Die Position des Wortakzents bei
Gräzismen im Spanischen.
Eine synchrone und diachrone Studie.
Josep Clusa
Draft, 23.07.2024
Abstract:
Diese Arbeit untersucht die Position des Wortakzents von Gräzismen
im Spanischen unter Berücksichtigung phonologischer Regeln sowie
historischer Faktoren. Der maßgebliche Einfluss der lateinischen
Pänultima-Regel wird anerkannt, jedoch durch Beispiele aus der
spanischen Sprachgeschichte relativiert, die auf den Einfluss anderer
Akzentmuster hinweisen, insbesondere aus dem Spanischen selbst,
aber auch aus dem Arabischen und Französischen. Die Studie
beleuchtet die Bedeutung von Gräzismen in der spanischen Sprache
sowie deren Rolle in Literatur, Wissenschaft und Religion in den
verschiedenen historischen Epochen bis hin zu Nebrija und der
Renaissance.
Key Words:
Gräzismen, Spanische Prosodie, Wortakzent, Lateinische PänultimaRegel
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ............................................................................................... 1
2. Der Wortakzent des Spanischen ............................................................. 4
2.1 Relative Freiheit: mögliche Akzentpositionen innerhalb eines Drei-Silben-Fensters .............. 4
2.2 Regelmäßigkeiten bei der Verteilung von Akzenten: Phonologische Beschränkungen .......... 5
2.3 Exkurs über Unmarkiertheit bei spanischen Kindergedichte und Kinderlieder ....................... 6
2.4 Markierte und supermarkierte Akzentmuster......................................................................... 7
2.5 Exkurs über Markiertheit in der Wissenschafts- und Literatursprache ................................... 8
2.6 Alle spanischen Akzentmuster auf einen Blick: Tabelle nach Hualde .................................... 11
3- Der Wortakzent des Lateinischen ......................................................... 15
3.1 Die lateinische Pänultima-Regel. ........................................................................................... 15
3.2 Quintilians irreführende Formulierung eines „Drei-Silben-Fensters“ für das Lateinische .... 16
3.3 Silbenquantität ...................................................................................................................... 18
3.4 Silbentrennung ...................................................................................................................... 19
4- Der Wortakzent des Altgriechischen..................................................... 21
4.1 Das Wesen des Akzents (Tonhöhenakzent) und die verschiedenen Tonbewegungen ......... 21
4.3 Die Position des Wortakzents bei altgriechischen Wörter .................................................... 23
4.4 Phonologische Beschränkungen: Das Dreimorengesetz........................................................ 25
5- Diachrone Betrachtungen zu der Betonung von spanischen Gräzismen 29
5.1. Einleitende Bemerkungen über die Ungleichzeitigkeit von Spanischem und Altgriechischem
..................................................................................................................................................... 30
5.2 Erste Gräzismen: Vorrömische Toponymen .......................................................................... 31
5.3 Erbwörtliche Gräzismen aus der Zeit der Hispania Romana ................................................. 33
5.4 Christliche Gräzismen ............................................................................................................ 36
5.5 Gräzismen aus der mittelalterlichen Bildungs- und Wissenschaftssprache (XIII Jahrhundert)
..................................................................................................................................................... 40
5.5 Gräzismen aus dem Arabischen............................................................................................. 44
5.6 Renaissance: Nebrija über die Eigenständigkeit der spanischen Prosodie am Beispiel von
drei Gräzismen............................................................................................................................. 47
6- Fazit und Ausblick ................................................................................ 50
Literaturverzeichnis ................................................................................. 51
Prosodia, en griego, sacando palabra de palabra, quiere dezir en latín, acento; en castellano,
quasi canto. Por que, como dize Boecio en la Música, el que habla, que es oficio proprio del
ombre, y el que reza versos, que llamamos poeta, y el que canta, que dezimos músico, todos
cantan en su manera. [...]. Y assí, el que habla, por que alça una sílabas y abaxa otras, en
alguna manera canta.
Antonio de Nebrija ((1980) [1492]: 137)
1. Einleitung
Nach welchen Regeln werden Gräzismen im Spanischen akzentuiert? Bereits ein Teil der zwei
wichtigsten Monographien, die es bisher zu spanischen Gräzismen gibt, widmet sich dieser
Frage (vgl. Fernández Galiano 1959: 70-72; Bergua 2004: 55-57, 77-80). Dabei herrscht
folgender Konsens: Die Position des Wortakzents werde zwar nach der sogenannten
Pänultima-Regel des Lateinischen in den meisten Fällen bestimmt – allerdings gäbe es zu
dieser Regel überaus zahlreiche Ausnahmen. Auf diese durchaus gemischte Lage wies schon
Fernández Galiano knapp und bündig hin:
[…] Es cuestión importante la del acento. Teóricamente las formas
transmitidas del griego o transcritas de esta lengua deberían atenerse a la regla
latina de la penúltima, y de hecho así ocurre en la mayoría de los casos; pero
las excepciones son muchas, y ante cada una de ellas hay que plantearse el
problema de hasta qué punto es o no posible ya restablecer la acentuación
„correcta“ (Fernández Galiano, 1959: 70)
Nun besagt die Pänultima-Regel des Lateinischen grob Folgendes:
Betone immer eine schwere vorletzte Silbe (A.ˈMĪ.CA „Freundin“, A.ˈMOE.NUS
„angenehm“,
MO.NU.ˈMEN.TUM
„Denkmal“), es sei denn, das Wort ist
mehrsilbig und die Pänultima ist dabei leicht, dann betone die Antepänultima
(ˈA.NI.MA „Seele“, ˈIM.PE.TUS „Andrang“ , ˈCA.LI.DUS „warm“).
Diese Regel (näher erläutert unten, 3.1) rechnet als schwer Silben mit Langvokalen bzw.
Diphthongen im Nukleus (wie die Pänultimas in A.MĪ.CA und A.MOE.NUS) sowie Silben mit
konsonantischer Coda (wie die Pänultima in MO.NU.MEN.TUM). Als leicht rechnet sie hingegen
Silben mit Kurzvokal im Silbenkern und keine Coda (wie die Pänultimas in A.NI.MA, IM.PE.TUS
und CA.LI.DUS).
1
In unserer Arbeit werden wir in der Tat feststellen, dass die Anwendung der
lateinischen Pänultima-Regel auf spanische Gräzismen oft inkonsistent ist. Betrachten wir
zunächst als Illustration folgende Daten:
Spanisch
Griechische Etyma
(1)
bo.ˈde.ga
ἀποθήκη „Behälter“
(2)
ˈcá.te.dra
καθέδρα „Sitz“
(3)
ta.ˈlen.to
τάλαντον „Talent, Pfund“
(4)
ˈcó.le.ra
χολέρα „Cholera “
(5)
ˈte.ma
θέμα „Thema, Satz“
(6)
ˈzoo
ζῷον „Lebewesen, Tier“
(7)
in.ter.ˈfo.no
lat. inter „zwischen“+ griech. φωνή „Stimme“
(8)
ca.ˈde.ra
καθέδρα „Sitz“
(9)
ˈí.do.lo
εἴδωλον „Gestalt, Götzenbild“
(10)
fi.lo.so.ˈfí.a
φιλοσοφία „Philosophie, Wissensliebe“
(11)
a.ˈtún
θύννος „Thunfisch“
(12)
pe.ro.ˈné
περόνη „Wadenbein“
(13)
E.cle.sias.ˈtés
Ἐκκλησιαστής „Buch von Prediger“
(14)
te.ˈlé.fo.no
τῆλε „fern“ + φωνή „Stimme“
(15)
mo.no.ˈte.ma
μόνος „allein“ + θέμα „Thema“
(16)
es.per.ma.to.ˈzoo
σπέρμα „Same“ + ζῷον „Lebewesen, Tier“
Beispiele (1) bis (7) stehen zunächst im Einklang mit der LPR. (LPR steht im Folgenden als
Abkürzung für Lateinische Pänultima-Regel).
Nehmen wir (1) bodega aus gr. ἀποθήκη. Es stimmt zwar, dass die vorletzte Silbe dieses
Wortes, [de], im Spanischen als leicht gezählt wird. Diese Silbe hat nämlich keine Coda, und
ohnehin gelten im Spanischen, anders als im Lateinischen, alle Vokale als kurz. Worauf es
jedoch bei der Anwendung der LPR auf spanische Gräzismen ankommt, ist das Gewicht der
Pänultima der griechischen Etyma.1 Nun ist im Fall von (1) bodega die vorletzte Silbe des
1
Zur wirklichen oder angeblichen Notwendigkeit, das griechische Etymon heranzuziehen, vgl. Eseverri
(1945: 12). Wir kommen weiter unten 2.6 und 3.2 darauf zurück.
2
Ursprungswortes lang [ἀποθήκη), weshalb bei Anwendung der LPR („Betone immer eine
schwere vorletzte Silbe“) dieses Wort im Spanischen eine paroxytone Betonung erhält.
Nehmen wir dazu ein zweites LPR-konformes Beispel. Bei (4) cólera findet sich im
griechischen Etymon einen einfachen Silbenkern bei der Pänultima [χο.ˈλέ.ρα], das heisst, die
vorletzte Silbe ist leicht. Bei Anwendung der LPR („Wenn die Pänultima leicht ist, dann betone
die Antepänultima) wird das Wort im Spanischen zum Proparoxytonon (ˈcó.le.ra), selbst wenn
die Prosodie des griechischen Ursprungsworts paroxyton war.
Beispiele (8) bis (15) verletzten allesamt die LPR. Das kann man in einigen Fällen
sofort an der Endbetonung erkennen. (11) atún, (12) electrón, (13) Eclesiastés verletzten
eklatant die LPR, die ein Wortakzentalgorithmus ist, der strikt kein Oxytonon erlaubt. Aber
auch bei (14) teléfono sehen wir einen Verstoß gegen die die LPR. Im griechischen Etymon
(*τῆλεφωνή, ein Neologismus gebildet aus τῆλε + φωνή), ist die Pänultima schwer [φω], so
dass es nach der LPR („Betone immer eine schwere vorletzte Silbe“) *te.le.ˈfo.no akzentuiert
werden müsste. Trotzdem wird teléfono im Spanischen zum Proparoxytonon (vgl. im
Widerspruch dazu LPR-konformes (7) in.ter.ˈfo.no ).
Schliesslich findet sich bei (10) fi.lo.so.fí.a und (15) mo.no.te.ma eine paroxytone
Betonung trotz leichter Pänultimas. Bei (10) filosofía entspricht dies zwar der ursprünglichen
altgriechischen Betonung (φι.λο.σοˈφί.α), nicht hingegen die lateinische (PHI.LO.ˈSO.PHI.A).
In vorliegender Arbeit setzen wir uns als Ziel, solche verschiedenen, oft miteinander
konfligierenden Betonungsmuster von spanischen Gräzismen näher zu beleuchten und zu
sortieren.
Die Frage, die uns vor allem beschäftigen wird, lautet: Wenn die Betonung spanischer
Gräzismen die Pänultimaregel des Lateinischen nicht einhält, welche andere Wortakzentregeln
gelten dann für sie? Sind es die des Spanischen selbst, die des Altgriechischen?
Möglicherweise auch die Regeln von anderen Sprachen, wie etwa Arabisch oder Französisch?
Oder gibt es in einzelnen Fällen überhaupt keine Regel für die Betonung von spanischen
Gräzismen?2
Die Untersuchung berücksichtigt sowohl synchronische als auch diachronische
Gesichtspunkte. Daher gliedert sich die Arbeit in zwei Teile: Im ersten Teil, der vorrangig
synchron ausgerichtet ist, erläutere ich die Wortakzentregeln der drei wichtigsten involvierten
Sprachen: Spanisch, Latein und Altgriechisch. Im zweiten Teil ordne ich dann Beispiele
2
Wir hoffen, die Ergebnisse unserer Arbeit können indirekt einen Beitrag zur Diskussion liefern, ob der spanische
Wortakzent im Allgemeinen regelgeleitet ist oder nicht (Gabriel/Meisenburg/Selig, 2013).
3
spanischer Gräzismen historisch ein. Dabei wird diachron aufgezeigt, in welcher Epoche und
über welche unterschiedlichen Wege die spanischen Gräzismen in den spanischen Wortschatz
gelangt sind.
Aus Platzgründen umfasst die diachrone Behandlung lediglich Daten von der Zeit der
Gründung Ampúrias (ca. 575 v.C.) bis zur Renaissance sowie der Veröffentlichung von
Nebrijas Arte de la lengua castellana (1492). Dies sollte jedoch kein wesentlicher Nachteil
sein. Es lässt sich jedenfalls argumentieren, dass bereits in dieser langen Periode die Weichen
für die weitere Übernahme moderner Gräzismen gestellt wurden.
2. Der Wortakzent des Spanischen
Spanisch hat keinen gebundenen Akzent. Zwar gibt es eine limitierende Regel, die
ausnahmslos gilt: Das sogenannte Dreisilbenfenster. Danach muss der Hauptakzent auf eine
der letzten drei Silben fallen, so dass Betonungsmuster wie *ré.gi.me.nes als
ungrammatikalisch angesehen werden. Innerhalb dieser drei letzten Silben kann sich der
Akzent jedoch relativ frei bewegen.
2.1 Relative Freiheit: mögliche Akzentpositionen innerhalb eines Drei-Silben-Fensters
Wir finden entsprechend drei mögliche Akzentmuster für Wörter im Spanischen. In
griechischer Terminologie sind Wörter: Proparoxytona (Betonung auf der drittletzten Silbe,
sp. palabras esdrújulas), Paroxytona (Betonung auf der vorletzten Silbe, sp. palabras llanas)
und Oxytona (Betonung auf der Endsilbe, sp. palabras agudas).
Hier ein paar Beispiele, beschränkt auf die Wortart der Nomina3:
Proparoxytona (esdrújulas)
Paroxytona (llanas)
Oxytona (agudas)
ha.bi.ˈtá.cu.lo
ha.bi.ta.cion.ˈci.ta
ha.bi.ta.ˈción
— — ˈ— — —
— — — — ˈ— —
— — — ˈ—
Die Freiheit innerhalb des Drei-Silben-Fensters kann aber nur demonstriert werden,
wenn bei identischer Abfolge von Segmenten die Position des Akzents einen
3
Unsere Untersuchung beschränkt sich auf diese Wortart, obwohl es Gräzismen bei anderen Kategorien
gibt, sogar bei Präpositionen (cada) und im Altspanischen Konjunktionen (maguer).
4
Bedeutungsunterschied bewirkt. Eine Bedeutungsänderung geschieht zwar nicht zwangsläufig:
Bei
ˈfút.bol
oder
fut.ˈbol
zum
Beispiel
ergibt
der
Akzentwechsel
keinen
Bedeutungsunterschied, der Unterschied ist nur diatopisch bedingt.4 In den Minimalpaaren
ingles/inglés („die Leisten/Englisch“), púlpito/pulpito („die Kanzel“/ „kleiner Oktopus“) oder
plato/plató („Teller“/ „Fernsehstudio“) erfüllt der Akzent allerdings eine distinktive Funktion.5
Unsere Beispiele könnten den Eindruck erwecken, als sei die Position des Akzents
innerhalb des Drei-Silben-Fensters beliebig. Dem ist nicht so. Zum einen sollte man die
distinktive Funktion des Akzents im Spanischen nicht überbewerten. Minimalpaare, zumindest
innerhalb der nominalen Wortartes, gibt es äußerst selten (Rico, 2019: 25-26). Zum anderen
gibt es phonologische Beschränkungen und/oder historische Faktoren, die die Position des
Wortakzents in hohem Maße berechenbar machen, d.h. diese Position ist keineswegs frei
verfügbar (Gabriel/Meisenburg/Selig 2013: 154).6 Wir wenden uns jetzt zunächst den
phonologischen Beschränkungen an, die Diskussion von historischen Faktoren wird uns später
beschäftigen.
2.2 Regelmäßigkeiten bei der Verteilung von Akzenten: Phonologische Beschränkungen
Antonio Quilis (1981: 333f) hat die Frequenz der drei Akzentpositionen im gesprochenen
Spanisch ausgewertet. Wortartübergreifend überwiegen die Paroxytona (palabras llanas:
79,50%). Danach folgen die Oxytona (palabras agudas: 17,86%). Proparoxytona dagegen
treten sehr selten vor (palabras esdrújulas 2,76%).
Welche nun sind die phonologischen Beschränkungen, die für ein solches Überwiegen
von Paroxytona und, in geringerem Masse, von Oxytona verantwortlich sind? Für die Wortart
der Nomina (Substantiva und Adjektiva) kann man folgende Regelmäßigkeiten feststellen:
•
Endet ein Wort auf Vokal, so ist das Wort paroxyton: ˈro.sa, ˈpue.blo,
ˈcon.de
•
Endet das Wort auf Konsonant (oder Gleitlaut), so ist das Wort oxyton:
ro.ˈsal, po.pu.ˈlar, vi.ˈrrey
4
In Spanien etwa wird in der Regel ˈfút.bol betont, in Mexico fut.ˈbol.
Diese kann lexikalische oder gramatikalische Art. Die distinktive Funktion ist im Verbalsystem
systematisch anzutreffen, der Akzent unterscheidet Tempora (canto - cantó) und Modi (cantara - cantará).
6
Im Bereich der verbalen Wortart ist die Lage wie bereits erwähnt anders. Wir klammern jedoch im
Folgenden diese Wortart aus und konzentrieren uns auf die nominale Klasse.
5
5
Laut Hualde folgen 95% Prozent der Nomina diesem Muster (Hualde: 223). Dieses Muster
kann also als das unmarkierte Muster im Spanischen gelten. Es gibt demgegenüber drei
markierte Muster, also Muster, die die gerade präsentierten Regelmäßigkeiten in der einen oder
anderen Form verletzen. Das sind i) alle proparoxytona, unabhängig davon, ob sie auf Vokal,
wie hélice, oder auf Konsonant, wie hipérbaton, enden; ii) oxytona mit vokalischem Auslaut,
wie zum Beispiel carmesí, iglú und maná; sowie iii) paroxytona, die auf Konsonant oder
Gleitlaut auslauten, etwa árbol, césped und hockey.
2.3 Exkurs über Unmarkiertheit bei spanischen Kindergedichte und Kinderlieder
Nach Jakobson (1969) lernen Kinder zuerst unmarkierte Formen, markierte Strukturen oft
später. Diese Bemerkung über kindlichen Spracherwerb trifft auch auf prosodische Muster zu.
Dies können wir anhand eines Kindergedichtes von Federico García Lorca verdeutlichen:
En lo alto de aquel monte
un arbolito verde.
Pastor que vas,
pastor que vienes.
Olivares soñolientos
bajan al llano caliente.
Pastor que vas,
pastor que vienes.
Ni ovejas blancas ni perro
ni cayado ni amor tienes.
Pastor que vas.
Como una sombra de oro
en el trigal te disuelves.
Pastor que vienes.
(García Lorca, aus: „ Cuatro baladas amarillas “, in: Primeras Canciones, 1922)
6
Alle Substantive und Adjektive dieses Kindergedichtes7 folgen den vorhin erwähnten
Regelmäßigkeiten. Nach der Reihenfolge des Auftretens:
Endet auf Vokal → Paroxytonon
Endet auf Konsonant/Gleitlaut → Oxytonon
ˈal.to
pas.ˈtor
ˈmon.te
o.li.ˈvar
ar.bo.ˈli.to
a.ˈmor
so.ño.ˈlien.to8
tri.ˈgal
o.ˈve.ja
ˈpe.rro
ca.ˈya.do
ˈsom.bra
ˈo.ro
Lorca vermeidet Proparoxytona. Er vermeidet auch Paroxytona, die auf Konsonant auslauten:
Das ansonsten markierte Muster árbol wurd im Text bewusst durch die Verkleinerung -ito bei
arbolito gemieden.
Andere Beispiele ließen sich leicht finden. Im bekannten Kinderlied „La Virgen de la
cueva“ wird das Proparoxytonon pájaros ebenfalls durch den Verkleinerungssuffix -itos
geblockt. So lautet die erste Strophe des Liedes: Que llueva, que llueva,/ la Virgen de la Cueva,/
los pajaritos cantan,/ las nubes se levantan./ ¡Que sí, que no,/ que caiga un chaparrón! Hier
wird allerdings konsonantisch auslautendes virgen zugelassen. Dies deutet darauf hin, dass
innerhalb der Markiertheit Grade gibt. Wir müssen jedenfalls die Unterschiede innerhalb der
markierten Muster genauer betrachten und terminologisch festhalten.
2.4 Markierte und supermarkierte Akzentmuster
Abweichende Akzentmuster lassen sich in zwei Gruppen unterteilen, in markierte sowie in
sogenannten supermarkierte Muster (auch: „außergewöhnliche Muster“).
7
8
Ob Lorca tatsächlich das Gedicht als Kindergedicht intendierte sei hier dahingestellt.
Im Text soñolientos. Die Regeln werden aber auf Formen in der Singular angewendet.
7
Markierte Muster sind das Spiegelbild der vorhin präsentierten Regeln:
•
Proparoxytona trotz vokalischen Auslaut: ˈpá.ja.ro, pen.ˈúl.ti.ma, si.ˈnéc.do.que
•
Oxytona trotz konsonantischen Auslaut: ˈár.bol, ˈvir.gen, ˈcón.dor
Nimmt man die Akzentstellung der unmarkierten Muster als Referenzpunkt, so ist die Position
des Akzents in diesen markierten Mustern jeweils eine Silbe nach links gewichen.
Letztlich finden wir die echten „outlier“: Die Supermarkierten. Sie sind ebenfalls in
zwei Gruppen unterteilt:
•
Oxytona trotz vokalischen Auslaut: pa.ˈpá, ti.ra.mi.ˈsú, pe.ro.né
•
Proparoxytona trotz konsonantischen Auslaut: a.ˈsín.de.ton, Jú.pi.ter, Jé.ni.fer
Nehmen wir wieder die markierte Akzentposition als Ausgangspunkt, so ist in der ersten
Gruppe der Akzent eine Silbe nach rechts gewichen, in einigen Fällen sogar buchstäblich, siehe
Jose > José; mama > mamá. In der zweiten Gruppe hingegen rückt der Akzent gleich zwei
Silben nach links. Beispielswesie finden wir statt unmarkiert *asindetón (vgl. electrón) oder
markiert *asindéton (vgl. nailon) die supermarkierte Betonung asíndeton.
2.5 Exkurs über Markiertheit in der Wissenschafts- und Literatursprache
Gräzismen stehen in dem Ruf, besonders markierte Formen zu sein. In der Wissenschafts- und
Literatursprache sind sie jedenfalls weit verbreitet. Über den übertriebenen Gebrauch von
esdrújulas in der gebildeten Sprache machte sich schon Tomás de Iriarte (1750-1791) im
folgenden Gedicht lustig:
Ello es que hay animales muy científicos
en curarse con varios específicos
y en conservar su construcción orgánica,
como hábiles que son en la botánica,
pues conocen las hierbas diuréticas,
catárticas, narcóticas, eméticas,
febrífugas, estípticas, prolíficas,
8
cefálicas también y sudoríficas.
[...]
caiga sobre su estilo problemático
este apólogo esdrújulo-enigmático.
(Tomás de Iriarte, „El gato, el lagarto y el grillo“, in Fábulas literarias9)
In der Literatur sind Gräzismen mit markierter Prosodie ebenfalls seit jeher präsent. Schon im
ersten spanischen Theaterstück, das anonyme Auto de los Reyes Magos (datiert von Menéndez
Pidal um ca. Mitte des 12 Jahrhunderts) finden wir folgende interessante Verse:
Idme por míos abades
y por míos podestades
y por míos scribanos
y por míos gramatgos
y por míos streleros
y por míos retóricos;
dezir m'han la vertad, si yace in escripto
o si lo saben elos o si lo han sabido.
(Auto de los Reyes Magos, Escena IV, Versos 13-20)
Sieht man einmal von abades ab, da abad zwar aus dem Griechischen ἀββᾶ stammt, letzendlich
jedoch aus dem Syrischen abbā für „Vater“ steht, so finden sich hier zwei Gräzismen. Zunächst
die unmarkierte Form gramatgos [gra.ˈmat.go], paroxyton aufgrund der Synkope der
postonischen Vokals. (Später wird diese Form durch „Relatinisierung“ zur heutigen üblichen
Form gra.ˈmá.ti.co). Dann jedoch schon markiert retóricos, ein Kultismus, bei dem wohl keine
Synkope stattgefunden hat.10
Als letzes Beispiel führen wir die Dichtung von Ruben Darío an, da dieser Autor
bewusst markierte prosodische Muster einsetzt, insbesondere oft Gräzismen wegen seiner
Vorliebe für die „heidnische Antike“ (siehe Lapesa, 1950: 444). Im gleichsam hispano-
9
Gräzismen sind von mir kursiv hervorgehoben worden.
Im Ubrigen fällt das paroxytone Wort estreleros auf. Der Kultismus astrónomo wird erst im 13 Jahrhundert
eingeführt.
10
9
latinisierenden Gedicht „Salutación del optimista“ kommen zahlreiche prosodisch markierte
Gräzismen vor. Ich hebe diese in Fett hervor, unmarkierte Gräzismen setze ich lediglich kursiv:
Ínclitas razas ubérrimas, sangre de Hispania fecunda,
espíritus fraternos, luminosas almas, ¡salve!
Porque llega el momento en que habrán de cantar nuevos himnos
lenguas de gloria. Un vasto rumor llena los ámbitos;
mágicas ondas de vida van renaciendo de pronto;
retrocede el olvido, retrocede engañada la muerte;
se anuncia un reino nuevo, feliz sibila sueña
y en la caja pandórica de que tantas desgracias surgieron
encontramos de súbito, talismánica, pura, riente,
cual pudiera decirla en su verso Virgilio divino,
la divina reina de luz, ¡la celeste Esperanza!
Pálidas indolencias, desconfianzas fatales que a tumba
o a perpetuo presidio condenasteis al noble entusiasmo,
ya veréis al salir del sol en un triunfo de liras,
mientras dos continentes, abonados de huesos gloriosos,
del Hércules antiguo la gran sombra soberbia evocando,
digan al orbe: la alta virtud resucita
que a la hispana progenie hizo dueña de siglos.
(Rubén Darío, „Salutación del optimista“)
Nach diesen Beispielen kann nicht überraschend sein, wenn Gräzismen gemeinhin mit einem
markierten Muster (proparoxytonen) assoziiert werden. Diese Assoziation ist naheliegend
wenn man Gräzismen mit cultimos der Wissenschaft- oder Literatursprache gleichsetzt; dann
fällt auf, dass viele von ihnen Proparoxytona sind. Eine solche einseitige Gleichsetzung von
Gräzismen mit cultismos wollen wir jedoch im Folgenden problematisieren.
10
2.6 Alle spanischen Akzentmuster auf einen Blick: Tabelle nach Hualde
Die nachfolgende Tabelle nach Hualde (2005: 223) bietet eine hilfreiche Übersicht aller
Wortakzentmuster des Spanischen, die wir bisher besprochen haben. Ich gebe sie zunächst
einmal mit genau den Beispielen von Hualde wieder. Die Gräzismen, die er in der Tabelle
aufnimmt, markiere ich dabei fett:
Endet auf Vokal
Endet auf Kons. / Gleitlaut
PAROXYTONA
OXYTONA
a) Unmarkiert (95%)
artista
calabaza
amargo
ignorante
tribu
tarea
b) Markiert
canción
espectador
feliz
francés
pared
paipay11
PROPAROXYTONA
vehículo
simpático
sábana
helicóptero
área
c) Außergewöhnlich
PAROXYTONA
árbol
lápiz
examen
útil
césped
OXYTONA
papá
jabalí
dominó
café
canesú
PROPAROXYTONA
síntesis
régimen
Júpiter
Álvarez
ómicron
Hualde (2005: 223)
Die fettgedruckten Gräzismen befinden sich ausnahmslos im Bereich der markierten bzw.
supermarkierten Muster. Sie sind alle Proparoxytona und kontrastieren stark mit den
unmarkierten Formen, die bis auf wenige Ausnahmen Erbwörter von lateinischer Abstammung
sind: amargo < AMARUS; espectador < SPECTATOR; feliz <
11
FELIX,
etc.12
Art Lüfter aus den Philippinen.
Ausnahmen: paypay (philippinischen Ursprungs) und calabaza (unbekannten, eventuell vorrömischen
Ursprungs). Laut der RAE ist francés okzitanischen Ursprungs – dann durfte dieses Wort auf mittellateinisch
Francia + Suffix -és zurückzuführen sein.
12
11
Dass Gräzismen ein proparoxytonisches Akzentmuster aufweisen, legt auch die m.E.
bis jetzt wichtigste und umfassendste Studie von spanischen Gräzismen nahe, nämlich das
Buch von Jorge Bergua Los helenismos del español. In einem Kapitel, das den Gräzismen und
der spanischen Prosodie gewidmet ist – „Helenismos y prosodia española“ – stellt Jorge Bergua
zunächst fest, dass es eine „abundancia de esdrújulos“ sowie eine „escasez de agudos“ unter
den spanischen Gräzismen gibt (Bergua 2004: 55).
Die Rolle, die Bergua zufolge den Gräzismen innerhalb der spanischen Lexik zukommt,
könnte ferner folgendermaßen beschrieben werden: Sie bildeten ein Gegengewicht zur
„natürlichen Tendenz“ des Spanischen, llanas und agudas zu bevorzugen. Diese Tendenz hätte
fast alle esdrújulas aus dem spanischen Wortschatz verbannt (Bergua 2004: 55); doch
Latinismen und eben auch Gräzismen hätten für einen Ausgleich gesorgt. Als Fazit gibt Bergua
an:
Así que tanto los cultismos latinos como los griegos han cambiado un tanto
el paisaje prosódico del español, sobre todo del culto y científico, pues lo
cierto es que en el habla común las palabras esdrújulas siguen teniendo una
presencia muy limitada; el tipo más frecuente de esdrújulo, el trisílabo (como
lógico) apenas supone un 0,95% del total de tipos léxicos acentuales, a
enorme distancia de las palabras átonas, llanas y agudas. Esto explica, por
otra parte, que los esdrújulos gocen del prestigio de lo raro (o, en términos
sociológicos, que sean portadores de un gran capital simbólico) [...] (Bergua,
2004: 55-56)
Dieses Fazit zu den Gräzismen ist zwar grundsätzlich zutreffend. Es verhindert jedoch
gleichzeitig eine Betrachtung der ganzen prosodischen Vielfalt von Gräzismen. Bergua
beschränkt sich auf Kultismen und betont innerhalb dieser Klasse auch noch nur die
Proparoxytona.
Wir wollen unseren Blick aber auf alle Wortakzentmuster und auf Wörter aller
Registerebenen erweitern. Um diese Vielfalt auf einen Blick sichtbar zu machen, modifizieren
wir Hualdes' Tabelle. Wir füllen sie ausschließlich mit Gräzismen auf. Wir behalten, ohne sie
zu markieren, die Gräzismen, die in Hualdes' Tabelle bereits enthalten waren. Alle neue
hinzugekommenen Gräzismen sind fett gedruckt:
12
Endet auf Vokal
a) Unmarkiert (95%)
Endet auf Kons. / Gleitlaut
PAROXYTONA
zumo
cima
cuerda
guitarra
cadera
plaza
b) Markiert
OXYTONA
atún
Eclesiastés
camarón
bautismal
papel
arroz
PROPAROXYTONA
plátano
simpático
sábana
helicóptero
área
c) Außergewöhnlich
PAROXYTONA
cáliz
crisis
herpes
iris
ántrax
OXYTONA
PROPAROXYTONA
síntesis
sífilis
páncreas
Sófocles
ómicron
acné
frenesí
peroné
espermatozoo
evohé
Modifiziert nach Hualde (2005: 223)
Gräzismen sind nun gleichmäßig in allen Kategorien vertreten. Die Behauptung von Bergua
(2004: 55), dass es bei Gräzismen eine „abundancia de esdrújulos“ und eine „escasez de
agudos“ gäbe, trifft hier nicht zu. Diese Feststellung lässt sich daher allenfalls im relativen
Sinne vertreten, das heisst, wenn man alle Gräzismen im spanischen Lexikon nimmt und die
relative Häufigkeit von Betonungsmustern festhält.
Es ist zwar Tatsache, dass es eine überbordende Fülle von Proparoxytona in GräzismenWörterbüchern wie Eseverris (1945) gibt. Buchstäblich sind es „decenas de miles“. Diese Zahl
ist jedoch leicht irreführend, da viele dieser Wörter, wenn überhaupt, nur dem passiven
Vokabular gehören, wenn nicht gerade bloss dem potentiellen.
Um sich diesen Sachverhalt vor Augen zu führen, schlage ich als Experiment vor, eine
Seite aus Eseverris Wörterbuch nach dem Zufallsprinzip aufzuschlagen. Hier die Beispiele aus
Seite 275 (das Wörterbuch umfasst 710 Seiten), geordnet nach Akzentposition:
13
Proparoxytona
Paroxytona
Oxytona
glicibarífano
glicemia
glicometría
glicinio
glicerina
glicodina
glicerofosfato
glicogénesis
glicirricina
glicógeno
glicogenia
glicólisis
glicohemia
glicolítico
glicopoliuria
glicómetro
glicoptalismo
glicósido
glicorrea
glicosidolítico
glicosa
glicosismo
glicosuria
glicuria
glifo
glioma
glioso
Vermutlich ist keines dieser Wörter Teil des passiven Vokabulars, geschweige denn des
aktiven Vokabulars, von durchschnittlichen Spanischsprechern. Diese Wörter gehören eher zu
derem potentiellen Wortschatz, vorausgesetzt jedoch, dass diese Sprecher einige Kentnisse des
Altgriechischen besitzen. Doch selbst wenn diese Wörter geläufig wären: Auf dieser zufälligen
Seite von Eseverris Wörterbuch gibt es eine Fülle von llanas, nicht von esdrújulas, anders als
Bergua suggeriert.
Wie auch immer, Berguas Fokus auf esdrújulas deutet auf ein Verständnis von
Gräzismen hin, das sie, wie bereits mehrfach betont, mit Kultismen gleichsetzt, unabhängig
davon, ob es sich um gelehrte Entlehnungen aus der Antike handelt oder um moderne
Neologismen aus Technik und Wissenschaft. Diese Reduktion von Gräzismen auf Kultismen
verstärkt möglicherweise die Annahme, dass bei der „Regulierung“ ihrer Akzente die
lateinische Pänultima-Regel angewendet werden soll. Dies wird von Eseverri sehr deutlich
ausgedrückt (1945: 12):
Los derivados griegos regulan la acentuación no por el acento griego del
vocablo de origen, sino por la cantidad de la penúltima sílaba del mismo,
14
según las normas del acento clásico latino. (Eseverri 1945: 12; die
Hervorhebungen sind von mir).
Demnach sollte jeder Gräzismus, sofern er eine leichte Pänultima hat, automatisch zu einem
Proparoxytonon werden. Ferner sind gemäß dieser Annahme Oxytona schlicht und einfach
nicht vorgesehen. Dass dies allerdings die prosodische Vielfalt von Gräzismen eher
verschleiert, sollte anhand der modifizierten Tabelle von Hualde, mit Gräzismen in allen
Wortakzentspositionen, bereits sichtbar gemacht worden sein.
3- Der Wortakzent des Lateinischen
Ich werde später im diachronen Teil der Untersuchung auf diese Vielfalt zurückkommen. Jetzt
richten wir jedoch unseren Blick auf die lateinische Pänultima-Regel, die laut Eseverri
(abgesehen von angeblich peripheren Ausnahmen13) sozusagen das prosodische Gesetz für die
Gräzismen vorschreiben sollte. Worin besteht diese Regel genau?
3.1 Die lateinische Pänultima-Regel.
Die lateinische Pänultima-Regel (LPR) ist ein phonologischer Wortakzentalgorithmus, der sich
in folgende drei Regeln untergliedern lässt:
LPR(a)
Betone eine schwere Pänultima, wenn es eine gibt
LPR(b) Betone die Antepänultima, wenn die Pänultima leicht ist
LPR(c)
Falls es keine Antepänultima gibt, betone immer die erste Silbe
In Mehrsilbern kommen also nur zwei Silben für die Betonung in Frage: Die Pänultima und
die Antepänultima. Mehrsilbige Wörter fallen somit in den Anwendungsbereich von LPR(a)
und LPR(b). Bei Zweisilbern hingegen kommt nur die Betonung der Pänultima in Betracht,
weshalb sie dem Anwendungsbereich von LPR(c) zugeordnet werden. Allenfalls die Tatsache,
13
Die Ausnahmen, die Eseverri erwähnt, sind nicht sehr zahlreich Endungen auf -ía und „algunos
„helenismos de origen popular [...] influenciados por algunos poetas latinos de época posterior“, darunter
ídolo, yermo (Eseverri, 1955: 12). Ausnahmen werden bei Galiano und Bergua vollständiger angegeben und
eingeordnet.
15
dass lexikalische Einsilber immer betont werden, rechtfertigt die ansonsten missverständliche
Rede vom „Dreisilbengesetz“ im Lateinischen.
Hier ist eine Übersicht der möglichen Wortakzentpositionen je nach Silbenzahl:
Viersilber
Proproparoxytona
Proparoxytona
Paroxytona
Oxytona
*ˈRĪ.DI.CU.LUS14
PE.ˈRĪ.CU.LUM
OP.POR.ˈTŪ.NUS
*LA.TI. TŪ. ˈDO
VIC.ˈTŌ.RI.A
MO.NU.ˈMEN.TUM
ˈPRO.XI.MUS
A.ˈMĪ.CA
ˈDO.MI.NA
BE.ˈNIG.NUS
Dreisilber
Zweisilber
ˈMO.DUS
*RŪ. GŌ. ˈSUS
*TUR. ˈPIS
ˈFOR.TIS
ˈFĀ.TUM
ˈFOE.DUS
Einsilber
ˈMĒNS
ˈRĒS
ˈARS
ˈPĀX
3.2 Quintilians irreführende Formulierung eines „Drei-Silben-Fensters“ für das Lateinische
Die vorherige Tabelle verdeutlicht, dass der Akzent nur auf zwei Silben fallen kann: der
Pänultima und der Antepänultima. Die Ultima wird hingegen niemals betont. Die irreführende
Rede von drei betonbaren Silben geht jedoch bereits auf lateinische Grammatiker selbst zurück.
Ein Beispiel hierfür ist Quintilian:
Apud nos uero breuissima ratio: namque in omni uoce acuta intra numerum
trium syllabarum continetur, siue eae sunt in uerbo solae siue ultimae, et in
iis aut proxima extremae aut ab ea tertia. Trium porro, de quibus loquor,
14
Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass archaisches Latein den Wortakzent immer auf der ersten
Silbe hatte (Allen, 1965: 83). ˈQUIN.QUE.DE.CEM beispielsweise war ein erlaubtes Betonungsmuster. Dass
dieser Akzent ein Intensitätsakzent war, sieht man daraus, dass im Klassischen Latein der posttonische Vokal
synkopiert wurde: ˈQUIN.DE.CIM.
16
media longa aut acuta aut flexa erit, eodem loco breuis utique grauem habebit
sonum ideoque positam ante se, id est ab ultima tertiam, acuet. (Quintilian,
Institutio Oratoria, i, 5, 30)
Bei uns aber lässt sich die Erklärung der Regel äußerst kurz fassen: Denn in
jedem Wort ist die Silbe mit Akut innerhalb der Zahl von drei Silben enthalten,
mögen sie allein das Wort bilden oder nur die letzten drei Silben (eines mehr
als dreisilbigen Wortes) sein, und von diesen ist entweder die vorletzte oder
die drittletzte Silbe. Ist ferner von den drei Silben, von denen ich rede, die
mittlere lang, so wird sie entweder den Akut oder den Zirkumflex erhalten; ist
sie an derselben Stelle (also als Mittelsilbe) kurz, wird sie in jedem Fall den
Gravis haben und deshalb den Akut an die Silbe vor ihr, d.h. an die drittletzte
Silbe, abgeben. (Übersetzung von Wolfram Ax, in Quintilian, 2011: 48)
Diese Erklärung des lateinischen Wortakzents weist zwei Besonderheiten auf, von denen wir
bereits eine erwähnt haben: Quintilian spricht von drei Silben, innerhalb derer der Akzent
fallen sollte („in omni uoce acuta intra numerum trium syllabarum continetur“). Genau
genommen müsste er jedoch von lediglich zwei betonbaren Silben sprechen, um den
Unterschied zum Griechischen, den er machen möchte, deutlicher zu machen. Denn anders als
im Griechischen gibt es im Lateinischen keine Oxytona im Sinne von „auf der Ultima betont“.
Überraschenderweise formuliert das Quintilian auch in aller Deutlichkeit: „Es gibt bei jedem
Wort eine Silbe mit Akut, aber niemals die letzte („est autem in omni voca [acuta], sed [..]
[n]unquam ultima“, Quintilian, 2011: 50)15. Mit anderen Worten, bei Einsilbern wie PĀX oder
MĒNS ergibt
es nur Sinn, von Oxytona im allgemeinen Sinne zu reden, nämlich im Sinne von
„den Akut und nicht den Gravis tragend“.
Dies führt uns zur zweiten Besonderheit: die Rede von Akut, Gravis und Zirkumflex.
Bei Wörtern, die eine schwere Pänultima haben, spricht Quintilian von einer möglichen
Betonung mit Akut oder Zirkumflex; bei Wörtern, die eine leichte Pänultima haben, von einer
Abgabe des Akuts an die Antepänultima, während die Pänultima dann einen Gravis erhält. Dies
suggeriert, dass es verschiedene Tonhöhen sowohl auf betonten als auch unbetonten Silben
15
Es gibt jedoch Ausnahmen, insbesondere im Bereich der Adverbien, beispielsweise ILˈLIC „dort“ ADˈHUC
„bis jetzt“, auch beim Adjektiv NOSˈTRĀS „aus unserem Lande, einheimisch“ (Allen, 1965: 87). Solche
Formen werden dennoch oft als scheinbare Gegenbeispiele behandelt, nämlich als abgeleitete Formen von
Paroytona wie ILˈLI.CE, ADˈHU.CE, NOSˈTRA.TIS. Allen (1965: 87-88) diskutiert zudem den interessanten
Fall von Akzentwechsel bei klitischen Gruppen wie VIˈRUMQUE, aus ˈVI.RUM, + QUE.
17
existieren. Es gibt jedoch viele Argumente dagegen, Klassisches Latein als eine Tonsprache
aufzufassen, die über verschiedene Tonhöhenakzente verfügte (cf. Allen, 1965: 83-84). Es
scheint vielmehr, dass die meisten lateinischen Grammatiker, darunter auch Quintilian, die
Terminologie der Griechen unreflektiert auf die Prosodie ihrer eigenen Sprache übertragen
haben.16
Wie dem auch sei: Die Wortakzentregeln des Lateinischen sind im Wesentlichen
gewichtssensitiv. Insbesondere bei LPR(a) und LPR(b) wird genau auf das Gewicht der
Pänultima geachtet. Um den Akzent bei Mehrsilblern vorhersagen zu können, stellt sich daher
immer die Frage: Ist die vorletzte Silbe eine syllaba longa oder eine syllaba breuis?17 Diese
Frage setzt jedoch voraus, dass wir uns im Klaren darüber sind (i) wie die Silbenquantität
gemessen wird und (ii) wie die Silbentrennung im Lateinischen erfolgt.
3.3 Silbenquantität
Im Lateinischen gilt eine Silbe als schwer, wenn sie entweder einen Langvokal oder einen
Diphthong als Kern enthält, beispielsweise die ersten Silben in FĀ.TUM und FOE.DUS. Eine Silbe
wird dann auch als schwer betrachtet, wenn sie zwar einen kurzen Vokal als Kern hat, aber
dennoch eine Coda besitzt, wie zum Beispiel die vorletzten Silben in
BE.NIG.NUS
und
MO.NU.MEN.TUM. Eine Silbe wird hingegen als leicht gewichtet, wenn sie sowohl offen ist (keine
Coda hat) als auch einen Kurzvokal enthält, wie zum Beispiel alle Silben in
A.GRI.CO.LA.
MA.RE
und
Kurz gesagt: der Silbenreim ist entscheidend dafür, ob eine Silbe als schwer oder
leicht betrachtet wird. Ist der Silbenreim verzweigt, so zählt die Silbe als schwer. Ist der
Silbenreim nicht verzweigt, dann zählt die Silbe als leicht.
Zur leichteren Übersicht:
16
Ein Grammatiker, der dem griechischen Vorbild nicht folgt, ist Servius (ca. 4. Jahrhundert n.C). Der
Intenstitätscharakter des Akzents ist bei ihm klar definiert: „Accentus in ea syllaba est quae plus sonat.“
(zitiert in Allen, 1965: 84, Hervorhebung von Allen)
17
Bei Zweisilbern ist es diese Frage unerheblich, da die Pänultima ohnehin stets betont wird, ob longa, wie
bei ˈFOR.TIS oder ˈ FĀ.TUM, oder brevis wie bei MODUS.
18
Verzweigter
Silbenreim >
schwere Silbe
Unverzweigter
Silbenreim > leichte
Silbe
Verzweigter Nukleus -V:
-VV
LĪ.BER
„frei“
„lieblich“
Verzweigter Nukleus -VVC
+ einfache Koda
-V:C
PUEL.LA „Mädchen“
PĀC.TUS „vereinbart“
Einfache
Konstituenten
-VC
LON.GA
Einfacher Nukleus,
Verzweigte Koda
-VCC
BI.CEPS
Unverzweigter
Nukleus
-V
LI.BER
A.MOE.NUS
„lang“
„doppelköpfig“
„Buch“
VI.TA „Leben“
BRE.VIS „kurz“
3.4 Silbentrennung
Bevor wir das Gewicht einer Silbe bestimmen können, müssen wir sie zuerst als solche
identifiziert haben. Anders ausgedrückt, wir müssen die verschiedenen Segmente, aus denen
ein Wort besteht, zu Silben gruppieren (syllabieren). Diese Aufgabe ist alles andere als trivial,
insbesondere wenn es um die Betonung von spanischen Gräzismen geht, wie wir später sehen
werden.
Zunächst jedoch hier die lateinischen Regeln zur Syllabierung (ich folge hier Allen,
1965: 89-90):
1) Wenn eine Abfolge von zwei oder mehr Konsonanten vorliegt, gehört
zumindest der erste von ihnen zur ersten Silbe (das heißt, die erste Silbe wird
geschlossen sein):
MAG.NUS, SA.CER.DOS, CON.SPI.CI.O.
Dies gilt auch für
geminierte Konsonanten: AN.NUS, E.PI.GRAM.MA.
2) Ein einziger Konsonant gehört zu der darauffolgenden Silbe (was bedeutet,
dass die vorangehende Silbe offen wird): HO.NO.RI.FI.CUS,
PO.LY.PUS, SPA.THA.
Zu Regel 1 gibt es im Lateinischen eine wichtige Ausnahme in Bezug auf die sogenannten
„muta cum liquida“. Muta, also Plosive (p, t, c, b, d, g), gefolgt von Liquida (l, r), werden
19
zusammen mit diesen gruppiert und als Onset der darauffolgenden Silbe zugerechnet, wie zum
Beispiel bei den letzten Silben von CLE.O.PA.TRA, CA.THE.DRA, TE.NE.BRA und IN.TE.GRUM. Diese
Silbentrennung ist von Bedeutung für die Betonung. Ohne diese Ausnahme hätten diese Wörter
geschlossene und daher schwere Pänultimas, und wären folglich paroxyton: *CLE.O.ˈPAT.RA,
*CA.ˈTHED.RA, *TE.ˈNEB.RA, *IN.ˈTEG.RUM. Durch die Ausnahme und infolge von LPR(b) werden
sie jedoch zu Proparoxytona: CLE.ˈO.PA.TRA, ˈCA.THE.DRA, ˈTE.NE.BRA, ˈIN.TE.GRUM.
Bei spanischen Gräzismen ist die Frage der Silbentrennung von Konsonantenfolgen in
einer Hinsicht äußerst relevant. Nehmen wir zum Beispiel die spanische Lautkette /epigrama/.
Soll dieses Wort paroxytonisch oder proparoxytonisch betont werden? Wenn dieses Wort der
LPR entsprechen soll, dann hängt die Betonung von der Quantität der vorletzten Silbe ab. Doch
welche Sprache soll für die Quantität dieser Silbe maßgeblich sein: Spanisch, Latein oder
Griechisch? Spanisch scheidet aus, da gemäß den spanischen Syllabierungsregeln
(insbesondere der bei Hualde so genannten CV-Regel: „a consonant is always syllabified with
a following nucleus“, vgl. Hualde, 2005: 73) folgende Syllabierung entsteht: e.pi.gra.ma, was
zu einer leichten Pänultima führt. Wenn dann LPR(b) angewendet wird, würde dies zur
Betonung *e.pí.gra.ma führen. Die These wiederum, dass es auf die Silbe des griechischen
Etymons ankommt, haben wir bereits bei Crisóstomo Eseverri gefunden. Hier ist nochmal sein
Standpunkt in extenso:
Los derivados griegos regulan la acentuación, no por el acento griego del
vocablo de origen, sino por la cantidad de la penúltima sílaba del mismo,
según las normas del acento clásico latino. De suerte que:
Si la penúltima sílaba del vocablo griego del que procede el derivado,
está constituida por vocal larga o diptongo [...], el derivado castellano es
vocablo grave; v.gr., problema, de πρόβλημα; disnea, de δύσπνοια; y si la
penúltima sílaba está constituida por vocal breve, el acento no recaerá sobre
esa sílaba breve, sino sobre la anterior; v.gr., ἐπιγραφή, epígrafe; ἐκκλησία,
iglesia. (Eseverri 1945: 12; Hervorhebungen im Original).
Pragmatisch gesehen wäre es aber sicherlich nicht verkehrt, sich auf die Quantität des
vermittelnden lateinischen Wortes zu stützen. Legt man nämlich Klassisches Latein als
Standard zugrunde, kann man davon ausgehen, dass lateinische Entlehnungen in der Regel die
Silbenquantität griechischer Wörter mit großer Zuverlässigkeit genau übernehmen. Die
Schwere der Pänultima von gr. ἐπί.γραμ.μα wird beispielsweise in lat.
20
EPI.GRAM.MA
beibehalten.18 Darüber hinaus operieren Latein und (attisches) Griechisch mit nahezu
identischen Syllabierungsregeln. Bei ihren Entlehnungen orientierte sich Klassisches Latein
am attischen Dialekt, und die Ausnahme, die wir bei der Syllabierung von „muta cum liquida“
gesehen haben, existiert auch im Attischen Dialekt unter dem Namen Correptio Attica
(„Attische Verkürzung“).19
4- Der Wortakzent des Altgriechischen
Wir wenden uns nun den Wortakzentregeln im Altgriechischen zu. Obwohl bei spanischen
Gräzismen im Prinzip nur die Quantität der Silben im Griechischen für die Anwendung der
lateinischen Paenultima-Regel entscheidend ist, werden wir im diachronen Teil unserer
Untersuchung zeigen, dass auch die griechische Prosodie eine Rolle spielt und sich
gelegentlich sogar gegen die LPR durchsetzt. Eine detaillierte Untersuchung dieser Regeln ist
daher unerlässlich..
4.1 Das Wesen des Akzents (Tonhöhenakzent) und die verschiedenen Tonbewegungen
Der Akzent des Altgriechischen war im Wesentlichen melodisch statt intensitätsbasiert (Allen,
1968: 116). Mit anderen Worten: Altgriechisch war eine gemäßigte Tonsprache (Ternes, 1987:
120), zumindest bis zum 3. Jahrhundert (Allen, 1968: 130). Ab diesem Zeitpunkt entwickelte
sich der Akzent zu einem Intensitätsakzent, ähnlich dem heutigen Neugriechischen.
Schon Platon unterschied die beiden Töne des Altgriechischen (Crat. 399A): einen
hohen, „scharfen“ Ton (ὀξύς) und einen tiefen, „dumpfen“ Ton (βαρύς). Hinzu kommt der
Zirkumflex (auf Griechisch: περισπωμένη προσῳδία), der jedoch lediglich eine Abfolge von
hohem und dann tiefem Ton darstellt (also ὀξύς + βαρύς; vgl. die alternative Bezeichnung für
den Zirkumflex: ὀξύβαρύς, „scharftief“, Allen, 1968). Insgesamt gibt es also drei Tonakzente:
Hochton (H), Tiefton (T), und die Abfolge Hoch-Tief (H+T).
Diese Töne werden in der Schrift durch Akzentzeichen markiert. In der lateinischen
Terminologie bezeichnen wir sie wie folgt:
18
Durch Verlust von Geminaten wird die Pänultima im Spanischen leicht, e.pi.gra.ma. Siehe auch si.bi.la
(<si.byl.la < σί.βυλ.λα)
19
Anders in anderen Dialekten: Bei Homer zum Beispiel sind Abfolgen von Plosiven und Liquiden
heterosyllabisch. πατρός wird zum Beispiel πατ-ρός syllabiert, Silben werden dadurch also nicht „verkürzt“
(Allen, 1968: 108)
21
-
Der Akut (‘) steht für den hohen bzw. steigenden Ton, z.B. γένος, „Abstammung,
Geschlecht “
-
Der Gravis (`) steht für den tiefen bzw. fallenden Ton, z.B. ἀγαθὸν ἐστιν, „ist gut “
-
Der Zirkumflex (῀) steht für die Kombination aus Hoch- und Tiefton, also zuerst
steigend, dann fallend. Diese Kombination fällt entweder auf zwei Vokalen eines
Diphthongs (πνεῦμα [=πνέὺμα] „Hauch“) oder auf einen einzigen Langvokal (φῶς
[=φόὸς] „Licht“)
Unter diesen Akzenten ist der Akut derjenige, der als der Hauptakzent des Wortes betrachtet
wird. Der Akut erfüllt somit eine kumulative Funktion und wird bisweilen sogar als der
„herrschende Ton“ bezeichnet (κύριος τόνος, siehe Allen, 1968: 118). Nur eine Silbe, genauer
gesagt, nur ein Vokal im Wort, trägt diesen Hochton, während alle anderen Silben bzw. Vokale
im Verhältnis dazu einen Tiefton erhalten. 20
All
diese
Prominenzverhältnisse
wurden
in
einem
frühen
griechischen
Akzentuationssystem graphisch dargestellt. Dabei erhielt nicht nur der betonte Vokal einen
Akut, sondern auch alle unbetonten Vokale einen Gravis (Allen, 1968: 125):
(1) Θὲόδὼρὸς „Theodor“
Der Gravis könnte hier weggelassen werden, da er lediglich das Fehlen des Akuts signalisiert.
Diese Notation ist unökonomisch, möglicherweise ein Grund, warum sie sich nicht durchsetzen
konnte. Dennoch ist der Gedanke dahinter bedenkenswert; er erinnert an das Verfahren der
metrischen Phonologie, bei dem allen betonbaren Silben auf metrischen Gittern ein Schlag,
symbolisiert durch „*“, zugeordnet wird (Gabriel/Meisenburg/Selig, 2013: 163):
20
Über Vokale als Träger von Tönen, eher als Silben, und der damit verbundene Kontrast zwischen
„morenzählende“ und „silbenzählende“ Sprachen siehe Allen (1968: 116-117).
22
*
*
*
*
*
*
*
Θὲ
ό
δὼ
ρὸς
Der Hauptakzent in diesem Gitter ist durch die höchste Anzahl von Schlägen (3)
gekennzeichnet. ρὸς erhält zwei Schläge, was diese Silbe als Nebenakzent ausweist. In unserem
Notationssystem jedoch wird ρὸς genauso wie Θὲ und δὼ mit einem Gravis akzentuiert. Anders
ausgedrückt, der Gravis dient nicht zur Kennzeichnung von Nebenakzenten.
Doch welche genaue Funktion erfüllt dann der Gravis? Im heutzutage verwendeten
Akzentuationssystem, das auf byzantinische Grammatiker zurückgeht, wird der Gravis
jedenfalls nur an einer Stelle zugelassen: auf der Endsilbe. Dort erscheint er jedoch nur unter
der Bedingung, dass i) keine Pause und ii) kein enklitisches Wort folgt. Ein Beispiel hierfür ist
ὁ σοφός, „der Weise“, welches in der Syntagma ὁ σοφὸς κυβερνήτης, „der weise Steuermann“,
zum Barytonon σοφὸς wird. Im Gegensatz dazu behält σοφός den Akut in der Kombination
mit der enklitischen Partikel τις: σοφός τις, „ein gewisser Weise“.
Es ist nach wie vor nicht vollständig geklärt, warum diese Variationen je nach
syntaktischer Umgebung auftreten und welchen Ton hier der Gravis anzeigt (siehe Allen, 1968:
126). Die Funktion des Gravis würden wir weiter erörtern, wenn diese Phänomene für unsere
Untersuchung relevant wären. Auf der Ebene des Wortakzents ist jedoch die Unterscheidung
zwischen Gravis und Akut im Altgriechischen nicht so entscheidend wie möglicherweise in
höheren Ebenen der prosodischen Hierarchie, wie zum Beispiel bei klitischen Gruppen oder
Intonationsphrasen. In Lexikoneinträgen tragen ohnehin isolierte, endbetonte Wörter immer
einen Akut.
4.3 Die Position des Wortakzents bei altgriechischen Wörter
Im Griechischen gibt es, ähnlich wie im Spanischen, ein Drei-Silben-Fenster für den Akzent.
Im Gegensatz zum Lateinischen kann der Akzent also tatsächlich auf einer beliebigen der
letzten drei Silben, einschließlich der Endsilbe, auftreten. Allerdings dürfen nicht alle Arten
von Akzent auf allen drei letzten Silben stehen. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über
die zugelassenen Positionen je nach Akzentart.
23
Antepänultima
Pänultima
Ultima
Akut
ὀξεῖᾰ προσῳδῐ́ᾱ
Ja
Ja
Ja
Gravis
βαρεῖα προσῳδῐ́ᾱ
Nein
Nein
Ja
Zirkumflex
περισπωμένη
προσῳδία
Nein
Ja
Ja
Jede dieser Positionen hat einen technischen Namen. Wir beginnen mit den Bezeichnungen für
die Akutstellungen und geben dazu einige Beispiele:
Proparoxytonon
(Akut auf der Antepänultima)
θη.ρό.τρο.φος
„von
Paroxytonon
(Akut auf der Pänultima)
Wild θη.ρο.τρό.φος
Oxytonon
(Akut auf der Ultima)
„Wild πο.λι.τι.κὀς „politisch“
ernährt“
ernährend“
γλυ.κύς „süß“
ἄν.θρω.πος „Mensch“
παρ.θέ.νος „Jungfrau“
ὀ.ρός „Molke“
ὄ.ρος „Berg“
Wir sehen zunächst an den Minimalpaaren θη.ρό.τρο.φος „von Wild ernährt“ und
θη.ρο.τρό.φος „Wild ernährend“ sowie ὄρος „Berg“ und ὀρός „die Molke“, dass die Position
des Akuts einen Bedeutungsunterschied bewirken kann. Der griechische Akzent ist somit ein
freier Akzent mit einer phonologischen distinktiven Funktion. Diese Freiheit sollte jedoch auch
nicht überbewertet werden. Zum einen unterliegt der Akzent gewissen phonologischen Regeln,
ähnlich wie im Spanischen (siehe oben 2.1 und 2.2). Außerdem sind im Altgriechischen solche
Minimalpaare, zumindest im Bereich der Nomina, auch eher selten, wenngleich ein
interessantes Phänomen.21
Für den Gravis ist nur eine Position innerhalb eines Wortes zugelassen (Ultima), daher
gibt es nur die einzige Bezeichnung barytonon. Im folgenden Text des Eid des Hippokrates
sind alle Wörter, die auf der Endsilbe betont sind, Barytona:
21
Interessant sind insbesondere die wenigen Minimalpaare, in denen die Art des Akzents eine distinktive
Rolle spielt, beispielsweise φώς „Mann“ und φῶς „Licht“.
24
Ὄμνυμι Ἀπόλλωνα ἰητρὸν καὶ Ἀσκληπιὸν καὶ Ὑγείαν καὶ Πανάκειαν καὶ
θεοὺς πάντας τε καὶ πάσας, ἵστορας ποιεύμενος, ἐπιτελέα ποιήσειν κατὰ
δύναμιν καὶ κρίσιν ἐμὴν ὅρκον τόνδε καὶ συγγραφὴν τήνδε [...]22
Jedes dieser Barytona wird im Lexikon jedoch als Oxytonon aufgeführt, zum Beispiel ἰατρός
(„Arzt“), Ἀσκληπιός („Asclepius“) und συγγραφή („Verpflichtung, Vertrag“), da diese Wörter
isoliert im Lexikon erscheinen.
Für den Zirkumflex haben wir schließlich folgende Bezeichnungen:
Properispomenon
(Zirkumflex auf der Pänultima)
Perispomenon
(Zirkumflex auf der Ultima)
πο.λῖ.ται „die Bürger“
Σο.φο.κλῆς „Sophokles“
κα.κοῦρ.γος „Übeltäter“
παι.δῶν „der Kinder“ (gen.)
σῶ.μα „Körper“
παν.τα.χῆ „überall“
Hier sind noch einmal zur besseren Übersicht alle Bezeichnungen für die Akzente:
Akut
Antepänultima
Pänultima
Ultima
Proparoxytonon
Paroxytonon
Oxytonon
Gravis
Zirkumflex
Barytonon
Properispomenon
Perispomenon
4.4 Phonologische Beschränkungen: Das Dreimorengesetz
Welche phonologischen Faktoren bestimmen nun die Verteilung dieser sechs möglichen
„Akzente“? Hier kommen die recht komplizierten Regeln, sortiert nach Position des Akzents.
22
Ich schwöre, Apollon den Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen
zu Zeugen anrufend, dass ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen
werde [...]
25
Betonung auf der Antepänultima.
Diese Betonung ist nur zulässig, wenn der vokalische Kern der Ultima unverzweigt ist.
Ein Beispiel hierfür ist ἄν.θρω.πος, „der Mensch“, da das „ο“ immer kurz ist. Umgekehrt gilt:
Wenn der vokalische Silbenkern der Ultima verzweigt ist, d.h. einen langen Vokal oder
Diphthong enthält, ist der Akzent auf der Antepänultima ausgeschlossen. Ein Beispiel hierfür
ist ἀνθρώπου „des Menschen“. Bei der Flexion ist der Nukleus der Ultima verzweigt (o > ου),
deshalbt ist der Akzent eine Position nach rechts gerückt.
Kurz, die Zulässigkeit der proparoxytonen Betonung hängt von der Vokalquantität der
Ultima ab. Um diese Quantität zu erfassen, bietet sich der Begriff der Moras an. Ein Kurzvokal
dauert eine Mora, ein langer Vokal oder Diphthong in der Regel zwei Moras, ein „überlanger“
Vokal oder ein Tripththong drei Moras, obwohl diese Werte je nach Sprache variieren können
(Ternes, 2011: 119).23 Unter Anwendung dieser Terminologie kann jedenfalls für das
Altgriechische die Regel über die Betonung der Antepänultima wie folgt formuliert werden:
Wenn der Silbenkern der Ultima eine Mora zählt, dann darf der Akut auf der Antepänultima
liegen (zum Beispiel θάλᾰττᾰ, „die See“); nicht aber, wenn er zwei Moras zählt, (*θάλᾰσσης):
im letzteren Fall muss der Akut eine Silbe nach rechts rücken (θᾰλάσσης „der See“ [Genitiv]).
Diese Regel wird aus dem sogenannten Dreimorengesetz abgeleitet. Dieses besagt
(Ternes, 1987: 121), dass der Akzent auf eine der drei letzten Moras fallen muss. Eine
Betonung wie *θάλᾰσσης würde dieses Gesetz verletzen, weil der Akut auf der viertletzen
Mora fallen würde. (*θάλᾰσσης = *θάλᾰ́σσεες = *θά4λᾰ́3σσε2ε1ς).
Betonung auf der Pänultima.
Der Properispomenon, also der Zirkumflex auf der Pänultima, tritt nur auf, wenn der
Silbenkern der Ultima kurz ist, wie zum Beispiel σῶ.μᾰ, „der Körper“, πο.λῖ.ται24, „die Bürger“
und δῶ.ρον, „das Geschenk“. Bei einem langen Kern der Ultima kann die vorletzte Silbe jedoch
nur einen Akut tragen, wie bei δί.κη, „Sitte, Rechtsverfahren“, πο.λί.της „der Bürger“ [sg.] und
δώ.ρου „des Geschenkes“.
23
Nicht alle Diphthonge gelten als lang: αι und οι etwa gelten als kurz, vgl. οἱ ἄνθρωποι (N.Pl.: „die
Menschen“). Doch wenn diese zwei Vokale durch einen Konsonant gefolgt werden, gelten sie wiederum als
lang (τοῖς ἀνθρώποις, Dat.Pl.: „den Menschen“). Auf Details wie diese können wir nicht näher eingehen.
24
αι gilt als einmorig. Siehe vorige Fußnote.
26
Diese Regelhaftigkeiten lassen sich auch mit Hilfe der Terminologie von Moras
erfassen. Der Zirkumflex, wie wir gesehen haben, entspricht eigentlich einem Akut plus einem
Gravis. δῶ.ρον könnte demnach auch δóòρον geschrieben worden sein. Dabei wird deutlich,
dass der Akut (der Hauptakzent, s.o.) sich innerhalb des „Drei-Moren-Fensters“ befindet
(δó3ò2ρο1ν). *δῶρου hingegen wäre als *δóòρου zu schreiben. Dabei ist es leichter zu
bemerken, dass die Betonung außerhalb des Fensters liegt, nämlich auf der viertletzten Mora
(δó4ò3ρο2υ1).25
Betonung auf der Ultima.
Hier besprechen wir lediglich die Alternative zwischen Oxytona und Perispomena,
denn Barytona sind ein Spezialfall, da ihr Vorkommen hängt von der Anzahl von Moren
abhängt, sondern von der Position eines Wortes im Satz, wie oben bemerkt.
Kurz zusammegafasst: Der Akut kann sowohl auf kurzen (zum Beispiel βιωτός,
„lebenswert“) wie auf Langvokalen (zum Beispiel
δυστυχής, „unglücklich“) wie auf
Diphthonge (zum Beispiel πούς, „Fuß“) stehen. Hingegen darf der Zirkumflex nur auf
Langvokale (zum Beispiel Περικλῆς, „Pericles“) oder auf Diphthongue (zum Beispiel ὀστοῦν
„Knochen“; Attische Kontraktion von ὀστέον) liegen.
Das Dreimorengesetz kann nicht herangezogen werden, um im Einzelfall zwischen
Akut oder Zikumflex zu entscheiden, wenn die Endsilbe einen Langvokal oder Diphthong
enthält. Dass beide Akzente bei gleicher Abfolge von Segmenten auftreten können, ist äußerst
selten und führt auf jeden Fall zu einem Unterschied in der Bedeutung, wie bei φῶς [=φόὸς],
(„das Licht“) und φώς [=φοός] („der Mann“). Doch warum heißt es zum Beispiel Περικλῆς
und nicht *Περικλής, oder umgekehrt δυστυχής und nicht *δυστυχῆς? Der Unterschied wird
möglicherweise etymologisch oder morphologisch bedingt – eine phonologische Motivation
bietet sich aus meiner Sicht nicht an.
Noch eine letzte Anmerkung: Es ist wichtig, im Blick zu behalten, dass es in der
altgriechischen Prosodie gar nicht auf die Quantität der Silben ankommt, sondern
ausschließlich auf die Quantität der vokalischen Sibenkerne, insbesondere der Ultima. Zum
Beispiel hat das Wort φοῖνῐξ, „Purpurfarbe“, eine schwere letzte Silbe, aufgrund der
konsonantischen Coda (Doppelkonsonant ξ). Dennoch darf der Zirkumflex sehr wohl auf der
25
Bei δώρου fällt hingegen der Akut auf der zweiten Mora des Langvokals ώ, also eigentlich: δoóρου. Der
Akzent fällt somit genau auf die drittletzten Mora.
27
Pänultima stehen, da der Vokal der Ultima kurz ist (ῐ). Im Gegensatz dazu ist beim Wort φαίνω
der Zirkumflex ausgeschlossen, und zwar nicht, weil die letzte Silbe schwer ist, das ist sie zwar
auch, sondern weil der Silbenkern der Ultima zweimorig ist, also verzweigt (φαίνω= φαίνοο,
also φαί3νο2ο1).26
In dieser Hinsicht könnte der Unterschied vom Altgriechischen („morenzählend“) zum
Lateinischen („silbenzählend") nicht größer sein. Dennoch wurde in einigen Ländern
Westeuropas über Jahrhunderte hinweg – von etwa 1673 bis weit ins 20. Jahrhundert,
zumindest in England und Holland (siehe Details in Allen, 1968: 151-158) – die Prosodie des
Altgriechischen mit der des Lateinischen verwechselt. Tatsächlich wurde der Wortakzent des
Altgriechischen sogar der Penultima-Regel des Lateinischen unterworfen (Allen, 1968: 151).
Es wurde also empfohlen, die geschriebenen Akzente des Altgriechischen zu ignorieren und
nur auf das Gewicht der Pänultima zu achten. Über diese Unterwerfung der Prosodie des
Altgriechischen unter die des Lateinischen urteilte der schottische Philologe John Stuart
Blackie (1809-1895) zurecht:
They neglect the written accents which lie before their nose, and read
according to those accents which they have borrowed from Latin! ... And, as
if to place the top-stone on the pyramid of absurdities which they pile... they
set seriously to cram their brain-chambers with rules how Greek accents
should be placed, and exercise their memory and their eye, with a most
villanous abuse of function, in doing that work which should have been done
from the beginning by the ear! (Blackie, Pronunciation of Greek, accent and
quantity,1852, zitiert in Allen, 1968: 158)
Dieses scharfe Urteil auf die Praxis der Betonung der spanischen Gräzismen nach der
Lateinischen Pänultima-Regel zu übertragen wäre sicherlich vorschnell. Dennoch ist es erlaubt
zu fragen: Warum sollten wir bei der Betonung eines spanischen Gräzismus die LPR befolgen,
und dabei die geschriebenen Akzente des griechischen Etymons beiseite lassen? Es ließe sich
ebenso gut das umgekehrte Verfahren vorschreiben: Dass wir dem Akzent des griechischen
Etymons folgen, und dabei die LPR ignorieren sollten – ein Vorschlag, der tatsächlich von
einzelnen spanischen Gräzisten gemacht worden ist (beispielsweise Cirac,1960).
26
Die Beispiele stammen aus Allen (1968: 117).
28
Im Folgenden werden wir jedoch bei unserer diachronen Betrachtungen feststellen,
dass derartige normativen Forderungen, die an die Betonung von Gräzismen gestellt werden –
wie sie angeblich betont werden „sollten“ –, in der spanischen Sprachgeschichte durchaus
flexibel gehandhabt worden sind, wenn sie denn überhaupt beachtet wurden.
5- Diachrone Betrachtungen zu der Betonung von spanischen Gräzismen
Zu Beginn haben wir eine Liste von Gräzismen zusammengestellt und kurz kommentiert. Hier
noch mal zur Erinnerung:
LPR-Konforme Betonungen
Nicht LPR-konforme Betonungen
(1)
bo.ˈde.ga
ἀπο.θή.κη
(8)
ca.ˈde.ra
κα.θέδ.ρα
(2)
ˈcá.te.dra
κα.θέ.δρα
(9)
ˈí.do.lo
εἴ.δω.λον
(3)
ta.ˈlen.to
τά.λαν.τον
(10)
fi.lo.so.ˈfí.a
φι.λο.σο.φί.α
(4)
ˈcó.le.ra
χο.λέ.ρα
(11)
a.ˈtún
θύν.νος
(5)
ˈte.ma
θέ.μα
(12)
pe.ro.ˈné
πε.ρό.νη
(6)
ˈzoo
ζῷ.ον
(13)
E.cle.sias.ˈtés
Ἐκ.κλη.σιασ.τής
(7)
in.ter.ˈfo.no
lat. in.ter + griech.
φω.νή
(14)
te. ˈlé.fo.no
τῆ.λε + φω.νή
(15)
mo.no.ˈte.ma
μό.νος + θέ.μα
(16)
es.pe.ma.to. ˈzoo
σπέρ.μα + ζῷ.ον
Nach unserer Darstellung der LPR und ihrer Anwendung sollte bereits klar sein, warum (1) bis
(7) jeweils die Latenische Prosodie folgen, warum aber (8) bis 16) nicht.
In den kommenden Abschnitten setzen wir uns das Ziel, die historische Vielfalt der
prosodischen Wortakzentregeln von spanischen Gräzismen anhand von mehr Daten
aufzuzeigen. Wir wollen eine Skizze präsentieren, die nicht nur die lateinische PänultimaRegel als die Akzentregel von Gräzismen in den Blick nimmt, wie dies eindeutig bei Eseverri
(1945) der Fall ist, aber auch weitgehend bei Fernández Galiano (1967) und Bergua (2004)
anzutreffen ist. Unser besonderes Augenmerk liegt daher auf der Klassifizierung und
Einordnung von Mustern, die nicht der lateinischen Prosodie entsprechen.
29
Zur Einführung in die Untersuchung können uns zunächst die folgenden Hypothesen
als Leitfaden dienen:
-
Griechische Buchwörter (cultismos) folgen meist die Lateinische Pänultima-Regel: Cf.
(1) cátedra aus καθέδρα 27
-
Griechische Erbwörter (eine Subkategorie von Erbwörtern nicht lateinischen
Ursprungs, bzw. sogenannte palabras patrimoniales de origen no latino28) werden nach
dem eigenen spanischen Wortakzentmuster betont: cf. (7) cadera ebenfalls aus καθέδρα
-
Prosodische Gräzismen, also Akzentuierungen, die der ursprünglichen griechischen
Wortakzentregel folgen, sind oft auf das Prestige der altgriechischen Sprache im
Kontext der Religion und der Wissenschaft zurückführen: cf. (12) Eclesiastés und (9)
filosofía.
-
Gräzismen, die über andere Sprachen als Latein ins Spanische gelangt sind (qua
Gallizismen, Arabismen, Anglizismen usw.) folgen oft den phonologischen Regeln der
jeweiligen vermittelnden Sprache: cf. (11) peroné aus dem griechischen περόνη über
das Französische péroné und (10) atún aus θύννος via das Hispanoarabische attún.
Diese Hypothesen werden wir nun anhand einer chronologischen Darstellung überprüfen.
Angesichts der langen Geschichte der Gräzismen, die sich über ca. 2300 Jahre erstreckt,
werden wir lediglich einige der wichtigsten Etappen umreißen und uns aus Platzgründen auf
die wichtigsten Meilensteine bis zur Renaissance konzentrieren.
5.1.
Einleitende
Bemerkungen
über
die
Ungleichzeitigkeit
von
Spanischem
und
Altgriechischem
Das Paradoxe an der Geschichte der Gräzismen im Spanischen ist zunächst, dass Altgriechisch
und Spanisch nie in direktem Kontakt zueinander standen. Altgriechisch ist eine Sprache der
Antike, während Spanisch erst im Mittelalter entstand. Wie Bergua treffend feststellt: „Cuando
empieza a existir conciencia del castellano, en torno a los siglos IX-X, hace mucho que el
27
Erst dokumentiert in der Übersetzung Calila e Dimna, siehe Corominas (1980: s.v.).
28 Näheres bei 5.3.
30
griego antiguo o clásico ha dejado de ser tal“ (Bergua, 2004: 57).29 Dennoch hat der indirekte
Kontakt, auf den unterschiedlichsten Wegen, eine lange Geschichte, die bis zu den griechischen
Handelskolonien auf der iberischen Halbinsel zurückreicht.
5.2 Erste Gräzismen: Vorrömische Toponymen
Die Griechen besaßen einige wenige Handelskolonien auf der Pyrenäenhalbinsel lange vor den
Römern. Die Eroberung Spaniens durch die Römer begann tatsächlich mit der Landung der
Truppen von Scipio im Jahr 218 v. Chr. in einer dieser griechischen Handelskolonien, nämlich
Ἐμπόριον (spanisch Ampúrias, katalanisch Empúries). Diese Stadt, deren Name etwa
„Handelsplatz“ bedeutet (vgl. das sp. Wort emporio), wurde bereits im Jahr 575 v. Chr. von
Griechen gegründet.
Aus dieser prä-römischen Zeit stammen wohl die ersten noch heute erhaltenen
Gräzismen im spanischen Lexikon. Sie sind allesamt Ortsnamen, das schon erwähnte Ampúrias
sowie Rosas (Ῥόδη; kat. Roses) und Adra ( Ἄβδηρα). Diese können als die erste Schicht von
Gräzismen in der spanischen Sprachgeschichte betrachtet werden (vgl. Galiano, 1967: 51).
Diese drei Toponymen sind bereits relevant für unsere Fragestellung, wie aus folgender
Tabelle ersichtlich wird:
Altgriechisch
Latein
Spanisch
LPR-Konform
Ἐμ.ˈπó.ρι.ον
EM.ˈPO.RI.AE
Am.ˈpú.rias
nein
ˈ Ῥό.δος
ˈRHO.DUS
ˈRo.sas
ja
ˈ Ἄβ.δη.ρα
AB.ˈDĒ.RA
ˈA.dra
nein
Ampúrias ist im Spanischen paroxyton. Ursprünglich lag jedoch die Betonung sowohl im
Altgriechischen als auch im Lateinischen auf der Antepänultima. Dies lässt sich durch den
Übergang vom Lateinischen zum Spanischen erklären, bei dem Hiatus vermieden wurden
(Lloyd 1987). Durch den Prozess der Synärese wurden viele Vokalen zusammengezogen. Aus
den zwei posttonischen Silben /ri.ae/ im lateinischen
29
EM.ˈPO.RI.AE
ist im Spanischen nur eine
Aus dem direkten Kontakt von Spanisch und byzantinischem (bzw. modernen Griechisch) erwachsen für
Spanisch auch einige interessante Gräzismen, zum Beispiel eine Dublette von bodega, nämlich botica, deren
i auf den Itazismus zurückzuführen ist. Wir klammern jedoch weitgehend die Diskussion von solchen
Gräzismen aus.
31
geworden, /rias/. Dies stellt eine Vereinfachung dar (zu Monophthongierung und
Desyllabierung als phonologische Schwächungsprozesse siehe Pustka , 2021: 76-77).
Im Übrigen unterstreicht dieses Beispiel die Beobachtung von Menéndez Pidal, wonach
die Position des spanischen Akzents trotz aller durchgemachten sonstigen lautlichen
Veränderungen seit den „Zeiten von Plautus“ - also ungefähr um die Zeit des Beginns der
Eroberung und Romanisierung Spaniens – unverändert geblieben ist (2005 [1904]: 36). Denn
obwohl die Pänultima jetzt auch leicht ist, fällt der Akzent nicht auf die Antepänultima
(*ˈÁm.pu.rias). Somit findet LPR(b) keine Anwendung mehr.
In Bezug auf Rosas wird LPR(c) angewandt, und in diesem unproblematischen Fall
stimmt die Wortakzentposition auch in allen drei Sprachen überein. Das Beispiel gehört zu den
markierten Akzentmustern im Spanischen (Paroxytonon mit konsonantischem Auslaut).
Adra ist ein besonderer Fall. Im Griechischen proparoxytonon, wird das Wort im
Lateinischen aufgrund von LPR(a) zu einem Paroxytonon, da die Pänultima lang ist (/e:/).
Allerdings weicht im Spanischen die Position des Akzents wieder nach links zurück.
Verschiedene Erklärungen bieten sich hierzu an: Zum einen könnte sich die ursprüngliche
griechische PPO-Betonung (ˈ Ἄβ.δη.ρα) durchgesetzt haben. Zum anderen könnte die Position
neu berechnet worden sein, nachdem im Spätlatein die Quantitätsopposition der Vokale
verschwunden war. Demnach wäre aus PO AB.ˈDĒ.RA (schwere Pänultima) PPO ˈAB.DE.RA
(leichte Pänultima) geworden. Durch Synkope des posttonischen Vokals wäre es schließlich
zu sp. Adra gekommen (siehe das vergleichbare Phänomen von sp. ˈE.bro aus Klassischem
Latein I.ˈBĒ.RUS, ursprünglich gr. Ἴ.βη.ρ; vgl. Menéndez Pidal, 2005: 40).
Eine dritte Erklärung finden wir beim Arabisten Josep Maria Solá Solé:
En la provincia de Almería se halla Adra, cuya relación con la antigua Abdera
difícilmente puede ponerse en duda. [...]. La interpretación de este nombre
presenta dificultades que todavía no han sido resueltas. [...] La forma actual
Adra quizá pueda explicarse a través de una forma Aderia que hallamos
documentada, al lado de Abdera, en Geog. Rav. [...]. La transposición del
acento, que aclararía la pérdida de la vocal medial, podría ser debida a una
fase intermedia árabe cAdra, que hallamos en el Idrisī. (Solá Solé 1959: 496).
Später werden wir genauer auf die Einfluss des Arabischen und seine Wortakzentregeln
eingehen (5.5).
32
5.3 Erbwörtliche Gräzismen aus der Zeit der Hispania Romana
Die Römer standen über Jahrhunderte hinweg sowohl indirekt als auch direkt in Kontakt mit
den Griechen. Aus indirektem Kontakt, vermutlich über etruskisch phersu, stammt die
Entlehnung PERSONA aus dem griechischen πρὀσωπον (Lüdtke, 1968: 33). Zahlreiche weitere
griechische Wörter fanden ihren Weg in die lateinische gesprochene Sprache durch den
direkten Kontakt mit den Kolonien der Griechen in Unteritalien und Sizilien (Magna Graecia).
Diese Wörter bezeichnen oft Konkreta, zum Beispiel Örter (PLATEIA < πλατεῖα), alltägliche
Gegenstände (CISTA < κίστη), Seetiere (POLYPUS < πολύπους), Gemüse (RAPHANUS < ῥάφανος)
sowie Werkzeuge (MACHINA < aus dem dorischen μαχανά).
Einige dieser Entlehnungen, sogenannte Gräzismen des Lateinischen, können wir
gleichzeitig als Erbwörter des Spanischen ansehen. Um genauer zu sein, können wir für sie die
Bezeichnung „palabras patrimoniales de origen no latino“ (Pharies) verwenden.30 Gräzismen
gehören dieser Kategorie an, wenn sie noch im Lexikon des Vulgärlateins enthalten waren, das
dann die Basis der spanischen Lexik bildete. Es ist zwar schwer, mit Sicherheit zu sagen,
welche spanischen Gräzismen dieser Kategorie angehören (Bergua, 2004: 81). Trotz dieser
Schwierigkeit können wir als Indiz für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe festhalten, dass sie
alle phonologischen Änderungen vom Lateinischen zum Spanischen durchgemacht haben.
Dies trifft offensichtlich auf Wörter wie plaza, cesta, pulpo, rábano y máquina zu.31
Innerhalb der Kategorie phonologischer Veränderungen interessieren uns in erster
Linie die eventuellen prosodischen Veränderungen („alteraciones prosódicas“, vgl. Bergua,
2004: 86-87). Wir beginnen mit Beispielen, bei denen der Akzent in allen Sprachen auf die
gleiche Silbe fällt:
Altgriechisch
Latein
Spanisch
LPR-konforme
ἀ.πο.ˈθή.κη
APOˈTHĒ.CA
bo.ˈde.ga
LPR(a)
σα.λα.ˈμάν.δρα
SA.LA.ˈMAN.DRA
sa.la.ˈman.dra
LPR(a)
κα.τα.ˈπέλ.της
CA.TAˈPUL.TA
ca.ta.ˈpul.ta
LPR(a)
30
Pharies (2007: 168) schlägt auch für solche Kategorie von Wörtern die paradoxe Bezeichnung „préstamos
patrimoniales“ vor. Hier sind die Gräzismen, die uns interessieren, neben Keltismen und Germanismen zur
Seite zu stellen, die ebenso von den Römern selbst übernommen wurden (solche Wörter wie cama, cerveza,
oder guerra). Wichtig ist auf jeden Fall, solche Gräzismen nicht als Adstrat zu verstehen, sondern als
Substrat. Im Sinne von Rodríguez Adrados Wörtern (2022/2024: 8): „No son influjos griegos del castellano
sino fuente del mismo“.
31
Zum Begriff von Erbwort vgl. auch Penny (2002: 34).
33
ˈκάν.θα.ρος
ˈCAN.THA.RUS
ˈcán.ta.ro
LPR(b)
ˈσπά.θη
ˈSPA.THA
es.ˈpa.da
nein
An den Beispielen bodega und cántaro zeigt sich exemplarisch, dass, selbst wenn die vorletzte
Silbe eines spanischen Gräzismus offen ist, trotzdem auf die Vokalquantität der Pänultima des
griechischen Etymons genau geachtet werden muss. Denn obwohl es im Spanischen keine
Quantitätsopposition der Vokale gibt, so gab es sie sowohl im klassichen Latein als auch im
Altgriechischen, und klassisches Latein übernahm immer sehr genau diese Quantität bei seinen
Entlehnungen: {η} im Griechischen ἀποθήκη wurde zu /ē/ in APOTHĒCA; kurzes α in κάνθαρος
zu kurzem /a/ in
CANTHĂRUS.
Daher die verschiedenen Akzentpositionen in bo.ˈde.ga und
ˈcán.ta.ro. 32
Bei geschlossenen Pänultimas wie bei catapulta und salamandra hingegen reicht die
Beobachtung, dass die Pänultimas geschlossene Silben sind, um darauf zu schließen, dass die
Silbe im Etymon ebenfalls schwer war.
Bei espada handelt es schließlich um einen Fall von Syllabierung durch epenthetisches
e- (zur Syllabierung als einen phonologisches Stärkungsprozess siehe Pustka 2021: 76). Die
Position des Akzents wird jedoch nicht neu berechnet (*ˈes.pa.da), sondern bleibt erhalten.
In den folgenden fünf Bespiele stimmt die Position des Akzents im Spanischen und
Lateinischen überein. Diese Position weicht allerdings von der ursprünglichen im Griechischen
ab.
Altgriechisch
Latein
Spanisch
LPR-konform
ὀρ.φα.ˈνός
OR.ˈPHA.NUS
ˈhuér.fa.no
LPR(b)
κο.ˈρί.αν.δρον
CO.RI.ˈAN.DRUM
ci.ˈlan.tro
LPR(a)
μα.χα.ˈνά
ˈMA.CHI.NA.
ˈmá.qui.na
LPR(b)
ἀμ.φο.ˈρεύς
AM.ˈPUL.LA
am.ˈpo.lla
nein
ποι.ˈνή
ˈPOE.NA
ˈpe.na
LPR(c)
32
Obwohl seltener der Fall, es kann auch zuweilen vorkommen, dass eine offene vorletzte Silbe im
Spanischen, wie im Fall von sibila (s.o. im Gedicht von Rubén Darío) in den griechischen und lateinischen
Etyma doch eine Coda hatte: lat. SI.BYL.LA , gr. σί.βυλ.λα. Dies zu übersehen würde zu *sí.bi.la führen.
Geminierter Konsonant /ll/ ist hier abhanden gekommen, anders als im Italienischen (sibilla) und
Katalanisch, das die Silbentrennung sogar graphisch markiert (sibil·la).
34
Hier sehen wir, dass die Römer im Allgemeinen nicht geneigt waren, die Prosodie von
Gräzismen zu entlehnen. Proparoxytone Betonung, die die LPR verletzt (wie κο.ˈρί.αν.δρον,
mit schwerer Pänultima) wurde nicht akzeptiert, daher erfolgte einen Akzentwechsel
(CO.RI.ˈAN.DRUM). Oxytona wurden ohnehin grundsätzlich ausgeschlossen: Je nach Gewicht
ihrer Pänultima wurden sie entweder zu Proparoxytona (μα.χα.ˈνά > ˈMA.CHI.NA) oder
Paroxytona (ὀρ.φα.ˈνός > OR.ˈPHA.NUS).
Es ist bemerkenswert, dass gebildete Römer zwar bereit waren, die Aussprache von
Gräzismen teilweise zu übernehmen, so dass sie zum Beispiel im Augustinischen Zeitalter das
lateinische Alphabet sogar um zwei Grapheme, <y> und <z> erweiterten, um zwei Phoneme
des Griechischen wiederzugeben (Müller-Lancé, 2012: 77). Auf der suprasegmentalen Ebene
jedoch, zumindest bei der Position des Wortakzents, scheinen sie allerdings nicht bereit
gewesen zu sein, Kompromisse einzugehen.33
In den folgenden Beispielen weicht das Spanische vom Lateinischen ab:
Altgriechisch
Latein
Spanisch
LPR-konform
πλα.τεῖ.α
PLAˈTĒ.A
ˈpla.za
nein
ἐ.ˈρῆ.μος
E.ˈRĒ.MUS
ˈyer.mo
nein
κα.θέ.δρα
ˈCA.THE.DRA
ca.ˈde.ra
nein
πέρ.διξ
ˈPER.DIX
per.ˈdiz
nein
γλυ.κύρ.ριζ.α
LI.QUI.ˈRI.TI.A
re.ga.ˈliz
nein
Die Abweichung von der lateinischen Prosodie kann in einigen dieser Beispiele durch die
Übernahme der Form und Betonung des Wortes im Spätlatein. Ausgehend von der
rekonstruierten Form *PLATTĔA, mit leichter Pänultima, ist ein Akzentwechsel eine Silbe nach
links (*ˈPLAT.TĔA) vorstellbar, mit darauffolgender Monophthongierung von posttonischem
/ea/ zu /a/. Das Wort plaza hat im Übrigen eine Dublette im Spanischen, die nicht auf die
spätlateinische Form *PLATTĔA, sondern auf die klassisch.lateinsiche Form
PLA.ˈTĒ.A
zurückgeht, nämlich platea, mit gleicher Syllabierung und Akzentposition (pla. ˈte.a).
Bei yermo spielt auch das Spätlatein eine Rolle. Nach dem Quantitätenkollaps verliert
der Vokal des Pänultima in ERĒMUS seine Länge und wird zu ERĔMUS. Die Synkope von ĕ auf
33
Quintilian stellt aber fest, dass einige junge Leute etwa der Name „Camillus“ auf der ersten Silbe betonen
würden (*CA.MIL.LUS), sowie „Appi“ als oxytonon (*AP.ˈPI). Offenbar waren also einige Römer doch bereit,
die LPR zu umgehen. Quintilian kritisiert aber diese Betonungen als Fehler von jungen Leute („peccant“)
und mahnt dazu, der LPR treu zu bleiben. (Quintilian, Institutio Oratoria, i, 5, 30; in Ax, 2011: 46)
35
dem Weg zum Spanischen yermo könnte darauf hinweisen, dass das Wort schon im Spätlatein
proparoxyton betont wurde. Dieses Erbwort hat auch einen Kultismus zur Seite: eremita
(ἐρημίτης, Derivation von ἐρῆμος).
Bei cadera haben wir es mit der Dublette zu cátedra zu tun. Als Erklärung des
Akzentswechsels wird auf die Tendenz im Spätlateinischen hingewiesen, Wörter mit Abfolgen
von muta cum liquida, wie TENEBRAE, INTEGRUM und eben CATHEDRA paroxytonisch zu betonen,
was dann im Spanischen zu ti.ˈnie.bla, en.ˈte.ro und ca.ˈde.ra führt (Bergua, 2004: 55; Lloyd,
1993: 191). Ein gleichzeitiger Einfluss der ursprünglichen griechischen Betonung ist jedoch
nicht auszuschließen (vgl. Bergua, 2004: 86). Dieser Akzentwechsel findet immerhin in
anderen romanischen Sprachen auch statt, zum Beispiel katalanisch ca.ˈdi.ra, „Stuhl“, und das
portuguiesisch ca.ˈdei.ra, dass sowohl „Stuhl“ als auch „Hüfte“ bedeutet.
Perdiz und regaliz sind eklatante Verstöße gegen die lateinische Prosodie. Doch folgen
beide dem unmarkierten Muster des Spanischen (s.o.). Im Falle von perdiz cf. auch
Altfranzösisch perdriz) scheint es sich um eine Form handeln, die aus dem Akkusativ
Nominativ PERDĪCEM gewonnen ist. Im Falle von regaliz spielt vermutlich die arabische Proside
auch eine Rolle. Corominas bietet hierzu interessante Informationen:
REGALIZ, del antiguo regaliza (alterado bajo el influjo del sinónimo
OROZUZ); regaliza viene con metátesis del lat. tardío LIQUIRITIA, que a su
vez es deformación del griego γλυκύρριζ.α
[…] en Nebrija se encuentra la forma „regaliza o orosuz: glycirrizha“, que
debemos mirar como primitiva, adaptada posteriormente a la terminación de
su sinónimo arabizante OROZUZ. Abenbeclarix registra la forma mozárabe
‘arqaclis. (Corominas 1980: s.v.)
In anderen Worten, das Proparoxyton regaliza, das noch von Nebrija verwendet wurde, wurde
durch den Einfluss des arabischen Synonyms OROZUZ zum Oxytonon. Ein Vergleich dazu ist
das katalanische Pendant regalèssia, das keinen Einfluss des Arabischen zeigt.
5.4 Christliche Gräzismen
Eine wichtige Gruppe von Gräzismen, die ins Spätlateinische eindrang, stammt aus der Lexik
des Christentums und der Kirche. Durch das Edikt Konstantins im Jahr 313 n.C. wurde die
christliche Religion im gesamten Römischen Reich erlaubt; später, 380, wurde sie sogar zur
Staatsreligion erhoben. So entwickelte sich eine enge Verbindung zwischen der römischen
36
Kultur und dem Christentum: In Spanien hat das Christentum sogar einen entscheidenden
Beitrag zur vollständigen Romanisierung geleistet, indem es in bisher nicht romanisierten
Gegenden missionierte (Bollée/Neumann-Holzschuh, 2003: 33).
Da die wichtigsten Texte des Christentums auf Griechisch verfasst waren (der Großteil
des Neuen Testaments) und diese Religion ohnehin aus dem östlichen, griechischsprachigen
Teil des Imperiums stammte, bereicherte sie die lateinische Sprache, genauer, das Spätlatein,
mit religiöser Fachterminologie griechischen Ursprungs. Die Termini dieser Fachsprache
können als die letzte Schicht von Gräzismen im Lateinischen betrachtet werden (Lapesa, 1950:
49), oder, um eine dynamischere Metapher zu verwenden, als ihre „letzte Welle“ (MüllerLancé, J. 2012). Auf jeden Fall sind diese christlichen Gräzismen auch als Erbwörter in die
spanische Sprache eingegangen.
Hier sind einige Beispiele (ausgewählt nach Galiano, 1967; Bollée/NeumannHolzschuh, 2003; Penny, 2002):
palabra, iglesia, ángel, Biblia, Jesús, diablo, obispo, evangelio, acólito, monasterio, ídolo,
abadía, diócesis, anatema, homilía
Es mag nicht überraschend sein, dass die Prosodie vieler dieser Wörter zunächst im Einklang
mit der LPR steht:
Altgriechisch
Latein
Spanisch
πα.ρα.βο.ˈλή
PA.ˈRA.BO.LA
pa.ˈla.bra
ἐκ.κλη.ˈσί.α
EC.ˈCLE.SI.A
i.ˈgle.sia
ˈἄγ.γε.λος
ˈAN.GE.LUS
ˈán.gel
βιˈβλί.α
ˈBI.BLI.A
ˈbi.blia
δι.ˈά.βο.λος
DI.ˈA.BO.LUS
ˈdia.blo
ἐ.ˈπίσ.κο.πος
E.ˈPIS.CO.PUS
o.ˈbis.po
ἀ.νά.θε.μα
A.ˈNA.THĔ.MA
a.na.ˈte.ma
In diesen Beispielen hat sich die (relative) Akzentposition von proparoxyton zu paroxyton
verändert, aufgrund verschiedener phonologischer Prozesse (Synärese: iglesia, biblia;
Apokope: ángel; Synkope: diablo, obispo). Die absolute Position des Akzents bleibt jedoch
erhalten, das heißt, der Akzent verbleibt im Spanischen auf dem gleichen Vokal wie im
Lateinischen. Eine Ausnahme bildet lediglich das Wort anatema, bei dem es zu einem echten
37
Akzentwechsel kommt. Diese Ausnahme lässt sich aber auf den Einfluss des ähnlichen Wortes
ἀνάθημα zurückzuführen, das eine schwere Pänultima hat und die Bedeutung „Geschenk,
Weihe“ trägt (diesen akzentverändernden Einfluss postuliert die RAE s.v.34).
Diese Beispiele sind jedoch für unseren Gesichtspunkt nicht besonders aufschlussreich,
da alle Pänultimas in den griechischen Etyma leicht sind. Betrachten wir daher die Beispiele
mit schweren Pänultimas:
Altgriechisch
Latein
Spanisch
ἀ.ˈκό.λου.θος
A.ˈCO.LY̆.THUS
a.ˈcó.li.to
ˈεἴ.δω.λον
I.ˈDŌ.LU
ˈí.do.lo
δι.ˈοί.κη.σις
DI.OE.ˈCĒ.SIS
di.ˈó.ce.sis
Bei den Wörtern ídolo und diócesis sehen wir einen Akzentwechsel, der die ursprüngliche
Betonung wiederherstellt. Dieser Akzentwechsel lässt sich auf den Verlust der
Quantitätsopposition der Vokale im Spätlatein zurückführen. So wurde beispielsweise IDŌLUM
im Spätlatein als
IDŎLUM
gemessen (bereits von dem aus Hispania stammende Dichter
Prudentius, wie in Pidal, 2005: 40, zitiert),
DIOCĒSIS
als
DIOCĔSIS.
Dieser Verlust der
Vokalquantität ging mit einer Stärkung des Intensitätscharakters des lateinischen Akzents
einher (Bergua, 2004: 86). Die Folge war, dass „[...] algunas palabras griegas conservar[o]n en
latín el acento en su lugar original [...]“ (Bergua, 2004: 86). Hier kann man also annehmen,
dass das Prestige der griechischen Sprache eine Rolle dabei spielte, die lateinische Prosodie zu
überlagern, als eine der wichtigsten Grundlagen für diese bereits entfallen war.
Im Falle von A.ˈCO.LY̆.THUS ist bereits in der Transkription erkennbar, dass das y als
Kurzvokal gemessen wird, obwohl an der Stelle im griechischen Etymon ein Diphthong,
nämlich ου, steht (ἀκόλουθος), der die Silbe schwer macht. Ein Vergleich dazu wäre das
paroxytone und LPR-konforme Wort anacoluto, ein moderner gelehrter Neologismus, der sich
an der ursprünglichen Quantität des griechischen Etymons orientiert. Hätte es das Wort
tatsächlich auf Lateinisch gegeben, wäre es wohl *ANACOLȲTHOS geschrieben worden, mit
Langvokal ȳ.
Es gibt ein paar Beispiele, die das Spiegelbild von biblia und iglesia sind, nämlich
homilía und abadía. Hier springt der Kontrast ins Auge:
34
Corominas (1980: s.v.) erklärt ἀνάθεμα als eine späte Variante von ἀνάθημα.
38
Altgriechisch
Latein
Spanisch
ὁ.μι. ˈλί.α
HO.MĪ.LĬ.A
ho.mi. ˈlí.a
ἀββᾶς
AB.ˈBĀ.TĬ.A
a.ba. ˈdí.a
βιˈβλί.α
ˈBI.BLĬ.A
ˈbi.blia
ἐκ.κλη.ˈσί.α
EC.ˈCLE.SĬ.A
i. ˈgle.sia
Wir sehen, dass die Silbentrennung durchaus inkonsistent ist. Die Vokalabfolge –ia wird
manchmal als Hiatus und manchmal als Diphthong behandelt. Wenn sie als Hiatus interpretiert
wird, liegt die Betonung auf dem kurzen „i“ (vgl. ho.mi.lí.a), was dann zu einer Verletzung der
LPR führt. Diese Verletzung ist möglicherweise auf den kombinierten Einfluss des
Christentums und der französischen Prosodie zurückzuführen. Wir gehen etwas genauer auf
diese Einflüsse weiter unten (5.5). Wenn die Vokalabfolge jedoch als Diphthong realisierte
wird (Synärese), dann wird das Wort wie im Lateinischen betont (vgl. bi.blia). Manchmal gibt
es Wörter, bei denen die RAE zwei alternativen Syllabierungen und somit zwei Prosodien
zulässt: quiromancia, quiromancía. Die erste Option, mit Synärese der Vokalabfolge ia, ist
jedoch am verbreitetsten.
Schließlich ist Jesús, sofern wir es als Gräzismus und nicht als Hebraismus betrachten
(vgl. Bergua, 2004: 65), ein bemerkenswertes Beispiel für den Wechsel der Betonung von
paroxytonisch zu oxytonisch:
Hebräisch
Altgriechisch
Spätlatein
Spanisch
( שועyeshúa)
Ἰη.ˈσοῦς
ˈIĒ.SUS
Je.ˈsús
Dieser Akzentwechsel ist bei einer Vielzahl religiöser Eigennamen anzutreffen, er betrifft
jedoch eher Hebraismen als Gräzismen, selbst wenn das Griechische als Vermittler diente, wie
bei Wörtern wie Jehová, José, Satanás, Belcebú, Leviatán u.d.m.
Es gibt jedoch eine kleine Gruppe von Oxytona, die zweifellos als Gräzismen betrachtet
werden können, auch wenn wir sie zugleich als semantische Hebraismen ansehen könnten:
Eclesiastés und Pentecostés.
Hebräisch
Altgriechisch
Spätlatein
Spanisch
( ֹקֶהֶלתkohélet)
Ἐκ.κλη.σιασ.ˈτής
EC.CLE. ˈSIAS.TES
E.cle.siasˈ.tés
39
( ָשׁבוּעוֹתshāvū'ót)
πεν.τη.κοσ.ˈτή
PEN.TĒ. ˈCOS.TĒ
Pen.te.cosˈ.tés
Diese Betonungen unterscheiden die spanische Prosodie deutlich von derjenigen anderer
romanischer Sprachen: Nur das Spanische, gefolgt teilweise von Katalanisch, betont diese
Wörter auf der Endsilbe.
Spanisch
Katalanisch
Italienisch
Rumänisch
Portugiesisch
E.cle.sias.ˈtés
E.cle.sias.ˈtès
Ec.cleˈsias.te
E.cleˈsias.tul
E.cle.ˈsias.tes
Pen.te.cosˈ.tés
Pen.teˈcos.ta
Pen.teˈcos.te
Pen.ti.ˈcos.tes
Pen.te.ˈcos.tes
Die Endung –és steht im Einklang mit den markierten Betonungsmustern des Spanischen, bei
denen Wörter mit konsonantischem Auslaut als agudas betont werden (s.o.; vgl. interés, ciprés,
después). Dass dies zudem mit der Akzentposition der griechischen Etyma übereinstimmt,
könnte zur Akzeptanz dieser Abweichung vom Lateinischen beigetragen haben.
5.5 Gräzismen aus der mittelalterlichen Bildungs- und Wissenschaftssprache (XIII
Jahrhundert)
„fizieron los príncipes de Roma un corral grand redondo a que llamaban en latín teatro“
(Alfonso el Sabio, Estoria de Espanna, 1270-1284)
Im Mittelalter befanden sich das (Mittel-)Latein einerseits und die romanischen Sprachen
andererseits in einer diglossischen Beziehung zueinander. Latein wurde als Schriftsprache
verwendet, während die romanischen Sprachen als mündliche Verkehrssprachen dienten. Mit
der allmählichen Verschriftlichung der romanischen Sprachen wurde verständlicherweise die
Versuchung groß, diese Sprachen mit Lexik aus dem geschriebenen Latein zu bereichern
(Pharies, 2007: 169). Auf diese Weise gelangten zahlreiche Latinismen, sogenannte
Buchwörter (sp. cultismos), in die spanische Sprache, darunter auch erwartungsgemäß viele
helenismos latinos. In literarischen Werken, wie zum Beispiel aus dem mester de clerecía
(Libro de Alexandre, Berceo...) oder in Übersetzungen wissenschaftlicher Werke, wie sie im
taller alfonsí praktiziert wurde, fand damit eine neue Quelle von Gräzismen ihren Einzug ins
Spanische (Bollée/Neumann-Holzschuh, 2013: 66).
40
Wir beschränken uns im Folgenden auf Gräzismen des 13. Jahrhunderts. Die meisten
finden sich in den Werken von oder rund um den König Alfonso el Sabio. Folgende verkürzte
Liste stammt aus Penny (2002: 236):
anatomía, apoplejía, cólera, estómago, lepra, alabastro, diamante, esmeralda, jaspe, tesoro,
carta, crónica, escuela, filosofía, gramática, historia, lógica, pergamino, poeta, teatro,
teología, música, órgano, aire, aritmética, astrónomo, astronomía, clima, esfera, geometría,
hora, planeta, cocodrilo, dragón, gigante, grifo
Beginnen wir mit den Zweisilbern. Alle sind paroxytonisch und folgen somit LPR(c): lepra,
jaspe, carta, aire, clima, hora, grifo. Es gibt nur eine einzige Ausnahme: dragón. Zu der Zeit
gab es allerdings auch zwei LPR-konforme Varianten, ˈdra.co und die volkstümlichere Form
ˈdra.go (siehe Corominas 1980 s.v.). Für diese prosodische Dualität dragón / draco (bzw.
drago) gibt es folgende Erklärung: drago stammt direkt vom lateinischen
DRACO
(< gr.
δράκων), einer Nominativform der dritten Deklination (DRACO, -ŌNIS). Die Form dragón
hingegen stammt aus dem Akkusativ DRACŌNEM derselben Deklination.35 Diese Ableitung aus
der Akkusativform ist ein bekanntes Phänomen in der Entwicklung des Lateinischen zum
Spanischen: vgl. razón aus RATIŌNEM, nicht aus RATIŌ; virtud aus VIRTUTEM, nicht aus VIRTUS;
gente aus GENTEM, nicht aus GENS, usw. 36 Damit stellt sich aber die Frage, ob das Wort dragón,
das wir zum ersten Mal in dieser Form bei Alfonso el Sabio begegnen (1.a Crónica General,
13a41, siehe Corominas s.v.), überhaupt als ein cultismo gelten kann. Doch egal wie wir diese
Frage beantworten: dragón ist, was die Prosodie anbelangt, ein klarer Verstoß gegen die LPR
und somit ein Fall, in dem sich das unmarkierte Betonungsmuster des Spanischen sich gegen
das Lateinische durchsetzt.
Bei den Mehrsilbern stellen wir fest, dass alle Proparoxytona LPR(b) entsprechen:
cólera, estómago, crónica, gramática, lógica, música, órgano, aritmética, astrónomo. Dies gilt
unabhängig davon, ob das griechische Etymon paroxyton war, wie χολέρα (>cólera) oder
ἀστρονόμος (>astrónomo); oxyton wie λογική (>lógica) oder μουσική (>música); oder gar
proparoxyton wie ὄργανον (>órgano). Denn wie bereits bekannt ist: Die Position des
Wortakzents im griechischen Etymon ist irrelevant für die Anwendung der LPR. Was zählt, ist
allein die Quantität der Pänultima. Ist diese leicht, so wird das Wort automatisch zu esdrújula.
35
Siehe Bergua (2004: 76)
Nebrija drückt es plastisch aus, wenn er bemerkt, viele oxytone Wörter seien „vom Lateinischen
abgeschnitten, „cortadas del latín“ (Nebrija, 1980: 138).
36
41
Ein Beispiel hierfür: μα in στό.μα.χος ist eine offene Silbe mit einem Kurzvokal als Silbenkern.
Da diese Silbe also leicht ist, liegt die Betonung auf der vorhergehenden Silbe: estómago.
Unter den mehrsilbigen Paroxytona finden wir, neben eine unauffällige Gruppe von
Wörtern mit bereits sichtbarer schwerer Pänultima, wie alabastro, diamante, esmeralda,
gigante (-VC Silbenreim) oder mit versteckten Langvokalen bzw. Diphthongen im Etymon,
wie tesoro (θησαυρός), pergamino (περγαμηνή)37, teatro (θέᾱτρον), esfera (σφαῖρα), planeta
(πλανήτης), cocodrilo (κροκόδειλος) (V: bzw. -VV Silbenreime) zunächst eine Reihe von
Wörtern, die ganz klar gegen LPR(b) verstoßen: a.na.to.ˈmí.a, fi.lo.so.ˈfí.a, a.po.ple.ˈjí.a,
as.tro.no.ˈmí.a. Diese Betonungen weichen stark von der lateinischen
A.NAˈTO.MI.A,
PHI.LOˈSO.PHI.A, A.PO.ˈPLĒ.XI.A, AS.TROˈNO.MI.A ab. Stattdessen stimmen sie mit den griechischen
Originalen ἀνατομία, φιλοσοφία, ἀποπληξία,38 ἀστρονομία überein. Was ist hier geschehen?
Die Erklärung liegt wohl im indoeuropäischen Suffix -ía (wir folgen hier Bergua, 2004:
168-169). Dieser Suffix wurde im Griechischen verwendet, um aus männlichen Adjektiva oder
Substantiva abstrakte feminine Formen zu bilden. Zum Beispiel wurde aus σο.φός („weise“)
σο.φί.α („die Weisheit“) gebildet und aus δειλός („feige“) δειλία („die Feigheit“). Dieser Suffix
gab es auch im Lateinischen mit derselben Funktion, jedoch war die Vokalfolge /ia/ im
Lateinischen heterosyllabisch, wie zum Beispiel LA.E.TI.TI.A aus LAE.TUS oder STUL.TI.TI.A aus
STUL.TUS.
Das Spanische erbte diesen Suffix, synärierte jedoch die Vokalfolge /ia/. So wurde
beispielsweise aus
LA.E.TI.TI.A
Le.ti.zia, oder aus
STUL.TI.TIA
es.tul.ti.cia (vgl. I.TA.LI.A >
I.ta.lia). In einigen wenigen Fällen wurde die Vokalabfolge sogar auf /a/ reduziert, wie beim
rekonstruierten vulgärlateinischen *MANIA (manus + ia), das zu maña wurde (vgl. HIS.PA.NI.A
> España). Ob Synärese oder Vokalreduktion, das Wort verliert dadurch eine Silbe
(Desyllabierung), auch wenn die Akzentposition gleich bleibt (gemäß „Pidal’s Gesetz“). Man
dürfte erwarten, dass bei spanischen Gräzismen mit dem etymologischen Suffix -ία genau diese
phonologische Prozesse stattfinden. Und in der Tat geschieht das in zahlreichen Fällen. Das
geschieht nicht nur bei historia in unserer Liste, sondern auch in vielen anderen Beispielen im
Spanischen:
37
Dass „η“ zu „i“ geworden ist (Itazismus ) weist pergamino als Byzantinismus aus.
Bei einigen modernere Entlehnungen mit dem Suffix -ejia wird eine duale Aktzentierung zugelassen,
beispielweise hemiplejía/hemiplejia. Die Wahl kann stilistisch motiviert sein. Siehe der bekannte politische
Seitenhieb von Ortega y Gasset: „Ser de la izquierda es, como ser de la derecha, una de las infinitas maneras
que el hombre puede elegir para ser un imbécil: ambas, en efecto, son formas de la hemiplejía moral.“
(Ortega, 1937, La rebelión de las masas). Vergleiche dagegen die Betonung im Artikel Hemiplejia moral
(El País, 19 Sept. 2021) von José Millás.
38
42
Griechisch
(PO-Muster)
Latein
(PPO-Muster)
Spanisch
(PO-Muster)
Italienisch
(PO-Muster)
ἱσ.το.ˈρί.α
HIS.ˈTO.RI.A
hisˈto.ria
ˈsto.ria
δη.μο.κρα.ˈτί.α
DE.MO.ˈCRA.TI.A
demoˈcra.cia
de.mo.cra.ˈzi.a
ἀ.μνη.ˈσί.α
AM.ˈNE.SI.A
amˈne.sia
am.ne.ˈsi.a
ἀν.αισ.θη.σί.α
a.nes.ˈte.sia
an.es.te.ˈsi.a
ἰδιοσυγκρασία
i.dio.sin.cra.sia
Mit anderen Worten: Man würde erwarten, dass alle Gräzismen nach der lateinischen Prosodie
(„a través de la prosodia latina“, Bergua, 2004: 168) so akzentuiert werden wie in dieser Tabelle
dargestellt.39 Wenn dem so wäre, wäre Spanisch näher an der lateinischen Prosodie als
Italienisch, das den Hiatus des Lateinischen in der Regel beibehält (vgl. de.mo.cra.ˈzi.a;
Ausnahme: ˈsto.ria), jedoch die LPR verletzt.
Auf unserer Liste fällt jedoch auch auf, dass die Vokalfolge -ia in den anderen Fällen
als Hiatus realisiert wird, und dabei „i“ à la grecque betont wird: astronomía, filosofía,
geometría, teología. In diesen Fällen wird nicht die lateinische Syllabierung, sondern die
lateinische Wortakzentposition komplett ignoriert, anders als zum Beispiel im Fall vom
Englischen:
Griechisch
(PO-Muster)
Latein
(PPO-Muster)
Spanisch
(PO-Muster)
Englisch
(PPO-Muster)
ἀσ.τρο.νο.ˈμί.α
AS.TRO.ˈNO.MI.A
as.tro.no.ˈmí.a
as.ˈtro.no.my
φι.λο.σο.ˈφία
PHI.LO.ˈSO.PHI.A
fi.lo.so.ˈfí.a
phi.ˈlo.so.phy
γε.ω.με.ˈτρί.α
GE.O.ˈME.TRI.A
ge.o.me.ˈtrí.a
ge.ˈo.me.try
θε.ο.λο.ˈγί.α
THE.O.ˈLO.GI.A
te.o.lo.ˈgí.a
the.ˈo.lo.gy
Dieses griechisch-orientierte Betonungsmuster hat sich bis heute fortgesetzt (siehe
mamografía, ideología, teosofía, tiktología…). Eine plausible diachrone Erklärung hierfür liegt
39
Hier müsste man eigentlich genauer sagen: sie befolgen die (absolute) lateinische Position des
Wortakzents (Pidal's Gesetz). Wenn sie streng genommen die lateinische Prosodie befolgen würden, so wäre
die Betonung ˈhis.to.ria, de.ˈmo.cra.cia, ˈam.ne.sia, a.ˈnes.te.sia.
43
auf der Hand: das Prestige des griechischsprachigen Christentums. Dieses Prestige hätte
maßgeblich dazu beigetragen, dass bei vielen Wörtern mit dem Suffix -ía die Betonung auf das
/i/ beibehalten wird. Wie Meyer-Lübke bemerkte: „Sobre todo el Cristianismo hizo que del
griego entrasen en el latín escrito y en la lengua habitual de las personas cultas gran cantidad
de palabras en -ía acentuadas como astrología“ (zitiert in Bergua, 2004: 168). Man denke an
die Betonung anderer wichtiger Wörter aus dem Vokabular der christlichen Religion und
Theologie: homilía, herejía, apostasía, parousía. Diese Betonung des Suffixes dürfte so weit
verbreitet gewesen sein, dass sie letzendlich als typisch romanisch empfunden und sozusagen
nativiert wurde.
Eine weitere Erklärung deutet auf französischen Einfluss hin. Das französische Suffix
-ie (zum Beispiel bei théologie, géometrie) hätte ebenso die Betonung -ía beeinflusst. Obwohl
es fraglich ist, ob das Französische einen Wortakzent hat (vielmehr liegt der Akzent auf dem
letzten Wort der phonologischen Phrase), werden isolierte Wörter als Oxytona
wahrgenommen. Auf ähnliche Weise, wie das französische Wort gendarmerie (phonetisch
transcribiert: /ʒɑ̃.daʁ.mə.ʁi/) die Prosodie des spanischen Gallizismus gendarmería beeinflusst
hat, könnte auch géométrie (/ʒe.ɔ.me.tʁi/) die Betonung geometría beeinflusst haben.40
5.5 Gräzismen aus dem Arabischen
Bergua schätzt, dass etwa hundert Gräzismen über das Arabische ins Spanische gelangt sind
(Bergua, 2004: 102).41 Im Vergleich zur Gesamtzahl von Gräzismen („decenas de miles“, so
Bergua ebenda) mag dies zwar als eine bescheidene Zahl erscheinen. Doch selbst wenn diese
Zahl vergleichsweise gering ausfällt, und Bergua sogar diesen arabischen Gräzismen auch noch
eine Tendenz zum Verschwinden attestiert (Bergua, 2004: 102), so sind dennoch einige dieser
Gräzismen hochfrequente Wörter im spanischen Lexikon (wie atún, guitarra, arroz,
azúcar…).
Diese Gräzismen weisen auch phonologische Besonderheiten auf. Die Beschäftigung
mit ihnen erlaubt uns sogar indirekt, der Frage nachzugehen, ob die Wortakzentregel des
Arabischen einen Einfluss auf die spanische Prosodie haben könnte. Meines Wissens wird
diese Frage in der Literatur selten gestellt. Eine interessante Ausnahme findet sich jedoch bei
40
Cf. der Einfluss dieses Suffix auch auf die Prosodie im Deutschen: Bäcker wird paroxyton betont, Bäckerei
oxyton.
41
Die Schätzungen basieren auf dem Arabismen-Wörterbuch von Corriente (1999)
44
Jorge Rico (2019: 37), der einen solchen Einfluss nahelegt. Seine These sollte sich auf jeden
Fall anhand von Gräzismen arabischen Ursprungs überprüfen lassen.
Ich beschränke mich auf folgende drei Beispiele: atún, candil, guitarra. Zuerst atún:
Altgriechisch
Latein
Klass. Arabisch
Hisp.-arab.
Spanisch
ˈθύν.νος
ˈTHUN.NUS
ˈtunn
at.ˈtún
a.ˈtún
In der Abfolge der Entlehnungen fällt zunächst auf, dass die Syllabierung des Wortes sich
verändert hat. Im Klassischen Arabischen wurde das ursprünglich zweisilbige Etymon auf eine
Silbe reduziert. Später, im hispano-arabischen attún, gewann das Wort jedoch wieder eine neue
Silbe hinzu, die im Spanischen erhalten blieb. 42
Am Ende des ganzen Prozesses hat sich ferner die (relative) Position des Wortakzents
geändert. Am Anfang war das griechische Wort paroxyton (ˈθύν.νος); am Ende ist es im
Spanischen oxyton geworden (a.ˈtún). Dieser Akzentwechsel ist jedoch nicht sehr
aussagekräftig, da die Betonung weiterhin auf der gleichen (absoluten) Position, das heißt, auf
dem Ursprungsvokal /u/ verbleibt. Daher ist es schwierig, hier einen Einfluss der arabischen
Prosodie anzunehmen. Die Tatsache, dass das Wort jetzt endbetont ist, scheint eher dem Zufall
geschuldet zu sein. Die erste Silbe im hispano-arabischen at.ˈtún resultiert nämlich aus der
Agglutination des arabischen Artikels al- und das Wort tunn. Da Artikel generell unbetonte
Wörter in den Sprachen der Welt sind, so bleibt der Akzent auf tún.
Zum Artikel al- im Spanischen bemerkt Lüdtke:
Wer ein bisschen mit der spanischen Sprachgeschichte vertraut ist, merkt
schon an der ersten Silbe al-, dass das ein Wort arabischen Ursprungs ist.
Diese Silbe al- ist der arabische Artikel, der in vielen spanischen und
portugiesischen Wörtern agglutiniert wurde. Nehmen Sie das Beispiel ar.
sukkar, sp. azúcar, dagegen it. zucchero, dt. Zucker, frz. sucre [kat. ebenfalls
sucre, J.C.] (ohne agglutinierten Artikel). Der Artikel al kann auch einfach
als a erscheinen und ist ein Charakteristikum vieler arabischer Lehnwörter im
Spanischen und Portugiesischen. (Lüdtke, 1968(b): 15)
42
Laut Corriente (1999, s.v. atún) soll es noch im „Iberromanischen“ eine einsilbige Variante tun geben (in
einem andalusischen Dialekt).
45
Was für azúcar43 gilt, also Agglutination von al und sukkar, mit anschliessendem Wegfall der
l, lässt sich auch auf atún übertragen, mit dem einzigen Unterschied, dass bei hispanoarabischem at.tún sich das l des Artikels al dem t vom darauffolgenden tunn assimiliert hat
(al+tunn > attun), ein Fall von regressiver Assimilation (siehe Hall, 2020: 90).
Das Wort candil ist ein gutes Beispiel einer sogenannten palabra viajera. Obwohl wir
es hier als Gräzismus betrachten (wie Bergua, 2004: 102), ist candil tatsächlich ein griechischer
Latinismus (!). Somit stellt er interessanterweise eine etymologische Dublette zum spanischen
Kultismus candela dar, mit der er prosodisch kontrastiert.
Latein
Griechisch44
Klas. Arabisch
Hisp.-arabisch
Spanisch
CAN.ˈDĒ.LA
καν.ˈδή.λη
qin.ˈdīl
qan.ˈdíl
can.ˈdil
Uns interessiert die Frage: Wie kommt Klassisch Arabisch qin.ˈdīl zu seiner oxytonen
Betonung?45 Jorge Rico bietet eine knappe Beschreibung der arabischen Wortakzentregeln, die
hier möglicherweise Anwendung finden könnten:
En árabe estándar el acento también es predecible como lo era en latín. Su
patrón acentual es además muy parecido al latino. Podríamos describirlo
añadiendo solo una regla más, la primera que reproducimos a continuación, y
que prevalece sobre las anteriores.
1. Las palabras que acaban en sílaba superpesada son agudas.
[...] Las [sílabas] superpesadas son las que tienen ambas características [sc.
contienen vocales largas (o diptongos) y codas silábicas] (Rico, 2019: 37)
43
Vermutlich ein Gräzismus (Bergua 2004: 106)
Es handelt sich laut Corominas (Corominas, 1980: s.v.) um eine Entlehnung aus dem mittelalterlichen
Griechischen. Daher wäre somit daher wegen des Itazismus im Griechischen als kandíli ausgesprochen.
Daher die Beibehaltung von i bei der Aussprache aller nachfolgenden Formen bis sp. candil.
45
Unsere Antwort muss mit Vorsicht genossen werden. Man müsste Kenntnisse des Arabischen haben, über
die wir nicht verfügen, um diese Frage zufriendstellend beantworten zu können. Kenntnis der Phonologie
des Arameischen oder Syrischen wäre ebenso wünschenswert, da viele griechische Wörter über die
Vermittlung dieser semitischen Sprachen ins Arabische gelangt sind (Bergua, 204: 100-101). Corriente
jedenfalls (1999, s.v. candil) gibt die Form qandīlā an als aramäische Zwischenstation zwischen gr. κανδήλη
und ar. qindīl.
44
46
Die Endsilbe des Wortes quindīl hat als Silbenreim einen langen Vokal mit Koda (-V:C).
Im Arabischen gilt diese Endsilbe daher als superschwer, weshalb das Wort zum aguda wird.46
Ähnliche prosodische Muster liessen sich vermutlich auch bei anderen spanischen Arabismen
nachweisen, beispielsweise bei alguacil, alfil, albañil, mandil (letzteres ist zudem ein
Lehnwort aus dem byzantinischen Griechischen μανδίλιον ).
Nun zum letzten Beispiel, guitarra.
Altgriechisch
Syrisch
Klass. Arabisch
Spanisch
κι.ˈθά.ρα
qi.ˈtā.rā
qī.ˈṯā.ra
gui.ˈta.rra
Hier finden wir auch eine etymologische Dublette, die prosodisch im Kontrast mit guitarra
steht, nämlich der Kultismus cítara. Beide Wörter gehen auf altgriechisch κι.ˈθά.ρα zurück.
Die unterschiedliche Position des Akzents lässt sich auf die jeweiligen unmittelbar
vorhergehenden Etyma zurückführen, denn der vokalische Segment a der Pänultima wurde je
nach Sprache anders gewichtet.
Der aus der Renaissance stammende Kultismus cítara (siehe Smith, 1959: s.v.) leitet
sich direkt vom altgriechischen κιθάρα ab. Dabei wird das α der Pänultima kurz gemessen
und die vorletzte wird Silbe als leicht gewichtet, was gemäß der LPR(b) dazu führt, dass das
Wort zum Proparoxytonon wird.
Im Gegensatz dazu scheint das Segment Vokal a im klassischen Arabisch (bzw. schon
im Syrischen, siehe Corriente, 1999: s.v.) gelängt worden zu sein. Dadurch zählt die Silbe in
diesem Fall als schwer. Da das Arabische, ähnlich wie das Lateinische (siehe Rico, 2019: 37),
eine schwere Pänultima betont, wird guitarra letztendlich im Spanischen paroxyton.
5.6 Renaissance: Nebrija über die Eigenständigkeit der spanischen Prosodie am Beispiel von
drei Gräzismen
In der Renaissance habe man „zunehmend den Eigenwert der spanischen Sprache“ erkannt,
und dementsprechend habe man nicht mehr versucht, sie „nach lateinischem Vorbild
umzuformen“ (Bollée/ Neumann-Holzschuh, 2003: 85). Feststellungen wie diese trifft man
46
Bei der Transkripition von Corrientes (1999: s.v.) scheint, als wäre im hispano-arabischen die Länge von
der Ultima verschwunden (dīl > díl), die Position des Akzents dennoch beibehalten. Jedenfalls bleibt im
Spanischen auch der Akzent auf der Ultima.
47
häufig in Büchern über die Geschichte des Spanischen (vgl. Lapesa, 1950: 275, 288). Die
Eigenständigkeit der spanischen Sprache, vor allem gegenüber Latein, wird dann vorwiegend
im Bereich der Lexik und Syntax festgemacht. Standardbeispiele hierfür sind die Spärlichkeit
von Latinismen bei der Dichtung von Jorge Manrique (Lapesa, 1950: 279; Quilis, 2003: 185),
oder der fast vollständige Wegfall des Hyperbatons („el hipérbaton no existe casi“, Lapesa,
ebd.: 277). Diese Betonung der Eigenständigkeit der spanischen Sprache wollen wir nun kurz
um den Bereich der Prosodie erweitern.47
Als Leitfaden dient uns folgende Beobachtung von Antonio de Nebrija:
[...] [t]odas las palabras de nuestra lengua comun mente tienen el acento
agudo48 en la penúltima sílaba, & en las diciones bárbaras o cortadas del latín,
en la última sílaba muchas veces, & muy pocas en la tercera, contando desde
el fin; & en tanto grado rehúsa nuestra lengua el acento en este lugar, que
muchas vezes nuestros poetas, pasando las palabras griegas & latinas al
castellano, mudan el acento agudo en la penúltima, teniendo lo en la que está
antes de aquélla. Como Juan de Mena:
A la biuda Penelópe,
i al hijo de Liriópe;
y en otro lugar:
Con toda la otra mundana machína.
(Nebrija, (1980) [1492]: 138)
Nebrija erkennt mit Scharfsinn die unmarkierten Muster des Spanischen: Betonung auf der
Pänultima bzw. auf der Ultima (s.o.). Der Unterschied zum Lateinischen wird zudem klar
herausgehoben: Spanisch meidet die Betonung auf der Antepänultima („nuestra lengua
[rehúsa] el acento en este lugar“), typisch im Lateinischen für Wörter mit leichter Pänultima.
Folgerichtig schließt Nebrija, dass die natürliche Tendenz des Spanischen ist, so viel wie
möglich lateinische (sowie griechische!) Proparoxytona in Paroxytona zu verwandeln.49
47
Was die Phonologie betrifft, so enthalten die oben erwähnten Bücher Bemerkungen über Phonetik (vgl.
Quilis 2003: 183-184), und über Phonotaktik, letzteres im Zusammenhang mit Nebrijas Vergleich vom
Spanischen und Lateinischen (Quilis, 2003: 191.-192). Zur Prosodie habe ich allerdings noch keinen
Hinweis in diesen und ähnlichen Werken gefunden.
48
Nebrija definiert agudo als „acento por el cual la sílaba se alça“, und alle andere Akyzente als graves.
Dabei übernimmt er einfach nur die Terminologie, die wir bei Quintilian gesehen haben (s.o. 3.2).
49
An anderer Stelle führt Nebrija esdrújulas als Ausnahmefälle auf. Denn „esta regla general [sc. die meisten
Wörter sind Paroxytona oder Oxytona] dessea ser limitada por excepción“ (Nebrija, (1980) [1492]: 141).
Mit anderen Worten, er identifiziert die Antepänultimabetonung als ein markiertes Muster. Nicht wenige
Beispiele auf seiner Liste sind Gräzismen: alhóndiga, brújula, lágrima, sávana, lámpara, cólera, cántara,
48
Unklar ist dagegen, weshalb Nebrija ausgerechnet drei Gräzismen als Illustration wählt
und sich dabei auf die Autorität des Dichters Juan de Mena (1411-1456) beruft:
Altgriechisch
Latein
„Juan de Mena’s
Spanisch“
Heutiges Spanisch
Πη.νε.ˈλό.πη (PO)
PE.ˈNE.LO.PE (PPO)
Pe.ne.ˈló.pe (PO)
Pe.ˈné.lo.pe (PPO)
Λι.ρι.ˈό.πη (PO)
LI.ˈRI.O.PE (PPO)
Li.ri.ˈó.pe (PO)
Li.ˈrí.o.pe (PPO)
μα.χα.ˈνά (O)
ˈMA.CHI.NA (PPO)
ma.ˈchí.na (PO)
ˈmá.qui.na (PPO)
Die Beispiele sind nämlich etwas schief. Denn zum einen haben die griechischen Etyma
keineswegs den Akzent auf der Antepänultima, nur die lateinischen Vermittlungswörter. Zum
anderen werden diese Wörter im heutigen Spanisch doch genauso wie im Lateinischen betont.
Es gibt genug Beispiele von Latinismen und Gräzismen, die den Punkt von Nebrija, aus
heutiger Sicht, klarer hätten machen können, beispielsweise alle Substantive auf –ía, die schon
seit dem 13. Jahrhundert als paroxytona eingebürgert waren, wie filosofía, geometría (s.o), und
die seitdem ihn nicht eingebüßt haben.
Es ist zudem eine offene Frage, ob die Betonungen Penelópe, Liriópe, machína
tatsächlich verbreitet waren, oder es sich aber vielmehr um eine punktuelle, idiosynkratische
Betonung von Juan de Mena handelt. Tatsächlich wird Juan de Menas Entscheidung oft
interpretiert, als sei sie nur aus metrischen Gründen motiviert (Estévez, 1987). Für die
exzentrische Akzentuierung machína wurde immerhin Mena weit bis ins 17. Jahrhundert
kritisiert (vgl. Corominas 1980: s.v.).
Ich möchte dennoch versuchen, Juan de Menas und Nebrijas Akzentuierung von
machína plausibel zu machen. Kann es ausgeschlossen werden, dass dieses Wort tatsächlich
von einigen Sprechern im 15. Jahrhundert als Paroxyton ausgesprochen wurde? Ich biete
folgendes indirektes Argument an, um diese Möglichkeit nahezulegen. Die Gramática de la
lengua castellana von Nebrija wurde im August des Jahres 1942 veröffentlicht. Im März
desselben Jahres wurden die spanischen Juden durch das Edikt von Granada aus Spanien
vertrieben. Danach pflegten die sefardíes die spanische Sprache jahrhundertelang weiter, im
alcándara, mandrágora, apóstata… Seine Beispiele sind heute immer noch lesenswert und relevant.
Besonders beeindruckend ist dabei seine Beobachtung, dass Wörter auf -í oxyton sind (Nebrija, (1980)
[1492]: 1412). Dass das in der Regel zutrifft, kann etwa in einem rückläufigen Wörterbuch wie
Bosque/Pérez (1987) nachgeprüft werden.
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sogenannten judeo-español. Wie wird nun das Wort „Maschine“ im Judenspanisch betont?
Laut dem Wörterbuch Dictionnaire du judéo-espagnol liegt die Betonung auf der Pänultima:
makyína (Nehama, 1977: 335 s.v.). Ferner: im selbigen Wörterbuch wird festgestellt, dass „le
système phonologique du judéo-espagnol salonicien [...] [est] fort semblable de celui qui nous
offre la grammaire de Nebrija“ (Nehama, 1977: xiv). Angenommen, dass das Wort im Verlauf
der Geschichte des Judenspanischen keine Akzentverschiebung erfahren hat,50 dann kann nicht
ausgeschlossen werden, dass das Wort machína zumindest von einigen Sprechern tatsächlich
auf der Pänultima betont wurde, und nicht nur von Juan de Mena im Gedicht.
6- Fazit und Ausblick
Unsere Untersuchung hat die Betonungsmuster spanischer Gräzismen beleuchtet. Wir haben
festgestellt, dass Gräzismen in allen möglichen Akzentpositionen im Spanischen vorkommen.
Diese Vielfalt widerlegt die oft stillschweigende Annahme, dass Gräzismen ausschließlich aus
Buchwörtern bzw. Fachbegriffen bestehen und dass sie dann meistens der lateinischen
Pänultima-Regel folgen. Dies belegten wir anhand einer Darstellung der verschiedenen
Schichten von Gräzismen im Spanischen. Während unserer Analyse stellten wir zudem fest,
dass nicht nur die lateinische Prosodie die Betonung von spanischen Gräzismen beeinflusst,
sondern auch die anderer Sprachen, insbesondere des Arabischen und Französischen.
Unsere Untersuchung ist jedoch nur bis zur Renaissance gelangt, eine Epoche, in der
Nebrija immerhin die Eigenständigkeit der spanischen Prosodie anhand von drei Gräzismen
illustriert.
Es wäre lohnenswert, die Untersuchung bis in die Gegenwart fortzuführen. Die Daten
von Fernández Galiano (1967: 63-67) und Bergua (2004) deuten darauf hin, dass die
Hypothesen, die wir zu Beginn unserer diachronen Analyse aufgestellt haben (siehe S. 30),
sich auch anhand neuerer Daten als grob korrekt erweisen würden. Es könnte eventuell gezeigt
werden, dass obwohl cultismos bzw. Fachbegriffe in der Regel die Lateinische PänultimaRegel befolgen (ágora, quirófano...), viele wissenschaftliche Termini dennoch die Prosodie
des Altgriechischen beibehalten (pediatría, morfología...), inklusive der vielen Neologismen
aus Wissenschaft und Technik (ión, electrón...).
50
Ich kann diese Annahme nicht nachweisen, ich biete mein Argument nur als Hypothese.
50
Als Orientierung über die spanischen Gräzismen der letzten Jahrhunderte kann
sicherlich folgende Bemerkung von Jorge Bergua als Abschluss dienen:
[...] en general se puede decir que apenas hay en español helenismos llegados
directamente del griego antiguo: no los hay llegados por vía oral, por razones
evidentes (cuando empieza a existir conciencia del castellano, en torno a los
siglos IX-X, hace mucho que el griego antiguo o clásico ha dejado de ser tal),
y apenas los hay llegados por vía escrita porque, para nuestra vergüenza, la
gran mayoría de helenismos técnicos y científicos adoptados o creados en los
últimos siglos (como teletipo, fonología o fotografía) lo han sido primero en
las lenguas de los países europeos o americanos que han estado y siguen
estando a la cabeza de la investigación en casi todos los campos (es decir,
fundamentalmente el francés, inglés y alemán), de tal modo que las palabras
como las recién citadas han llegado al español procedentes no de los propios
textos griegos, sino de las lenguas de nuestros industriosos vecinos del Norte
(y por eso mismo son tanto helenismos como anglicismos o galicismos).
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