Location via proxy:   [ UP ]  
[Report a bug]   [Manage cookies]                

Das Mathematikbuch im Unterricht

2009

Sebastian REZAT, Gießen Das Mathematikbuch im Unterricht – Wohl oder Übel? Unterricht nach dem Mathematikbuch ist ebenso populär wie unpopulär. Einerseits belegen Studien, dass das Mathematikbuch eines der wichtigsten Hilfsmittel des Lehrers zur Unterrichtsvorbereitung ist (vgl. z. B.: Bromme & Hömberg 1981; Hopf 1980; Pepin & Haggarty 2001; Tietze 1986). Andererseits stellen Ball und Feiman-Nemser (1988) bei einer Befragung von Lehramtsstudenten fest, dass diese in ihrer Ausbildung ein kritisches Bild von einem Unterricht, der sich am Mathematikbuch orientiert, entwickelt haben: „Students in both programs came to believe that good teachers avoid textbooks and develop their own lessons and units“ (Ball & FeimanNemser 1988, 416). Es ist zu vermuten, dass ein vergleichbares Bild von der Verwendung des Mathematikbuchs auch bei einer Befragung von deutschen Lehramtsstudenten und Referendaren zum Vorschein kommen würde. Ewing (2004) stellt fest, dass die Verwendung des Schulbuches durch den Lehrer im Mathematikunterricht „identities of participation and nonparticipation in mathematics classrooms“ (Ewing 2004, 237) prägt. Der Unterricht nach dem Mathematikbuch führt ihrer Ansicht dazu, dass Schüler sich weniger auf das Lernen von Mathematik einlassen. Die Bedeutung, die das Mathematikbuch für die Unterrichtsvorbereitung von Lehrern und im Unterricht hat in Verbindung mit der negativen Konnotation eines Unterrichts nach dem Buch lässt die Frage entstehen, welche Rolle das Buch im Mathematikunterricht für das Lernen von Mathematik hat. Pointiert formuliert: Stellt es ein Wohl oder ein Übel dar? Im vorliegenden Aufsatz sollen Implikationen einer Studie zur Nutzung des Mathematikbuches durch Schüler als Instrument zum Lernen von Mathematik für die Verwendung des Mathematikbuches durch den Lehrer im Unterricht aufgezeigt werden. Vor dem Hintergrund der erörterten Thesen wird sich die Frage, ob das Mathematikbuch ein Wohl oder Übel im Mathematikunterricht ist, beantworten lassen. 1. Studie zur Nutzung des Mathematikbuches als Instrument des Schülers zum Lernen von Mathematik – Ein Überblick Um Erkenntnisse zur Nutzung des Mathematikbuches durch Schüler zu gewinnen, wurde eine Grounded Theory Studie (vgl. z. B. Strauss & Corbin 1996) in zwei Klassen der Jahrgangsstufe 6 und zwei Kursen der Jahrgangsstufe 12 an zwei Gymnasien in Nordrhein-Westfalen über einen Zeitraum von drei Wochen durchgeführt. Für die Untersuchung wurde ein Mul- timethodenansatz gewählt, der sich aus folgenden Komponenten zusammensetzt: − schriftliche Befragung der Schüler (Markieren der genutzten Teile im Buch und Angabe des Nutzungsgrundes), − Interviews nach dem Prinzip des Stimulated Recall zu ausgewählten Nutzungen, − Unterrichtsbeobachtung und Dokumentation in Form von Beobachtungsprotokollen über den gesamten Zeitraum der Datenerhebung. Die Daten wurden nach der Methode des Fragenstellens der Grounded Theory vor dem Hintergrund des instrumentellen Ansatzes der kognitiven Ergonomie (Rabardel 1995) ausgewertet. Anhand der Daten wurden die instrumentelle Genese (Instrumentalisierung und Gebrauchsschemata) der Schüler in Bezug auf das Mathematikbuch rekonstruiert (vgl. Rezat 2008). 2. Implikationen für die Nutzung des Mathematikbuches durch den Lehrer im Unterricht Für Lehrer ergeben sich aus der Untersuchung Implikationen im Hinblick auf folgende Aspekte: − Einblick in Lerntätigkeiten der Schüler; − Rolle des Lehrers als Vermittler der Schulbuchnutzung. Ein grundsätzliches Ergebnis der Arbeit besteht in der Einsicht, dass Schüler ihre Mathematikbücher auch selbständig, über die vom Lehrer vermittelten Nutzungen hinaus zum Lernen von Mathematik verwenden. Insbesondere suchen Schüler Hilfe für das Bearbeiten von Aufgaben im Mathematikbuch und nutzen es zum Festigen, zum Aneignen von Wissen und im Zusammenhang mit interessemotiviertem Lernen. Nicht alle selbständigen Nutzungen des Mathematikbuches durch Schüler sind jedoch unabhängig von der Verwendung des Mathematikbuches durch den Lehrer im Unterricht. Anhand verschiedener typischer Nutzungen des Mathematikbuches durch Schüler zeigt sich, dass die Verwendung des Mathematikbuches im Unterricht durch den Lehrer Voraussetzung und Orientierungshilfe für die Schülernutzungen ist. Setzt der Lehrer das Buch nicht im Unterricht ein, haben Schüler mit bestimmten Gebrauchsschemata des Buches keine Orientierung und nutzen das Buch in der Regel nicht. Für diese Schüler kann ein Unterricht unter Verwendung des Buches als Unterricht angesehen werden, der die Voraussetzung für das selbständige Lernen von Mathematik durch Schüler bereitstellt. In zwei Lerngruppen der Untersuchung setzen die Lehrer das Mathematikbuch nicht nur im Unterricht ein, sondern weisen die Schüler regelmäßig darauf hin, dass sie das Buch zur Unterstützung ihres Lernprozesses heranziehen können. In den Daten zeigt sich, dass diese Hinweise von Schülern aufgenommen werden. Auf der Grundlage dieser Beobachtung in zwei Lerngruppen lässt sich daher die Hypothese formulieren, dass Hinweise des Lehrers zur Verwendung des Mathematikbuches von Schülern befolgt werden und die Nutzung des Mathematikbuches durch Schüler verstärken. Sowohl die Abhängigkeit einiger Gebrauchsschemata der Schüler von der Verwendung des Buches durch den Lehrer im Unterricht als auch die Hypothese über den positiven Einfluss des expliziten Verweisens auf das Schulbuch durch den Lehrer unterstreichen die Rolle des Lehrers als impliziten und expliziten Vermittler der Schulbuchnutzung. Zwei weitere Aspekte deuten darauf hin, dass die effektive Nutzung des Schulbuches ein Lernprozess seitens der Schüler ist, der vom Lehrer unterstützt werden kann, indem die Nutzung des Mathematikbuches thematisiert und geübt wird: 1. Der im Unterricht einer Lerngruppe der Jahrgangsstufe 6 beobachtete selbstverständliche und souveräne Gebrauch des Inhalts- und Stichwortverzeichnisses der Schüler in Verbindung mit der Auskunft des Lehrers, dass er derartige Nutzungen mit den Schülern übt, legt die Vermutung nahe, dass die Effektivität der Schulbuchnutzung durch gezieltes Thematisieren und Üben gesteigert werden kann. 2. Eine mögliche Erklärung der relativ selten1 in den Daten zu beobachtenden Nutzung von lerneinheitenübergreifenden Wiederholungen und Aufgaben besteht darin, dass Schüler die Nutzung dieser relativ neuen Strukturelemente noch nicht ‚gelernt’ haben, d. h. ihnen keine Funktion im Rahmen ihres eigenen Lernprozesses zuschreiben und keine Gebrauchsschemata in Bezug auf diese Strukturelemente entwickelt haben. Die Verwendung dieser Strukturelemente durch Schüler kann möglicherweise gefördert werden, indem der Lehrer das Vorhandensein, die besonderen Eigenschaften – z. B. die Existenz von Lösungen zu den Aufgaben – und den Zweck dieser Strukturelemente thematisiert und deren Nutzung initiiert. Diese zwei Überlegungen lassen sich in einer weiteren Hypothese zusammenfassen, in der ein weiterer Aspekt des Einflusses zum Ausdruck kommt, den der Lehrer auf die Nutzung des Mathematikbuches durch Schüler ausüben kann: Die Nutzung des Mathematikbuches ist ein Lern1 Die Studie ist im qualitativen Forschungsparadigma verortet. Eine quantitative Interpretatation der Daten ist daher nicht ohne weiteres möglich. Bei quantitativen Aussagen handelt es sich daher nicht um Ergebnisse, sondern um beobachtete Tendenzen, die Anlass zur Hypothesenbildung geben. prozess des Schülers, der durch den Lehrer unterstützt werden kann, indem die Nutzung des Schulbuches zum Unterrichtsgegenstand erhoben wird. Fazit Zusammenfassend lässt aus der Studie zur Nutzung des Mathematikbuches als Instrument des Schülers zum Lernen von Mathematik der Schluss ziehen, dass die Verwendung des Buches im Unterricht durch den Lehrer eine wichtige Voraussetzung und Orientierung für die selbständige Nutzung des Buches durch den Schüler darstellt. Das Buch sollte daher bewusst und reflektiert im Unterricht eingesetzt werden. Literatur Ball, D. & Feiman-Nemser, S. [1988]: Using Textbooks and Teachers' Guides. A Dilemma for Beginning Teachers and Teacher Educators. In: Curriculum Inquiry, 18(1988)4, 401-423. Bromme, R. & Hömberg, E. [1981]: Die andere Hälfte des Arbeitstages - Interviews mit Mathematiklehrern über alltägliche Unterrichtsvorbereitung. Bielefeld: Institut für Didaktik der Mathematik der Universität Bielefeld. Ewing, B. [2004]: "Open your textbooks to page blah, blah, blah": "So I just blocked off!" In: l. Putt; R. Faragher & M. McLean (Hg.): Proceedings of the Twenty-Fourth Annual Conference of the Mathematics Education Group of Australasia Incorporated: Mathematics Education for the Third Millennium: Towards 2010. Sidney: MERGA. Hopf, D. [1980]: Mathematikunterricht. Eine empirische Untersuchung zur Didaktik und Unterrichtsmethode in der 7. Klasse des Gymnasiums. Stuttgart: Klett-Cotta. Pepin, B. & Haggarty, L. [2001]: Mathematics textbooks and their use in English, French and German classrooms: a way to understand teaching and learning cultures. In: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik, 33(2001)5, 158-175. Rabardel, P. [1995]: Les Hommes et les Technologies: une approche cognitive des instruments contemporains. Abgerufen am 02.01.2008 von http://ergoserv.psy.univ-paris8.fr/Site/default.asp?Act_group=1. Rezat, S. [2008]: Learning Mathematics with Textbooks. In: O. Figueras; J. L. Cortina; S. Alatorre; T. Rojano & A. Sepúlveda (Hg.): Proceedings of the Joint Meeting of PME 32 und PME-NA XXX. Morelia: Cinestav-UMSNH. Strauss, A. & Corbin, J. [1996]: Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz, Psychologische Verlags Union. Tietze, U. P. [1986]: Der Mathematiklehrer in der Sekundarstufe II. Bericht aus einem Forschungsprojekt. Bad Salzdetfurth: Franzbecker.