricher Neuromotoriktest für 5- bis 13-jährige Kinder (Largo et al. 2001),
& der Körperkoordinationstest (KTK) oder
& der Motorik-Test für 4- bis 6-jährige Kinder (MOT4-6).
12 Umschriebene Entwicklungsstörungen
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Empirische Evidenz zur Therapie
Aufgabenspezifische und kognitive Interventionen, die sich
auf direktes Erlernen einer Fertigkeit konzentrieren, erwiesen sich als recht erfolgreich (Mandich et al. 2001; Schoemaker et al. 1994; Schoemaker et al. 2003; Wilson et al.
2002), wenngleich Empfehlungen in dieser Richtung noch
nicht als evidenzbasiert gelten können.
Demgegenüber sind Strategien, die auf die Behandlung
allgemeiner, meist deduktiv hergeleiteter zugrunde liegender Defizite abzielen, bis heute in ihrer Wirksamkeit unklar
geblieben. Immerhin zeigte sich perzeptuomotorisches
Training gleich oder besser wirksam als SI-Therapie nach
Ayres oder prozessorientierte Behandlung (Mandich et al.
2001). Allerdings fehlen weitgehend Studien mit Evidenzgrad I oder II nach Sackett.
Allgemeine Struktur der Therapie und
Therapieprogramme
Strukturell lassen sich die Therapien bzw. Therapieprogramme nach Barnhart et al. (2003) in sog. Bottom-upund Top-down-Strategien einteilen (Tab. 12.13):
Bottom-up-Strategien zielen auf die Behandlung von zugrunde liegenden Defiziten, z. B. durch selektive Übermittlung von sensorischer Information; diese interpretiert
das ZNS entsprechend und organisiert dann eine daran angepasste Bewegungsstrategie. Beispiele für entsprechende
Interventionen sind: sensorisch-integrative Therapie, prozessorientierte Behandlungsmethoden, allgemeines Wahrnehmungs- und Motoriktraining („Perceptual Motor Training“), weitere systemisch orientierte Ansätze (somatosensorisch ausgelöste Bewegungsmuster, z. B. im Rahmen der
Methode nach Vojta).
Tabelle 12.13 Therapieprofil: Umschriebene motorische Entwicklungsstörungen
Bottom-up-Strategien (BUS)
Top-down-Strategien (TDS)
Inhaltliche Ausrichtungen:
– Aufgaben- sowie alltagsorientierte Therapieformen (TDS)
– Kognitive Therapieformen (Bewegungsimagination) (TDS)
– Systemische Verfahren (Sensorisch-integrative Therapie
nach J. Ayres, Psychomotorik u. a.) (BUS)
*
Settings:
– Einzelsetting
– Gruppensetting
– Home training
*
Top-down-Strategien zielen v. a. auf kognitive und problemlösende Fertigkeiten ab, um z. B. die am besten geeignete Strategie für eine erfolgreiche Aufgabenbewältigung
auszuwählen und in den Alltagskontext zu implementieren.
Aufgabenspezifische und kognitive Interventionen fokussieren sich auf direktes Erlernen einer Fertigkeit. Diese wird
auf kleinere Schritte heruntergebrochen, und diese Teile
werden einzeln eingeübt, um dann wieder zur Fertigkeit integriert zu werden.
Kognitive Ansätze betonen aktive Problemlösestrategien,
z. B. nach dem GPDC-Schema:
& Goal: Was werde ich tun?
& Plan: Wie werde ich es tun, um die Aufgabe zu erledigen?
& Do: Los, tu es!
& Check: Wie gut war mein Plan, um die Aufgabe zu erledigen?
Verbales Kommentieren wirkt verstärkend. Auch das Üben
von Vorstellungen der motorischen Fertigkeiten („Imagery
Training“) zählt hierzu.
Aufgabenspezifische und kognitive Strategien erfordern
wiederholende Übung spezifischer motorischer Fertigkeiten. Sie ähneln stark den bekannten Strategien beim Erlernen von Musikinstrumenten.
An Therapieformen für motorische Teilleistungsstörungen stehen folgende Verfahren allgemein zur Verfügung:
& Physiotherapeutische Methoden, v. a. zur Verbesserung
von zugrunde liegenden leichten Bewegungsstörungen,
Körperwahrnehmung.
& Ergotherapeutische Methoden, v. a. zur Förderung alltagsrelevanter Fertigkeiten, motorischer Geschicklichkeit
und Körperwahrnehmung, aufgabenspezifischer feinmotorischer, graphomotorischer und visuomotorischer Fertigkeiten. Bei der Sensorischen Integrationstherapie (SITherapie) nach J. Ayres soll v. a. die taktile, propriozeptive
und vestibuläre Wahrnehmungsverarbeitung verbessert
werden.
& Mototherapie bzw. „Psychomotorische Therapie“: Über die
Bewegungserfahrung, häufig auch im Gruppensetting,
soll eine Verbesserung der motorischen Geschicklichkeit,
der Emotionalität, des sozialen Verhaltens sowie des
Selbstwertgefühls der Kinder erreicht werden.
Spezifische Ansätze im Rahmen der Ergo- und Physiotherapie definieren spezifische alltagsrelevante Ziele mit dem
Kind, planen konkrete Teilschritte und üben diese dann systematisch. Da das Training spezifischer Aufgaben, häufig
genau in einem Bereich, wo das Kind besondere Schwächen
zeigt, frustrierend sein kann, muss immer ressourcenorientiert und mit realistischen Zielvorgaben vorgegangen werden. Eine Bewertung der Teilziele z. B. im Sinne eines Global
Assessment Scalings (von -2 = „keine Veränderung oder
Verschlechterung“ bis 0 = „Ziel erreicht“ bzw. bis
+2 = „Ziel übererfüllt“) ist sinnvoll. Es sollten möglichst
nicht mehr als drei Ziele definiert und angegangen werden.
Eine Bewertung der Wichtigkeit der Therapieziele durch
den Patienten bzw. die Eltern und schließlich eine Bewertung der Patientenzufriedenheit zum Ende der Intervention
erscheint empfehlenswert. Ein solches patientenorientiertes Vorgehen setzt eine große Erfahrung und Kreativität
des Therapeuten voraus, da individuell immer wieder
12.4 Umschriebene motorische Entwicklungsstörungen
12
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den Pädagogen gelingt, sich weniger auf die Defizite als auf
die vorhandenen Fähigkeiten zu konzentrieren und wenn
der Lebensstil der Familie viele Möglichkeiten bietet, Bewegungserfahrungen zu erwerben, kann auf eine formale Therapie, v. a. bei Störungen der Großmotorik, verzichtet werden. Die Teilnahme an Sport- und Spielgruppen kann hier
bei guter Motivation ausreichend sein.
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Medikamentöse Therapie
Eine isolierte Teilleistungsstörung der Motorik ist i. d. R.
nichtmedikamentös zu behandeln.
Allerdings gibt es Hinweise, dass bei gleichzeitigem Vorliegen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung Stimulanzien eine günstige Wirkung auf die Motorik
haben (Flapper et al. 2006).
Eine günstige Wirkung von Omega-3-Fettsäuren z. B. auf
die Schulleistungen bei Kindern mit motorischen Teilleistungsstörungen wird diskutiert und als nebenwirkungsarme Behandlungsergänzung teilweise sogar empfohlen
(Richardson 2006). Ansonsten haben zentralnervös wirksame Medikamente (Neuroleptika, Antiepileptika) häufig
negative Wirkungen auf feinmotorische Leistungen.
Umfeldbezogene Maßnahmen
Da die Störungen der Motorik, v. a. der Finger-Hand-Motorik, erhebliche soziale Konsequenzen und v. a. schulische
Folgen nach sich ziehen, ist die Schule aktiv in den therapeutischen Prozess und die Evaluation der Maßnahmen
einzubeziehen. Zeitzuschläge sollten attestiert werden,
können allerdings im Gegensatz zur Lese-Rechtschreib-Störung nur sehr begrenzt tatsächlich in der Schule berücksichtigt werden, da von amtlicher Seite die entsprechenden
Vorgaben fehlen. Bei schweren motorischen Schreibstörungen muss eine Spezialbeschulung erwogen werden. Infrage
kommen Montessori-Schulen, heilpädagogisch orientierte
Schulen bzw. spezielle Privatschulen, die mit individuellen
Lehr- und Lernplänen und -methoden die behinderten Kinder spezifisch fördern.
& Prognose
Psychosoziale Folgen von motorischen Teilleistungsstörungen sind häufig (Chen u. Cohn 2003).
Gillberg und Kadesjo (2003) weisen darauf hin, dass das
Problem der feinmotorischen Entwicklungsstörung durch
die häufige Komorbidität (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, autistische Störungen) gerade von kinderpsychiatrischer Seite erhebliche Relevanz erhält. Ungünstigere Langzeitprognosen von Kindern z. B. mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und motorischen Störungen vs. ohne motorische Störungen werden beschrieben (Rasmussen u. Gillberg 2000).
Häufig gestellte Fragen mit Antworten
Psychotherapie
Psychotherapeutische Maßnahmen spielen bei der Behandlung der Komorbiditäten der motorischen Teilleistungsstörungen eine wichtige Rolle. Diese müssen v. a. auf die häufig
vorhandene Selbstwertproblematik und Misserfolgsorientierung der Kinder abzielen. Ansonsten sei in Bezug auf
die Behandlung der Begleitstörungen (v. a. Emotionalstörungen, Störungen des Sozialverhaltens) auf die entsprechenden Kapitel in diesem Buch verwiesen.
Eltern- und familienbezogene Maßnahmen
Die Eltern bzw. die unmittelbare Umgebung sind von Anfang an in die Therapie einzubeziehen. Dies gilt v. a. für
die Definition realistischer Ziele und das u. E. unumgängliche häusliche Üben und Umsetzen von Teilschritten.
Darüber hinaus müssen die im Abschnitt „Psychotherapie“ dargelegten psychotherapeutischen Maßnahmen bei
Komorbiditäten entsprechend in familienbezogene Maßnahmen eingebettet werden.
172
? Sind die Teilleistungsstörungen der Motorik nur ein vorübergehendes Reifungsproblem?
씰씰 Nur zum Teil. Zumindest bei deutlichen Störungen muss
von einer hohen Persistenz bis ins Erwachsenenalter ausgegangen werden, die die Berufswahl beeinflussen kann und
einen Risikofaktor für die langfristige psychosoziale Entwicklung darstellt.
? Wie lange soll eine ergotherapeutische Behandlung rezeptiert
werden?
씰씰 Eine längerfristige ergotherapeutische Behandlung sollte
heute grundsätzlich nach eingehender Diagnostik und funktioneller Beschreibung (z. B. Tab. 12.12) erfolgen. Ein zielorientiertes Vorgehen sollte von ärztlicher Seite zunehmend
eingefordert werden. Eine Dokumentation und Evaluation
der therapeutischen Teilschritte sowie eine regelmäßige
häusliche bzw. schulische Umsetzung der Maßnahmen
(„Hausaufgabenkalender“) sollten erfolgen. Mehrjährige unkontrollierte Therapien ohne klare Zielvorgaben und dokumentierte Teilzielerreichung sind nicht nur aus ökonomischer
Sicht abzulehnen, sondern als unsinnig einzustufen.
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nach geeigneten Lösungen und Strategien gesucht werden
muss. Dabei können Interventionen zur Motivierung auch
aus dem Spektrum der Bottom-up-Strategien entnommen
werden.
Insbesondere bei jüngeren Kindern kann häufig nicht so
spezifisch über längere Zeit gearbeitet werden. Hier müssen
ständig Variationen eingebaut werden, u. U. auch zuerst bestimmte Voraussetzungen, wie z. B. Bewegungsmotivation,
positive Einstellung zu bestimmten motorischen Aktivitäten, Konzentration und Fähigkeit zur Fokussierung erarbeitet werden. Gelegentlich müssen psychische „Blockaden“,
Verweigerungsverhalten, auch auf der Basis von Hintergrundkonflikten, mithilfe von psychotherapeutischen Herangehensweisen angegangen werden (siehe Abschnitt
„Psychotherapie“).
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Coordination Disorder:
http://www.dcd-uk.org/seminar1b.html.
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