Feuilleton
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Freitag, 6. September 2024
Der teuflische Stratege hat die Juden erkannt
Mit den Geiseln verfügt der Hamas-Chef Yahya Sinwar über ein Unterpfand, das die israelische Gesellschaft spaltet. Von Leon de Winter
Israel kann nicht wie die Hamas, der
Hizbullah oder Iran kämpfen, und alle
seine Feinde wissen das. Ihre Taktik ist
entsprechend: Die Juden lieben ihre Kinder mehr, als sie ihre Feinde hassen. Man
nehme also ihre Kinder als Geiseln, und
sie sind wehrlos. Im Jahr 2011 wurde
ein von der Hamas gefangen gehaltener
israelischer Soldat nach fünfjährigen Verhandlungen gegen tausend palästinensische Häftlinge, unter ihnen schlimmste
Terroristen, ausgetauscht. Einer von
ihnen war der derzeitige Führer der
Hamas, Yahya Sinwar. In der Gefangenschaft studierte er die Juden und lernte
sie besser kennen, als sie sich selbst kannten. Die Israeli liessen ihn frei, einen Verbrecher, der für zahllose Morde verantwortlich war, weil der eine Soldat für das
Selbstverständnis der Juden zentral war.
Auf einen Schlag kamen tausend potenzielle Terroristen frei.
Für Israels Feinde gibt es keine Regeln. Es geht einzig um die Vernichtung
Israels, ohne Rücksicht auf die Methoden, die Toten, den Schmerz. Der Islam
ist von der Idee eines permanenten Krieges gegen die Ungläubigen durchdrungen, und die Juden sind ein Hindernis
in diesem Krieg, das mit Ausdauer und
ausreichendem Blutvergiessen beseitigt wird, wie jedes Hindernis in der Geschichte des Islams ausgelöscht worden
ist. Es ist nur eine Frage der Zeit und
der Generationen von Gläubigen, die
geopfert werden müssen, bis die Juden
unterworfen und vertrieben werden.
Sinwar hat die Waffe gefunden, mit
der er die Juden besiegen und die Welt
manipulieren kann: den Tod seiner eigenen Landsleute. Er fordert die Juden auf,
sein Volk zu töten, und die Israeli können sich dem in ihrem Kampf gegen die
Hamas nicht entziehen, da die Terrorbewegung sich hinter dem Rücken von
Gazas Bevölkerung versteckt. Wenn es
Tote unter Zivilisten gibt, schiebt die
Welt nicht Sinwar und seiner Mörderclique die Schuld zu, sondern Israel.
Er weiss, wie die Welt auf Todesopfer
reagiert, die von Juden verursacht werden. Und die Juden nehmen die Vorwürfe ernst. Sie entwickeln Kampfmethoden, um die Gefahr ziviler Opfer
im Gazastreifen, die Terroristen beschützen, zu minimieren, aber im Chaos des
Kriegsgeschehens kommt es dennoch zu
unzähligen Todesfällen unter Zivilisten.
Sinwar hingegen kümmert sich nicht
darum, israelische Zivilisten so weit wie
möglich zu verschonen. Seine Männer
töten ruchlos und wissen sich im Einklang mit ihrem Volk, ihrer Kultur und
ihren Traditionen. Denn die Juden sind
nicht nur ihre Feinde, sondern auch die
Feinde ihres Propheten, und dieser hat
die Ermordung der jüdischen Stämme
persönlich angeordnet, wie es in islamischen Berichten heisst.
Demütigende Operation
Folglich gibt es in den palästinensischen
Gebieten keine breite gesellschaftliche
Debatte darüber, ob eine zivilisierte
Gesellschaft Morde, Vergewaltigungen,
Verstümmelungen und Enthauptungen
zulassen kann. Im Internet wimmelt es
von religiösen Führern, die festlegen,
unter welchen rechtlichen Umständen
eine Vergewaltigung zulässig sei. In der
islamischen Tradition ist sie ein zulässiges Mittel, um den Ungläubigen Angst
einzujagen. Die Terroristen, die enthaupten und vergewaltigen, werden von
ihren Familien geehrt. Die posttraumatische Belastungsstörung kennen islamische Terroristen nicht.
Als Yahya Sinwar in einem israelischen Gefängnis lebte, wurde bei ihm
ein Gehirntumor diagnostiziert.Als Gefangener hatte er Rechte, und er wurde
operiert. Und es dämmerte ihm, wenn
ein Gefangener das Recht auf eine kostspielige Operation hat, die nur dank den
von den Israeli gezahlten Steuern möglich war, dank ihren wissenschaftlichen
Kenntnissen, dank ihrer Verpflichtung,
jedes Leben zu ehren und zu schützen,
selbst das Leben von einem judenhassenden Mörder wie ihm, dann waren die
Juden verloren.
Yahya Sinwar war viele Jahre in Israel inhaftiert. Bild: 2022.
Gleichzeitig war die Operation,
mit der die Juden sein Leben retteten,
die tiefste Demütigung, die ihm zugefügt werden konnte. Aber er war auch
euphorisch. Er hatte die Schwäche der
Juden erkannt, die leichtgläubig annahmen, dass die Rettung eines einzelnen Lebens die Rettung der gesamten
Menschheit sei.
Sinwar wusste, dass eine solche Idee
im Nahen Osten ein Witz war. Die Juden
konnten sich nicht vorstellen, dass er
seine Retter in jeder Hinsicht verachtete: persönlich, kulturell, religiös. Und
wenn sie es sich zwar vorstellen konnten, so waren die Juden doch nicht in
der Lage, ihn sterben zu lassen. Sie hatten lächerliche Regeln, die in Tausenden
von Jahren der Verfolgung, der Flucht
und des Neubeginns entstanden waren
und die ihnen die Pflicht auferlegten,
auch diejenigen zu heilen, von denen
sie verachtet wurden.
Das Gewissen der Israeli
Der eine Soldat, der 2011 gegen tausend palästinensische Gefangene ausgetauscht wurde, war 2006 bei einem
Angriff aus dem sogenannt freien Gazastreifen entführt worden. Im Jahr 2005
hatte sich Israel vollständig daraus zurückgezogen. Es gab dort keine Juden
mehr. Doch am 25. Juni 2006 tauchte
eine Gruppe von Terroristen aus einem
300 Meter langen Tunnel auf, den sie
am Grenzübergang Kerem Shalom gegraben hatten. Ihr Überraschungsangriff
führte zum Tod mehrerer israelischer
Soldaten und zur Gefangennahme des
Unteroffiziers Gilad Shalit. Kein berühmter Mann. Kein bemerkenswerter Wissenschafter. Nur ein junger Jude.
Der Preis für seine Freilassung waren
1027 Gefangene, die für den Tod von
569 Israeli verantwortlich waren.
Für Leute wie Sinwar war dies der
letzte Beweis für die Schwäche der
Juden. Kein Führer eines islamischen
Landes wäre bereit gewesen, tausend
Verbrecher gegen einen beliebigen Soldaten einzutauschen. Aber die Juden
waren weltmüde genug, zu glauben, dass
Shalits Leben wichtiger war als die Inhaftierung der Mörder von 569 Juden. Sinwar verstand es, die Juden zu erschöpfen,
sie zu erpressen, sie gegeneinander aufzubringen. Einhundert entführte Juden
würden das jüdische Land zerreissen.
Solange Sinwar seine Geiseln hat,
ist er unangreifbar. Familienangehörige der Geiseln fordern von der israelischen Regierung, dass für ihre Freilassung jeder Deal akzeptabel ist, sogar
der vollständige Rückzug aus dem Gazastreifen und die Aufgabe des Grenz-
Ist es möglich, das
Böse zu bekämpfen,
ohne sich selbst
der Mittel des Bösen
zu bedienen?
AHMAD HASABALLAH / IMAGO
streifens, in dem sich die Tunnel befinden, durch die die Hamas Bauteile für
Waffen und Raketen sowie Baumaterial für die unterirdische Kriegsstadt
schmuggelte.
Aber Sinwar wird die Geiseln niemals aufgeben. Die Zeit ist auf seiner
Seite. Es spielt keine Rolle, ob die Geiseln noch am Leben sind oder bereits
getötet wurden. Jede Geisel in einem
unbekannten Tunnel bedeutet Folter
für den jüdischen Staat, der seine Verpflichtung, jeden Juden zu retten, nicht
erfüllen kann. Umgekehrt würde sich
kein islamischer Führer einer solchen
Erpressung jemals beugen.
Für Sinwar heiligt der Zweck jedes
Mittel. Er hält unzählige seiner Landsleute im Gazastreifen in der Schusslinie.
Für ihren Tod macht er mithilfe nützlicher Idioten in den westlichen Medien
und Regierungen die Juden verantwortlich. Das ist teuflisch: Sinwar setzt auf
das Gewissen der Israeli, während er,
wenn er die Chance bekommt, die Juden
skrupellos massakrieren wird.
Dieser Krieg sei asymmetrisch, sagen Israel-Kritiker, womit sie meinen,
dass Israels militärische Stärke weitaus
grösser sei als die der Hamas. Dies ist
eine Verzerrung der Realität. Die Skrupellosigkeit der Hamas steht in krassem Gegensatz zu Israels Gewissen, das
an innere und äussere kulturelle Regeln und an die Gesetze der Rechtsstaatlichkeit gebunden ist. Die Armee
der Hamas zählt zwei Millionen Menschen, allesamt potenzielle Märtyrer,
die von der Hamas im globalen Medienkrieg gegen Israel geopfert werden. Die
Fähigkeit der Hamas, eigene Zivilisten
der israelischen Armee entgegenzusetzen, ist die wahre durchschlagende Kraft
in der Asymmetrie, nicht die Feuerkraft
der israelischen Armee.
Unlösbares Dilemma
Die israelische Führung steht vor einem
unlösbaren Dilemma: Wenn sie mit Sinwar ein Abkommen schliesst und sich im
Gegenzug für die Freilassung der Geiseln vollständig aus dem Gazastreifen
zurückzieht, wird er die Gelegenheit
nutzen, um seine Armee aufzubauen.
Dann wird er in fünf oder zehn Jahren
erneut angreifen, gedeckt durch iranische Atomwaffen, denn sein Ziel bleibt
unumstösslich: die Vernichtung des jüdischen Staates.
Wenn Israels Regierung keine Einigung erzielt, verurteilt sie die noch
lebenden Geiseln zum Tod oder zu
lebenslangem Leiden in einem Käfig
in der Wüste Sinai oder einem Kerker
in Iran. Israel wurde gegründet, um den
Juden die Angst davor zu nehmen, dass
sich niemand auf der Welt um sie kümmert. Kein israelischer Politiker kann
die Geiseln ihrem Schicksal überlassen.
Sinwar, der geniale Teufel, kennt die
Juden und jene, die er für die ungläubigen Hunde im Westen hält. Er weiss,
dass der moderne westliche Rechtsstaat nicht in der Lage ist, Kriege in der
Wüste bis zum bitteren Ende durchzuhalten: Das mächtigste Land der Erde
hat sich aus dem Irak und aus Afghanistan zurückgezogen. Wer den muslimischen Kämpfern in der Wüste gegenübersteht, wird untergehen, wenn er das
Kriegsrecht einhalten will.
Vor einigen Wochen sagte der palästinensische Islamwissenschafter Mohammed Qaddura gegenüber einem iranischen Fernsehsender: «Wie ich bereits
in der Vergangenheit gesagt habe, werden wir nach der Befreiung Palästinas
nicht akzeptieren, dass auch nur ein einziges Grab eines Juden in Palästina verbleibt, so dass es keine Spuren oder Erinnerungen an sie gibt. Alle hebräischen
Wörter werden gelöscht und durch arabische Wörter und Wörter in den Sprachen der Länder, die auf der Seite der
Palästinenser stehen, ersetzt werden.»
Der Hass und die Lust an der Zerstörung sind Symptome der tiefen Psychose, unter der dieser Islamgelehrte
leidet. Im gesamten Nahen Osten laufen Millionen Menschen mit der gleichen Psychose herum. Kein Abkommen
kann sie davon überzeugen, dass es besser ist, friedlich mit den Juden zu leben.
In ihrer Welt gibt es keinen Zweifel an
der Richtung der Geschichte. Sie führen einen ewigen Krieg unter dem Banner des Propheten, bis die Menschheit
unterworfen ist.
Es ist traurig, dramatisch, verzweifelt:
Muss der jüdische Staat, um zu überleben, zu einem Staat des Nahen Ostens
werden, der so rücksichtslos agiert
wie die Führer von Syrien oder Saudiarabien? Ist dies der Preis, den die Juden
für die Bewahrung ihrer Autonomie und
ihrer Traditionen im Nahen Osten zahlen müssen? Dies ist der Kern der Krise
in der israelischen Gesellschaft: Ist es
möglich, das Böse zu bekämpfen, ohne
sich selbst der Mittel des Bösen zu bedienen? Hier haben die Geschichten
der Bibel ihren Ursprung. Und sie sind
immer noch lebendig.
Das absolute Böse
Wir, die aufgeklärten Geister im Westen, reduzieren die Ursachen für die
von der Hamas begangenen Bestialitäten auf die Folgen sozioökonomischer
Entbehrungen, auf die Nakba von 1948
oder auf die Wut über das Vorgehen der
Siedler im Westjordanland. Aber all das
greift zu kurz, wenn man das Video der
ermordeten Geisel Eden Yerushalmi
sieht. Die 24-Jährige war am 7. Oktober
vom Nova-Musik-Festival entführt worden, wo sie an der Bar gearbeitet hatte.
Sie war wunderschön.
In dem Video ist sie es immer noch,
aber abgemagert, mit einem Blick voller
Erschöpfung und Traurigkeit. Die israelischen Streitkräfte waren auf der Spur
von Eden Yerushalmi und fünf weiteren Geiseln. Doch bevor sie befreit werden konnten, wurden sie in einem unterirdischen Tunnel getötet. Als israelische
Soldaten sie fanden, stellte die Hamas
ein Video ins Netz, in dem Eden einige
Minuten lang zu ihrer Familie spricht.
Wir tun das, weil ihr nichts weiter seid als
die Nachkommen von Schweinen, lautet
die implizite Botschaft der Hamas, wir
schlachten euch ab und geniessen den
Schmerz, den wir verursachen.
Ich war überwältigt, fassungslos,
als ich sie sprechen sah und mir bewusst wurde, dass sie kürzlich wie ein
Hund geschlachtet worden war. Ich bin
nicht religiös. Aber die rituelle, triumphale Feier von Tod und Hass durch die
Hamas kann nur mit einem Begriff aus
der Religion benannt werden. Das absolute Böse.
Leon de Winter ist ein niederländischer Schriftsteller. – Aus dem Niederländischen von rbl.