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Inhaltsverzeichnis Reiner Keller/Werner Schneider/Willy Viehöver Editorial ................................................................................................................................... 223 Themenbeiträge Claudia Brunner Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹. Politisch-epistemische Überlegungen zur Zukunft der Wissenssoziologie ................... 226 Dominik Schrage Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis – ein Kartierungsversuch ..................................................................... 246 Jürgen Spitzmüller Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung. Zur diskursiven Konstruktion sprachideologischer Positionen ...................................... 263 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier Der Ausstieg aus der Atomenergie. Diskursnetzwerkanalyse als Beitrag zur Erklärung einer radikalen Politikwende ................................................... 288 Review Essay Karin Böke Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes »Sprache und Wissen« ........................................................... 317 Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 222 Inhaltsverzeichnis Bericht Anina Engelhardt/Markus Riefling Frühjahrstagung der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) »Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit – Interdisziplinäre Perspektiven einer wissenssoziologischen Diskursforschung« in Augsburg am 21. und 22. März 2013 ..................................................................................................... 325 Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Editorial 223 Editorial Sehr geehrte Leserinnen und Leser, mit dem vorliegenden dritten Heft ist der erste Jahrgang der Zeitschrift für Diskursforschung fast komplett. Aber eben nur fast – denn seinen tatsächlichen Abschluss findet er mit der Veröffentlichung des ersten Sonderheftes im März 2014, das sich aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven mit dem Verhältnis von Diskurs, Interpretation und Hermeneutik befassen wird. Die kontinuierlich steigende Zahl der bei uns eingereichten Manuskripte belegt eine erfreuliche Resonanz des Zeitschriftenprojektes und zeigt an, dass die Institutionalisierung der Diskursforschung im deutschsprachigen Raum, die sich ja bereits auf einige stabile Tagungs- und Netzwerkprojekte, auch auf Buchreihen in den Sprach- und Sozialwissenschaften stützen kann, weiter voranschreitet. Ein wesentlicher Schritt dazu leistet sicherlich auch der neue Augsburger Masterstudiengang Sozialwissenschaftliche Diskursforschung, der im Oktober 2013 an den Start gegangen ist und unserer Kenntnis nach als erster deutschsprachiger Studiengang auf diesem Gebiet gelten kann. Dort werden mit starken Forschungsorientierungen auf die lokal vertretenen Forschungsgebiete unterschiedliche sozialwissenschaftliche Zugänge zu Diskurstheorien und empirischer Diskursforschung vermittelt. Das vorliegende Heft stellt Beiträge aus den Politikwissenschaften, der Soziologie und der Linguistik vor, die deutlich unterstreichen, dass Diskursforschung ein Gebiet mit differenzierten Positionen und Vorgehensweisen darstellt, die weit davon entfernt sind, als abgeschlossene und ein für allemal konventionalisierte Perspektiven gehandhabt zu werden. Zunächst befasst sich die Politologin Claudia Brunner aus der Perspektive der Postcolonial Studies mit dem wissenssoziologischen Begriff der Seinsverbundenheit des Denkens und Wissens. Sie knüpft dabei an feministische, post- und dekoloniale Traditionen an, welche die Situiertheit jeglicher Wissensproduktion ins Zentrum stellen. Eine entlang dieser Perspektiven weiterzuentwickelnde Wissenssoziologie wird, so die Autorin, in ihren andro- und eurozentrischen Prämissen herausgefordert, aber auch als gesellschaftskritisches Programm für die Problematisierung globaler Ungleichheitsverhältnisse gestärkt. Der Beitrag skizziert dazu aktuelle post- und dekoloniale Interventionen in das Feld der (deutschsprachigen) Soziologie, stellt das Konzept der Körper- und Geopolitik des Wissens vor und erörtert Wege zu einer potenziellen Dekolonisierung von Wissen(schaft). Aus soziologischer Perspektive diskutiert dann Dominik Schrage einige in den letzten Jahren formulierte Positionen zum Stellenwert von Methode und Methodologie in der Diskursforschung. Dabei beschränkt sich der Beitrag auf ausgewählte, in Kontrast zueinander stehende Positionen in der deutschsprachigen Debatte, anhand derer recht unterschiedliche Auffassungen über das Wie und Warum der Diskursforschung deutlich werden. Schrage geht hierbei davon aus, dass eine Reduktion der Debatte auf ein »Pro« oder »Contra« von Methode und/oder Methodologie verdeckt, dass auf beiden Seiten recht Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 224 Editorial heterogene Auffassungen bezüglich der Vorgehensweisen und der Begründung von Diskursforschung bestehen. Vor diesem Hintergrund macht der Autor den Vorschlag, Methodologie von Diskursanalysen nicht ausgehend von theoretischen Festlegungen bezüglich der Einheit der Diskursforschung zu diskutieren, sondern bei den Einheiten selbst anzusetzen, in denen Diskursforschung faktisch betrieben wird und deren unterschiedliche Macharten dabei zu berücksichtigen. Daran anschließend stellt Jürgen Spitzmüller aus linguistischer Perspektive eine Variante der sprachwissenschaftlichen Diskursanalyse vor, die sowohl in der Germanistischen Diskurslinguistik als auch in der interdisziplinären Diskursforschung bislang wenig bekannt ist: die soziolinguistische Sprachideologieforschung bzw. Metapragmatik. Spitzmüller diskutiert in seinem Beitrag die zentralen Konzepte dieses Ansatzes, zeigt, wie die diskursive Aushandlung von (kommunikativen) Ideologien und die Verfestigung ideologischer Konzepte damit analysiert und modelliert wird, erörtert soziopragmatische Funktionen von Sprachideologien und exemplifiziert die theoretischen und methodischen Erläuterungen an einem linguistischem Fallbeispiel: der Erfindung der ›Internetsprache‹ als diskursiv-interpretativem Phänomen. Im darauf folgenden Beitrag beschäftigen sich Sebastian Haunss, Matthias Dietz und Frank Nullmeier aus politikwissenschaftlicher Perspektive an einem empirischen Beispiel mit einem neuen Vorschlag zur Diskursanalyse politischer Prozesse. Sie beziehen sich dazu auf den von der deutschen Bundesregierung im März 2011 im Anschluss an das unmittelbar vorangegangene Reaktorunglück von Fukushima beschlossenen Atomausstieg. Während den Autoren zufolge traditionelle politikwissenschaftliche Theorien an einer plausiblen Erklärung dieses derart plötzlichen Politikwandels scheitern, ist eine solche aus diskursanalytischer Perspektive möglich. Hierzu nutzen Haunss, Dietz und Nullmeier die Methode der Diskursnetzwerkanalyse, um den diskursiven Stabilisierungsprozess von politischen Forderungen zur Atom- und Energiepolitik in der medialen Öffentlichkeit zwischen März und Juli 2011 zu untersuchen. Im Zentrum der Argumentation steht die These, dass die schnelle Durchsetzung der Ausstiegsforderung sich mit Hilfe der drei Faktoren Akteurszentralität, Konsistenz und Zusammenhalt der Diskurskoalition sowie diskursive Schwäche der Opposition erklären lässt. Die Germanistin Karin Böke rezensiert anschließend in einem längeren Buchessay den von Ekkehard Felder und Marcus Müller im Jahr 2009 herausgegebenen sprachwissenschaftlichen Band »Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes »Sprache und Wissen««. Darin wird ein breites Spektrum germanistisch-sprachwissenschaftlicher Positionen vorgestellt, die sich im Kontext des Heidelberger Forschungsnetzwerkes »Sprache und Wissen – Probleme öffentlicher und professioneller Kommunikation« mit dem Verhältnis von Wörtern und Wissen beschäftigen und dabei viele Schnittstellten zu sozialwissenschaftlichen Fragestellungen der Diskursforschung deutlich machen. Ein Bericht der Soziologin Anina Engelhardt und des Kulturwissenschaftlers Markus Riefling zur interdisziplinären Frühjahrstagung der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), die unter dem Titel »Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit – Interdisziplinäre Perspektiven einer wissenssoziologischen Diskursforschung« mit sehr großer Publikumsbeteiligung am Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 225 21. und 22. März 2013 an der Universität Augsburg stattfand, beschließt, neben einer Ankündigung des ersten Symposiums zum einhährigen Bestehen der Zeitschrift, das Heft. Hinweise zur jederzeit möglichen Einsendung von Beiträgen, Tagungsberichten, Ankündigungen etc. entnehmen Sie bitte der entsprechenden Rubrik oder der Homepage der Zeitschrift (www.uni-augsburg.de/zfd). Erneut wünschen wir Ihnen eine anregende Lektüre. Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver im August 2013 Anschriften: Prof. Dr. Reiner Keller Lehrstuhl für Soziologie Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät Universität Augsburg Universitätsstraße 10 86159 Augsburg reiner.keller@phil.uni-augsburg.de Prof. Dr. Werner Schneider Lehrstuhl für Soziologie/Sozialkunde Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät Universität Augsburg Universitätsstraße 10 86159 Augsburg werner.schneider@phil.uni-augsburg.de PhD Willy Viehöver Lehrstuhl für Soziologie Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät Universität Augsburg Universitätsstraße 10 86159 Augsburg wilhelm.viehoever@phil.uni-augsburg.de Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 226 Claudia Brunner Claudia Brunner Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹ Politisch-epistemische Überlegungen zur Zukunft der Wissenssoziologie Zusammenfassung: Ausgehend vom wissenssoziologischen Begriff der Seinsverbundenheit knüpft dieser Text an feministische, post- und dekoloniale Traditionen an, die die Situiertheit jeglicher Wissensproduktion ins Zentrum stellen. Eine entlang dieser Perspektiven weiterentwickelte Wissenssoziologie wird zwar in ihren andro- und eurozentrischen Prämissen herausgefordert, aber auch als gesellschaftskritisches Programm für die Problematisierung globaler Ungleichheitsverhältnisse gestärkt. Es werden aktuelle post- und dekoloniale Interventionen in das Feld der (deutschsprachigen) Soziologie skizziert, Walter Mignolos Konzept der Körper- und Geopolitik des Wissens vorgestellt sowie Wege zu einer potenziellen Dekolonisierung von Wissen(schaft) erörtert. Schlagwörter: Kolonialität des Wissens, Geopolitik des Wissens, Postkoloniale Theorie, Dekolonisierung, Androzentrismus, Eurozentrismus, Wissenssoziologie, Seinsverbundenheit Summary: In this text, I argue that the sociology of knowledge will both be challenged and strengthened when being confronted with feminist, post- and decolonial perspectives across the field of sociology and beyond. The example of Walter Mignolo’s concept of a body- and geopolitics of knowledge and a discussion of recent interventions into German sociology offer ways to reconsider the premises and programme of a sociology of knowledge. Acknowledging that (scholarly) knowledge and power have been asymmetrically organized on a global scale since the period of European colonialism and imperialism, reflections about the (im)possibilities of a decolonization of knowledge complete my considerations. Keywords: coloniality of knowledge, geopolitics of knowledge, postcolonial theory, decolonization, androcentrism, eurocentrism, sociology of knowledge, positionality 1. Einleitung1 »Vor der Wissenssoziologie liegt ein weites, offenes Feld empirischer Probleme«, zitiert Reiner Keller am Ende seiner Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) Peter L. Berger und Thomas Luckmann (Keller 2005, S. 319). Nicht nur empirische, möchte ich daran anschließen, sondern auch methodologische, theoretische, episte1 Für intensive Diskussionen und nützliche Überarbeitungsvorschläge danke ich herzlich Helmut Krieger und Magdalena Freudenschuß, für das interdisziplinäre Lernen von und mit der WDA danke ich Reiner Keller, für die stets freundliche und kompetente redaktionelle Unterstützung auf dem Weg vom eingereichten Vortragsabstract zum fertigen Aufsatz Saša Bosančić und Matthias Klaes. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹ 227 mologische sowie politische Fragen sind an das wissenssoziologische Denken und Tun zu richten, um dieser produktiv unbequemen Perspektive gerecht zu werden. Gerade die zuletzt genannte Dimension, die wissenschaftliche als politische, wird unter WissenschaftlerInnen jedoch nicht gern selbstreflexiv geführt, riskiert man damit doch, als unwissenschaftlich diskreditiert oder allzu deutlich in einer bestimmten Positionierung erkennbar zu werden. Dies gilt nicht nur für Personen, sondern auch für wissenschaftliche ›Schulen‹, Traditionen und Organisationsformen, die sich, wie mir scheint, nur ungern grundlegend in Frage stellen (lassen), weil damit so manche zuvor unsichtbare Prämisse des Erfolgs ins Blickfeld gerät. Zugleich ist es gerade die Anerkennung dieser Positioniertheit, Situiertheit, und Seinsverbundenheit, die spätestens seit Karl Mannheim (Mannheim 1931; Keller 2005, S. 27 ff.) eine der stärksten Wurzeln der Wissenssoziologie selbst darstellt und es ermöglicht, den historischen, sozialen und politischen Kontext jeglichen Wissens als für eben dieses Wissen konstitutiv zu thematisieren. Dies hat dementsprechend auch für die Wissen(schaft)ssoziologie2 selbst zu gelten, die ich zum Gegenstand meiner Überlegungen mache, um sie in ihrer andro- und eurozentrischen bzw. (post)kolonialen »Ordnung des Eigenen« (Reuter 2002, S. 9) zu thematisieren. Von der im Titel genannten starken Wurzel der Seinsverbundenheit ausgehend und zu ihr zurückkommend versuche ich in diesem Beitrag, Verbindungen zu anderen epistemologischen Verwurzelungen herzustellen, die die Standortgebundenheit jeglichen Wissens zum Ausgangspunkt ihrer Analyse und Kritik machen: feministische, post- und dekoloniale Positionen. Sie können, so mein Argument, die Wissenssoziologie in Theorie und Praxis grundlegend herausfordern, schließlich aber in streitbarem Polylog und in »partiellen Allianzen« (Maasen 2009, S. 88) produktiv zu deren Stärkung beitragen. Dieser Text fasst also weder empirische Ergebnisse einer konkreten diskursanalytischen Untersuchung zusammen noch beansprucht er, ein abgeschlossenes Theoriegebäude zu präsentieren. Vielmehr geht es mir um eine Intervention in das Feld der Wissenssoziologischen Diskursforschung.3 Dieses hat nicht zuletzt dank Reiner Kellers Arbeit an und mit der WDA im deutschsprachigen Raum in den vergangenen Jahren eine Kanonisierung im Feld der Soziologie sowie zugleich eine weit über die Disziplin hinaus reichende Verbreitung erfahren, wie zahlreiche Tagungen, Netzwerke und Publikationen zeigen.4 Die hier geäußerte Kritik an einem Feld, einer Perspektive, das für meine wissenschaftliche Arbeit zu Fragen an der Schnittstelle von politischer und epistemischer Gewalt 2 3 4 Wenn eine wissenssoziologische Betrachtung auf die Wissenssoziologie oder die WDA selbst angewendet wird, ist gewiss von Wissenschaftssoziologie zu sprechen. Für das hier dargelegte Argument nehme ich keine weiteren Abgrenzungen vor, sondern verwende die Begriffe wechselseitig, je nachdem, was damit gemeint ist. Ich spreche von Diskursforschung und nicht von Diskursanalyse. Dieser Begriff bringt den prozesshaften Charakter der WDA und ähnlicher Zugänge meines Erachtens besser auf den Punkt als die Bezeichnung Analyse es tut, die immer auch auf eine gewisse methodische Eindeutigkeit hoffen lässt, die jedoch nicht existiert (Brunner 2011, S. 45). Ausnahmsweise sei hier auf das Online-Portal Wikipedia verwiesen, da es für die Verbreitung der WDA steht und zugleich zahlreiche weitere Verweise bietet: de.wikipedia.org/wiki/Wissenssoziologische_Diskursanalyse (Abruf 11.6.2013). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 228 Claudia Brunner zentral geworden ist, versteht sich also als Beitrag zu deren Weiterentwicklung, getragen von produktivem Zweifel (Hitzler/Honer 1997, S. 23 ff.). Das erkenntnisleitende Ziel ist dabei entsprechend der genannten Zugänge ein dezidiert politisches: die vertiefte Analyse von und darauf aufbauende Kritik an globalen und miteinander in Verbindung stehenden gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen. Dafür, so mein Argument, muss man die Wissenschaften selbst als für diese Machtasymmetrien konstitutives Element thematisieren und sollte auf die Stärken der Wissenssoziologie nicht verzichten. Dieses Verständnis von Analyse und Kritik ist zugleich auch der starke gemeinsame Nenner, der den hier diskutierten Traditionen inhärent ist. Reiner Kellers Anliegen, die WDA weiter zu entwickeln, kann ich nur zustimmen. Neben der von ihm betonten Ausdehnung in Richtung Interdisziplinarität und Dispositivforschung (Keller 2012, S. 66) plädiere ich für eine Konfrontation der euro- und androzentrischen wissenssoziologischen Debatten mit Analysen der anhaltenden (Post)Kolonialität des (hier vor allem wissenschaftlichen) Wissens und ihrer globalen Implikationen. Dies muss jedoch unter Anerkennung der Tatsache geschehen, dass diese Begegnung nicht auf Augenhöhe stattfinden kann, da ihre gegenseitige Rezeption asymmetrisch verläuft. Letztere sind bislang keineswegs in den Zentren der (Wissens)Soziologie verankert, wo die Ressourcen über deren weitere Entwicklung verhandelt und eingesetzt werden. Binnenwissenschaftliche Ungleichheitsverhältnisse (die durchaus in Relation mit politischen zu sehen sind) verstehe ich also nicht als von ihrer eigenen wissen(schaft)ssoziologischen Bearbeitung abgetrennt. Vielmehr ist letztere auch integraler Bestandteil der Aufrechterhaltung unterschiedlicher Asymmetrien von Wissen und Macht – und zugleich auch potenzieller Ort von Veränderbarkeit, wie uns Wissenssoziologie und Diskursforschung lehren. Die Relevanz der Beziehung zwischen Standpunkt und Standort gilt dementsprechend auch für den vorliegenden Text, weshalb ich im Folgenden einige für die hier diskutierte Fragestellung relevante Verortungen explizit mache, die meine eigene Sprechposition und ihren Kontext konstituieren. Wenn ich dabei selbstreflexive Schleifen über den »menschliche[n] Faktor« (ebd., S. 33) einziehe, Verweise auf die Enstehungskontexte dieser Argumentation selbst mache oder auf scheinbare Nebensächlichkeiten fokussiere, ist dies als ausdrücklicher Teil der hier dargelegten Perspektive bzw. als Illustration meines Arguments selbst zu verstehen. 2. Randnotizen zur diskursiven Konstruktion wissenssoziologischer Wirklichkeit Als Politikwissenschaftlerin mit Gender-Studies-Sozialisation und Blick auf Internationale Beziehungen, die mit wissen(schaft)ssoziologischer Agenda in der Friedens- und Konfliktforschung tätig und im umfassenden Sinne an ›Gewalt‹ interessiert ist, richtet sich mein Forschungsinteresse auf Zusammenhänge zwischen politischer Gewalt einerseits und epistemischer Gewalt andererseits (Brunner 2011, 2012). Letztere bezeichnet jenen Beitrag zu gewaltförmigen gesellschaftlichen Verhältnissen, die im Wissen selbst, in seiner Genese, Ausformung, Organisationsform und Wirkmächtigkeit, angelegt Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹ 229 sind.5 Damit befinde ich mich an der Schnittstelle bereits marginalisierter Forschungsfelder und -traditionen. Insofern spreche ich gewissermaßen von einigen Rändern aus, die über weniger symbolisches Kapital verfügen als die von dort aus wissenssoziologisch adressierten Ziele. Nichtsdestotrotz ermöglichen mir meine (sozial)wissenschaftliche Sozialisation und die institutionelle Verortung an einer Universität eine partiell privilegierte Position innerhalb der existierenden Wissensproduktionsverhältnisse einzunehmen und von dort aus zu sprechen/schreiben. Oder, um es mit den Worten Deepika Bahris auszudrücken: »We are complicitous in the same exploitative modes of production we are so privileged as to be able to academically criticize« (Bahri 1995, S. 77). Der Kontext der Entstehung dieses Texts kann dafür als Beispiel dienen. Er basiert auf dem Vortrag »›Geo/Politiken des Wissens‹. Postkoloniale und feministische Positionen im Dialog mit wissenssoziologischer Diskursforschung«, den ich am 21. März 2013 als eine der Keynote Lectures bei der Tagung der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an der Universität Augsburg gehalten habe. Diese durchaus privilegierte Sprechposition macht mich zum Teil jenes Settings, das ich in meinem Vortrag einer Kritik unterzogen habe. An zwei visuell-diskursiven Manifestationen lässt sich der Euro- und Androzentrismus des Feldes, von dem aus ich mein Argument betreffend die Geo- und Körperpolitik des Wissens entwickle, veranschaulichen. Zum ersten ist es die Webseite der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der Gastgeberin selbst, die diese Problematik auf eindrückliche Weise visuell repräsentiert. Dort werden acht Portraitfotografien von für das Feld der Wissenssoziologie zentralen wissenschaftlichen Persönlichkeiten gezeigt.6 Wenig überraschend sind diese Personen allesamt männlich, weiß und nicht weniger als geschätzte 60 Lebensjahre alt. Um zu erkennen, um wen es sich dabei handelt, mit welchen Standorten und Standpunkten man es also in der Wissenssoziologie zu tun hat, muss man bereits in das Feld sozialisiert sein und an ihm mit ExpertInnenstatus teilhaben, denn die Selbstverständlichkeit des zur Schau gebotenen wissenssoziologischen Selbstverständnisses erachtet namentliche Benennungen oder weitere Hinweise zu den gezeigten Personen als nicht erforderlich. Eine durchaus sympathische, jedoch in dieser Tradition verbleibende, (Selbst)Ironisierung ist auf dem Flyer zur erwähnten Tagung zu sehen. Auch auf dem kleinen Blatt, das mit dem Motto »[l]et’s construct a social party!!!« zum musikalisch-tänzerischen Ausklingen der Veranstaltung einlädt, bleibt man visuell-repräsentativ unter sich.7 Was für 5 6 7 Bislang liegt kein ausgearbeitetes Konzept des vielfältig genutzten Begriffs »epistemic violence« (Spivak 1988) vor. Dies ist das Ziel meines aktuellen transdisziplinären Forschungsvorhabens mit dem Arbeitstitel »Theorizing Epistemic Violence« an der Schnittstelle von Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung und Wissenssoziologie. Mehr dazu siehe Humboldt Chancengleich (Dezember 2012, S. 22 f.). Siehe www.wissenssoziologie.de (Abruf 29.5.2013). Als nicht hauptberufliche Wissenssoziologin habe ich mir (Danke an Manuela Boatcă) bei der Lösung des Rätsels helfen lassen. Es handelt sich um Max Weber, Émile Durkheim, Karl Mannheim, Max Scheler, Thomas Luckmann, William Isaac Thomas, Alfred Schütz und Michel Foucault. Siehe www.philso.uni-augsburg.de/de/lehrstuehle/soziologie/sozio1/wda_tagung/Datei/WDA_ Feier_Flyer.pdf (Abruf 29.5.2013). Die abgebildeten Personen sind Reiner Keller an den Plattentellern sowie Thomas Luckmann, Michel Foucault und Peter L. Berger. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 230 Claudia Brunner die Tagung selbst titelgebend war, nämlich »[d]ie diskursive Konstruktion von Wirklichkeit«, geschieht hinsichtlich der euro- und androzentrischen Wirklichkeit der deutsch(sprachig)en Wissenssoziologie u.a. auch über diese beiden Artefakte, die hier nur als Anekdote dienen sollen, um mein politisch-epistemologisches Argument betreffend eine Erweiterung des wissenssoziologischen Blicks auf globale Zusammenhänge in der sozialen Realität des Lokalen zu verankern. Selbst wenn nun beispielsweise Frauen in privilegierte Sprechpositionen gelangen, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie in den Repräsentationen, d.h. in den diskursiven Konstruktionen der in diesem Kontext relevanten Wirklichkeit, als für diese Wirklichkeit konstitutive und sie repräsentierende Elemente vorkommen. Aus feministischer Sicht ist dies keine neue Erkenntnis (Singer 2005), doch sie muss meines Erachtens so lange wiederholt werden, bis signifikante Umverteilungen unterschiedlicher »Kapitalsorten« (Bourdieu 1982) eingetreten sind. Dies gilt in noch viel größerem Ausmaß für nicht-weiße Personen oder People of Color, die in deutschsprachigen Wissenschaftsräumen ungeachtet ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung, der Studierenden und auch der zumindest jüngeren Generation von WissenschaftlerInnen weitgehend unsichtbar und damit auch ungehört bleiben.8 Dieser Umstand allein stellte jedoch ein geringeres Problem dar, würden in den weißen, überwiegend andro- und eurozentrisch markierten Sprechpositionen eben diese Seinsverbundenheit in Bezug auf das von dort aus artikulierte, spezifisch verkörperte und situierte Wissen, seine Entstehungs- und Bearbeitungsbedingungen selbst problematisiert und etwa zum Thema einer Tagung gemacht. Im Umkehrschluss bedeutet eine beispielsweise von einer schwarzen Frau eingenommene Sprechposition ja auch nicht notwendigerweise eine geopolitisch bewusste oder feministische Positionierung, denn mein Argument ist zwar auch, aber nicht primär jenes der Inklusion von mehr ›Anderen‹ in die wissenssoziologische und/oder diskursforschende Community der wissenssoziologischen ›Eigenen‹. Vielmehr geht es mir um die Anerkennung und Bearbeitung der Tatsache, dass die eigenen Erkenntnis-, Sprech- und Handlungspositionen erstens nicht zufällig die jeweils privilegierten sind, sondern das Ergebnis systematischer Exklusionsmechanismen auf der Ebene der Wissenschaften, ihrer Theorien, Methoden, Epistemologien und Organisationsformen selbst. Und zweitens ist das gesellschaftliche Subsystem Wissenschaft nicht von jenen politischen Asymmetrien zu trennen, die sich in 500 Jahren kolonialer und imperialer Dominanz Europas herausgebildet haben (Quijano 2010). Das ist gemeint, wenn dem dekolonialen Theoretiker Fernando Coronil daran gelegen ist, »einen Blick auf den Zusammenhang zwischen Beobachteten und Beobachtenden zu ermöglichen, zwischen den Produkten und der Produktion, zwischen dem Wissen und dem Ort seiner Entstehung« (Coronil 2002, S. 184), oder wenn die postkoloniale Feministin 8 Unter den SprecherInnen der Tagung war meiner Beobachtung zufolge keine einzige zu finden, und nur ganz vereinzelt unter den sonstigen TeilnehmerInnen. Ähnliches gilt auch in Bezug auf Behinderung und/oder Klassenherkunft und andere wirkmächtige Kategorisierungen, die eine Etablierung im wissenschaftlichen Feld erleichtern oder erschweren. Dies ist spätestens seit Pierre Bourdieus Werk keine Neuigkeit für SoziologInnen, kann aber meines Erachtens nicht oft genug erwähnt werden, um die permanente Reproduktion akademischer und sonstiger Eliten sowie die Universalisierung von deren Selbstverständlichkeiten in Erinnerung zu behalten. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹ 231 Meyda Yeğenoğlu feststellt, dass die dominante Struktur des Selbstverständlichen, weil Hegemonialen, erst dann erschüttert werden kann, wenn das Andere und die Andersheit im Herzen eben dieses Subjekts (Yeğenoğlu 1999, S. 8), also in den epistemologischen, theoretischen und methodologischen Prämissen der (Wissens)Soziologie selbst, verortet werden. Mein Plädoyer für eine feministische, post- und dekoloniale Selbstreflexion des Feldes mit dem Ziel seiner potenziellen Stärkung wird durch die genannten visuellen Manifestationen selbst durchaus nahe gelegt. Es fundiert argumentieren zu können, verdankt sich auch einer Entwicklung in den letzten Jahren, die den Eurozentrismus der Soziologie im Allgemeinen und der deutschsprachigen Soziologie im Besonderen thematisiert und dabei die nachhaltige (Post)Kolonialität des Funktionssystems Wissenschaft erkennbar macht.9 Worum es dabei geht und inwiefern diese Kritik für mein Argument nützlich ist, wird im Folgenden dargelegt. 3. Standards, Standorte, Standpunkte Ich gehe von der Annahme aus, dass es zwischen den genannten Perspektiven – Wissenssoziologie einerseits und feministische, post- und dekoloniale Theorien andererseits – potenziell mehr Überschneidungen gibt, als mit primär (wissens)soziologischer Brille bislang sichtbar ist. Als zentrale Schnittstelle aller genannten Zugänge erachte ich die Fokussierung auf die Seinsverbundenheit und Situiertheit des Wissens. Darüber hinaus halten alle Richtungen auch beträchtliche Herausforderungen füreinander bereit, die bislang noch nicht systematisch ausgearbeitet worden sind. Ein Problem dabei ist die äußerst asymmetrische Auseinandersetzung mit den jeweils ›anderen‹ Zugängen. Während sich feministische, post- und dekoloniale Empirie und Theorien seit Jahrzehnten intensiv mit diskursforschenden und auch wissenssoziologischen Zugängen auseinandersetzen und diese für sich selbst fruchtbar zu machen wissen, kann in umgekehrter Richtung nicht von einer qualifizierten Kenntnisnahme gesprochen werden. Sexualität und Geschlecht entdeckt man in der Wissenssoziologie ebenso wie ein geopolitisch informiertes Verständnis der Kategorie Raum bestenfalls als Variablen an ihren empirischen Rändern, jedoch kaum im Zentrum ihrer theoretischen oder gar epistemologischen Überlegungen. Wenn überhaupt, dann tauchen sie in Fußnoten (warum man sich jetzt darum nicht auch noch kümmern könne) oder in Form allgemeiner Verweise (anstatt ganz konkreter Zitations- und damit auch Anerkennungs- und Sichtbarkeitspraktiken) auf – kaum jedoch als zentrale Kategorien diskursforschenden und/oder wissenssoziologischen Arbei9 Als aktuelle einführende Werke für post- und dekoloniale Soziologie sind für die internationale Debatte z.B. Rethinking Modernity: Postcolonialism and the Sociological Imagination (Bhambra 2007), Decolonizing European Sociology (Gutiérrez Rodríguez/Boatcă/Costa 2010) und Postcolonial Sociology (Go 2013) und für die deutsch(sprachig)e Postkoloniale Soziologie (Reuter/Villa 2010) zu nennen. Allgemeiner sozialwissenschaftlich orientierte Werke in deutscher Sprache sind etwa einführend Castro Varela/Dhawan (2005) und Kerner (2012), speziell zu Fragen der Method(ologi)en Kaltmeier/Corona Berkin (2012), noch breiter disziplinär angelegt etwa Reuter/Karentzos (2012). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 232 Claudia Brunner tens. Auch die Sprechenden/Schreibenden selbst sind überwiegend Angehörige einer Mehrheitsgesellschaft, deren für intellektuelle/akademische Sprechpositionen vorgesehene Variablen nicht gerade von signifikanter Diversität geprägt sind, wie oben genannte Beispiele illustrieren, und deren euro- und androzentrische Spezifik – weil Norm und damit unsichtbar – auch kaum zur Debatte steht. Eine Fokussierung auf die Situiertheit und Seinsverbundenheit von Wissensproduktion ist also zwar in der Theorie die Basis jeglicher wissenssoziologischen Perspektive. Deutlich schwächer ausgeprägt als im Hinblick auf die jeweiligen Untersuchungsgegenstände ist dieser Fokus in der Praxis allerdings, sobald es um die eigene Erkenntnisposition geht. Wenn die gesellschaftliche Bedingtheit, die Situiertheit, die Standortge- oder Seinsverbundenheit von wissenschaftlicher Erkenntnis in der Soziologie thematisiert wird, dann geschieht dies, so Julia Reuter (2012, S. 302), zumeist nicht in ihren (post)kolonialen oder vergeschlechtlichten Bezügen, sondern eher in ihrem eigenen intellektuellen Feld, das ein weißes, europäisch-nordamerikanisches, bürgerliches und weitgehend männliches in den Metropolen der westlichen Welt war und ›affirmative action‹10 zum Trotz immer noch ist. Oder noch pointierter, auch hinsichtlich kritischer und selbstreflexiver Wendungen innerhalb des Feldes der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften: Der ›cultural turn‹ öffnet den Blick nicht notwendigerweise für die geopolitischen Asymmetrien der Wissensverhältnisse selbst; der ›spatial turn‹ ist zumindest innerhalb der deutsch(sprachig)en Sozialwissenschaften keiner, der den sozialen Nahraum, das Territorium des Nationalstaats oder (West)Europas verlässt oder als Zentrum hegemonialer Wissensproduktion problematisiert; und auch dem jüngsten ›visual turn‹ kann in seinen konkreten Umsetzungen in der deutsch(sprachig)en Soziologie – gemessen an den Kriterien feministischer, post- und dekolonialer Perpektiven – eine gewisse Tendenz zur Kurzsichtigkeit attestiert werden. Die Selbstverständlichkeit eines »methodologischen Nationalismus« (Beck/Grande 2010) der Sozialwissenschaften ist jedoch nicht in erster Linie das Ergebnis methodischer Nachlässigkeit, intentionaler Ignoranz oder von praktischen Lektüredefiziten Einzelner, sondern vielmehr die anhaltende Konsequenz einer zutiefst androzentrischen (Ernst 1999; Hausen/Nowotny 1986; Haraway 1988; Harding 1991), okzidentalistischen (Coronil 2002; Dietze/Brunner/Wenzel 2009) und eurozentrischen (Conrad/Randeria 2002; Quijano 2010) sowie strukturell rassistischen (Harding 1993; Mills 1997) bzw. weißen (Collins 1990; Wollrad 2005) Verfasstheit der Wissenschaften selbst.11 Diese nicht nur zu dekonstruieren, sondern zu dekolonisieren ist das Anliegen dekolonialer Theorie, die gegenwärtig erstmals eine starke Rezeption auch im deutschsprachi10 Der englische Begriff bringt meines Erachtens angemessener zum Ausdruck, worum es dabei geht als der deutsche Begriff ›positive Diskriminierung‹, der eine Nivellierung asymmetrischer Machtverhältnisse mit sich bringt. Strukturell Privilegierte werden nicht diskriminiert, wenn strukturell Diskriminierte eine Unterstützung erfahren. Schließlich ist diese Unterstützung immer noch vor dem Hintergrund von weiter existierenden Ungleichverhältnissen zu bewerten. 11 Zu den genannten Perspektiven existiert eine Vielzahl wichtiger Publikationen, die hier nicht genannt werden können. Als Einführung in diese Debatten, deren Schnittstellen und Potenziale siehe Singer (2005). Zu einer neueren Verortung postkolonialer Genderforschung siehe Hornscheidt (2012). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹ 233 gen Raum erfährt und von dort verorteten kritischen SozialwissenschaftlerInnen in den letzten Jahren intensiv diskutiert wird. So wie feministische und/oder Queere Theorie sich nicht mit der Berücksichtigung einer Variable Geschlecht oder Sexualität zufrieden gibt, sondern vielmehr die Thematisierung von tief verwurzeltem Androzentrismus und ebensolcher Heteronormativität in Form adäquater Untersuchungskategorien und anderer Theorien und Epistemologien sowie Wissenschaftspraktiken einfordert, strebt post- und dekoloniale Soziologie nichts weniger an als die Dezentrierung, Dekonstruktion und perspektivisch die Dekolonisation des impliziten Universalismus, der impliziten Teleologie der soziologischen Modernisierungstheorien, die weite Teile der Sozialwissenschaften explizit und implizit konstituieren. Der wichtige Unterschied zwischen Dekonstruktion und Dekolonisation liegt nach Manuela Boatcă und Sérgio Costa im angestrebten Ergebnis der jeweiligen Kritikprojekte: Während postmoderne Dekonstruktion von der Vorstellung geleitet ist, dass ihr ein potenziell gleichberechtigtes und als konfliktfrei gedachtes Nebeneinander autonomer Sphären folgt, verfolgen dekoloniale Perspektiven das Ziel des Sichtbarmachens von Verbindungen und Asymmetrien zwischen als gleichrangig erscheinenden Entitäten, um deren strukturelle Asymmetrie zu problematisieren und sie in Folge auch potenziell neu organisieren zu können (Boatcă/Costa 2010a, S. 15). Daher sprechen sie auch nicht gern von einem allzu schnell ins Treffen geführten ›postcolonial turn‹, sondern fordern vielmehr einen klaren Blick auf den massiven ›colonial turn‹, der der Institutionalisierung der Soziologie und der Etablierung anderer Wissenschaften als imperiale Herrschaftsinstrumente vorausging (ebd., S. 14). Sie und viele andere arbeiten an einer »Provinzialisierung Europas« (Chakrabarty 2010), die herauszuarbeiten versucht, »welche Rolle die wissenschaftlichen Disziplinen im Rahmen kolonialer Herrschaft gespielt haben und wie diese (neo-)koloniale Episteme und materielle Beziehungen reproduzier(t)en« (Castro Varela/Dhawan 2009, S. 9). Reiner Kellers Worte über eine »neue Grammatik der individuellen und kollektiven Verantwortlichkeit«12 (Keller 2005, S. 275) weiter ausbuchstabierend könnte dies bedeuten, dass sich wissenssoziologische Diskursforschung im Zuge ihrer jüngsten interdisziplinären Ausdehnung von eben jenen bislang wenig gehörten Stimmen dazu heraus- und auffordern lässt, eine solche Verantwortlichkeit auch hinsichtlich für die Wissenssoziologie als ›neu‹ erscheinender, d.h. noch nicht umfänglich expliziter Kategorien durchzudenken: Geschlecht einerseits und geopolitischer Raum andererseits.13 Insbesondere letztere Kategorie führe ich im übernächsten Abschnitt am Beispiel von Walter Mignolos Konzept der Geo- und Körperpolitik des Wissens aus, um mein Hauptargument die geopolitische Situiertheit und Seinsverbundenheit der Wissenssoziologie betreffend weiter auszuführen. Zuvor diskutiere ich jedoch zentrale jüngere sozialwissenschaftliche Arbeiten im/aus dem deutschsprachigen Raum, die vor allem im Anschluss an TheoretikerInnen 12 Im Original kursiv. 13 Selbstverständlich sind prinzipiell auch andere Kategorien wie Klasse oder Ability (Degele/Winkler 2009; Walgenbach et al. 2007) als Erweiterung denkbar. Für mein Argument zentral soll hier aber vor allem geopolitischer Raum berücksichtigt werden. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 234 Claudia Brunner mit Bezügen nach Indien und Lateinamerika für eine post- und dekoloniale Soziologie eintreten, die diese Geo- und Körperpolitik zum Ausgangspunkt eines neuen Paradigmas macht. 4. Wissenssoziologische Ex- und Importe Die Wissenssoziologie ist seit ihren Anfängen stark in der deutsch(sprachig)en soziologischen Tradition beheimatet und hat sich von dort aus internationalisiert. Für postkoloniale Soziologie, die erst allmählich ›hier‹ ankommt, ist gerade das Gegenteil der Fall: Sie hat noch keinen festen Ort mit deutsch(sprachig)em Türschild, ist aber international viel weiter vorangeschritten als dies ›hier‹ bekannt ist. Im Gegensatz zur Situation der ehemaligen kolonialen Großmächte Großbritannien und Frankreich, wo sich die Soziologie aufgrund ihres dort stärker problematisierten kolonialen Erbes intensiver mit ihrem eigenen Anteil an der Geschichte von Expansion und Ausbeutung beschäftigt, wurde postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum bis vor wenigen Jahren kaum als relevant erachtet (Castro Varela/Dhawan 2005, S. 7). Innerhalb der deutschsprachigen Soziologie – die allerdings einen großen Teil der Entwicklung der Soziologie insgesamt geprägt hat –, so Manuela Boatcă und Sérgio Costa, gelten postkoloniale Perspektiven somit als »Importe dritten Grades« (Boatcă/Costa 2010b, S. 73): erstens aus der kultur- und literaturwissenschaftlichen Tradition, zweitens aus dem englischsprachigen Raum und drittens aus einem als nachkolonial und damit abgeschlossen verstandenen Kontext (ebd.). Gerade das – abgeschlossen – ist die Kolonialität des Wissens und der Macht jedoch nicht.14 Mit ihrer Kritik an einem Herzstück der Entstehung und Etablierung der Soziologie selbst – der Moderne als partikularisiertem Universalismus im Gefolge der kolonialen und imperialen Expansion Europas – stellt post- und dekoloniale Theorie also durchaus eine Herausforderung für die (Wissens)Soziologie dar. In den letzten Jahren haben Stimmen aus diesem Spektrum zumindest temporär relevante Sprechpositionen innerhalb des sozialwissenschaftlichen Feldes einnehmen können, sodass es angesichts zunehmender Publikationstätigkeit immer schwieriger wird, diese – bezeichnenderweise überproportional vielen Frauen sowie Personen mit nicht primär/ausschließlich deutscher Herkunft – zu ignorieren. Die in die Thematik einführenden Bände15 arbeiten überzeugend daran, die Soziologie und ihre ausdifferen14 Damit ist bezeichnet, dass die politisch-epistemischen Folgen dieser historischen Phasen noch anhalten und in der Gegenwart Wirkung haben. D.h., auch wenn z.B. Kolonialismus als politische Organisationsform im engeren Sinne seit Mitte des 20. Jahrhunderts als weitgehend überwunden gilt, sind ehemals kolonisierte ebenso wie ehemals kolonisierende Gesellschaften immer noch von einem tief verwurzelten Zustand der (Post)Kolonialität geprägt, die in Wissens- und Machtformen bis heute wirksam sind. Dies ist auch der Ausgangspunkt, von dem aus die hier vorgestellten Zugänge auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Vehemenz für »dekoloniale Optionen« (Kastner/Waibel 2012, S. 7) eintreten. 15 Für die Soziologie siehe Castro Varela/Dhawan (2005), Reuter/Villa (2010), Gutiérrez Rodríguez/ Boatcă/Costa (2010); für breiter sozialwissenschaftlich angelegte Einführungen siehe Reuter/KaBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹ 235 zierten Subfelder mit post- und dekolonialen Perspektiven zu konfrontieren, um die nachhaltige (Post)Kolonialität des Wissens auch innerhalb der Zentren der Wissensproduktion zu thematisieren, zu problematisieren und zu analysieren. Übergeordnetes Ziel dieses Zugangs ist es nicht zuletzt, mittels Analyse und Kritik zu einer möglichen Überwindung von lokal und global miteinander verflochtenen Ungleichverhältnissen beizutragen. Ausgangspunkt ist dabei die Erkenntnis, dass z.B. Soziologie und Ethnologie sowie weitere Sozialwissenschaften wie etwa Ökonomie und Politologie im Kontext der Herausbildung europäischer Nationalstaaten im 19. Jahrhundert verstanden werden müssen, und damit auch in den kolonialen und imperialen Bezügen einer 500 Jahre alten Geschichte von Expansion durch Ausbeutung (Reuter 2002). Während Ethnologie, Anthropologie und Fremdsprachenphilologien respektive Regionalwissenschaften16 ihr zunehmendes Interesse an Lebensformen und Organisationsweisen in außereuropäischen Gesellschaften in kanonisierten Wissensformen etablieren konnten, Ökonomen17 die Sphäre des Marktes und Politologen jene des Staats zu ihrem Gegenstand machten (Wallerstein 2004), wandte sich die Soziologie im Zuge ihrer Professionalisierung den sozialen Wandlungsprozessen, Institutionen und Dynamiken innerhalb westlicher Industriegesellschaften zu, ohne jedoch deren enge Verwobenheit mit Entwicklungen im ›globalen Süden‹ in die Analyse zu integrieren. Mit einer post- und dekolonial fundierten Veränderung des (wissens)soziologischen Blicks hingegen wird jegliche universal(istisch)e Wissensformation als partikulare und bruchstückhafte erkennbar, und die Notwendigkeit ihrer Dezentrierung tritt deutlich zutage. Gemeinsam sorgten die genannten (und weitere) Disziplinen damit für die Durchsetzung von Ordnung und Herrschaft im Innen- wie im Außenverhältnis, die nur in Übereinstimmung mit der Etablierung und Anwendung autoritativen und in diesem Kontext notwendigerweise eurozentrischen Wissens gelingen konnte. Wie alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist somit auch die Soziologie, um die es für eine wissenssoziologische Reflexion hier in erster Linie geht, als Disziplin auf Engste mit dem Kontext ihrer Genese verknüpft, mit der europäischen Moderne, die gerade dadurch zu einer universalisierten aufsteigen konnte, da sie ihre »dunkle« oder »Unterseite« (Dussel 2003) höchst konsequent und erfolgreich aus ihrem analytischen Repertoire auszuschließen wusste (Boatcă/Costa 2010b, S. 72 f.). Das bedeutet beispielsweise, so Manuela Boatcă und Sérgio Costa in ihrem programmatischen Aufsatz zur Dekolonisierung der Soziologie, dass trotz paralleler Praxis und Erfahrung rentzos (2012), Kerner (2012), Quintero/Garbe (2013); speziell zu Methodenfragen siehe Kaltmeier/Corona Berkin (2012). Als aktuelle einführende Werke für post- und dekoloniale Soziologie in der internationalen Debatte siehe Bhambra (2007) sowie Go (2013). 16 Zur Etablierung der sozialwissenschaftlich dominierten ›area studies‹ nach Gesichtspunkten der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und deren Kontinuitäten und Transformationen gegenüber den im 19. Jahrhundert etablierten fremdsprachigen Philologien siehe das erstaunlich wenig rezipierte Kapitel Orientalism Now in Edward Saids berühmtem Werk Orientalism (Said 1994, S. 284−328). 17 Hier verwende ich bewusst die männliche Form, da diese Disziplinen sich erst sehr spät Frauen öffneten, bis heute maskulin und androzentrisch sind und für die Phase ihrer Herausbildung der Hochschulzugang für Frauen ohnedies noch in weiter Ferne lag. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 236 Claudia Brunner jener Nationen, die an Sklavenhandel, Ausbeutung von Ressourcen und am Aufstieg des gerade erst durch diese beiden Faktoren expandierenden Kapitalismus zentral beteiligt waren, gerade nicht diese und ähnliche Phänomene Eingang in die Schlüsselbegriffe, Theorien, Methodologien, Epistemologien und Organisationsformen der Soziologie gefunden haben. Was hingegen für die Erfolgsgeschichte der Moderne und damit auch für ihre Leitdisziplinen konstitutiv gesetzt und gemacht wurde, waren die glänzend polierten Seiten der (französischen) Aufklärung, der (britischen) industriellen Revolution oder der (im deutschsprachigen Raum zu verfolgenden) Rationalisierung von Religion (ebd.). Diese drei von den AutorInnen gewählten Länderbeispiele sind auch nicht zufällig, sondern stellen jene Bezugsräume innerhalb Westeuropas dar, die für die Herausbildung und Fortschreibung der Soziologie als Disziplin bis heute konstitutiv sind, wie auch die eingangs erwähnte Ahnengalerie der Wissenssoziologie zeigt. Anders formuliert bedeutet dies, dass keiner der für das Selbstverständnis moderner Sozialwissenschaften (und auch ihrer VorläuferInnen) zentralen Begriffe wie z.B. Fortschritt, Moderne, Rationalität, Universalität, Zivilisation, Entwicklung etc. außerhalb der global asymmetrisch organisierten Unterwerfung, Ausbeutung und Dominanz steht, zu deren Entfaltung und Anwendung europäische Wissenschaften als Werkzeuge der kolonialen und imperialen Expansion Europas maßgeblich beigetragen haben. Dies ist jedoch nicht primär ein Fall für WissenschaftshistorikerInnen, sondern betrifft jegliche sozialwissenschaftliche Arbeit an Wissens-Macht-Verhältnissen. Schließlich begleiten uns diese Begriffe in modifizierter Form auch bis heute, wenn mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Expertise im Außenverhältnis eines immer noch nationalstaatlich geprägten Paradigmas humanitäre Interventionen legitimiert, Entwicklungspolitiken installiert oder im Innenverhältnis Sicherheitsdispositive normalisiert und Migrationsregime organisiert werden. Post- und dekoloniale sowie intersektionale (Degele/Winkler 2009) oder interdependente (Walgenbach et al. 2007) feministische Zugänge fordern genau diese Normalität und Unsichtbarkeit heraus (Hornscheidt 2012). Sie tun es jedoch nicht nur in den je konkreten Manifestationen von Ungleichheit bei gleichzeitiger Behauptung allgemeiner Gültigkeit, um konkrete politische Ungerechtigkeits- und Ungleichheitsverhältnisse zu thematisieren, sondern auch in den erkenntnistheoretischen Grundfesten des gesamten Gedankengebäudekomplexes euro- und androzentrischer Wissensformationen. Damit steht auch das ›System‹ Wissenschaft selbst auf dem Prüfstand insbesondere post- und dekolonialer Perspektiven. Exemplarisch führe ich im Folgenden das Konzept der »Geopolitik des Wissens« von Walter Mignolo (2002, 2011, 2012) näher aus, in dem sich viele der genannten Kritiken bündeln lassen. 5. Die Geopolitik des Wissens und die Matrix der Kolonialität Encarnación Gutiérrez Rodríguez weist darauf hin, dass eine angemessene Dekolonisierung der euro-amerikanischen Soziologie von dort ausgehen müsse, wo geopolitischer Raum, Sexualität und Geschlecht im Kontext von Macht und Wissen bereits seit langem diskutiert und auch theoretisiert werden: Black Feminism (Collins 1990; Davis 1981; Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹ 237 hooks 1984; Lorde 1984) und Chicana Feminism (Anzaldúa 1987; Sandoval 2000), jeweils partiell auch von queer-theoretischen Zugängen durchquert, die die Verkörperung von Wissen, dessen Situiertheit und Einbettung in asymmetrische Macht-, Herrschaftsund auch Gewaltverhältnisse zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen erklären (Gutiérrez Rodríguez 2010). Diese und ähnliche Zugänge werden in der gegenwärtigen Debatte – allerdings eher implizit als explizit, wenn es um Geschlechterfragen geht – genutzt, um die bestehende »koloniale Matrix« (Mignolo 2012, S. 137) globaler Macht-Wissens-Verhältnisse auszubuchstabieren.18 Diese Matrix konstituiert sich entlang von zwei Achsen. Zum einen handelt es sich dabei um eine »global wirksame und eurozentrierte soziale Klassifikation von Bevölkerung nach rassistischen Merkmalen« (Garbe 2013, S. 40), die wiederum von Feministinnen als um die sexuelle/vergeschlechtlichte Klassifikation erweitert gedacht wird. Zum anderen wird diese Achse ergänzt durch die auf eben dieser rassifizierten (und vergeschlechtlichten) Klassifikation basierende globale Arbeitsteilung sowie durch die Integration aller Produktionsweisen in den globalen kapitalistischen Markt (ebd., S. 41). Die zentralen Bereiche, über die diese Dynamik ihre nachhaltige Wirksamkeit entfaltet hat, sind nach Aníbal Quijano und Edgardo Lander19 erstens die Privatisierung und Ausbeutung von Land und Arbeitskraft (unter anderem durch die rassistische Kategorisierung von Menschen), zweitens die Kontrolle der Autorität (auch durch militärische Mittel), drittens die Kontrolle von Geschlecht und Sexualität (durch das Christentum als Stützpfeiler des frühen Kolonialismus), viertens die Kontrolle der Subjektivität (durch den christlichen Glauben ebenso wie später durch die Idee der Säkularität von Subjekt und BürgerInnenschaft) sowie die Kontrolle von Erkenntnis (durch die Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen) und fünftens die Kontrolle von Natur und Ressourcen aller Art, inklusive geistigen Eigentums (Mignolo 2012, S. 142 f.). Mit Mignolos eigenen Worten gesprochen bilden die genannten »fünf Ebenen der kolonialen Matrix« (ebd., S. 144) innerhalb einer rassistischen Klassifizierung sowie einer normativen patriarchalen Ordnung »jene besondere Struktur, die die Verbindung von Erkenntnis und Kapital ab dem 16. Jahrhundert annahm« (ebd., S. 145). Die »Kolonialität der Macht« (Quijano 2000; Garbe 2013) und die »Kolonialität des Wissens« (Lander 2000; Germaná 2013) sind also nicht voneinander zu trennen, haben sich die Wissenschaften doch in eben jenem epistemisch-politischen Gefüge von Kolonialität und Imperialität entwickelt und dieses zugleich mit hervorgebracht. Zentral für das jahrhundertelange Funktionieren dieser Ko-Konstitution von universalisierendem/universalisierten Wissen und global asymmetrisch organisierten Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist – und nun komme ich wieder zu meinem Argument der geteilten Wurzeln zwischen Wissenssoziologie und dekolonialer Theorie – die Behauptung des 18 Das heißt, wann immer post- und dekoloniale Perspektiven Eingang in neue Wissensfelder finden, tun sie dies auch auf den Schultern vieler queerer und feministischer VorgängerInnen, die dann aber oft unbenannt bleiben, wenngleich die Blickrichtungen ›von unten‹ einander punktuell sehr ähnlich sind. Selbstverständlich gibt es auch vielfache Differenzen und Kritiken aneinander oder Ignoranzen voneinander, doch hier geht es mir um die geteilte Blickrichtung der unterschiedlichen Perspektivierungen von Seinsverbundenheit und Situiertheit. 19 Nach Mignolo sind die ersten vier Punkte auf Quijano zurückzuführen und der fünfte auf Lander. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 238 Claudia Brunner von Santiago Castro-Gómez sogenannten »Null-Punktes der Beobachtung« (CastroGómez 2005, S. 8), der den Standort der Wissensartikulation selbst unsichtbar macht. Dass eine solche Objektivitätsbehauptung nur der Durchsetzung einer ganz spezifischen Wissensform unter der Voraussetzung einer dominanten Machtposition zu verdanken ist, haben WissenssoziologInnen ebenso wie zahlreiche kritische Theorien auf Basis unterschiedlicher zentraler Kategorien (Geschlecht, Sexualität, Klasse, ›Rasse‹ etc.) längst nachgewiesen (Singer 2005), Feministinnen »the god trick« (Haraway 1988) und RassismustheoretikerInnen eine »epistemology of ignorance« (Mills 1997, S. 18) genannt. In Bezug auf das geopolitische Erbe eurozentrischer Wissensformationen und seiner bis in die Gegenwart reichenden Folgen ist diese Erkenntnis jedoch bislang nicht weit verbreitet. Die seit 500 Jahren bestehende und zugleich höchst dynamische Verwobenheit dieses ignoranten Tricks mit einem globalen politischen Gefüge imperialer Expansion dank Ausbeutung kann mit Walter Mignolos Begriff der Geo- bzw. Körperpolitik des Wissens, der im wissenschaftlichen wie politischen Kontext des lateinamerikanischen Forschungskollektivs Modernidad/Colonialidad20 zu verorten ist (Quintero/Garbe 2013), sehr treffend benannt werden. Mit ihm, so Sabine Broeck, ist nicht nur die oben erläuterte Intention verbunden, »die Paradigmen westlicher, weißer postaufklärerischer Moderne(n)« zu durchqueren, sondern auch jene, eine dekoloniale Alternative zu erarbeiten (Broeck 2012b, S. 168). Eine grundsätzlich begrüßenswerte genderreflektierte Sprechweise oder die simple Anrufung von transkultureller Hybriditiät bedeuten noch nicht die Anerkennung feministischer, schwarzer, diasporischer oder postkolonialer epistemischer Agenz, die im Sinne einer von Mignolo so genannten »epistemologischen Entkoppelung« (Mignolo 2012, S. 45) zur Erosion westlicher, eurozentrischer Kultur- und Wissenshegemonie beitragen kann (Broeck 2012a, S. 293 f.). Ebenso führt nach Sabine Broeck die adjektivisch-additive Nennung von race/class/gender oftmals eher ins gewissenberuhigende neutrale Abseits als in eine eindeutige Kritik an Verhältnissen von Herrschaft und Ungerechtigkeit, die nach wie vor das westliche Weiße (nicht nur, aber überwiegend) männliche Subjekt des Wissens und der Tat privilegieren – und damit auch bestimmte, dominante Formen von Wissenschaft prägen (ebd.). Erforderlich ist den hier kursorisch benannten Perspektiven zufolge eine tief greifende Konfrontation mit jener Körper- und Geopolitik des Wissens, in der wir als WissenschaftlerInnen selbst verortet sind und ohne deren grundlegende Anerkennung keine Dekolonisierung möglich ist. Denn Walter Mignolo zufolge sind »[d]ie Paradigmen der eurozentrischen Erkenntnis […] an einen Punkt angelangt, an dem ihre eigenen Prämissen auf sie selbst angewandt werden müssten, ausgehend von einem Arsenal an Konzepten, Visionen und Energien, die im Triumphzug des okz20 Sebastian Garbe fasst dessen Eckpfeiler wie folgt zusammen: die Ko-Konstituierung von Moderne und Kolonialität in und seit der Eroberung Amerikas 1492; die Überschneidung von Kolonialismus, kapitalistischem Weltsystem und Moderne als weltweites machtasymmetrisches Modell und kapitalistischer Akkumulationsform; die Betrachtung der Moderne als weltweites Phänomen; die Fokussierung auf weltweit soziale Ungleichheiten, Subalternisierungsprozesse, ungleiche soziale Klassifizierungen und Fremdbestimmungen; der Eurozentrismus als moderne/koloniale Wissens-, Repräsentations- und Reproduktionsform (Garbe 2013, S. 40). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹ 239 identalen konzeptuellen Apparats zum Schweigen gebracht oder gar nicht erkannt wurden.« (Mignolo 2012, S. 167). 6. Un/Möglichkeiten einer epistemischen Dekolonisierung Ob und wie es gelingen kann, die Kolonialität der Macht und die mit ihr eng verwobene Kolonialität des Wissens zu destabilisieren und an ihrer statt anderes zu etablieren, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Forderung nach einer Inklusion subalterner und marginalisierter Wissensformen steht zugleich der Vorbehalt entgegen, dass es nach einem halben Jahrtausend globaler Durchsetzung der euro- und androzentrischen Moderne schwierig sei, sich jenseits von deren zentralen Denkformen und Organisationsstrukturen zu verorten (Santos 2005, S. 206). Nichtsdestotrotz sind Programme wie Walter Mignolos ›Denken an/auf der Grenze‹ (Mignolo 2012) oder Linda Tuhiwai Smiths Plädoyer für ein ›researching back/writing back/talking back‹ durch Marginalisierte (Smith 1999) wesentliche Elemente einer angestrebten Dekolonisierung des Wissens. Diese soll die Wissensformen multiplizieren (Kaltmeier 2012, S. 22), die intellektuelle Arbeitsteilung mittels einer anderen Wissenschaftspolitik und -ethik neu organisieren und »von der Ausbeutung zur dialogischen Lektüre« (ebd., S. 30) gelangen. Unstrittiger ist der Versuch, in epistemologischer, theoretischer, methodischer und überhaupt jeglicher nur möglichen Hinsicht auf die Verbindungslinien und »geteilten Geschichten« (Randeria 1999) zu fokussieren, anstatt auf den gewohnten Trennungen zu beharren, die das euro- und androzentrische Wissenschaftsmodell so erfolgreich durchgesetzt hat. Eine seit langem auch in der feministischen Forschung bestehende Forderung ist die der »methodischen Inversion« (Kreisky 1995, S. 89). Dies bedeutet anzuerkennen, dass etwa die Kategorien Geschlecht und geopolitischer Raum nicht erst an einen Untersuchungsgegenstand herangetragen werden müssen, um dann bestenfalls als Variablen Berücksichtigung zu finden, sondern ihm bereits eingeschrieben und daher grundlegend als für das jeweilige Wissen konstitutiv sind. Durch diese (Denk)Bewegung des Zentrierens vermeintlicher Marginalien können dominante Paradigmen schließlich dezentriert werden. Die genannten Möglichkeiten deuten nur ansatzweise das Spektrum der Debatte über die Un/Möglichkeiten einer epistemischen und damit auch politischen Dekolonisierung an. Worin sich diese und andere Stimmen jedoch einig sind, ist die Feststellung, dass es höchst an der Zeit für eine vielstimmige Kritik der Epistemologien, Theorien, Methodologien, Organisationsformen und Arbeitsteilungen der Sozialwissenschaften und damit auch der Soziologie sei, die auf einer erneuten Reflexion der Situiertheit jeglicher Wissensproduktion auch hinsichtlich der Kategorie geopolitischer Raum basiert und schließlich in einer grundlegend veränderten Wissenschafts- und Forschungspolitik auch im globalen Verhältnis resultieren soll. Diese Vielstimmigkeit soll keine beliebige der ›üblichen Verdächtigen‹ der Wissenssoziologie sein, sondern muss notwendigerweise Stimmen aus dem globalen Süden und andere Minorisierte und Marginalisierte inkludieren, die sich diese Sprechpositionen hartnäckig erkämpfen müssen. Wenn dabei EssentialisBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 240 Claudia Brunner men und allzu kurz gedachte Verbindungen zwischen Standorten und Standpunkten in grundsätzlich dekonstruktive Programme zurückkehren, dann kann diesen nach Gayatri C. Spivak auch eine mittelfristige strategische Funktion eingeräumt werden. Solange die grundlegenden epistemisch-politischen Fragen nicht breit diskutiert werden, ist auch die Abarbeitung einer politisch korrekten Methodencheckliste weder ausreichend noch sinnvoll (Franzki/Aikins 2010, S. 24). Olaf Kaltmeier nennt dennoch drei Aspekte, die aus methodologischer, epistemologischer und schließlich politischer Sicht für eine Dekolonisierung von Wissen(schaft) unverzichtbar sind: erstens Selbstreflexivität in Bezug auf die (Post)Kolonialität des Wissens und die Verortung der eigenen Position darin, zweitens die Anerkennung einer impliziten Vielstimmigkeit jeglicher Forschung sowie die explizite Förderung von kollektiven Formen der Wissensgenerierung unter systematischer und nicht-paternalistischer Berücksichtigung vormals ungehörter Stimmen, und drittens schließlich das Eingeständnis, dass jedes Forschungsvorhaben auch ein politischer Akt in einem durchaus veränderbaren (geo)politischen Gefüge ist (Kaltmeier 2012, S. 40 f.). Wissenssoziologische Perspektiven, so mein Argument, sollten an einer solchen Grundsatzdebatte über die kolonial und imperial geprägte Geo- und Körperpolitik des Wissens und ihrer potenziellen Transformation besonders interessiert sein, ist ihr Gegenstand doch das Wissen selbst – und damit auch dessen Verwissenschaftlichung, die wiederum die Wissen(schaft)ssoziologie als disziplinär verortetes Feld beschäftigen sollte. Eine post- und dekoloniale Vertiefung der Wissenssoziologie, so denke ich, fordert diese einerseits zwar in einigen ihrer Grundannahmen substanziell heraus. Andererseits bedeutet sie möglicherweise eine produktive Ausdehnung ihrer Reichweite und nicht zuletzt eine Stärkung ihrer Relevanz als kritische gesellschaftswissenschaftliche Subdisziplin, wenn es ihr gelingt, die ihren Prämissen zutiefst eingeschriebene Geo- und Körperpolitik des Wissens zugunsten einer dekolonialen und radikal demokratischen Erneuerung der Wissenschaften umzuschreiben. 7. Fazit »Jenseits affirmativer Forschung, die in ihren Analysen bestehende Deutungen zusätzlich stützt, sollte das kritische Hinterfragen gesellschaftlich anerkannter Definitionen von Wirklichkeit das Kernanliegen unabhängiger [Betonung C.B.] Sozial- und Kulturwissenschaften bleiben. Nichts sollte sie von dieser Art des Denkens und Forschens abhalten, vor allem nicht über den Stoff, aus dem diese Disziplinen selbst gewoben sind: dem Wissen.« (Kajetzke 2008, S. 162) Ich stimme dieser Intention grundsätzlich zu und versuche, meinen Beitrag dazu zu leisten, auch wenn zahlreiche wissenschaftspolitische Entwicklungen – Stichwort neoliberale Universität/corporate university (Broeck 2012a) – uns davon immer erfolgreicher abzuhalten vermögen. Die Auseinandersetzung mit feministischen, post- und dekolonialen Kritiken an unterschiedlichen Formen epistemischer Gewaltförmigkeit in historiBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹ 241 schen und gegenwärtigen Wissenschaftspraktiken verunmöglicht es mir aber, den Begriff der Unabhängigkeit unmarkiert stehen zu lassen. Auch wenn sich kritische WissenschaftlerInnen gerade in der zunehmenden Deregulierung des Bildungssektors und in der sich normalisierenden Verwertungslogik von Wissenschaft für weitgehende Unabhängigkeit wissenschaftlicher Forschung (und Lehre ebenso wie Organisationsformen) immer wieder neu einsetzen müssen, muss uns klar sein, dass jede wissenschaftliche Tätigkeit notwendigerweise immer historisch und politisch verortet, also nie unabhängig im Sinne einer allgemein gültigen, autoritativen Objektivität und Losgelöstheit von Genese, Kontext und Verwertungszusammenhang sein kann. Die normalisierten Positionen sind die privilegierten, während das Privileg durch seine Normalisierung unsichtbar gemacht wird. Die Erkenntnis über die Universalisierung ganz spezifischer Partikularitäten auch im Feld der Wissenssoziologie sollte uns skeptisch machen angesichts wiederkehrender Kanonisierungen des Mainstreams und bisweilen wohlmeinender, aber zumeist unbenannter und wenig folgenreicher Inklusionen an dessen Rändern. Uns die prinzipielle und unvermeidbare Situiertheit und Seinsverbundenheit des Wissens unter den hinsichtlich globalisierter Macht-Wissens-Verhältnisse zentralen Dimensionen der Körper- und Geopolitik sowie der (Post)Kolonialität des Wissens zu vergegenwärtigen, diese in ihren intersektionalen und interdependenten Dimensionen zu analysieren und infolgedessen über Möglichkeiten der Dekolonisierung nachzudenken, kann mit dem Verlernen oder gar der Aufgabe von Privilegien einher gehen – oder aber mit ihrer bewussten Nutzung, um Räume für Gesellschaftskritik wieder zu erweitern, zu stärken, zu einer Selbstverständlichkeit wissenssoziologischer Betätigung werden zu lassen. Dass dies nicht widerspruchs- und kampflos vonstatten gehen kann, liegt auf der Hand – nicht zuletzt deshalb, weil die Frage nach der Situiertheit und Seinsverbundenheit von Wissen innerhalb einer geopolitisch und nach neoliberalen Kriterien asymmetrisch organisierten ›Wissensgesellschaft‹ nicht nur eine Frage der Repräsentation und des symbolischen Kapitals, sondern auch von Eigentumsverhältnissen im ganz materiellen Sinne ist (Kaltmeier 2012, S. 39). Dass ein solcher selbstreflexiver und Konflikte antizipierender Zugang kein innerhalb einer Förder- oder Funktionsperiode erreichbares und quantifizierbares Ergebnis verspricht, sondern vielmehr einen mit Deprivilegierungen verbundenen Prozess innerhalb einer bewussten »Politik der Epistemologie« (Coronil 2002, S. 182) darstellt, muss uns ebenfalls klar sein. Doch »[w]enn die Erkenntnis ein imperiales Instrument der Kolonialisierung ist, dann ist die Dekolonialisierung der Erkenntnis eine der dringlichsten Aufgaben« (Aníbal Quijano, zit. in: Mignolo 2012, S. 48). Diese Aufgabe für wissenssoziologische Zusammenhänge auszuarbeiten, zu konkretisieren und umzusetzen liegt noch vor uns. Literatur Anzaldúa, G. (1987): Borderlands. La Frontera. San Francisco: Aunt Lute Books. Bahri, D. (1995): »Once More with Feeling: What is Postcolonialism?« In: ARIEL. A Review of International English Literature 26(1), S. 51−82. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 242 Claudia Brunner Beck, U./Grande, E. (2010): Jenseits des methodologischen Nationalismus. Außereuropäische und europäische Variationen der zweiten Moderne. In: Soziale Welt 61(3/4), S. 187−216. Bhambra, G. (2007): Rethinking Modernity. Postcolonialism and the Sociological Imagination. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Boatcă, M./Costa, S. 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Auf der einen Seite steht der Anspruch, ihre Methodologie müsse in umfassende Forschungsprogramme eingebettet sein und könne nur so die in den Sozialwissenschaften üblichen Standards erfüllen (Abschnitt 1). Auf der anderen Seite gibt es auch Positionen, die sich gegenüber einer »Methologisierung« der Diskursforschung kritisch äußern (Abschnitt 2). Der Beitrag sucht diese Frage nicht abschließend zu beantworten, er zeigt vielmehr auf, dass eine Reduktion der Debatte auf ein »Pro« oder »Contra« von Methode und/oder Methodologie verdeckt, dass auf beiden Seiten recht heterogene Auffassungen über das Wie und Warum von Diskursforschung herrschen. Schlagwörter: Diskursanalyse, Methodologie, Foucault, kritische Diskursanalyse, Strukturalismus, Hermeneutik Summary: The paper compares several positions that have been formulated, during the last years, on the importance of methods and methodology in discourse analysis. It confines on some contrastive positions in the German debate in which different opinions on the how and why of discourse analysis become manifest. On the one hand it is claimed that its methodology should be embedded in extensive research programs, and only by this the common standards in the social sciences can be fulfilled (part 1). On the other hand, there are positions that express criticism towards the »methodologisation« of discourse analysis (part 2). The paper does not try to find a final answer to this question, it instead shows that reducing the debate on a pro or con of methods and/or methodology conceals that there are, on both sides, quite different opinions on the how and why of discourse analysis. Keywords: Discourse analysis, methodology, Foucault, critical discourse analysis, structuralism, hermeneutics Diskursforschung ist erfolgreich – dafür spricht ihre Präsenz in den kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, Forschungsfeldern und Debatten, nicht zuletzt auch die Existenz vorliegender Zeitschrift. Wer diskursanalytisch arbeitet weiß aber, dass wichtige Bedingungen eines solchen Erfolges in der Wissensordnung liegen, in der die Gegenstände, Verfahrensweisen und theoretischen Prämissen der Diskursforschung Plausibilität erlangen – und das ist in erster Linie die auf unterschiedliche Disziplinen und Felder verteilte akademische, genauer: sozial- und kulturwissenschaftliche Wissensordnung, in der die Diskursforschung etablierte Ansätze und Perspektiven verdrängt, ergänzt oder Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis 247 auch nur reformuliert; aber auch, weitaus schwerer zu greifen, das, was man einmal den Zeitgeist genannt hat. Diskursanalytisch Informierten ist zugleich bekannt, dass Einheitlichkeit suggerierende Bezeichnungen – wie ›Diskursforschung‹ selbst – trügerisch sein können, da sie divergierende Verständnisse, Ansprüche, Theoriereferenzen, Zugänge verdecken. Diese können aus unterschiedlichen intellektuellen, disziplinären oder methodologischen Filiationen resultieren, in die Diskursforschung einrückt und in denen sie weiterentwickelt wird – sie lassen sich aber auch auf den verschiedenen Stellenwert zurückführen, den der Diskursbegriff und auf diesen bezogene Forschungsstrategien in konkreten Untersuchungen und für das sie jeweils leitende Erkenntnisinteresse einnehmen. Solche divergierenden Positionen und Ansprüche sind inzwischen in einer Reihe von Sammelbänden und Aufsätzen dokumentiert und auch in Debattenform miteinander konfrontiert worden.1 Sie sind teilweise so heterogen, dass sie außer der Bezeichnung ›Diskurs‹ für in Schriftform vorliegendes, öffentlich verfügbares und gesellschaftlich relevantes Wissen sowie der Bezugnahme auf Michel Foucault wenig gemein zu haben scheinen. In diesem Beitrag werden solche Verständnisse von Diskursanalyse zunächst (1. und 2.) anhand ihrer jeweils unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Ansprüche an die Diskursforschung sowie ihrer Anlage unterschieden und sodann (3.) ein Vorschlag formuliert, wie die Stellung von Methoden und Methodologien in der Diskursforschung produktiv diskutiert werden könnte. Die einführend skizzierte Möglichkeit der Selbstanwendung beansprucht als Problemformulierung nicht, originell zu sein – sie drängt sich vielmehr auf, wenn von einem Diskursbegriff ausgegangen wird, der auf die Arbeiten Michel Foucaults rekurriert, darauf wurde schon vielfach hingewiesen.2 Und das kann gegenwärtig zumindest in den deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften als kanonisch gelten – unabhängig davon, ob die verschiedenen Ansätze der Diskursforschung beanspruchen, das Foucaultsche Projekt fortzuführen oder in ihm liegende Beschränkungen zu überwinden, und auch unabhängig davon, was genau als Kern dieses Projekts angesehen wird oder woher die Kriterien kommen, die eine Überwindung von erkannten Defiziten anleiten. Denn schließlich greifen auch diejenigen, die von einer »Foucault-Exegese« Abstand nehmen möchten, weil sie im »vagabundierende[n] Denkstil Foucaults« einen wesentlichen Grund für »Unklarheiten in der Diskurs- und Dispositivforschung« sehen (Bührmann/ Schneider 2008, S. 19 f.), trotzdem die von ihm geprägten Begrifflichkeiten auf; Foucault fungiert also nach wie vor als eine zentrale Referenz für die Selbstverständigung von Diskursforschung. Gegensätzlich sind hingegen die Ziele und Erwartungen, welche mit ei1 2 Vgl. neben den im Literaturverzeichnis aufgeführten Bänden und Beiträgen auch das nächstes Jahr erscheinende Kompendium des DFG-Netzwerks Methodologie und Methoden der Diskursanalyse (2014), und die darin enthaltene Debatte mit Robert Feustel, Reiner Keller, Dominik Schrage, Juliette Wedl und Daniel Wrana. Auf sie gehen wesentliche Anregungen zu diesem Beitrag zurück. Vgl. zur Diskussion der Analytik Foucaults im Lichte des Luhmannschen Autologiebegriffs und dessen Beobachtungstheorie Diaz-Bone (2007) sowie auch Gebhard/Schröter (2007), deren Stoßrichtung sich indes stark unterscheidet. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 248 Dominik Schrage ner Diskursforschung im Anschluss an Foucault verbunden werden: Ein Überblick über einige ausgewählte, aktuell vertretene Positionen in der Diskursforschung offenbart dabei vor allem unterschiedliche Erkenntnisinteressen sowie verschiedene Ansprüche an die methodische Absicherung und Dokumentation der Vorgehensweise. Der Beitrag selbst beansprucht selbstverständlich nicht, eine richtiggehende Diskursanalyse der Diskursforschung vorzunehmen. Versucht wird vielmehr, einige in maximalem Kontrast zueinander stehende Positionen zu identifizieren, die im Feld bezüglich des Stellenwerts von Methode und Methodologie in der Diskursforschung vertreten werden, und zwar anhand der vorgebrachten Argumente sowie anhand wechselseitiger kritischer Bezugnahmen. Damit kann sicherlich noch keine ›Karte‹ des Feldes der Diskursforschung gezeichnet werden, aber es können doch orientierende Dimensionen (›Himmelsrichtungen‹) angegeben werden, die zwar perspektivisch gefärbt, aber zugleich nicht vollständig von der eigenen im Feld vertretenen Position abhängig sind. Für eine richtiggehende Karte müssten zahlreiche hier nicht eingetragene Positionen ergänzt werden, deren Auslassung – das sei ausdrücklich hervorgehoben – keine Aussage über Relevanz oder Triftigkeit impliziert. 1. Methodologiezentrierte Forschungsprogramme Als methodologiezentrierte Forschungsprogramme werden hier solche Positionen gefasst, die Diskursforschung als eine auf die Erhebung und Auswertung von Diskursmaterial fokussierte Forschungsstrategie konzipieren, die jeweils in ein weiter gefasstes, Theorie und Methodologie vermittelndes Forschungsprogramm eingebettet ist. Ausgewählt habe ich – dem Prinzip der maximalen Kontrastierung folgend – Reiner Kellers Wissenssoziologische Diskursanalyse sowie Rainer Diaz-Bones strukturalistisch-epistemologischen Ansatz. Damit werden zwei Positionen kontrastiert, die zwar beide einen starken Anspruch auf methodologische Explikation anmelden, sich ansonsten aber stark unterscheiden, vor allem in Hinblick auf die Stellung, die sie dem Werk Foucaults beimessen: Sie vertreten, um zwei wesentliche Differenzen hervorzuheben, zum einen gegensätzliche Auffassungen über die Kombinierbarkeit der Diskursanalyse mit anderen Paradigmata – hier besonders dem hermeneutischen – und weisen Akteuren zum anderen eine diametral gegensätzliche Stellung zu. Ihre methodologischen Ansprüche werden deshalb nicht nur unterschiedlich begründet, sondern haben auch voneinander abweichende Konsequenzen. Reiner Keller konzipiert seine Wissenssoziologische Diskursanalyse als eine differenzierte und methodologisch reflektierte Vorgehensweise, die in ein – selbst nicht auf den diskurstheoretischen Überlegungen Foucaults basierendes – wissenssoziologisches Forschungsprogramm eingebettet ist. Erklärtermaßen – und unter dieser Prämisse nachvollziehbar – ist es aber eben dieses Programm, von dem aus die Gegenstände konkreter Diskursanalysen bestimmt werden und aus dem sich das Design der Analysen ergibt. Deren Vorüberlegungen entstammen also der hermeneutischen Wissenssoziologie, die bereits über eine »Theorie der gesellschaftlichen Wissensproduktion« und eine »Theorie der inBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis 249 dividuellen, sozialisatorisch-intersubjektiv vermittelten Wissensaneignung« verfügt, welche die Wissenssoziologische Diskursanalyse Kellers rahmt (Keller 2001, S. 117). Eine solche Anlage macht auch verständlich, dass diese damit in die bislang etablierten Methoden der qualitativen Sozialforschung einrückt, denn das interpretative Paradigma ist der wesentliche Bezugsrahmen der hermeneutischen Wissenssoziologie und bestimmt zugleich einen Gutteil der aktuell diskutierten qualitativen Methoden. Das übergreifende Erkenntnisinteresse, das die Wissenssoziologische Diskursanalyse anleitet, besteht dabei vor allem darin, ein Defizit der hermeneutischen Wissenssoziologie auszugleichen. Es besteht für Keller darin, dass die hermeneutische Wissenssoziologie von der »Erfahrungsperspektive einzelner Gesellschaftsmitglieder« ausgeht und dabei die in Diskursen manifestierten dauerhaften und kollektiven Wissensbestände unterschätzt; sie ist also von einem »anti-intellektuellen Impetus« getragen (ebd., S. 120 f.). Da das Ziel in einer diskursanalytischen Erweiterung der hermeneutischen Wissenssoziologie liegt, wird verständlich, weshalb Keller in seinem Forschungsprogramm von »kollektiven Akteuren« ausgeht, die in Form von Konflikten die »symbolischen Ordnungen der Gesellschaft [produzieren]« (ebd., S. 126): Denn mit Hilfe der Diskursanalyse soll deren Fixierung auf das Einzelbewusstsein überwunden werden. Dies bedeutet allerdings eine entscheidende Modifikation der Foucaultschen Perspektive, die – zwar praxistheoretisch modifiziert, aber gleichwohl durchweg offensichtlich – mit durchaus strukturalistisch zu nennendem Impetus die Eigenlogiken der Diskursebene betont und sie – als »Ebene«, nicht bezogen auf die je einzelne Aussage – als für Schreibende und Sprechende unverfügbar konzipiert hatte; diese Annahme eines Hiatus zwischen dem Einzelbewusstsein respektive Alltagsverstand und dem Diskursiven ließe sich aber mit dem interpretativen Paradigma kaum vereinbaren. Entsprechend grenzt sich Keller von dem »allzu starken Akzent auf der Emergenz, Autonomie und Eigenwilligkeit der Wissensordnungen« bei Foucault ab und kritisiert dessen »polemisierende Abgrenzung gegen Hermeneutik« (ebd., S. 124). Es kann deshalb nur eine entsprechend modifizierte Diskursanalyse innerhalb der hermeneutischen Wissenssoziologie die Aufgabe übernehmen, »institutionell-organisatorisch objektivierte Wissensvorräte« zu untersuchen (ebd., S. 121). Einen anderen Weg der Vermittlung diskursanalytischer Forschungspraxis mit den ihr zugrundeliegenden theoretischen Vorannahmen und Begrifflichkeiten geht Rainer DiazBone. Während Keller, wie oben erläutert, die Diskursanalyse in ein etabliertes wissenssoziologisches Paradigma integriert, dem sie ihre theoretischen Annahmen entnimmt, plädiert Diaz-Bone erstens für einen »methodologischen Holismus« (Diaz-Bone 2006, S. 4 ff.) und fordert zweitens offensiv eine »Methodologisierung der Diskursanalyse«. Er beansprucht, ein den Arbeiten Foucaults selbst zugrundeliegendes, allerdings dort unzureichend ausformuliertes einheitliches, wissenschaftstheoretisch begründetes Programm rekonstruieren zu können, das Theorie, Methodologie und Methode umfasst und die diskursanalytische Untersuchungspraxis derart anzuleiten im Stande sei, dass sie als eine »akzeptable sozialwissenschaftliche Methode« Anerkennung finden könne (ebd., S. 41). Diaz-Bones Position bestimmt sich somit durch eine doppelte Abgrenzung: Zum einen richtet sie sich gegen Versuche, lediglich einzelne Bestandteile – Begriffe und methoBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 250 Dominik Schrage dische Strategien – der Foucaultschen Diskursanalyse und -theorie in mit dieser unverbundenen theoretischen Forschungsprogrammen aufgehen zu lassen, wie dies etwa bei Keller der Fall ist. Zum anderen positioniert sich Diaz-Bone gegen eine metaphysikkritische Lesart der Diskursanalyse in der Nachfolge des Derridaschen Dekonstruktivismus, die den methodischen Standards der Sozialwissenschaft nicht genüge, weil sie die Gründe für ihre Kritik selbst nicht reflexiv einholen könne (ebd., S. 2). Beiden Positionen wird mit dem Postulat des »methodologischen Holismus« begegnet, der eine notwendige Einheit des gesamten Forschungsprozesses impliziert und dabei davon ausgeht, dass es in »jeder empirischen Forschung ein Primat der Theorie gibt« (ebd., S. 4).3 Theorie wird hier zur »Metaphysik der Methoden und die Trias von Theorie, Methodologie und Methode bildet einen ästhetischen Zusammenhang, weil letztere in ihren Formen und Prinzipien die Formen und Prinzipien der Theorie in sich wiederholen« (ebd., S. 6). Die Theoriekerne dieser hinter der Diskursanalyse stehenden Theorie verortet DiazBone einerseits im strukturalistischen Bruch mit den Abbildungstheorien von Sprache bei Ferdinand de Saussure (ebd., S. 14 ff.) und andererseits in der Epistemologie Gaston Bachelards, die den Bruch mit alltagsweltlichen Anschauungen als Voraussetzung wissenschaftlicher Forschung ansieht (Diaz-Bone 2007, S. 14 ff.). Indem diese beiden Brüche als Prämissen der Foucaultschen Diskursanalyse angesehen werden, erscheinen sie als Teil eines weit gefassten antiphänomenologischen Programms, in dem die Diskursebene unabhängig von akteursbezogenem Erleben, Deuten und Wollen konzipiert wird. Über diese, durchaus auch bei Foucault zu findende Abgrenzung hinausgehend, formuliert Diaz-Bone den Anspruch, dass sich von diesen Kernen aus eine Theorie gewinnen lasse, die die »Forschungspraxis von der Rahmung der Forschungsfrage über das Forschungsdesign bis hin zum konkretesten Zuschnitt einzelner Techniken und Methoden genauso [durchdringt] wie die Weise der Interpretation (Hermeneutik)« (Diaz-Bone 2006, S. 6). Der damit formulierte Einheitsanspruch richtet sich sowohl gegen Versuche, lediglich partielle Elemente und methodische Strategien der Diskursanalyse in paradigmatisch anders gelagerte Theorieprogramme einzubetten – und damit nicht zuletzt auch gegen die Wissenssoziologische Diskursanalyse Reiner Kellers –, als auch gegen dekonstruktivistische Lesarten einer kritischen Diskursanalyse, sowie gegen alle nicht ebenfalls methodologisch-holistisch argumentierenden Positionen. 2. Method(olog)isierungskritische Positionen Der sowohl von Keller als auch von Diaz-Bone, aber auch von anderen Autorinnen und Autoren (etwa Bührmann/Schneider 2008, S. 76) formulierte Anspruch, Diskursanalyse habe sich nach den in den Sozialwissenschaften etablierten methodologischen Konventionen zu richten, ist nicht unwidersprochen geblieben. Die – vorsichtig formuliert – me3 Erkennbar bestimmt sich Diaz-Bones Verständnis der Bezeichnung »methodologischer Holismus« nicht primär durch den Gegensatz zum »methodologischen Individualismus«, sondern in der Abgrenzung von einem Eklektizismus. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis 251 thodenskeptischen Positionen sind aber mindestens so unterschiedlich motiviert und konturiert wie die beiden hier exemplarisch dargestellten Ansätze von Keller und DiazBone. So wenig also auf der einen Seite Einigkeit darüber herrscht, ob die Existenz der Diskursanalyse im Feld der Sozialwissenschaften besser durch die Integration in ein schon länger existierendes, etwa hermeneutisch-wissenssoziologisches Paradigma (Keller) oder durch die selbstbewusste Formulierung eines eigenen, Theorie, Methodologie und Methodik umfassenden Einheitsprogramms zu erfolgen habe (Diaz-Bone), so wenig gleichen sich die Gründe, Ansprüche und Motive derer, die diesen Vorhaben skeptisch gegenüberstehen. Wie in den vorangegangenen Passagen hilft es auch hier, verschiedene Bezugsebenen dieser kritischen Positionen zu unterscheiden. Sie werden, da weniger systematisch ausgearbeitet, dann deutlicher, wenn sie im Zusammenhang mit den jeweils kritisierten Positionen sowie mit der von diesen geübten Kritik dargestellt werden. Eine erste Position verweist – ausgehend von einem an Foucaults Arbeiten angelehnten Verständnis von Diskursanalyse – auf Inkonsistenzen, die entstehen, wenn Foucaults Archäologie des Wissens und andere seiner nicht allzu zahlreichen methodologischen Reflexionen an etablierte Standards der Sozialwissenschaften angepasst werden. Ich will diese – von mir selbst in einigen Aufsätzen bezogene – Position hier »operationalisierungsskeptisch« nennen (Schrage 1999, 2006).4 Sie impliziert keine, wie oft karikiert, pauschale Ablehnung systematischen und kontrollierten Vorgehens im Forschungsprozess. Vielmehr richtet sie sich primär gegen die – auch in Teilen der qualitativen Sozialforschung bereits überwundene – Annahme, es sei möglich, eine Operationalisierung diskursanalytischer Untersuchungsstrategien losgelöst vom jeweils zu untersuchenden Gegenstand zu erreichen (Schrage 1999). Tatsächlich richtete sich in diesem Aufsatz die programmatische und öfter zitierte Formulierung »Methoden-Kritik« gegen eine solche Annahme, man könne Diskurse mit einer Methode untersuchen, die nicht die Möglichkeit vorhält, ihre eigenen theoretischen und analytischen Vorverständnisse in der Konfrontation mit dem empirischen Material in Frage zu stellen (Schrage 1999, S. 65).5 Das ist, abzüglich der einheitswissenschaftlichen Semantik und dem damit einhergehenden Primat der Theorie, nicht allzu weit entfernt von Diaz-Bones Anspruch, dass die »Strategie und Reflexion der Forschung […] die Prinzipien der Theorie in sich aufgreifen und wiederholen muss« (Diaz-Bone 2006, S. 6) – mit dem Unterschied allerdings, dass für die operationalisierungsskeptische Position der Forschungsprozess, im Sinne einer Konfrontation mit dem Diskursmaterial, und nicht die Theorie als »Metaphysik« des methodisch 4 5 Eingeräumt sei, dass die Unterscheidung zwischen der hier »operationalisierungsskeptisch« genannten und der weiter unten diskutieren »methodenausweisvermeidenden« Position nicht immer trennscharf ist. Worauf es hier aber ankommt ist, dass die erste – von mir selbst eingenommene – Position Diskursanalyse nicht als freihändiges Improvisieren ansieht, vgl. dazu weiter unten. Nicht ist dort hingegen die Rede von Methodologie, wie Bührmann/Schneider meinen (2008, S. 76), was vielleicht ein Defizit sein mag, aber doch einen Unterschied macht. Es sei damit auch gar nicht behauptet, dass eine solche Infragestellung der eigenen Begrifflichkeiten tatsächlich in jeder diskursanalytischen Forschung erforderlich ist. Es mag aber einen Forschungsstil kennzeichnen, dass gezielt Gegenstände ausgewählt werden, bei denen dies naheliegt. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 252 Dominik Schrage kontrollierten Vorgehens prioritären Status erhält. In dieser Hinsicht soll die Formulierung »Methoden-Kritik« den Anspruch ausdrücken, dass der Bedarf an Methode und Methodologie nicht abstrakt als Erfordernis eines einheitswissenschaftlichen Programms postuliert, sondern im Forschungsprozess selbst bestimmt wird.6 Ähnlich wie bei Diaz-Bone kann auch aus einer solchen operationalisierungsskeptischen Position in der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Kellers eine »erhebliche Umschrift« des Foucaultschen Diskursbegriffs konstatiert und kritisiert werden (Gebhard/Schröter 2007, S. 43), wenn die hermeneutisch-wissenssoziologischen Grundannahmen nicht geteilt werden und vielmehr beide – bei allen sonstigen Differenzen – an der Foucaultschen Konzeption des Diskurses als überindividueller, das heißt nicht auf Akteurshandeln konvergierender Wirklichkeitsdimension festhalten. Sicherlich kann gegen eine Modifikation der von Foucault geprägten Konzepte prinzipiell wenig eingewandt werden, zumal Reiner Keller Gründe und Konsequenzen seiner Umschrift offenlegt: Bei der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ergibt sich die das Erkenntnisinteresse leitende Programmatik ja – wie oben dargestellt – aus der hermeneutischen Wissenssoziologie, während die dieser zuarbeitende Diskursanalyse Phänomene und Fälle gesellschaftlicher Wissensbestände und ihres Wandels in dem dadurch gegebenen Rahmen erschließt und dabei detailliert über die Methodik ihres Vorgehens Rechenschaft ablegt. Es stellt sich aus dieser Position allerdings die Frage, um welchen Preis die Integration der Diskursanalyse in ein hermeneutisch-wissenssoziologische Programm möglich ist und inwieweit eine solche Diskursanalyse mit dem Foucaultschen Projekt vereinbar ist. Hingewiesen wird so auf die wichtige, von Diaz-Bone einheitswissenschaftlich überpointierte Problematik, dass die theoretischen Vorannahmen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse aus dem Fundus der etablierten wissenssoziologischen Hermeneutik übernommen werden, der Diskursanalyse somit vorgelagert sind und im Forschungsprozess deshalb auch selbst nicht in Frage gestellt werden. Diese Problematik besteht unabhängig vom Nähegrad zu den Arbeiten Foucaults, jedenfalls solange, wie der Diskursbegriff überhaupt – wie auch immer gebrochen und reformuliert – auf Foucault zurückgeführt wird. Deutlich wird, dass sich die schon im vorangegangenen Abschnitt identifizierten gegensätzlichen Ansprüche an die Diskursanalyse wiederholen und weiter differenzieren: Für Keller handelt es sich um ein in den hermeneutisch-wissenssoziologischen Forschungsansatz eingepasstes Untersuchungsprogramm, das eben deshalb explizit keine eigenständige Methode ist (Keller 2001, S. 135) – insofern trifft die zuweilen geäußerte Kritik an einer Methodologisierung der Diskursanalyse im Kellerschen Programm gar nicht den Kern der Sache (so stellenweise Gebhard/Schröter 2007, S. 44). Hinter der auf den ersten Blick vielleicht als Foucault-exegetisch erscheinenden Kritik steckt indes der – wie ich meine – ernst zu nehmende Anspruch, dass die Klärung der den Forschungsprozess ermöglichenden, initiierenden und steuernden Erkenntnisinteressen und Konzepte selbst ein genuiner Bestandteil von Diskursanalyse zu sein hätte, dass zentrale Analyse6 Besonders deutlich wird dies an der Frage, in welchem Ausmaß der Forschungsprozess selbst zu dokumentieren ist. Darauf gehe ich am Ende gesondert ein. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis 253 konzepte also nicht aus einem ihr äußerlichen Theorieansatz importiert werden sollten, Diskursforschung also auch Diskurstheorie zu sein hätte – ob dies mit, im Anschluss an oder gegen Foucault zu geschehen hat ist eine Folgefrage, deren Gewicht im Folgenden deutlicher wird. Eine zweite, Methoden und Methodologien gegenüber prinzipiell ablehnende Position unterscheidet sich von den bislang diskutierten dadurch, dass sie ihren Diskursbegriff nicht in Auseinandersetzung mit Foucaults Überlegungen gewinnt, sondern vielmehr an Jacques Derridas Dekonstruktivismus anschließt. Das führt dazu, dass der Diskursbegriff nicht – wie bei Foucault – eine durch ereignishafte Äußerungen konstituierte und durch qua Analyse auffindbare Regelmäßigkeiten konturierte Wirklichkeitsdimension bezeichnet, sondern vielmehr eine vollständig sprachförmige Wirklichkeit meint, deren konstitutive Instabilität von dekonstruktivistischen Interventionen aufgewiesen wird.7 Die Ebene des Diskurses ist damit nicht nur grundlegend textualisiert und fällt mit Sprache zusammen, sondern zugleich auch theoretisch von vornherein auf den Widerstreit zwischen illusionären Einheitsvorstellungen und ihrer Dekonstruktion festgelegt. Unter diesen Prämissen wird nachvollziehbar, weshalb Vertreterinnen dieser Position nicht auf die offene Auseinandersetzung mit einem (noch) ungeordneten Diskursmaterial setzen und dabei mit der Aufweisbarkeit diskursiver Regelmäßigkeiten – nicht Regeln! – rechnen, sondern dieses Material vielmehr auf Einheits- und Ordnungsvorstellungen hin sichten, um deren konstitutive Widersprüchlichkeit aufzuzeigen. Das macht es dann plausibel, sich als »›poststrukturalistisch informierte‹ Bastler« zu verstehen (Feustel 2010, S. 93) und den Diskursbegriff zu nutzen, um eine von Derrida inspirierte Sprachspielanalyse kritisch gegen die Wissenschaft als Wahrheitsregime und die in ihr wirksamen Methodenzwänge zu richten. Robert Feustel spitzt die Konsequenzen einer solchen dekonstruktivistischen Lesart der Diskursanalyse stark zu und speist sie in die Debatte um den Stellenwert von Methoden und Methodologien in der Diskursanalyse ein; deshalb wird, dem Prinzip der maximalen Kontrastierung folgend, seine Position hier kurz diskutiert. Als Spielart von Dekonstruktion verstanden, so Feustel, betrete die Diskursanalyse ein »unwissenschaftliches Terrain und die konkrete sprachliche Form der Analyse nimmt eine für wissenschaftliche Standards unerhörte Position ein«. Ihre Aufgabe bestehe dabei nicht in der »reine[n] Beschreibung von«, sondern in der »instabile[n], ungesicherte[n] Intervention in« Diskurse (Feustel 2010, S. 89 f.). Diskursanalyse wird hier also als Gegenentwurf zu und kritische Haltung gegenüber einer auf die Erfüllung von »Standards« reduzierten Wissenschaft proklamiert. Die solchen Standards zugrundeliegende Annahme gesicherter Erkenntnis sei nämlich, so Feustel, illusionär, vielmehr gebe es »keinen stabilen und gesicherten Ort […], von dem aus man […] über den Diskurs sprechen kann, ohne selbst in den Diskurs verstrickt zu sein« (ebd., S. 89). 7 Das komplizierte Verhältnis der Autoren Foucault und Derrida kann hier weder dargestellt noch aufgearbeitet werden. Ausgangspunkt müsste Derridas Kritik an Foucaults Descartes-Lektüre in Histoire de la folie à l‘âge classique (1961) (dt.: Wahnsinn und Gesellschaft (1973), in der deutschen Ausgabe nicht enthalten) sein, vgl. dazu Dosse (1999, S. 38 ff.). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 254 Dominik Schrage Ohne Frage sind die von der Dekonstruktion immer wieder neu vorgebrachten Hinweise auf die Unmöglichkeit eines ›objektiven‹, der Ebene des Diskurses enthobenen Standpunkts in den Sozialwissenschaften ein wichtiges erkenntniskritisches Korrektiv, auf das eine Diskursforschung nicht verzichten sollte. Wenn aber Feustel meint, dass die »(post-)strukturalistische[...] Erkenntniskritik […] zumeist auch Wissenschaftskritik ist«, so schließt er die gerade in der Debatte um den Stellenwert von Methodologie und Methoden produktive, weil erkenntniskritische Hinterfragung von allein konventionell und nicht gegenstandsbezogen begründeten Ansprüchen auf methodische Explikation von Diskursanalysen kurz mit der Kritik an einer Wissenschaft, die doch äußerst schablonenhafte Züge trägt (ebd., S. 83). Ignoriert wird nicht nur, dass die Verstricktheit der Forschenden in ihren Gegenstand heute etwa für ethnographische Zugänge eine selbstverständliche und als unhintergehbar angesehene Erkenntnis darstellt (vgl. etwa Dellwing/Prus 2012, S. 83–145), sondern auch, dass dies schon ein Schlüsselproblem für die rekonstruktiv am sozialen Handeln ansetzende Soziologie Max Webers war, das dieser mit seinen Überlegungen zur Werturteilsproblematik ja keineswegs lösen, sondern als von den Forschenden ständig mitzureflektierendes (und zu Entscheidungen drängendes) Dauerproblem zu Bewusstsein bringen wollte. Dieses schablonenhafte Bild von Wissenschaft bestätigt letztlich – im Feld der Diskursforschung ja gar nicht offensiv vertretene – Auffassungen, dass mit Hilfe von sozialwissenschaftlichen Methoden ein direkter und zu objektivem Wissen führender Zugriff auf Wirklichkeit erlangt werden könne und fällt damit in die vom sogenannten Positivismusstreit ausgehobenen Gräben zurück. Gerade in der Diskursforschung käme es hingegen darauf an, so jedenfalls die hier vertretene Position, eine erkenntniskritische – und gegenüber one fits all-Methoden reservierte – Haltung als eine wissenschaftlich produktive auszuweisen, die dem zu untersuchenden Diskursmaterial gegenüber neugierig und etwaigen methodischen Routinen gegenüber skeptisch bleibt. Eine dritte Position lässt sich – aufgrund ihrer Präsenz in den aktuellen Debatten über Methoden in der Diskursanalyse – am deutlichsten anhand der Gouvernementalitätsstudien markieren, die ebenfalls mit Rekurs auf Foucault, allerdings nicht primär auf die diskursanalytischen, sondern auf die gesellschaftsdiagnostischen Aspekte seines Werks, die Relevanz methodischer Standards gegenüber dem Anspruch einer kritischen Diagnostik der Gegenwart bewusst herabstufen. Ich will diese Position hier »methodenausweisvermeidend« nennen. Das soll verdeutlichen, dass sie sich in das Feld der Diskursforschung weniger durch eine ausgearbeitete eigene Stellungnahme einschreibt, sondern darin zu einem Gutteil durch die Kritik Geltung erhält, die sie auf sich zieht. Eine methodenausweisvermeidende Position ist für die Gouvernementalitätsstudien deshalb widerspruchslos möglich, weil die Prämissen dieses kritischen Unternehmens sich selbst gar nicht aus konkreten Diskursanalysen ergeben, sondern einer auf kritische Stellungnahme zu gesellschaftlichen Phänomenen zielenden Lesart der Foucaultschen Genealogie entstammen und am Material lediglich plausibilisiert werden. Auf der Umgangsweise mit dem Diskursmaterial lastet deshalb kein besonderer, die gesamte Position tangierender Beweisdruck. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis 255 Aus einer solchen Position heraus wird die von methodologisch anspruchsvollerer Seite erhobene »Forderung nach einem systematischen Ausweis der Art und Weise, wie Forschende das von ihnen Beforschte erkennen und analytisch-empirisch in den Griff nehmen oder auf den Begriff bringen« (Bührmann/Schneider 2008, S. 76) offenkundig als nicht besonders dringlich angesehen, man meint vielmehr eine »gewisse methodische Freihändigkeit in Kauf« nehmen zu können (Bröckling/Krasmann 2010, S. 39). Bei den Gouvernementalitätsstudien geht es schließlich primär darum, die subjektivierende Appellstruktur von – beispielsweise – Beratungsdiskursen aufzuzeigen, deren Kritikwürdigkeit sich – erklärtermaßen und unter diesen Prämissen nachvollziehbar – aus einer tendenziell ideologiekritischen Lesart der Foucaultschen Genealogie der Moderne ergibt: »Die Genealogie der Subjektivierung«, so schreibt beispielweise Ulrich Bröckling, »weiß nicht, ob es ein Jenseits der Regierungen des Selbst gibt, aber sie insistiert darauf, die Zumutungen sichtbar zu machen, welche die Subjektivierungen dem Einzelnen abverlangen« (2007, S. 44).8 Nun kann sicher der Standpunkt eingenommen werden, dass der Verzicht auf eine am Umgang mit dem Diskursmaterial ansetzende methodologische Absicherung die wissenschaftliche Legitimität einer solchen Argumentation per se in Frage stellt. Das aber hieße in letzter Instanz, dass die hier beispielhaft genannte – und zudem ja als normativ ausgewiesene – Haltung Bröcklings an methodischen Standards gemessen und kritisiert würde, deren Geltung zugleich für jede Art der argumentativen Positionierung im Feld der Sozialwissenschaften beansprucht würde. Das würde nicht nur für alle normativ begründeten Stellungnahmen gelten – die ja konstitutiv nicht methodologisch ausweisbar sind –, sondern darüber hinaus auch alle anderen Arten von argumentativ vorgebrachtem Wirklichkeitsbezug als sozialwissenschaftlich illegitim in Frage stellen, welche die Validität ihrer Argumente nicht primär durch die Dokumentation ihres Zustandekommens aus der Erhebung und Auswertung von Daten heraus begründen. Dieser Anspruch wäre erkennbar keine spezifische, im Feld der Diskursanalyse verankerte Infragestellung, sondern brächte Auffassungen über legitime Formen des Wirklichkeitsbezugs in den Sozialwissenschaften zur Geltung, die vor jeder Verständigung über das Warum und Wie der Diskursforschung liegen. Tatsächlich werden die unterschiedlichen Ansprüche an die Diskursforschung dann genauer und differenzierter sichtbar, wenn der Vorwurf mangelnder methodologischer Explikation nicht pauschal vorgebracht, sondern konkretisiert wird. Hierzu eignet sich die Debatte um die Gouvernementalitätsstudien als Fallbeispiel gut. Reiner Kellers kritische Auseinandersetzung mit ihnen erschöpft sich nämlich faktisch keineswegs darin, diesen Vorwurf pauschal-delegitimierend vorzubringen (Keller 2010). Vielmehr sucht er seine eigene Position in der Auseinandersetzung mit den Gouvernementalitätsstudien sachlich zu plausibiliseren und bietet dabei zusätzliche Einblicke in seine Auffassung des Verhältnisses von begrifflicher Gegenstandsbestimmung und methodisch angeleiteter Forschung. 8 Vgl. zur Diskussion des Verhältnisses von Diskursanalyse und Gouvernementalitätsstudien die Beiträge des Bandes Angermüller/van Dyk (2010) sowie Weber (2011). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 256 Dominik Schrage Keller diagnostiziert eine »Erschöpfung« der Gouvernementalitätsstudien, die darauf zurückzuführen sei, dass sie sich »präskriptiv auf ein enges Feld interessierender Diskurse« festlegen; die »Erschöpfung« sei somit Effekt ihrer thematischen Fokussierung auf die Regierungsformen der Gegenwart, die für Keller zu wenig Offenheit für Innovationen lässt – die für ihn offenbar wesentlich von sozialen und kulturellen Wandlungsprozessen abhängig sind, welche sich methodisch kontrolliert erfassen lassen. Seine Wissenssoziologische Diskursanalyse hingegen treffe »keine weiteren inhaltlich-konzeptionellen Vorentscheidungen über die programmatischen, normativen und kulturellen Strukturierungen ihres Gegenstandsbereichs«, sie »betrachtet sowohl diese Punkte wie auch Aussagen über Funktionsweisen, Strukturierungen, soziale Akteure in Diskursen als empirisch zu klärend«. Dagegen sei das schon bei Foucault angelegte und in den vergangenen Jahren anhand vielfältiger programmatischer Diskurse dargelegte theoretische Konzept der Gouvernementalitätsstudien nunmehr ausreichend ausgearbeitet; die »Erschöpfung« des Forschungsprogramms sei auch deswegen zu verzeichnen, weil in dem, was diagnostiziert werde, »keine kurz- oder mittelfristigen Veränderungen erwartbar« seien (ebd., S. 44 f.). Für Keller ist es also »der methodologisch-methodisch unscharfe und zugleich heroische historisch-diagnostische Gestus«, der sich als »größtes Problem« der Gouvernementalitätsstudien erweise: Der Verzicht auf den Methodenausweis stütze die theoretische Geschlossenheit, und der »historisch-diagnostische Gestus« habe sich, gerade weil die Diagnose ausformuliert sei und Plausibilität besitze, überlebt (»heroisch« meint vermutlich die kritische Geste). Entsprechend empfiehlt er eine »stärkere methodologischmethodische Explikation«, die »Möglichkeiten für einen Ausweg aus der gegenwärtigen Redundanz der Gouvernementalitätsperspektive« weisen könne – methodologische Selbstexplikation ist für ihn also ein Mittel gegen Redundanz (ebd., S. 47). Kellers Kritik unterscheidet sich damit von einer Reihe anderer kritischer Einwände gegen den Gouvernementalitätsansatz, die im Wesentlichen monieren, dass das untersuchte Material auf Programmschriften beschränkt sei (Müller 2003; Reitz/Draheim 2007). Ihnen geht es dabei gerade nicht um einen zu geringen methodologischen Explikationsgrad, sie bemängeln vielmehr die unzureichende Einordnung der im Detail untersuchten Programmschriften in übergreifende gesellschaftliche Kontexte und Veränderungsprozesse. Angemahnt wird damit eine Schärfung der historischen Diagnose, nicht der Methodologie – was mit den Mitteln einer auf Korpusfestlegung ausgerichteten Forschungsstrategie wohl noch schwerer zu erreichen wäre. Hier stellt sich die Frage, ob eine derartige, auch auf die historische Diagnostik abhebende Art der Kritik von vornherein aus der Diskursforschung herausfallen sollte. Dagegen spricht, dass die Analyse von Diskursen bei den Gouvernementalitätsstudien ein durchaus charakteristischer Zug ist, zugleich aber wesentlich von deren historisch-diagnostischer Fragestellung abhängig ist und sich deshalb nicht ohne weiteres als ein methodologiezentriertes Forschungsprogramm beurteilen lässt. Eine weitere, detaillierter auf das Verhältnis von theoretisch-begrifflicher Situierung und praktischer Analyse eingehende Kritik gibt Anhaltspunkte, wie eine solche, auch die Art der Umsetzung historischer Diagnosen tangierende Diskussion innerhalb des Feldes Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis 257 der Diskursforschung geführt werden könnte. Anja Weber hebt auf Inkonsistenzen zwischen den theoretischen, die Fragestellung konstituierenden Konzepten und der die Analyse leitenden Semantik ab. In diesem Sinne kritisiert sie, dass die Gouvernementalitätsstudien das Subjektivierungskonzept Foucaults, das sie theoretisch als zentrales reklamieren, in den konkreten Analysen inkonsequent handhabten: Die »generalisierten Überforderungs- und impliziten Entfremdungstopoi«, mit denen die Gouvernementalitätsstudien sich in ihren materialen Analysen als kritischer Ansatz ausweisen, setzen »als Referenzpunkt Vorstellungen eines ›ursprünglichen‹, protogesellschaftlichen Wesens der Subjekte voraus […]«, das dann als Gegeninstanz zu »den neoliberalen ›Anrufungen‹« gestellt werde (Weber 2011, S. 191). Diese Inkonsequenz führe zu einer unzureichenden Differenzierung zwischen disziplinärer Fremd- und postdisziplinärer Selbstkontrolle – deren Unterschiede durch diese Art der Kritik eingeebnet würden. Verhindert werde somit eine »aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen und Transformationsprozessen adäquate Form der Kritik, die dem Umstand Rechnung trägt, dass die neoliberale Regierungsrationalität tatsächlich mit der Eröffnung erheblicher Freiheitsgrade der Selbstführung einhergeht« – und eben darin liege die eigentliche Herausforderung (ebd., S. 192). Anja Weber argumentiert damit auf einer durchaus methodologisch zu nennenden, aber in den methodenzentrierten Forschungsprogrammen nicht explizit werdenden Ebene: Sie entnimmt die Kriterien ihrer Kritik dem kritisierten Programm selbst, verweist auf in der Auswertung des Diskursmaterials inkonsequent gehandhabte Begriffe und diskutiert die Konsequenzen bezüglich des Verhältnisses von Fragestellung und Durchführung der Analyse. Ihre kritische Auseinandersetzung stützt dabei durchaus Reiner Kellers Beobachtung einer »Erschöpfung« der Gouvernementalitätsstudien, sie sieht die Gründe aber im Gegensatz zu ihm gerade nicht in einer durch die historischgenealogische Perspektivierung verengten und durch methodische Explikation behebbaren Ausrichtung, sondern vielmehr in einer die historisch-diagnostische Fragestellung des Ansatzes unzureichend umsetzenden Analysesemantik, die sich eigentlich relevanten und in den Diskursen auffindbaren Aspekten verschließt. Sichtbar wird hieran, dass es durchaus in der Diskursforschung situierbare Arten der Auseinandersetzung mit methodenausweisvermeidenden Ansätzen gibt – sie werden freilich erst führbar, wenn man bereit ist, auch solchen Diskursanalysen, die mit ihrer »methodischen Freihändigkeit« kokettieren, eine Systematizität zuzuschreiben und sie damit als kritisierbar zu erachten. 3. Resumé und ein Vorschlag, die Einheit der Diskursforschung anders zu fassen Einen Schritt aus der Gemengelage von Postionierungen und Kritik heraustretend ergibt sich in etwa folgendes Bild: 1. So umstritten die Frage ist, inwieweit die Diskursforschung methodischer Ausweise und methodologischer Explikation bedarf, so deutlich ist doch, dass die Forderung einer vollständig vom Gegenstandsbezug gelösten, standardisierten Methode der Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 258 2. 3. 4. 5. Dominik Schrage Diskursforschung nicht erhoben wird – obwohl teilweise davon ausgegangen wird, dass dies eine Konsequenz der Erörterung von Fragen der Methodik und Methodologie sei. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass Forderungen nach methodologischer Explikation eine wichtige Rolle bei der Bestimmung des Feldes und seiner Grenzen spielen – das betrifft einerseits die Frage, welcher Ort der Diskursforschung in den Sozialwissenschaften zukomme oder welchen sie beanspruchen solle und andererseits die Frage, welche Autorinnen und Autoren, Ansätze, Forschungsprogramme und -strategien zur Diskursforschung zu zählen sind und welche beanspruchen, dazuzuzählen. Offensichtlich deshalb wird das Feld durch diese Forderungen sowie deren Problematisierung, Kritik und Zurückweisung strukturiert. Diese Forderungen treffen sich zwar, insofern sie sich – wie die hier ausgewählten Positionen von Reiner Keller und Rainer Diaz-Bone – auf in den Sozialwissenschaften etablierte Konventionen berufen und mit der Konsolidierbarkeit der Diskursforschung begründet werden. Sie werden dabei gestützt von dem Anspruch, Diskursanalyse im Zusammenhang mit einem Theorie, Methodologie und Vorgehensweise umfassenden und explizierenden Forschungsprogramm zu betreiben. Insofern verfolgen diese Positionen ein doppeltes Interesse, nämlich die Konsolidierung der Diskursforschung in den Sozialwissenschaften und zugleich die Stärkung ihrer Position im Feld der Diskursforschung. Sie divergieren dabei aber stark hinsichtlich ihrer Auffassungen darüber, was der Kern eines solchen, Diskursanalyse rahmenden Programms zu sein habe – nicht immer klar ist dabei, wie das Verhältnis zu konkurrierenden Forschungsprogrammen ähnlich weitgehenden Anspruchs gedacht wird. Ihre Divergenzen ergeben sich wesentlich aus den theoretischen Bezügen und Prämissen der jeweiligen Positionen, denn sie bestimmen die Einheit des Forschungsprogramms, in dem die jeweils vertretene Art von Diskursanalyse verortet ist. Die Frage, wie das Verhältnis von Diskurs und Akteuren bestimmt wird, macht dabei einen wichtigen Unterschied. Wird sie, von der hermeneutischen Wissenssoziologie ausgehend, als Untersuchungsstrategie für kollektives Akteurshandeln herangezogen (Keller), so liegt ein signifikant anderes Forschungsprogramm vor als wenn sie in ein strukturalistisch-epistemologisches Programm eingebettet wird, das auf eine jenseits solchen Handelns liegende Ebene zielt (Diaz-Bone). Zu bedenken ist selbstverständlich, dass hier nur zwei ausgewählte Positionen verglichen wurden und das Feld weitaus komplexer ist. Das Verhältnis zu den Arbeiten Foucaults spielt dabei in jedem Fall eine wichtige Rolle. Auch die sich kritisch mit den Forderungen nach Methodenausweis und Methodologie-Explikation auseinandersetzenden Positionen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer Ansprüche an die Diskursforschung sowie ihre Diskursbegriffe. Es ergibt einen Unterschied, ob ein wissenschaftskritischer Dekonstruktivismus (Feustel) in Methodendebatten und Methodologiereflexionen von vornherein eine Kolonisierung der Diskursanalyse durch standardisierende Wissenschaft sieht, ob ihre Verwendung zur Plausibilisierung kritischer Gesellschaftsdiagnosen (Gouvernementalitätsstudien) die methodologische Explikation als verzichtbar erscheinen lässt Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis 259 oder ob die skeptische Haltung damit begründet wird, dass methodenförmige Festlegungen die Offenheit, sich vom Diskursmaterial irritieren zu lassen, einschränken könnten (Gebhart/Schröter 2007; Schrage 1999, 2006). Auch hier spielt das Verhältnis zu Foucault eine wichtige Rolle. Angesichts dieser komplexen Situation schlage ich vor, die Verständigung über das Verhältnis der Diskursforschung zu Methoden und Methodologien auf einer Ebene fortzusetzen, die ›noch nicht‹ den Charakter einer auf praktische Durchführung und Ergebnissicherung zielenden Methodendebatte hat und zugleich ›nicht mehr‹ in der Verortung im theoretischen Feld der sozialwissenschaftlichen Disziplinen besteht. Denn in beiden Fällen werden gemeinhin – so jedenfalls meine Beobachtung – entweder how to do-Fragen diskutiert oder aber grundsätzliche – und letztlich theoretisch begründete und dem Feld der Diskursforschung äußerliche – Positionen markiert, die selbst gar nicht aus der Konfrontation mit einem spezifischen Material hervorgehen, sondern ihr vielmehr vorausgehen. Es käme aber darauf an, das zu diskutieren, was tatsächlich diskutabel ist, und dies auf eine Weise zu tun, die bei den Erfahrungen ansetzt, die in möglichst allen Spielarten der Diskursforschung gemacht werden (müssen). Eine Möglichkeit, auf diese Ebene zu wechseln wäre es, die Frage aufzuwerfen, welche Formen methodologische Explikationen überhaupt annehmen können oder sollen und von welchen Bedingungen diese Formen abhängig sind. Tatsächlich ist die Vorstellung, dass Diskursanalysen – so wie jede andere Art der analytischen Durchdringung von historischen oder zeitgenössischen Quellen – in freier Improvisation verfertigt würden, wenig glaubwürdig. Man kommt ja gar nicht umhin, eine Auswahl des zu lesenden Materials zu treffen, daraus Argumentationsmuster herauszulösen, diese auf verwendete Begriffe, bezogene Positionen und im Diskurs ausagierte Konflikte zu beziehen und dazu analytische Konzepte zu verwenden, die eine Distanz zu den im Diskurs verwendeten Begrifflichkeiten herstellen; und es ist auch kaum zu vermeiden, diese analytische Aktivität mit einer ebenso wenig dem Diskurs selbst entnommenen Fragestellung abzustimmen, aus der sich die Relevanz des Unternehmens sowie die Konturen des Untersuchungsgegenstandes erschließen. Wenn aber dies der Fall ist, so könnte eigentlich schon dann von einer methodologischen Explikation gesprochen werden, wenn die Gründe, weshalb so verfahren wurde wie geschehen, der am Ende vorliegenden Darstellung zu entnehmen sind. Meist aber implizieren Forderungen nach methodologischer Explikation noch einen zweiten Anspruch, nämlich denjenigen, den Ablauf des Forschungsprozesses selbst zur Darstellung zu bringen, um ihn dadurch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen und die Plausibilität der Ergebnisse zu erhöhen. Die Diskussion um Gütekriterien in der qualitativen Sozialforschung hängt wesentlich von diesem Anspruch ab. Er leuchtet unmittelbar ein, wenn man es beispielsweise mit Interviews zu tun hat, für die Gesprächspartner ausgewählt und Leitfragen erstellt werden müssen, die den Rahmen des Sagbaren (oder die Wahrscheinlichkeit von Thematisierungen) in der Interviewsituation bestimmen; die Begründung der Wahl des Auswertungsverfahrens sowie die Darstellung des Forschungsverlaufs machen in diesem Zusammenhang erst nachvollziehbar, unter welBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 260 Dominik Schrage chen Bedingungen die Daten, mit denen analytisch umgegangen wird, überhaupt entstanden sind. Auch im Bereich der Diskursanalyse lassen sich Fälle angeben, in denen die Plausibilität der Ergebnisse von der Darstellung des Forschungsverlaufs maßgeblich gestützt wird, auch wenn die Daten ja gerade nicht im Forschungsprozess erzeugt werden: Dies gilt etwa für Analysen von Medienberichterstattung oder anderen Arten von Diskursmaterial, bei denen die Auswahl des Korpus angesichts des großen Umfangs virtuell möglicher Daten sinnvollerweise begründet wird (Periodikum, Zeitraum, gegebenenfalls Einschränkungen durch Schlagwort- oder Themensuche); bei großen Korpora ist auch die Strategie der ›Kodierung‹ zweifellos informativ, vor allem wenn relevante Zwischenschritte der finalen textlichen Dokumentation nicht zu entnehmen sind. In diesen Fällen ist eine strukturelle Ähnlichkeit diskursanalytischen Vorgehens mit anderen Arten qualitativer Erhebungs- und Auswertungsverfahren gegeben und sie nimmt die Form einer Fallstudie an, dies umso eher wenn mehrere Personen arbeitsteilig an der Forschung beteiligt sind. Andere Bedingungen können aber dann vorliegen, wenn eine diskursanalytische Strategie im Rahmen einer monographischen Arbeit verwendet wird, die zumindest partiell als Literaturstudie angelegt ist; man hat es hier zumeist mit wissenschaftlichen oder anderen selbständig zitierbaren Texten zu tun. Die Spezifik des diskursanalytischen Zugangs liegt dann weniger in der Eingrenzung eines großen Datenkorpus und der Entwicklung von Auswertungsstrategien für große Textmengen, sondern in der Betrachtungsweise sowie in der Art der Einbettung der Ergebnisse in die diese Studie tragende Argumentation: Im Unterschied zu herkömmlichen Literaturstudien werden die Texte ja nicht mit dem Ziel einer additiven oder komparativen Sammlung von als wissenschaftlich gültig erachteten Erkenntnissen analysiert. Man hat es aber oft mit einem Korpus zu tun, der sich vergleichsweise leicht (etwa durch Angabe von Forschungsdisziplinen, -feldern, -kontroversen) eingrenzen lässt. Die im Diskurs beanspruchten Geltungen werden dabei eingeklammert und beispielweise auf Gemeinsamkeiten gegnerischer Positionen, außerdiskursive Existenzbedingungen oder im Diskursverlauf sichtbar werdende Transformationen der Wissensordnung hin betrachtet. Die relevanten Erkenntnisse ergeben sich dabei dadurch, dass eine eigene Fragestellung an den Diskurs herangetragen und in der Konfrontation mit ihm kritisch weiterentwickelt wird, die auch die Auswahl des zu untersuchenden Diskursmaterials anleitet und plausibilisiert. Diese Fragestellung ist im Erfolgsfalle am Ende des Forschungsprozesses klarer als zu Beginn, sie ist also keine zu prüfende Hypothese; sie strukturiert zudem – das ist ein Kennzeichen des Genres monographische Studie – als argumentativer Kern und roter Faden die gesamte textliche Darstellung, die damit einer anderen Chronologie folgt als der Forschungsprozess selbst.9 Damit soll eine Auskunftspflicht über die zu den Ergebnissen führenden Entscheidungen gar nicht bestritten werden – wohl aber darauf hingewiesen werden, dass die Form, in der diese Auskunft gegeben wird oder werden kann, von der Art der Darstel9 Besonders bei Monographien stellt sich noch eine weitere Frage, die ich hier ganz ausgeklammert habe, die aber für die hier diskutierte Frage ebenfalls höchst relevant ist: Kann jede wissenschaftliche Aussage methodologisch von der Empirie aufsteigend begründet werden? Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis 261 lung und vom verfolgten Forschungsstil abhängig sein kann. Die im Feld der Diskursforschung bislang erhobenen Forderungen nach methodologischer Explikation wurden – wie oben erläutert – bislang vornehmlich mit der Überzeugung vorgebracht, dass die optimale Explikation der Vorgehensweise vorzugsweise im Rahmen eines einheitlichen Forschungsprogramms möglich sei. Das bedeutete aber letztlich, wie ich zu zeigen versucht habe, dass die Verständigung über das Warum und Wie der Diskursforschung kaum von theoretischen Positionierungen losgelöst werden könnte, über die – zumindest angesichts der gegenwärtig existierenden Heterogenität der Auffassungen – kein Einvernehmen erzielt werden wird. Möglicherweise wäre es ein gangbarer Weg, statt die Einheitlichkeit von Forschungsprogrammen anzustreben, zunächst von der faktisch vorliegenden Einheit der Bücher auszugehen und die Diskussion um das Warum und Wie der Diskursforschung dadurch zu konkretisieren. Das könnte auch helfen, mehr darüber herauszufinden, welche Formen methodologischer Explikation in der Diskursforschung faktisch existieren, bevor man die Anschauungen aus anderen, ja möglicherweise ganz unterschiedlichen Anforderungen unterliegenden Forschungsfeldern zu rasch überträgt. Es ist – obwohl es auf den ersten Blick paradox scheinen mag – kein Zufall, dass Michel Foucault – der in seiner Archäologie des Wissens neben vielen anderen Einheiten des Diskurses auch diejenige des Buches zu suspendieren beanspruchte – den Forschungsprozess, der letztlich sein intellektuelles Leben war, durch die Einheiten der in monographischer Form gebündelten und einander ablösenden, überbietenden, untergrabenden Fragestellungen strukturierte und vorantrieb. Literatur Angermüller, J./van Dyk, S. (Hrsg.) (2010): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen. Frankfurt am Main: Campus. Bröckling, U. (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bröckling, U./Krasmann, S. (2010): Ni méthode, ni approche. Zur Forschungsperspektive der Gouvernementalitätsstudien – mit einem Seitenblick auf Konvergenzen und Divergenzen zur Diskursforschung. 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Der Beitrag stellt die zentralen Konzepte dieses Ansatzes vor, zeigt, wie die diskursive Aushandlung von (kommunikativen) Ideologien und die Verfestigung ideologischer Konzepte damit analysiert und modelliert wird, diskutiert soziopragmatische Funktionen von Sprachideologien und exemplifiziert die theoretischen und methodischen Erläuterungen an einem linguistischem Fallbeispiel: der Erfindung der ›Internetsprache‹ als diskursiv-interpretativem Phänomen. Schlagwörter: Diskurslinguistik, Metapragmatik, Sprachideologien, Soziolinguistik, Registrierung, Indexikalität Summary: This paper introduces a strand of linguistic discourse analysis that is not much known both in Germanic discourse linguistics and in inter-disciplinary discourse research: sociolinguistic language ideology research or metapragmatics. The paper sketches the basic concepts of this approach, it shows how (communicative) ideologies are discursively negotiated and describes how metapragmatics models and analyzes the reinforcement of ideological concepts. Furthermore, the paper discusses socio-pragmatic functions of language ideologies. The theoretical and methodical elaborations are exemplified by means of a linguistic case in point: the invention of ›the Internet language‹ as a discursive and interpretive phenomenon. Keywords: Discourse Linguistics, Metapragmatics, Language Ideologies, Sociolinguistics, Enregisterment, Indexicality 1 Einleitung Dieser Beitrag stellt einen linguistischen Zugang zum Diskurs vor, der in den letzten Jahren vor allem in der angloamerikanischen Soziolinguistik viel Bedeutung gewonnen hat, in der germanistischen Diskurslinguistik bis jetzt aber noch nicht sehr intensiv rezipiert wurde (vgl. für einige Hinweise Spitzmüller/Warnke 2011, passim): die metapragmatische Analyse sozialer Indexikalität und sozialsemiotischer Registrierungsprozesse. Diese vor allem in der amerikanischen Linguistischen Anthropologie entwickelte Form der Sprachhandlungsanalyse richtet ihr Interesse primär auf die Frage, wie soziale Positionen und Sprachideologien diskursiv ausgehandelt, sozialsemiotisch aufgeladen und transformiert werden. Ihr Gegenstand ist also ein genuin linguistischer: Es geht um Sprache und sprachliches Handeln als soziale Praxis. Dennoch ist sie auch für andere Formen der DisBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 264 Jürgen Spitzmüller kursanalyse, etwa sozialwissenschaftliche, historiographische und medienwissenschaftliche, interessant, denn im Mittelpunkt dieser Forschungsrichtung steht letztlich, wenn auch zumeist auf Sprache spezifiziert, die Frage, wie ›Dinge‹ zu sozial bedeutsamen ›Zeichen‹ werden, inwieweit diese Zeichen das Resultat diskursiver Prozesse sind und inwieweit sie das diskursive Handeln ihrerseits prägen. Der Beitrag stellt zunächst die Grundkonzepte und -annahmen der Metapragmatik vor, diskutiert dann einige zentrale soziale Funktionen und exemplifiziert den Ansatz schließlich an einem linguistischen Beispiel: der ›Erfindung‹ der ›Internetsprache‹. 2 Metapragmatik: Grundkonzepte und -annahmen Das Konzept der Metapragmatik wurde maßgeblich von dem Sprachanthropologen Michael Silverstein (u.a. 1979, 1993) geprägt und ausgearbeitet (vgl. auch Verschueren 2004). Silverstein bezeichnet, ausgehend von Roman Jakobsons (1971) metasprachlicher Funktion, mit der metapragmatischen Funktion von Zeichen ihre Möglichkeit, reflexiv auf pragmatische Phänomene, also auf kommunikatives Handeln, zu verweisen: »Signs functioning metapragmatically have pragmatic phenomena – indexical sign phenomena – as their semiotic objects; they thus have an inherently ›framing‹, or ›regimenting‹, or ›stipulative‹ character with respect to indexical phenomena.« (Silverstein 1993, S. 33) Die Metapragmatik fokussiert also sprachliche Handlungen, die auf sprachliche Handlungen verweisen und fragt danach, wie die Kommunikationsakteure selbst kommunikatives Handeln (das ihrige und das von anderen) bzw. die Umstände kommunikativen Handelns reflektieren und konzeptualisieren. Sie steht somit in der Tradition der Ethnomethodologie und Ethnographie, die ja auch die Soziolinguistik nachhaltig geprägt haben (vgl. v.a. Gumperz/Hymes 1972; Hymes 1974). Im Kontext metapragmatischer Forschung wurden einige Konzepte entwickelt, die für die Analyse metasprachlicher Diskurse zentral geworden sind, an erster Stelle das der Sprachideologie. Dieser ebenfalls v.a. von Silverstein (1979) geprägte Begriff umfasst, im Anschluss an die generellen Ideologiekonzepte von Vološinov (1929/1975), Gramsci (1991–2002) und Althusser (1977), die Summe aller Werthaltungen, mit denen die sprachliche Wirklichkeit von sozialen Akteuren diskursiv konstruiert wird. Die viel zitierte ›klassische‹ Definition lautet: »ideologies about language, or linguistic ideologies, are any sets of beliefs about language articulated by users as a rationalization or justification of perceived language structure and use.« (Silverstein 1979, S. 193) Zweierlei ist dabei wichtig: Erstens umfasst der Begriff alle Werthaltungen und Einstellungen zu Sprache und Sprachgebrauch – auch, wie Silverstein klar herausstellt, linguisBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 265 tische Theorien zu Sprache und Sprachgebrauch. Zweitens werden Sprachideologien, wie das Verb articulated in Silversteins Definition verdeutlicht, als genuin diskursive Phänomene betrachtet. Es geht also tatsächlich (nur) um solche Werthaltungen und Einstellungen, die diskursiv geäußert und verhandelt werden (vgl. Blommaert 2005, S. 158–202). Sprachideologien sind aus Sicht der Sprachideologieforschung grundlegend für das gesellschaftliche Verhalten und die soziale Positionierung der Akteure. Das folgende Zitat verdeutlicht dies: »As part of everyday behavior, the use of a linguistic form can become a pointer to (index of) the social identities and the typical activities of speakers. But speakers (and hearers) often notice, rationalize, and justify such linguistic indices, thereby creating linguistic ideologies that purport to explain the source and meaning of the linguistic differences. To put this another way, linguistic features are seen as reflecting and expressing broader cultural images of people and activities. Participants’ ideologies about language locate linguistic phenomena as part of, and evidence for, what they believe to be systematic behavioral, aesthetic, affective, and moral contrasts among the social groups indexed. That is, people have, and act in relation to, ideologically constructed representations of linguistic differences. In these ideological constructions, indexical relationships become the ground on which other sign relationships are built.« (Irvine/Gal 2000, S. 37) Ein weiterer zentraler Begriff findet sich in diesem Zitat: der der (sozialen) Indexikalität. Darunter versteht die Soziolinguistik, im Anschluss an die semiotische Trias von Peirce (1903/1983), aber auch an das Indexikalitätskonzept von Garfinkel (1967), die Fähigkeit sprachlicher Zeichen, soziale Werte, Akteurstypen und Lebensformen zu evozieren bzw. zu kontextualisieren. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sprachliche Zeichen nicht nur auf bestimmte Sachverhalte referieren, sondern dass sie immer auch bestimmte Werte (bzw. Ideologien) indizieren. Wichtig ist dabei die ebenfalls auf Silverstein zurückgehende Annahme, dass indexikalische Zuschreibungen (und mithin Sprachideologien) sozial stratifiziert sind. Sprachliche Handlungen werden demzufolge in verschiedenen Kontexten und von verschiedenen Akteuren unterschiedlich bewertet. Silverstein (2003) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Ideologien ›indexikalisch geordnet‹ sind. Dabei unterscheidet er Stufen der gesellschaftlichen Verfestigung der indexikalisch-sozialen Bedeutung sprachlicher Formen, v.a. die folgenden drei: 1st-order indexicality: Bezugsetzungen von sprachlichen Formen zu einem bestimmten soziodemographischen Kontext, die von ›außen‹ (bspw. durch linguistische Beobachtung) vorgenommen werden, ohne dass den Sprechern selbst bewusst ist, dass sie ›spezifisch‹ sprechen. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 266 Jürgen Spitzmüller 2nd-order indexicality: Bezugsetzungen, welche von den Akteuren selbst vorgenommen werden. Sie ermöglicht, dass sprachliche Formen selbst Kontexte signalisieren, also als Kontextualisierungshinweise (vgl. Auer 1986) dienen können. 3rd-order indexicality: sprachliche Formen, die als so ›typisch‹ für einen bestimmten Kontext angesehen werden, dass sie etwa in Stilisierungen einer bestimmten Personengruppe (sensu Bachtin 1971, S. 202–228) verwendet werden können.1 Entscheidend ist dabei, dass diese Ordnungen als aufeinander bezogen gedacht sind: Jede n-te Ordnung präsupponiert die n−1-te Ordnung, was aber nicht bedeutet, dass diese n−1-te Ordnung faktisch wirklich existiert (vgl. Silverstein 2003, S. 220). Das bedeutet, sprachideologische Zuschreibungen entstehen aus der Annahme eines musterhaften Sprachgebrauchs bestimmter sozialer Gruppen bzw. durch Zuschreibungen eines solchen Sprachgebrauchs. Das können Selbst- und Fremdzuschreibungen sein, die beide vom faktischen Sprachgebrauch divergieren können (vgl. Johnstone/Andrus/Danielson 2006). Der Frage, wie solche Zuschreibungen diskursiv entstehen, geht die metapragmatische Analyse nach. Silversteins Konzept der indexical orders wurde von Jan Blommaert aufgegriffen und in einer spezifischen Art und Weise modifiziert, die für die Sprachideologieforschung ebenfalls wichtig ist. In Anlehnung an Foucaults (1997) ordre du discours entwickelt Blommaert das Konzept der orders of indexicality (vgl. Blommaert 2005, S. 73 ff., 2010, S. 37 ff.), das er folgendermaßen beschreibt: »While performing language use, speakers […] display orientations towards orders of indexicality – systematically reproduced, stratified meanings often called ›norms‹ or ›rules‹ of language and always typically associated with particular shapes of language (i.e. the ›standard‹, the prestige variety, the usual way of having conversation with my friends etc.). […] Stratification is crucial here: we are dealing with systems that organize inequality via the attribution of different indexical meanings to language forms (e.g. by allocating ›inferior‹ value to the use of dialect varieties and ›superior‹ value to standard varieties in public speech).« (Blommaert 2005, S. 73) Im Unterschied zu Silverstein geht es Blommaert dabei weniger um den Prozess der Verfestigung der Indexikalität als um ihre soziale Streuung. Sein Konzept tritt der in der frühen Soziolinguistik (und auch im medialen Diskurs) verbreiteten Annahme entgegen, dass es grundsätzlich ›bessere‹ oder ›prestigeträchtigere‹ und ›schlechtere‹ oder ›weniger prestigeträchtige‹ Sprachen und Varietäten gebe. Dem hält er entgegen, dass es vom jeweiligen sozialen Setting, von den beteiligten Akteuren und ihren Einstellungen abhängt, wie eine kommunikative Praxis bewertet wird und damit, wie erfolgversprechend sie ist. 1 Diese Unterscheidung schließt an eine terminologische Differenzierung von Labov (1971, S. 192–206) an, der von indicators (≈ 1st-order), markers (≈ 2nd-order) und stereotypes (≈ 3rd-order indexicality) spricht (vgl. Silverstein 2003, S. 217). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 267 So genanntes ›ethnolektales Deutsch‹ etwa (im Mediendiskurs häufig Türkendeutsch, Kanaksprak o.ä. genannt) mag in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft als Zeichen mangelnder Sprachkompetenz gelten, in bestimmten sozialen Gemeinschaften gilt sie aber als Zeichen von Kompetenz, als Ausweis von Gruppenidentität und als Statussymbol. Dasselbe gilt umgekehrt auch für ›standardnahes‹ Deutsch (›Hochdeutsch‹). Aus Blommaerts Sicht besonders wichtig ist, dass diese Indexikalitäts-Ordnungen soziale Ungleichheit organisieren, die besonders dann zum Vorschein kommt, wenn Akteure zwischen verschiedenen ›Indexikalitäts-Ordnungen‹ wechseln und dadurch riskieren, ihre Fähigkeit zu verlieren, kommunikative Ziele durch die Wahl der jeweils als geeignet angesehenen Mittel zu erreichen (vgl. Blommaert 2005, S. 77). Ein letztes Begriffspaar aus der Soziolinguistik und Linguistischen Anthropologie, das für die Analyse sprachideologischer Diskurse wichtig ist, ist das der Registers und der (sozialen) Registrierung (enregisterment). Der Registerbegriff hat in der Soziolinguistik eine lange Tradition (einschlägig ist Halliday 1978, S. 31 f.), in der Linguistischen Anthropologie wurde er in den letzten Jahren aber neu und weiter entwickelt. Für diese Entwicklung sind insbesondere die Arbeiten von Asif Agha (2006, 2007) von Bedeutung. Er definiert ein Register als »a cultural model of action 1. which links speech repertoires to stereotypic indexical values 2. is performable through utterances (yields enactable personae/relationships) 3. is recognized by a sociohistorical population« (Agha 2007, S. 81) »registers [are] culture-internal models of personhood linked to speech forms.« (Agha 2007, S. 135) Es handelt sich also um kulturell verankerte Ethnokonzepte, die sprachliche Formen mit Personen- und Handlungstypen verbinden. Register selbst bestehen aus, wie Agha es nennt, sozialen Emblemen: »An emblem is a thing to which a social persona is attached. It involves three elements; (1) a perceivable thing, or diacritic; (2) a social persona; (3) someone for whom it is an emblem (i.e., someone who can read that persona from that thing).« (Agha 2007, S. 235) Ein solches Emblem kann ein bestimmter sprachlicher Ausdruck sein. Agha selbst (2007, S. 225) nennt bspw. Cor blimey als Emblem für Cockney Slang. Für das Deutsche könnte man mit bestimmten sozialen Gruppen und Verhaltensweisen assoziierte Lexeme und Lexemverbindungen nennen, etwa so genannte Jugend- und Szenevokabeln, Entlehnungen, die von manchen mit positiv, von anderen mit negativ bewerteten Verhaltensweisen und Personentypen assoziiert werden, wissenschaftliche Terminologie oder dialektale Varianten. Den Prozess nun, in dem ein Zeichen zu einem – von sozialen Gruppen unterschiedlicher Größe als solchem wahrgenommenen – System von sozialen Emblemen wird, also Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 268 Jürgen Spitzmüller zu einem Register, nennt Agha enregisterment bzw. social enregisterment, also Registrierung bzw. soziale Registrierung: »When a thing/diacritic is widely recognized as an emblem – when many people view it as marking the same social persona – I will say that it is enregistered as an emblem, or is an enregistered emblem. ›Enregistered‹ just means ›widely recognized‹, and there are degrees of it.« (Agha 2007, S. 235) »Enregisterment: processes and practices whereby performable signs become recognized (and regrouped) as belonging to distinct, differentially valorized semiotic registers by a population.« (Agha 2007, S. 81) Registrierungsprozesse sind also diskursive Prozesse, in denen soziale Bedeutung zugewiesen wird, und auf diese Prozesse zu achten heißt darauf zu achten, ob und wie sprachliche Formen metapragmatisch mit Personentypen und Handlungsmodellen verbunden werden: »Our focus […] needs to be not on things alone or personae alone but on acts of performance and construal through which the two are linked, and the conditions under which these links become determinate for actors.« (Agha 2007, S. 235) Auf Silversteins Konzept der indexikalischen Ordnungen bezogen können Register als Phänomene der zweiten und dritten Ordnung betrachtet werden, und Registrierung als Prozess der Entwicklung einer zweiten und gegebenenfalls dritten Ordnung aus der Annahme der Existenz einer ersten indexikalischen Ordnung. 3 Soziale Positionierung Warum aber findet eine soziale Registrierung von Zeichen überhaupt statt? Die soziolinguistische Standardantwort darauf ist: Diese sozial-indexikalischen Zeichen und Bedeutungszuschreibungen dienen in erster Linie der sozialen Positionierung (bzw. der Konstruktion von Identitäten). Soziale Positionierung ist eine auch diskurslinguistisch wichtige Funktion, sie ist die Grundlage für Prozesse sozialer Stratifizierung bzw. der Aushandlung und Verfestigung von gesellschaftlichen Hierarchien (Dynamiken der Macht), von Prozessen also, denen das zentrale Interesse vieler Varianten der Diskursanalyse – und neuerdings auch (wieder) der Diskurslinguistik (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, S. 182 f.) – gilt. Die gegebene Antwort wirft nun aber ihrerseits wieder grundlegende Fragen auf. Vor allem: Was bedeutet, linguistisch gesehen, soziale Positionierung überhaupt? Was heißt es, mittels Kommunikation eine ›Position‹ einzunehmen? Diese Frage wird in der Soziolinguistik zurzeit (unter dem Label Stancetaking) intensiv diskutiert (vgl. Englebretson 2007; Jaffe 2009). In diesem Zusammenhang hat John Du Bois (2007) ein durch seine Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 269 Akteur 1 ◂p bew ◂ richtet sich aus ▸ osi ert tio et ▸ nie rt s ich Objekt t▸ rte e ich bew iert s n itio s o ◂p Akteur 2 Abbildung 1: Das ›Stance‹-Dreieck (nach Du Bois 2007, S. 163) Einfachheit bestechendes Modell vorgeschlagen, das die Frage zu beantworten versucht: das so genannte ›Stance-Dreieck‹ (vgl. Abbildung 1). Demzufolge lässt sich das kommunikative ›Stancetaking‹ in drei ineinander verschachtelte Teilprozesse unterteilen: 1. den Prozess der Bewertung (evaluation) eines ›Objekts‹ (›Gegenstands‹, ›Sachverhalts‹, einer ›Idee‹, ›Tätigkeit‹ usw.) durch einen bzw. mehrere ›Akteure‹, 2. den Prozess der Positionierung (positioning) dieser Akteure in Relation zum ›Objekt‹ (durch die Bewertung) und 3. den Prozess der Ausrichtung (alignment), bei dem die Standpunkte verschiedener Akteure abgeglichen werden, also die Positionierung verschiedener Akteure zueinander aufgrund ihrer jeweiligen Bewertungen eines spezifischen ›Objekts‹. Das heißt, mit Du Bois gesprochen: »Stance is a public act by a social actor, achieved dialogically through overt communicative means, of simultaneously evaluating objects, positioning subjects (self and others), and aligning with other subjects, with respect to any salient dimension of the sociocultural field.« (Du Bois 2007, S. 163) Oder kürzer: »I evaluate something, and thereby position myself, and thereby align with you.« (Du Bois 2007, S. 163) Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 270 Jürgen Spitzmüller Das Modell ist für das Verständnis sozialer Positionierung deswegen so hilfreich, weil es zwei wichtige Aspekte in den Fokus rückt. Erstens unterstreicht es die Tatsache, dass Positionierung ein sozialer und interaktiver Prozess ist – und dies in mehrfacher Hinsicht, nämlich zum einen insofern, als Standpunkte stets interaktiv ausgehandelt werden, und zum anderen insofern, als ein Standpunkt ja nur ein Standpunkt relativ zu anderen ist. Zweitens verdeutlicht das Modell durch die Korrelation von Standpunktbezug und Bewertung, wie wichtig der Aspekt der Ideologie für Prozesse sozialer Positionierung ist: Jeder Standpunktbezug kommuniziert, da er die Bewertung eines ›Objekts‹ einschließt und somit Werte und Einstellungen zum Ausdruck bringt, Ideologien. Auf der Basis dieses Modells lässt sich soziale Positionierung durch Sprachgebrauch brauchbar modellieren, besonders dann, wenn man die Konzepte des sozialen Registers und der sozialen Registrierung in die Modellierung mit einbezieht, was im Folgenden geschieht. Zunächst lässt sich dabei festhalten, dass auch Sprachgebräuche zum ›Objekt‹ eines Standpunktbezugs werden können, nämlich dann, wenn Akteure diesen Sprachgebrauch explizit metapragmatisch bewerten (etwa: ›Dialekte sind emotionaler und authentischer als Standardsprache‹, ›Anglizismen sind nichts als Imponiergehabe‹). In solchen Fällen der expliziten metapragmatischen Referenz kann man die Position des ›Objekts‹ mit ›Sprachgebrauch‹ besetzen und den Prozess der ›Bewertung‹ als ›metapragmatische (sprachideologische) Bewertung‹ spezifizieren. Da Sprachgebräuche im Kontext von Registern ihrerseits mit Personen- und Handlungstypen assoziiert werden, ist diese Bewertung gleichzeitig auch eine Bewertung sozialer Personen und Handlungen (von assoziierten Sprechern und Lebensweisen). Aber nicht immer, und vielleicht sogar in den wenigsten Fällen, sind metapragmatische Referenzen derart explizit (vgl. Verschueren 2004). Und tatsächlich müssen sie es auch nicht sein, denn man kann sich zu einem Sprachgebrauch (und den damit assoziierten sozialen Werten) auch schon allein dadurch positionieren, dass man diesen praktiziert. Praxis heißt aber nicht in jedem Fall Affirmation: Man kann einen Sprachgebrauch praktizieren und sich zugleich von ihm distanzieren, dann nämlich, wenn man eine Stilisierung vornimmt. Man muss also verschiedene Formen der sprachlichen Performanz bzw. Stilisierung unterscheiden. Eine hilfreiche und in der Soziolinguistik viel beachtete Unterscheidung verschiedener Stilisierungspraktiken haben Bucholtz/Hall (2006, S. 382 ff.) vorgelegt. Sie unterscheiden drei Paare solcher Praktiken: 1. Adequation und distinction: den Versuch der Herstellung von Ähnlichkeiten bzw. Unterschieden zu anderen sozialen Akteuren und Akteursgruppen bzw. (im Fall einer Kategorisierung anderer) zwischen anderen sozialen Akteuren. Im Prozess der Adäquation bestimmt das Streben nach sozial wahrgenommener Ähnlichkeit die Stilisierung, saliente Unterschiede werden zugunsten dessen ausgeblendet. Der Prozess der Distinktion stellt demgegenüber einen Versuch der Abgrenzung von anderen bzw. anderer dar, hierbei werden Unterschiede konstruiert und in den Vordergrund gestellt, saliente Ähnlichkeiten werden ausgeblendet. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 271 2. Authentication und denaturalization: den Versuch der Herstellung von ›Authentizität‹ bzw. ›Künstlichkeit‹. Der Prozess der Authentifizierung beschreibt dabei den Versuch bzw. den formulierten Anspruch, hinsichtlich des eigenen Handelns bzw. aufgrund spezifischer Charakteristika möglichst ›authentisch‹ oder ›natürlich‹ zu sein (wobei ›Authentizität‹ und ›Natürlichkeit‹ als soziale Konstrukte bzw. als Ideologien verstanden werden), der entgegengesetzte Prozess der Denaturalisierung den Versuch, bewusst ›un-authentisch‹ zu wirken (bspw. durch Parodie und Verfremdung) oder andere als ›un-authentisch‹ bzw. ›unnatürlich‹ darzustellen. 3. Authorization und illegitimation: den Versuch, eine soziale Position durch bestimmte soziale Prozesse (der Institutionalisierung bzw. Machtausübung) zu legitimieren (Autorisierung) oder sie umgekehrt zu delegitimieren. Dies beinhaltet die diskursive Durchsetzung von bzw. den diskursiven Kampf um Ideologien. Durch eine bestimmte Sprachwahl und die Art und Weise, wie sie praktiziert wird, können Akteure also versuchen, wie eine bestimmte (imaginierte) Gruppe zu klingen oder gerade ganz anders, um sich ihr gegenüber zu positionieren. Sie können weiterhin versuchen, als ›authentische‹ So-und-So-Sprecher zu erscheinen oder durch Verfremdung eine andere, vielleicht kritische, vielleicht überlegene Position gegenüber So-und-SoSprechern zu markieren. Schließlich können sie versuchen, sich als legitime So-und-So- Akteur 1 pra ktiz ◂p ier ◂ richtet sich aus ▸ osi t/b tio ew er rt s tet ▸ ich nie Sprachgebrauch t▸ rte e ew t/b ch r e i t si z r i e t k ni pra sitio o ◂p Akteur 2 Abbildung 2: Auf Sprachgebrauch spezifiziertes ›Stance‹-Dreieck Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 272 Jürgen Spitzmüller ▸ ert t i z i e ind bind er ◂v Sprachgebrauch ind ◂v izi erb ind ert ◂ verknüpft ▸ Personentypus ▸ et Verhaltenstypus Abbildung 3: Soziales Register Sprecher darzustellen oder anderen diesen Status abzusprechen bzw. sie können als Rezipienten einen Produzenten aufgrund seiner Sprachwahl und der Art und Weise, wie er sie praktiziert, als adäquaten, distinkten, authentischen, unnatürlichen, legitimen oder illegitimen So-und-So-Sprecher wahrnehmen. Die verschiedenen Ebenen hängen natürlich letztlich zusammen, sie werden aber teilweise durch unterschiedliche kommunikative Mittel realisiert. Die bis hierhin genannten Aspekte lassen sich nun zu einem Modell sozialer Positionierung mittels Sprache zusammenfügen. In diesem Beitrag wird vorgeschlagen, soziale Positionierung mittels Sprache als eine Form metapragmatischen Stancetakings, als metapragmatische Positionierung zu verstehen. Ausgangspunkt hierfür ist ein modifiziertes Stance-Dreieck, bei dem die Stelle des ›Objekts‹ mit dem Sprachgebrauch besetzt wird (vgl. Abbildung 2): Ein Akteur bewertet und/oder praktiziert eine Sprachgebrauchsform in einer bestimmten Art und Weise (authentifizierend, verfremdend usw.). Dadurch, dass er das tut, und dadurch, wie er das tut, positioniert er sich selbst in einer bestimmten Art und Weise (affirmativ, ironisch usw.) zu diesem Sprachgebrauch. Insofern richtet sich der Akteur gegenüber anderen Akteuren aus, die das ebenfalls in einer spezifischen Art und Weise tun. Es kommt aber noch etwas hinzu: Der Sprachgebrauch selbst indiziert ja als Signifikant eines Registers einerseits soziale Personentypen und andererseits typisierte Verhaltensformen. Personen- und Verhaltenstypen werden so an eine Sprachgebrauchsform gebunden und sie werden über das Register miteinander verknüpft – ein semiotisches Beziehungsverhältnis, das man ebenfalls als triadisches modellieren kann (vgl. AbBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 273 bildung 3). Deshalb richtet sich ein Akteur, wenn er einen sozial registrierten Sprachgebrauch verwendet, auch zu diesen typisierten Personen aus, und er positioniert sich zu typisierten, ›registrierten‹ Verhaltensformen. Soziale Positionierung durch Sprache ist also ein komplexer Positionierungsprozess über verschiedene Ebenen: Ein Akteur positioniert sich mit seinem Sprachgebrauch nicht nur – bzw. wird aufgrund seines Sprachgebrauchs nicht nur positioniert – in Relation zu anderen Akteuren aufgrund ihrer Bewertung oder Praxis dieses Sprachgebrauchs. Er positioniert sich – oder wird positioniert – aufgrund des bestimmte sprachliche Varianten betreffenden, sozial aber unterschiedlich distribuierten Registerwissens auch in Relation zu typisierten Personengruppen und Verhaltensformen, die mit dem Sprachgebrauch assoziiert und von ihm kontextualisiert werden. Zu diesen (wie zu konkreten Akteuren) kann sich ein Kommunikationsakteur in bestimmter Art und Weise (affirmierend, kritisch, ironisierend usw.) durch Sprachbewertung und Sprachpraxis positionieren und ausrichten. Zusammengenommen lässt sich dies mit Hilfe des Modells veranschaulichen, welches Abbildung 4 zeigt, ein Modell metapragmatischer Positionierung, welches die vorgestellten Modelle sozialer Positionierung (durch Sprachbewertung und sprachliche Performanz) und sozialer Indexikalität (durch Register) integriert. Die gestrichelten Linien auf der Seite des Registers sollen dabei verdeutlichen, dass der Registrierungsprozess ein dynamischer, potenzieller Prozess sozialer Zuschreibung ist.2 ◂ richtet sich aus ▸ Akteur 2/1 Personentypus pra k ◂ p tizie rt osi tio /bew nie e rt s rtet ▸ ich ▸ ert izi et d in ind erb ◂v Sprachgebrauch ▸ tet r we /be ich t r zie ert s i kti a r ion p sit o ◂p ind ◂v izi er ind t ▸ et erb Verhaltenstypus ◂ positioniert sich ▸ Abbildung 4: Metapragmatische Positionierung 2 ◂ verknüpft ▸ ◂ richtet sich aus ▸ Akteur 1/2 Für wertvolle Hinweise zur Darstellung des Modells danke ich Sven Staffeldt. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 274 Jürgen Spitzmüller 4 Beispielfall: Die Erfindung der ›Internetsprache‹ Im Folgenden wird anhand eines Beispielfalls exemplifiziert, wie die beschriebenen Konzepte und Modelle für eine Analyse sprachideologischer Diskurse fruchtbar gemacht werden können. Der Fall betrifft ein metasprachliches Phänomen, die mediale Wahrnehmung und Bewertung der so genannten ›Internetsprache‹. Wenn man in eine Suchmaschine das Stichwort Internetsprache eingibt, stößt man unter anderem auf folgende Beschreibung: »Die meisten Internet-Neulinge stellt das World Wide Web am Anfang ihrer Reise vor das ein oder andere Rätsel um die Bedeutung zahlreicher Begrifflichkeiten in diesem Medium. In Chats, Foren sowie dem alltäglichen E-Mail-Verkehr hat sich nämlich eine ganz eigene Sprache etabliert, die Internetsprache. Sie ist geprägt von Abkürzungen und Emoticons (Smileys aus Satzzeichen).« (Sprachnudel 2013a) Diese Charakterisierung findet sich auf der Seite Sprachnudel.de, welche sich selbst als »Wörterbuch der Jetztsprache« bezeichnet, und sich dem Besucher folgendermaßen vorstellt: »Spar dein Geld für Sprachreisen, denn diese Seite richtet sich an alle Cracks, Geeks, Homies und Ikonen der verschiedenen Lifestyle-Szenen, indem Sie sprachliche Trends sammelt und Normalbürgern zugänglich macht. Was nicht im Duden steht soll zukünftig hier gefunden werden.« (Sprachnudel 2013b) Im Sinne dieser Selbstverpflichtung stellt die Seite unter dem genannten Lemma eine »Liste mit entsprechenden Begriffen zur Verfügung«, um »den Netzjargon auch für die breite Masse verständlich zu machen« (Sprachnudel 2013a). Sie besteht aus zurzeit 71 primär lexikalischen Einheiten, nämlich 47 Nomina, 18 Verben, 7 in vollständige Propositionen auflösbaren Akronymen und einem Adjektiv, und stellt eine Mischung dar aus Fachterminologie (wie Blogosphäre, Hoax, Phishing) und ironisch-expressiven Wortbildungen (wie Fressensammlung, Wikidiot, Blogorrhö). Außerdem enthält sie, was nicht ganz unwichtig ist, 27 Entlehnungen bzw. Lehnprägungen. Eine ähnliche Beschreibung findet man in der selbsternannten »sinnfreien Enzyklopädie« Stupidedia (www.stupidedia.org), einer satirischen, optisch und stilistisch bewusst an die Wikipedia anschließenden kollaborativen Plattform, die den schönen Slogan führt: »Wissen Sie bescheid? Nein? Wir auch nicht!« (Stupidedia 2013a). Auf der Plattform werden einerseits satirisch Tagesereignisse kommentiert und andererseits versucht man Phänomene, welche die Beiträger für ›stupide‹ halten, mit einem ironisch gebrochenen lexikographischen Ernst zu beschreiben. Unter dem Lemma Internetsprache findet sich dort die folgende Definition: »Internetsprache, die, ein modernes Phänomen der Entwicklung unserer Sprache in ein stenotypisches Kürzelkonstrukt. Gespräche, wie sie das Beispiel rechterhand [eiBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 275 nem angeblich aus einer Teamspeak-Konverstation zitierten Gesprächsauszug, Anm. J.S] darstellt, hört man zu Tausenden auf so genannten Teamspeak Servern, die in der Regel der Verständigung zwischen einer Gemeinschaft von Computerspielern dienen. Ursprünglich entstand dieser zugegeben fremd wirkende Sprachgebrauch in den späten 90ern hauptsächlich in so genannten Chatrooms, um Gefühle und kurzzeitige Zustände möglichst schnell und treffend auszudrücken. Dadurch entstanden logisch anmutende Wörter wie zum Beispiel [… es folgt eine Liste von 28 Akronymen, Anm. J.S.].« (Stupidedia 2013b; vgl. auch Abbildung 5) Abbildung 5: »Internetsprache« (Stupidedia 2013b) Dies sind nur zwei von sehr vielen ähnlichen Beispielen für die Beschreibung der ›Internetsprache‹, die man im und außerhalb des Netzes in großer Zahl findet. Die Beschreibung eines angeblich ›internetspezifischen‹ Sprachgebrauchs ist also keineswegs so exklusiv, wie es die Beschreibungen selbst oft für sich beanspruchen. Nicht zuletzt der von der Sprachnudel kontrastiv genannte Duden widmet sich vielfach dem Phänomen. Schon das orthographische Wörterbuch, das gemeinhin metonymisch als »der Duden« bezeichnet wird, enthält spätestens seit der 22. Auflage 2000 viele als ›internetspezifisch‹ eingeschätzte Einträge – zum Leidwesen vieler Sprachkritiker. Darüber hinaus gibt es aber auch spezifische, auf ein breites Publikum ausgerichtete Publikationen des Dudenverlags zum Thema. Ein Beispiel, auf das die folgende Analyse näher eingehen wird, ist ein von Linguistinnen und Linguisten verfasster, in der Reihe »Thema Deutsch« herausgegebener Sammelband mit dem Titel »Von *hdl* bis *cul8r*. Sprache und Kommunikation in den Neuen Medien« (Schlobinski 2006). Zwar setzt sich dieser Sammelband explizit kriBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 276 Jürgen Spitzmüller tisch mit dem Konzept der ›Internetsprache‹ auseinander, dennoch profiliert er dieses allein schon im Titel – ein Faktum, auf das zurückzukommen sein wird. Festhalten lässt sich als Ausgangsbeobachtung Folgendes: – Im alltagsweltlichen Diskurs hat sich vielerorts die Vorstellung verfestigt, es gebe im Internet eine eigene, durch bestimmte Merkmale klar erkennbare und abgrenzbare ›Sprache‹. – Diese sei Neulingen unverständlich und müsse, aus Sicht eines Teils der sich äußernden Diskursakteure, ›erlernt‹ werden, wenn man sich erfolgreich im Internet bewegen wolle; aus Sicht anderer stellt sie ein unnötiges und sinnfreies ›Imponiergehabe‹ dar, gegen das man sich als reflektierter Sprachteilhaber wehren müsse. – Diese ›Sprache‹ wird auch als eigenständige Sprache bezeichnet, nämlich als Netzsprache, Netspeak, Websprech, Internetslang, spezifischer als Chatslang und Chatspeak – oder eben ganz allgemein als ›die‹ Internetsprache (wie man sieht, liefern viele Bezeichnungen die Bewertung des Phänomens gleich mit). Viele Linguistinnen und Linguisten stören solche Aussagen und Kategorisierungen massiv. Zu ihnen zählt bemerkenswerterweise auch der Herausgeber des genannten DudenBandes, welcher sich in vielen Aufsätzen und Vorträgen vehement gegen den so genannten ›Mythos‹ der Internetsprache ausspricht, die es seiner Meinung nach nicht gibt und die ein Konstrukt linguistisch uninformierter Laien darstelle, die die medienlinguistische Forschung nicht zur Kenntnis nähmen (vgl. etwa Schlobinski 2001, 2012). Die Position Schlobinskis und vieler anderer Medienlinguisten, die ähnlich argumentieren (vgl. etwa Schmitz 2002; Dürscheid 2004; Androutsopoulos 2006), steht dabei in der Tradition einer langen Auseinandersetzung der Sprachwissenschaft mit dem massenmedialen Diskurs zu Sprache. Im Kern läuft diese Auseinandersetzung darauf hinaus, dass die Linguisten der so genannten ›Öffentlichkeit‹ vorwerfen, sich zu sprachlichen Fragen unsachlich zu äußern und linguistische Erkenntnisse dabei zu ignorieren, während Akteure des massenmedialen Diskurses der Linguistik umgekehrt häufig Arroganz unterstellen und konstatieren, dass diese – beispielsweise wenn es um Bewertungen des Sprachwandels geht – den eigentlichen Punkt verfehle (vgl. hierzu Spitzmüller 2005a, 2005b; für das Englische Cameron 1995). Eine genauere metapragmatische Analyse zeigt jedoch, dass die Sache nicht so einfach ist. Am Beispiel der ›Internetsprache‹ lässt sich zeigen, dass die Annahme vieler Medienlinguisten, dass es diese nicht gebe, nicht in jeder Hinsicht zutrifft. Umgekehrt trifft aber auch die Aussage vieler Akteure im medialen Diskurs, dass es eine ›Internetsprache‹ gebe, nicht in jeder Hinsicht zu. Es kommt darauf an, auf welcher (indexikalischen) Ebene man das Phänomen betrachtet. Weiterhin zeigt die Analyse, dass die Annahme vieler Linguisten, dass ›Laien‹ ihr eigenes ›sprachtheoretisches Süppchen‹ kochten, ebenfalls nicht vollständig zutrifft. Wenn man sich nämlich ansieht, wie sich dieses Konzept diskursiv entBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 277 wickelt hat, dann lässt sich zeigen, dass einige Medienlinguisten an dieser ›Suppe‹ tatkräftig mitgekocht haben. Dies wird, mit Hilfe der besprochenen Konzepte, im Folgenden begründet. Dabei wird der Blick auf die Geschichte des Konzeptes der ›Internetsprache‹ im sprachreflexiven Diskurs gerichtet, die, wie gezeigt wird, die Geschichte einer sozialen Registrierung ist. Die soziale Registrierung mediensprachlicher Formen wurde, jedenfalls für das Deutsche, bislang noch nicht systematisch aufgearbeitet. Zwar gehen viele medienlinguistische Arbeiten auf metapragmatische Zuschreibungen ein und zitieren einzelne Beispiele, zumeist jedoch nur, um diese als ›Mythen‹ zu bewerten, denen dann die empirischen Fakten entgegengehalten werden. Schon an systematischen Analysen zum mediensprachlichen Metadiskurs im Deutschen mangelt es, erst recht an solchen, die der Frage nachgehen, welche Funktionen die doch sehr rekurrenten metapragmatischen Konstruktionen haben. Für das Englische ist die Situation etwas besser. Von Thurlow (2006, 2007) etwa liegen detaillierte Analysen des mediensprachlichen Metadiskurses vor, und dezidiert die soziale Registrierung von ›Internetsprache‹ untersucht Squires (2010). Sie zeigt am Beispiel der Ethnokategorien Netspeak und Chatspeak, wie sich ab Mitte der 1990er-Jahre im Metadiskurs der Presse, im Netz selbst, aber auch in den frühen linguistischen Arbeiten ein sozial distinktives Konzept einer ›Internetsprache‹ herausbildet, das zwar kaum empirisch (also auf der ersten indexikalischen Ebene) begründet ist, aber gleichwohl diese erste Ebene präsupponiert und dadurch erheblich auf die positive wie negative Bewertung des Mediums Internet und des dortigen Sprachgebrauchs zurückwirkt. Wird Netspeak in den 1990er-Jahren noch vor allem mit Fachvokabular verbunden, werden Netspeak und Chatspeak ab der Jahrtausendwende zunehmend mit bestimmten Verschriftungsformen (Akronymen, normabweichendem Schreiben, distinktiver Interpunktion) und angeblicher geschriebener ›Mündlichkeit‹ verbunden, Phänomenen, die auch in der frühen Internetforschung fokussiert wurden.3 Squires zeigt, dass bei der Registrierung Medialitätszuschreibungen eine wichtige Rolle gespielt haben: In einem ›neuen‹ Medium werden ›neue‹ Kommunikationsformen erwartet; beobachtete oder auch nur behauptete Abweichungen werden schnell als ›typisch‹ für dieses ›neue‹ Medium wahrgenommen, sie werden zumeist auf die medialen Bedingungen wie etwa die angebliche Synchronizität des Chats zurückgeführt und mit dem favorisierten ›richtigen‹ Sprechen (den Standardnormen) kontrastiert (vgl. Squires 2010, S. 470). In einem deutschen Zeitungstext wird diese Auffassung sehr schön auf den Punkt gebracht: »Wo die neueste Technologie herrscht, herrscht auch die neueste Art zu kommunizieren.« (Die Welt, 2.10.1999) 3 Vgl. etwa Haase et al. (1997), Bär (2000) und Crystal (2001), die bezeichnenderweise auch von der »Sondersprache des Internet« (Haase et al. 1997, S. 53; ähnlich auch Bär 2000, S. 16), von »Cyberdeutsch«, »Sondersprache«, »Computersprache«, »E-Hochdeutsch« (Bär 2000, S. 16, S. 32) bzw. von »Netspeak« (Crystal 2001, S. 17–61 und passim) sprechen. Vgl. zum Konzept der ›geschriebenen Mündlichkeit‹ in der frühen Forschung kritisch auch Spitzmüller (2005c). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 278 Jürgen Spitzmüller Squires zeigt weiterhin, wie ›Internetsprache‹ mit bestimmten metapragmatisch evaluierten Personentypen verknüpft wird, insbesondere mit Jugendlichen und interessanterweise vor allem mit Frauen sowie mit ›faulen‹ und ›unerfahrenen‹ Nutzern (»youth, females, the lazy or inexperienced«, Squires 2010, S. 479). Hier hat sich offenbar ein signifikanter Wandel seit der Frühzeit des Internets vollzogen, wo ›Netzsprache‹ häufig noch als Insiderjargon vor allem technikaffiner Männer – so genannter Geeks – verstanden wurde. Eine Pilotstudie auf der Grundlage eines Korpus aus 121 deutschsprachigen Pressetexten (von 1995 bis Februar 2013) zeigt, dass sich die von Squires beschriebenen Entwicklungen auch im deutschsprachigen Metadiskurs erkennen lassen, wenngleich es auch signifikante Unterschiede gibt, insbesondere die enge Verbindung mit der ›Fremdsprache‹ Englisch in der Frühzeit des Diskurses (»Monopol des Englischen«, taz, 7.12.1995) und später dann die Kopplung an den anwachsenden Anglizismendiskurs (vgl. zu diesem Spitzmüller 2005a). Wie in Squires’ Korpus konzeptualisieren auch die frühen deutschsprachigen Texte von Mitte bis Ende der 1990er-Jahre ›Internet-‹ und ›Chatsprache‹ noch primär als eine Menge von Fachvokabular, das es für Internetnutzer zu erlernen gelte; die Texte enthalten dementsprechend häufig terminologische Glossare, die die ›Internetsprache‹ erläutern (vgl. dazu auch Kreisel/Tabbert 1996; Rosenbaum 1996; Abel 1999). Ab Ende der 1990er-Jahre und insbesondere ab der Jahrtausendwende wird ›Internetsprache‹ dann verstärkt als eine ›Geheimsprache‹ konzeptualisiert, die neben Fachvokabular vor allem aus Akronymen (wie LOL), Rebusschreibungen (wie cu) und Emoticons (wie ;-)) besteht. Diese werden zu sozialen ›Emblemen‹ der Netzsprache ikonisiert (vgl. zum Konzept der Ikonisierung Irvine/Gal 2000). Ein typisches (frühes) Beispiel für den Diskurs dieser Zeit ist das folgende: »Kauder-Websch – die neue Sprache […] Entstanden ist eine regelrechte Geheimsprache, für die eine spezielle Zeichensprache und Vokabeln gelernt werden müssen. Zur Grundausrüstung eines Chatters gehören Emotionskürzel wie LOL (Laughing out Loudly = laut lachen, englisch), Abkürzungen wie ›cu‹ (tschüss), ›bvid‹ (bin verliebt in dich) oder ›blbr‹ (Bussi links, Bussi rechts) sowie Computer-Smileys, mit denen der jeweilige Gefühlszustand ausgedrückt wird. Inzwischen sind über 650 solcher Emoticons bekannt.« (Tages-Anzeiger, 26.06.1999) Dieses Konzept verfestigt sich über die Jahre hinweg. Im Folgenden werden einige Beispiele gegeben, in denen als Embleme Fachtermini, Anglizismen (»Englischbrocken«), standardferne Verschriftung (wie das funzt!), Akronyme (wie lol) und Rebusschreibungen (wie cu), Inflektive (wie *traurigguck*), Emoticons (wie ;-)) und verknappte Syntax genannt werden. Die Beispiele demonstrieren auch, dass als Personentypen vor allem Jugendliche genannt werden, deren ›Geheimsprache‹ die Eltern nicht verstünden. Im positiven Fall wird das Ganze als ›kreative Spielerei mit Normen‹ bewertet, im negativen als ›Sprachverfall‹: Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 279 »Do you speak Internet?« (Die Welt, 21.12.1999) »[…] die Unachtsamkeiten hinsichtlich Stil, Orthografie und Interpunktion sind beträchtlich.« (Berliner Morgenpost, 30.1.2000) »›PROG NICH GECHECKT?‹ Journal CEBIT – Ein Sprachbrei aus Fachausdrücken, Abkürzungen und Englischbrocken breitet sich im Internet aus. Das hört sich cool an, lässt normale Menschen aber meist ratlos zurück.« (Stern, 7.3.2002) »Zeichen-Sprache. Wie das Internet Kommunikation verkürzt.« (Hamburger Abendblatt, 5.4.2002) »›Hey, frohe xmas und glg‹.« (taz, 20.12.2003) »Kreative Plauderei im Netz. Beim Chatten experimentieren Jugendliche mit der Sprache und mit ihrer Identität.« (Stuttgarter Nachrichten, 2.4.2005) »Wenn sich Babsi16 mit ihrem Chat-Freund BlackyB im Internet unterhält, dann versteht ihre Mutter meist nur Bahnhof. Was bitte bedeutet lol oder cu? Und was ist *traurigguck*?« (Stuttgarter Nachrichten, 2.4.2005) »Web-Sprache: Zwischen ›rofly‹ und ›liebguck‹.« (Rheinische Post, 14.3.2006) »Die Computertastatur und das angekoppelte schnellebige System verführen zu einer eigenen Art Sprache, dem Netzjargon.« (Hamburger Abendblatt, 7.6.2006) »›cul8r‹: Wir sehen uns später. Geheimcode? Internet-Surfer und SMS-Schreiber erfinden ihre eigene Sprache.« (Berliner Morgenpost, 9.10.2006) »Das schnelle Medium Internet hat eine ganz eigene Form der Kommunikation hervorgebracht. So drückt man etwa in elektronischer Post seine Gefühle mit kleinen Gesichtern, so genannten Emoticons aus, die vornehmlich aus Punkten und Klammern bestehen: :-) steht für Lachen oder ;-) für Augenzwinkern. Auch Abkürzungen wie ›hdl‹ für ›hab’ dich lieb‹ oder ›rotfl‹ für ›rolling on the floor, laughing‹ (vor Lachen auf dem Boden wälzen) haben sich in Texten eingebürgert.« (Stuttgarter Nachrichten, 15.1.2007) »Download mal das Proggi zum Foten, das funzt!« (Spiegel Online, 28.6.2007) »›Webbisch‹ für Anfänger. Der Jargon der Internetforen und Chatrooms ist gewöhnungsbedürftig und nicht immer leicht zu verstehen.« (Stuttgarter Nachrichten, 22. 10. 2007) Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 280 Jürgen Spitzmüller »Im Internet kennen sich die meisten Jugendlichen bestens aus. Dort herrscht eine ganz bestimmte Sprache: Es gibt keine Groß- und Kleinschreibung, Wörter werden nicht mehr ausgeschrieben, sondern durch Kürzel ausgedrückt.« (Rheinische Post, 30.4.2009) »Lach, grins, grübel und merkwürdige Abkürzungen: In Internet-Chats hat sich nach Untersuchungen von Wissenschaftlern ein neues Deutsch entwickelt.« (SDA – Basisdienst Deutsch, 27.5.2009) »Dabei hat das Schreiben in Echtzeit mittlerweile sogar eine eigene Sprache hervorgebracht. Dieser Chat-Slang zeichnet sich vor allem durch die häufige Verwendung von Abkürzungen aus: In vielen Dialogen reihen sich gleich mehrere kryptische Kürzel wie ›np‹ (›no problem‹) oder ›bwd‹ (›bin wieder da‹ […]) aneinander.« (Focus Magazin, 26.10.2009) »Mit LG, LOL und ROFL kurz und nervend durchs Netz« (Wiesbadener Kurier, 12.7.2011) An dieser Stelle kann nicht detailliert auf die einzelnen Texte eingegangen werden, es seien aber ein paar generelle Befunde genannt, die das gesamte Korpus betreffen. Tabelle 1: Soziale Embleme der ›Internetsprache‹ Phänomen Nennung in Dokumenten Akronyme u. Rebusschreibung 60 Anglizismen 25 Emoticons 24 ›Normferne‹ Verschriftung 24 ›Mündlichkeit‹ 12 Inflektive 11 Englisch 11 Reduzierte Syntax 11 Buchstabeniterationen 2 N = 121 In Tabelle 1 sind die im Korpus zumeist genannten Merkmale bzw. sozialen Embleme der ›Internetsprache‹ zusammengestellt. Es zeigt sich, dass als Embleme vor allem saliente sprachliche Phänomene wahrgenommen werden, also solche Phänomene, die – im Vergleich zu dem, was gemeinhin als ›Standardsprache‹ oder auch ›gutes Deutsch‹ gilt – Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 281 ›markiert‹ erscheinen. Sehr häufig sind dies genuin schriftsprachliche Phänomene (Akronyme, Rebusschreibungen, Emoticons, Inflektive, Buchstabeniterationen), aber auch so genannte ›mündliche‹ Formen (die nicht zuletzt deswegen als ›mündlich‹ gelten, weil sie von den Erwartungen prototypischer Schriftlichkeit abweichen). Wichtig ist dabei auch, dass sich aus solchen Zuschreibungen ex negativo Standardsprachideologien ablesen lassen: Als ›gutes Deutsch‹ gilt eine elaborierte Schriftlichkeit mit ›vollständiger‹, komplexer Syntax, orthographiekonformes Schreiben sowie ein ›reines‹ (d.h. möglichst von Entlehnungen ›freies‹) Deutsch (vgl. dazu Spitzmüller 2005a). Je ›exotischer‹ ein Sprachgebrauch erscheint, desto besser lässt er sich offenbar als eigenständige ›Sprache‹ fassen, als homogenes ›Objekt‹ also, zu dem sich die Diskursakteure positionieren können. Tabelle 2: Soziale Typen Typus Nennung in Dokumenten ›Jugendliche‹ 30 ›Geeks‹ 3 (›Berufsjugendliche‹) Erwachsene 3 N = 121 Tabelle 2 zeigt die ›sozialen Typen‹, mit denen dieser Sprachgebrauch assoziiert wird. Ähnlich wie in Squires’ Korpus werden in den ganz frühen Texten zunächst vor allem die ›Geeks‹ genannt, später dann zumeist einfach nur noch ›die Jugend‹ sowie auch Erwachsene, die nach Meinung der Autoren gerne ›jugendlich‹ wirken wollen. Dass ›Jugendlichkeit‹ (im Sinne einer sozialsymbolischen Kategorie) als sprachideologische Bezugsgröße sehr wichtig ist, wurde bereits in anderen Analysen sprachideologischer Diskurse gezeigt, besonders in den Arbeiten zur so genannten ›Jugendsprache‹. Wie insbesondere Januschek (1989) in seiner wegweisenden Arbeit zur Erfindung der Jugendsprache zeigt, spielen hier (affirmative wie distanzierende) Projektionen eine wichtige Rolle. Indem sich die Diskursakteure metapragmatisch zur ›Sprache‹ angeblicher ›Jugendlicher‹ positionieren, positionieren sie sich auch zu den Werten und Einstellungen, die ›Jugendlichkeit‹ sozial zugeschrieben werden. Aspekte wie ›Progressivität‹ und ›Konservativismus‹ spielen in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Tabelle 3: Handlungsformen und -gründe Handlungsform/Grund Nennung in Dokumenten Abgrenzung (›Geheimsprache‹) 20 Kreativität 8 Inkompetenz/Unreflektiertheit 18 N = 121 Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 282 Jürgen Spitzmüller Die projektierten Handlungsformen, Ziele und Gründe für die ›Internetsprache‹ sind in Tabelle 3 zusammengestellt. Als solche erkennen die Texte vor allem ›Abgrenzung‹ (Stichwort ›Geheimsprache‹), ›Sprachspielerei‹ sowie, aus kritischer Sicht, ›Inkompetenz‹ und ›mangelnde Sprachreflexion‹. Der Reiz des ›Exotischen‹, die Offenheit für ›Neues‹ oder, auf der anderen Seite, die Berufung auf ›Traditionen‹, ›sprachliche Normen‹, ›Kompetenzen‹ und ›kulturelle Werte‹ sowie die Position, die die Diskursakteure über ihre metapragmatische Bewertung relativ zu diesen Werten zu erkennen geben, sind zentrale ideologische Ankerpunkte, mit deren Hilfe die Akteure die Grenzlinien ihrer eigenen Lebenswelt ziehen, mit denen sie der sozialen Wirklichkeit eine kontingenzreduzierte, überschaubare ›Ordnung‹ geben und mit denen sie ihr eigenes sprachliches und soziales Handeln legitimieren und nobilitieren. Es zeigt sich also, dass es hier um weit mehr als um ›Sprache‹ geht. Sprachideologische Diskurse und metapragmatische Positionierungen sind ein Mittel der Strukturierung und Ordnung von Gesellschaft, der Konstitution sozialer Gruppen, zu denen sich die Diskursakteure zurechnen oder von denen sie sich abgrenzen können, und der Kommunikation und Aushandlung grundlegender sozialer Werte. Wenn man sich nun als Linguist fragt, wie dieser Geist ›aus der Flasche‹ kam (vgl. zu diesem Bild Cameron 2004), dann muss man mit Blick auf die Texte konstatieren, dass die Linguistik selbst ganz offensichtlich als ›Flaschenöffner‹ gedient hat (auch dies bestätigt Squires’ Befunde). Schon die frühen Texte berufen sich nämlich unmittelbar auf medienlinguistische Arbeiten. Das folgende Beispiel illustriert dies: »Internet verändert Sprache rasant Düsseldorf (dpa) Das Internet verändert nach Ansicht des Sprachwissenschaftlers Prof. Dieter Stein die Sprache rasant. ›Das neue Medium bringt wieder mehr mündliche Elemente in die Sprache, weil man darin schreibt, wie man spricht‹, sagte der Anglistikprofessor am Freitag in Düsseldorf im Vorfeld einer internationalen Konferenz über historische Linguistik. Während neue Sprachformen bisher rund 1.000 Jahre benötigten, um sich durchzusetzen, wäre das im Internet bereits nach drei Monaten bemerkbar. Dazu gehörten unter anderem das Auslassen der Artikel und einfache Satzkonstruktionen.« (taz, 9.8.1997, S. 20) In diesem Interview wird das Bild eines geradezu ›dramatischen‹ Sprachwandels durch das Internet und einer Sprache, die ›ganz anders‹ (und in der Tendenz ›reduziert‹) ist, gezeichnet und sprachwissenschaftlich autorisiert. In diesen frühen Texten sprechen die Linguisten selbst häufig auch noch sehr direkt von »der Internetsprache« oder »dem Chatslang«, sie betonen vor allem die Unterschiede zu ›alten Medien‹ und machen die Medien häufig auf die Phänomene überhaupt erst aufmerksam, die später als Embleme registriert werden, also auf Akronyme, Inflektive, verknappte Syntax usw. Auch in späteren Phasen des Diskurses bleibt die linguistische Beteiligung hoch. Insgesamt beziehen sich immerhin 46 Artikel aus dem Korpus (also ca. 38%) unmittelbar auf linguistische Untersuchungen bzw. auf Aussagen von Sprachwissenschaftlern – und Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 283 zwar zum Teil genau der Sprachwissenschaftler, die momentan so vehement gegen den Mythos der ›Internetsprache‹ kämpfen. In den allermeisten Fällen verwenden die Texte diese Referenzen dabei als Stützung für die Ansicht, dass es eine spezifische ›Internetsprache‹ gibt. Selbst in den späteren Texten, in denen Linguisten versuchen, gegen diese Annahme zu argumentieren, bleibt am Ende zumeist dieser Eindruck stehen, nicht zuletzt deswegen, weil auch diese Texte häufig eine Fülle komprimierter, hochstilisierter, möglichst exotischer ›Internetsprache‹ präsentieren, ›Internetsprache‹ also auf der dritten indexikalischen Ebene. Auch der zu Beginn erwähnte Duden-Band (Schlobinski 2006) hat eine ganze Reihe von Artikeln nach sich gezogen, die das Buch im Wesentlichen als ›wissenschaftlichen Beweis‹ dafür anführen, dass ›Internetsprache‹ eben vor allem *hdl* und *cul8r* ist. Exemplarisch illustriert dies das folgende Zitat, das einer Besprechung dieses Buchs entnommen ist: »Das schnelle Medium Internet hat eine ganz eigene Form der Kommunikation hervorgebracht. So drückt man etwa in elektronischer Post seine Gefühle mit kleinen Gesichtern, so genannten Emoticons aus, die vornehmlich aus Punkten und Klammern bestehen: :-) steht für Lachen oder ;-) für Augenzwinkern. Auch Abkürzungen wie ›hdl‹ für ›hab’ dich lieb‹ oder ›rotfl‹ für ›rolling on the floor, laughing‹ (vor Lachen auf dem Boden wälzen) haben sich in Texten eingebürgert. Während viele schon den drohenden Sprachverfall beschwören, ist vor allem bei Jugendlichen diese Art der Kommunikation in den Alltagsgebrauch eingeflossen – längst losgelöst vom Medium Internet.« (Stuttgarter Nachrichten, 15.1.2007, S. 11) Die Analyse zeigt also, dass es tatsächlich eine ›Internetsprache‹ gibt – allerdings weniger als faktische Form des Sprachgebrauchs denn als interpretatives Konstrukt mit einer spezifischen sozialen Bedeutung. Die Annahme einer durch bestimmte stereotype Formen erkennbaren ›eigenen‹ Sprache, die vor allem bestimmte Sprechergruppen sprechen, prägt ganz offensichtlich die Wahrnehmung von Mediensprache, jedenfalls die öffentlich geäußerte Wahrnehmung. Diese ›Internetsprache‹ hat sich diskursiv entwickelt, sie wurde über mehrere Stufen der indexikalischen Verfestigung sozial(-semiotisch) registriert – als ›Zeichen‹ bestimmter Sprechergruppen, denen man diesen Sprachgebrauch zuschreibt, und eines bestimmten Lebensstils, den man diesen Sprechergruppen unterstellt. Die Linguistik, die aufgrund empirischer Befunde versucht, gegen diese Vorstellung zu argumentieren, hat nolens volens maßgeblich zur sozialen Registrierung beigetragen. Sie ist also ein wichtiger Akteur in dieser Geschichte. Was Jannis Androutsopoulos in einer metapragmatischen Untersuchung zur Erfindung ›des‹ Ethnolekts mit Blick auf die Rolle der Linguistik im Diskurs festgehalten hat, lässt sich nahezu unmodifiziert als Befund auch auf die vorliegende Analyse übertragen, wenn man Ethnolekt durch ›Internetsprache‹ ersetzt: »Sprachwissenschaftler und -innen sind an der Produktion des Ethnolekts maßgeblich beteiligt. Ihre Expertenbeiträge legitimieren die journalistische […] Behandlung Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 284 Jürgen Spitzmüller des Gegenstands und führen Verfahren vor, die den Gegenstand Ethnolekt überhaupt erst konturieren: Benennung und Klassifizierung, normativer Vergleich und Merkmalsselektion etc. Direkte bzw. indirekte (journalistisch aufbereitete) Expertenbeiträge sind oft von Standardismus geprägt und von der journalistischen Bearbeitung und Mediatisierung abhängig. Die Annahme, dass Expertenbeiträge in journalistischen Berichten sachliche Aufklärung leisten, trifft pauschal und verallgemeinert nicht zu: ausschlaggebend ist vielmehr ihre journalistische Kontextualisierung.« (Androutsopoulos 2011, S. 117; vgl. zu dem letzten Punkt auch grundsätzlich Spitzmüller 2011) Die Funktion dieses indexikalischen Konstrukts ist, wie gezeigt wurde, in erster Linie eine soziopragmatische: Die Vorstellung einer identifizierbaren ›Sondersprache‹ ermöglicht soziale Positionierung zu dieser ›Sondersprache‹ und den mit ihr assoziierten Personentypen und Handlungsformen – sei es affirmativ oder distanzierend. 5 Resümee Der vorliegende Beitrag hat gezeigt, wie insbesondere sprachideologische Diskurse und die Konstitution von Sprachideologien mit Hilfe soziolinguistischer und sprachanthropologischer Konzepte gefasst und analysiert werden können. Es wurde demonstriert, wie diskursive Konzepte im Rahmen von sozialsemiotischen Zuschreibungsprozessen emergieren, wie man soziale Positionierung durch Sprache als diskursives Phänomen begreifen und somit Stratifizierungsprozesse sprachtheoretisch genauer beschreiben kann. Im Kontext der Diskurslinguistik kann dies als Vorschlag verstanden werden, wie man die dort notorisch unterspezifizierte ›Akteursebene‹ (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, S. 172– 187) mit sprachwissenschaftlichen Mitteln präziser explorieren kann. Der Beitrag schließt aber mit der Hoffnung, dass die Diskurslinguistik nicht die einzige diskursanalytische Teildisziplin ist, für die die vorgestellten Theorien und Konzepte von Interesse sind. Idealerweise sollten sie – gemäß dem Anspruch des interdisziplinären Unternehmens Diskursforschung – auch für diskursanalytische Varianten anderer Disziplinen sowie auch für die interdisziplinäre Diskussion inspirierend (oder vielleicht auch nur widerspruchsfördernd) sein. Zumindest sollte aber deutlich geworden sein, wie tief und verzweigt die diskursive Verwurzelung von Sprache ist, welche zentrale Rolle semiotische und kommunikative Prozesse in diskursiven Praktiken spielen, und nicht zuletzt auch, dass Diskurslinguistik nicht nur Historische Semantik, Korpuslinguistik und CDA, sondern ganz wesentlich auch Soziolinguistik und Linguistische Anthropologie umfasst. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung 285 Literatur Abel, J. (1999): Cybersl@ng: Die Sprache des Internet von A bis Z. München: Beck. Agha, A. (2006): Registers of Language. In: Duranti, A. (Hrsg.): A Companion to Linguistic Anthropology. Malden und Oxford: Blackwell, S. 23–45. Agha, A. (2007): Language and Social Relations. Cambridge und New York: Cambridge University Press. Althusser, L. (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung). 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Ein solch plötzlicher und umfassender Politikwandel ist erklärungsbedürftig. Während traditionelle politikwissenschaftliche Theorien an einer plausiblen Erklärung scheitern, ist eine solche aus diskursanalytischer Perspektive jedoch möglich. Im vorliegenden Artikel nutzen wir die Methode der Diskursnetzwerkanalyse, um den diskursiven Stabilisierungsprozess von politischen Forderungen zur Atom- und Energiepolitik in der medialen Öffentlichkeit zwischen März und Juli 2011 zu untersuchen. Wir argumentieren, dass die schnelle Durchsetzung der Ausstiegsforderung sich mit Hilfe der drei Faktoren Akteurszentralität, Konsistenz und Zusammenhalt der Diskurskoalition sowie diskursive Schwäche der Opposition erklären lässt. Schlagwörter: Diskursanalyse, Netzwerkanalyse, Diskursnetzwerkanalyse, AKW-Politik, Diskurskoalitionen, Political Claims Summary: In March 2011, only one week after the nuclear disaster in Fukushima, Germany saw a radical policy change towards the abandonment of nuclear energy. The prolongation of nuclear energy use that had been adopted just some months before was withdrawn and a final exit date was set to the year 2022. Such a radical policy reversal calls for an explanation – but traditional theories from political science are not able to provide one. Only a discourse analytical perspective provides a plausible explanation. In the article we use the method of discourse network analysis to analyze the stabilization of exit demands, based on the coding of newspaper articles from two German quality newspapers published between March and July 2011. We argue that the fast developing hegemony of the exit demand can be explained by looking at three factors: actor centrality, consistency and cohesion of discourse coalitions as well as discursive weakness of the oppositional coalition. Keywords: Discourse Analysis, Network Analysis, Discourse Network Analysis, Nuclear Energy Policy, Discourse Coalitions, Political Claims Nach heftigen Auseinandersetzungen in der schwarz-gelben Koalition und insbesondere innerhalb der CDU wurden im September 2010 energiepolitische Beschlüsse gefasst, die eine erhebliche Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke (AKW) umfassten und damit eine Aufkündigung des im Jahr 2000 vereinbarten Atomkonsenses darstellten. Ein halbes Jahr später, im März 2011, erfolgte jedoch innerhalb einer Woche nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima eine radikale Politikwende hin zum Ausstieg aus der Atomenergie. Die Laufzeitverlängerung wurde wieder zurückgenommen, der endgültige Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahre 2022 festgelegt. Eine solch radikale UmsteuBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 289 erung der Politik, zumal so kurz nach einer vorhergehenden gesetzgeberischen Festlegung, ist höchst erklärungsbedürftig. Radikale Politikwechsel kann es im deutschen politischen System, so die überwältigende Mehrheit der politikwissenschaftlichen Theorien, kaum geben. Ob die Theorie des mittleren Weges (Schmidt 2007), die Überlegungen zur Zahl der Veto-Spieler (Tsebelis 2002) oder die Einigungszwänge einer Konsensdemokratie (Lijphart 1999) herangezogen werden, immer erscheint der Spielraum für einen Akteur, sich konsequent mit seinem Politikansatz gegen alle widerstreitenden Interessen durchzusetzen, als viel zu gering. So müssten bei einer Vielzahl von Akteuren gleichermaßen Veränderungen auftreten, um verständlich zu machen, warum der Politikwechsel nicht an dem Widerstand anderer scheitert oder warum es nicht zu langwierigen Verhandlungen und nur inkrementellen Politikänderungen kommt. Veränderungen in der Gesamtkonstellation müssten danach eine erhebliche Größenordnung erreichen, um eine Politikwende wie in der deutschen Atompolitik zu erklären. Folglich sollte es für die Forschung recht einfach sein, die entscheidenden Faktoren zu identifizieren. Doch zieht man die traditionellen Erklärungsansätze der Politikwissenschaft zu Rate, die meist scheinwerferartig ihre Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Faktorenbündel richten, gelingt es nicht, solche großen Verschiebungen zu identifizieren: es sind weder politische Institutionen noch politische Kraft- und Machtverhältnisse, aber auch keine Veränderungen in den ökonomischen Bedingungen und Unternehmensstrategien. Die naheliegende Vermutung, der Politikwechsel könne folglich nur am Ereignis Fukushima liegen, scheidet als genereller Erklärungsansatz aufgrund der Entwicklung in anderen Ländern aus. Diese reagierten in der Mehrzahl keineswegs mit einem radikalen Politikwechsel bzw. Atomausstieg. Es kann bestenfalls an der Deutung des Ereignisses in den einzelnen Ländern liegen, womit die Ebene der Diskurse in den Fokus rückt. Die bundesdeutsche Atomwende könnte vor dem Hintergrund des weitgehenden Versagens anderer Erklärungsansätze daher im besonderen Maße geeignet sein, den Wert von Diskursanalysen aufzuzeigen, und das nicht nur im Sinne einer Forschungsrichtung, die Ideen und Diskurse als weiteren Faktor in ein variablenanalytisches politikwissenschaftliches Denken integriert (›Ideas matter‹-Ansätze, vgl. Béland/Cox 2011; Gofas/Hay 2010). Ob Erklärung überhaupt eine sinnvolle Zielsetzung interpretativer und diskursanalytischer Forschung sein kann und soll, ist in der Literatur umstritten. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch einer vorsichtigen Annäherung an die Frage, wie diskursorientierte Erklärungen politischer Entscheidungen aussehen können. Es soll dabei nicht nur die Teilfrage geklärt werden, wie die Stabilisierung eines politischen Claims, hier der Forderung nach Stilllegung der Atomkraftwerke, diskursiv erfolgte. Der Anstoß zur politischen Wende durch bestimmte Akteure, insbesondere die Bundeskanzlerin, bleibt damit ebenso außerhalb der Betrachtung wie die generelle Frage, ob eine diskursive Erklärung nicht auch die Motivation der einzelnen Artikulationen als Diskursbeiträge berücksichtigen muss.1 1 Der Beitrag ist die Weiterentwicklung eines ersten, auf die Motivlagen konzentrierten Versuchs der Erklärung der Atomwende (Nullmeier/Dietz 2012). Methodologische Fragen einer diskursorientierten Erklärung sind in Nullmeier (2012) erörtert. Diskursnetzwerkanalysen werden erläutert in Leifeld/Haunss (2012). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 290 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier Gegenstand der empirischen Untersuchung ist der Zeitraum vom Fukushima-Unfall im März 2011 bis zum Bundestagsbeschluss zum Atomausstieg Ende Juni 2011. Die Methodik der Diskursnetzwerkanalyse (Leifeld 2009; Leifeld/Haunss 2012) wird mit Rekurs auf die Political Claims Analysis (Koopmans/Statham 1999) genutzt, um den diskursiven Stabilisierungsprozess von politischen Forderungen zur Atom- und Energiepolitik detailliert anhand der medialen Berichterstattung zu beschreiben. Es verschieben sich im Zeitverlauf Forderungen und Akteure, sie bilden gemeinsam ein Netzwerk, das die diskursive Konstellation beschreibt. Mittels dieses netzwerkanalytischen Zugangs wird nachvollziehbar, dass sich bestimmte Forderungen festsetzen, diskursiv etablieren oder sich in eine bestimmte Richtung verschieben. Das Nachzeichnen dieser Veränderungen im diskursiven Prozess leistet einen Beitrag zur Erklärung der Atomwende: Die empirischen Ergebnisse unserer Analyse lassen für den konkreten Fall deutlich werden, dass es keine hinreichende Gegenwehr zu den Ausstiegsforderungen gab, die kurz nach dem Erdbeben erhoben wurden, sich bald etablierten und dann nur noch variiert werden konnten. Die Netzwerkanalyse zeigt auch, wann und wie welche Akteure sich in eine bestehende Konstellation von Forderungen einfügten und diese dadurch ausbauten oder verschoben oder mit neuen Forderungen auf Nebengebieten neue thematische Felder eröffneten. Die Diskursnetzwerkanalyse erlaubt es zudem, den manchmal auch schnellen Wandel der Diskurskoalitionen zu erkennen. Über den konkreten Fall hinaus zeigt sie damit die eigenständige Dynamik von Diskursen, die damit weder schlicht Abbild von Präferenzen noch sprachliche Äußerung stabiler Überzeugungen sind. So ist dieser Beitrag ein Versuch, über eine detaillierte Diskursprozessanalyse Antworten auch auf explanatorische Aufgabenstellungen zu gewinnen. Im ersten Teil wird die politische Ereignisgeschichte rekonstruiert, ohne die die Diskursnetzwerkanalyse unverständlich bliebe (1.1); zudem wird das Versagen traditioneller politikwissenschaftlicher Erklärungsansätze skizziert (1.2). In einem zweiten Teil stellen wir die Analyse politischer Forderungen und die Methodik der Diskursnetzwerkanalyse vor (2). Im Hauptteil werden die Verschiebungen der Diskursnetzwerke in acht Phasen mit Hilfe netzwerksanalytischer Verfahren dargestellt, um die Dynamik dieser vier Monate eines politisch radikalen Wandelprozesses zu beschreiben (3). Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und einige Überlegungen für weitere Versuche der Prozessanalyse von Diskursen und diskursorientierter Erklärung vorgetragen (4). 1 Der Atomausstieg 2011 und Versuche seiner Erklärung 1.1 Ereignisgeschichte Die im Herbst 2010 beschlossene Laufzeitverlängerung für deutsche AKWs stellte den erfolgreichen Abschluss der jahrelangen Versuche dar, den Atomausstiegsbeschluss der rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder aus den Jahren 2000 bis 2002 rückgängig zu machen. Die damalige Bundesregierung begann kurz nach ihrem Amtsantritt im Jahr 1998, den im Koalitionsvertrag verankerten Atomausstieg vorzubeBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 291 reiten. Im Juni 2000 schloss sie einen Ausstiegsvertrag mit den vier großen Energiekonzernen E.on, RWE, EnBW und Vattenfall. Dieser in der Öffentlichkeit als ›Atomkonsens‹ bezeichnete Vertrag legte eine durchschnittliche Gesamtlaufzeit pro Kraftwerk von 32 Jahren fest, woraufhin das letzte deutsche AKW im Jahre 2022 vom Netz gehen sollte. Auf die schriftliche Vereinbarung zwischen Energiekonzernen und Regierung, die im Juni 2000 zustande kam, folgte 2002 deren gesetzliche Verankerung in Form einer Novellierung des Atomgesetzes. Darin wurde der Neubau von Kraftwerken untersagt sowie die zuvor unbefristete Laufzeit der Atommeiler eingeschränkt. Der Ausstiegsbeschluss wurde von der Regierung mit der mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz und den Sicherheitsrisiken der Atomkraft begründet. Kurze Zeit später folgte die Abschaltung der ersten Kernkraftwerke. Das AKW Stade wurde 2003 und das AKW Obrigheim 2005 vom Netz genommen. Dies reduzierte die Anzahl der deutschen Atomkraftwerke auf 17.2 Lange Zeit konnte es so erscheinen, als sei mit den Beschlüssen zur Jahrtausendwende zur Vermeidung weiterer politischer Konflikte im Umwelt- und Technikbereich (Feindt/ Saretzki 2010) ein endgültiger Abschied von der Atomkraft bei hinreichend langfristigem Ausstiegsverlauf gelungen. Doch mit der Regierungsübernahme durch die schwarzgelbe Regierung im Jahre 2009 wurde die Revision des Atomausstieges unter dem begrifflichen Signum der ›Brückentechnologie‹ zum Programm. Dies wurde wie folgt im Koalitionsvertrag festgehalten: »Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, bis sie durch erneuerbare Energien verlässlich ersetzt werden kann. Andernfalls werden wir unsere Klimaziele, erträgliche Energiepreise und weniger Abhängigkeit vom Ausland, nicht erreichen. Dazu sind wir bereit, die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke unter Einhaltung der strengen deutschen und internationalen Sicherheitsstandards zu verlängern. Das Neubauverbot im Atomgesetz bleibt bestehen. In einer möglichst schnell zu erzielenden Vereinbarung mit den Betreibern werden zu den Voraussetzungen einer Laufzeitverlängerung nähere Regelungen getroffen (u.a. Betriebszeiten der Kraftwerke, Sicherheitsniveau, Höhe und Zeitpunkt eines Vorteilsausgleichs, Mittelverwendung zur Erforschung vor allem von erneuerbaren Energien, insb. von Speichertechnologien). Die Vereinbarung muss für alle Beteiligten Planungssicherheit gewährleisten.« (CDU/CSU/FDP 2009) Es folgte eine Phase äußerst intensiver Auseinandersetzung innerhalb der CDU/CSU über die Umsetzung dieser Koalitionsvereinbarung. Schließlich wurde am 28. September 2010 ein energiepolitisches Gesamtkonzept vorgelegt, auf dessen Grundlage sowie basierend auf dem Vertrag zwischen Regierung und Energiekonzernen vom 6. September des gleichen Jahres schließlich am 28. Oktober die umfangreichen gesetzgeberischen Veränderungen unter Einschluss der Laufzeitverlängerung vom Bundestag verabschiedet wurden. Begründet wurde der »Ausstieg aus dem Ausstieg« mit den Argumenten Energie2 Zur besseren Übersichtlichkeit und mit ergänzenden Informationen wird die Entwicklung der Atompolitik in Deutschland zwischen den Jahren 2000 und 2011 in der Tabelle 1 dargestellt. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 292 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier sicherheit, Energiekosten und Klimaschutz. Längere Laufzeiten sollten laut Regierung verhindern, dass Deutschland von Stromimporten abhängig würde. Zudem sollte die Wirtschaft durch den günstigen Atomstrom profitieren und die CO2-arme Produktion des Atomstroms zum Erreichen der deutschen Klimaschutzziele beitragen. Neben der Laufzeitverlängerung wurden die Einführung einer Brennelemente-Steuer sowie die Einrichtung eines Energie- und Klimafonds beschlossen. Hiermit sollten Teile der durch die Laufzeitverlängerung bei den Energiekonzernen entstehenden Gewinne abgeschöpft und für die Förderung regenerativer Energien verwendet werden. Zudem wurden Sicherheitsnachrüstungen für die deutschen Atomkraftwerke beschlossen. Trotz der geplanten Gewinnabschöpfung und Verbesserung der Sicherheitstechnik sowie der umfassenden Argumentation für eine Laufzeitverlängerung war diese sehr umstritten. Die Opposition lehnte die Regierungspläne grundlegend ab und in den Medien wurde heftig über diese diskutiert. Auch kam es zu einer Wiederbelebung der Anti-Atomkraftbewegung, die ihren Widerstand gegen die Laufzeitverlängerung mit teilnehmerstarken Protestaktionen zum Ausdruck brachte (Jahn/Korolczuk 2012). Am 30. Juni 2011, nur etwas mehr als ein halbes Jahr nach dem Beschluss, die Reststrommengen für bis 1980 gebaute AKWs um acht Jahre und für neuere AKWs um 14 Jahre zu verlängern, wurde diese massive Ausdehnung des Übergangszeitraums, in dem die »Brückentechnologie« Kernkraft eine wesentliche Rolle im Energiemix spielen sollte, rückgängig gemacht. Die Reststrommengenregelung wurde durch feste Endtermine ersetzt, die deutlich frühere Zeitpunkte fixierten als die Berechnungen im Herbst 2010. Hinzu kam die Sofortabschaltung von acht AKWs (einschließlich des bereits seit 2009 aufgrund von Störfällen vom Netz genommenen AKW Krümmel). Nachdem in Folge eines Erdbebens am 11. März 2011 die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima ausgelöst wurde, kam es zu umgehenden und drastischen Reaktionen in der deutschen Politik. Die Regierung verhängte vier Tage nach dem Unglück ein dreimonatiges Atommoratorium. In diesem Zeitraum sollte die Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke durch die Reaktorsicherheitskommission geprüft werden. Zudem wurden die acht ältesten deutschen Meiler vorläufig vom Netz genommen sowie eine Ethikkommission eingesetzt, welche über die Zukunft der Atomkraft in Deutschland beraten sollte. Während die Reaktorsicherheitskommission keine neuen Erkenntnisse über mögliche Sicherheitslücken deutscher Atomkraftwerke aus dem Fukushima-Unglück ableitete, empfahl die Ethikkommission aufgrund der neuen Bedeutung, die dem Restrisiko nach Fukushima zukomme, einen möglichst umgehenden Ausstieg aus der Atomkraft. Die Regierung entschied Ende Mai 2011, die acht vom Netz genommenen AKWs dauerhaft abzuschalten und die wenige Monate zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung zurückzunehmen. Diese Entscheidung wurde auch von den Ministerpräsidenten der Länder mitgetragen, die sich bei Zusammenkünften mit der Kanzlerin mehrfach für einen zügigen Atomausstieg aussprachen (Bauchmüller 2011; Vitzthum 2011). Ende Juni 2011 wurde dann von der Regierung und großen Teilen der Opposition eine weitere Novelle des Atomgesetzes beschlossen. Diese schreibt vor, die verbleibenden neun deutschen Atomkraftwerke bis 2022 schrittweise abzuschalten. Am gleichen Tag verabschiedete der Bundestag auch Regelungen zum beschleunigten Ausbau der Stromnetze und der regenerativen Energien. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 293 Die Energiewirtschaft stimmte zunächst der zeitlich begrenzten Abschaltung der alten Kernkraftwerke mehrheitlich zu. Nachdem sich allerdings abzeichnete, dass diese nicht wieder hochgefahren und die verlängerten Laufzeiten zurückgenommen würden, äußerten insbesondere die vier großen Energiekonzerne öffentlich Kritik und reichten nach dem Ausstiegsbeschluss des Bundestages mehrere Klagen gegen die Bundesregierung ein. Der Zeitraum, auf den sich unsere Untersuchung konzentriert (11. März 2011 bis 1. Juli 2011), ordnet sich wie folgt in die Entwicklung der deutschen Atompolitik von 2010 bis 2013 ein. Tabelle 1: Chronologie der deutschen Atompolitik von 2000 bis Ende 2012 Datum Ereignis 14.6.2000 Bundesregierung schließt mit Energiewirtschaft Vereinbarung über Atomausstieg (›Atomkonsens‹) 11.6.2001 Unterzeichnung des Vertrags über den Atomausstieg zwischen rot-grüner Bundesregierung und Energiewirtschaft 22.4.2002 Bundestagsbeschluss zur Verankerung des Atomausstiegs im Atomgesetz 11.11.2003 Abschaltung AKW Stade als Folge des Atomausstiegs 11.5.2005 Abschaltung AKW Obrigheim als Folge des Atomausstiegs 2.12.2008 Parteitagsbeschluss der CDU zur Laufzeitverlängerung ohne Nennung konkreter Zahlen 17.5.2009 Beschluss Wahlkampfprogramm FDP, Forderung nach längeren Laufzeiten für Kernkraftwerke ohne Nennung konkreter Zahlen 2.10.2009 Präsidiumsbeschluss des Bundesverband Deutscher Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) pro Laufzeitverlängerung 26.10.2009 Unterzeichnung Koalitionsvertrag CDU/CSU/FDP mit Ankündigung der Laufzeitverlängerung 6.9.2010 Unterzeichnung des Vertrags zur Laufzeitverlängerung zwischen Regierung und Energiewirtschaft 28.9.2010 Beschluss des neuen Energiekonzepts durch die Bundesregierung (einschließlich Laufzeitverlängerung) 28.10.2010 Bundestagbeschluss zur Einführung der Kernbrennstoffsteuer zum 1.1.2012 28.10.2010 Bundestagsbeschluss zur Verankerung der Laufzeitverlängerung im Atomgesetz 8.12.2010 Bundestagsbeschluss zur Einführung des Energie- und Klimafonds zum 1.1.2012 11.3.2011 Atomunfall in Fukushima 14.3.2011 Atom-Moratorium I durch die Bundeskanzlerin: eine auf drei Monate befristete Aussetzung der Laufzeitverlängerung für deutsche Kernkraftwerke Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 294 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier 15.3.2011 Atom-Moratorium II durch die Bundeskanzlerin: Abschaltung der sieben bzw. acht (Krümmel) ältesten AKWs während des Moratoriums (bis zum 15.06.2011) 15.3.2011 Sicherheitsprüfauftrag an Reaktorsicherheitskommission 22.3.2011 Einsetzung der Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung durch Bundeskanzlerin Angela Merkel 8.4.2011 Atomausstiegsbeschluss des BDEW 8.4.2011 Energiekonzerne stoppen Zahlungen in Energie- und Klimafonds 17.5.2011 Veröffentlichung des Abschlussberichts der Reaktorsicherheitskommission 30.5.2011 Veröffentlichung des Abschlussberichts der Ethikkommission 30.5.2011 Beschluss der Bundesregierung zum Atomausstieg und zur dauerhaften Abschaltung der ältesten acht AKWs, eines dieser soll für eine Übergangszeit als Puffer dienen und ggf. wieder hochgefahren werden können 30.6.2011 Bundestagsbeschluss zur Verankerung des Atomausstiegs (verkürzte Laufzeiten) im Atomgesetz 14.11.2011 Verfassungsbeschwerde von E.on gegen Atomausstieg 21.12.2011 Beginn Schiedsverfahrens zwischen Vattenfall und Bundesregierung bei Weltbankgericht (ICSID) wegen Verletzung von internationalen Investitionsschutznormen, Vattenfall fordert 3,7 Milliarden Euro Schadensersatz 13.1.2012 Finanzgericht Baden-Württemberg erklärt Brennelementsteuer für verfassungsgemäß 13.6.2012 Bekanntwerden der Verfassungsbeschwerde von RWE gegen Atomausstieg 12.7.2012 Verfassungsbeschwerde von Vattenfall gegen Atomausstieg Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis von Presseberichten 1.2 Traditionelle Erklärungsmodelle Diese radikale, die eigene Politik umkehrende Reaktion der Bundesregierung erklärte sich der Ansicht einiger früher wissenschaftlicher Veröffentlichungen (Davies 2012; Pampel 2011) schlicht durch die Dramatik der Katastrophe von Fukushima. Es habe keine andere Reaktion auf dieses Ereignis geben können. Die Größenordnung des Ereignisses und sein Auftreten in einem Hochtechnologieland erkläre die Regierungspolitik. Doch diese Erklärung trifft nicht zu. Es ist vor allem der internationale Vergleich, der die These einer zwingenden Reaktion zu widerlegen vermag: Wie in Tabelle 2 dargestellt, gab es massive energiepolitische Reaktionen auf den Unfall in Fukushima nur in Japan, Deutschland und der Schweiz, mit Einschränkungen auch noch in Italien, Bulgarien und Belgien. Alle anderen Länder setzten ihre Atompolitik trotz Fukushima unverändert fort (World Energy Council 2011). Eine direkt vom Ereignis ausgehende zwingende Wirkung Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 295 kann es daher nicht gegeben haben – ganz abgesehen von den methodologischen Überlegungen, die generell gegen eine derart naturalistische Erklärung vorzubringen sind. Tabelle 2: Politische Reaktionen auf Fukushima im internationalen Vergleich bis Ende 2012 Ausstiegsbeschluss? Politische Reaktion auf Fukushima bis Ende 2012 Anzahl aktiver AKWs Anteil an Stromproduktion Kraftwerke im Bau oder in Planung Deutliche Reaktionen auf das Fukushima-Unglück Belgien Ja Neuerlicher Ausstiegsbeschluss im Oktober 2011, geplante Laufzeit AKWs bis 2025 2 51% Nein Bulgarien Nein Abbruch des erdbebengefährdeten Projekts in Belene (bereits zuvor in Kritik), Verschiebung nach Kosloduj, Opposition erzwingt 2012 Volksabstimmung über Zukunft von Belene (scheiterte Anfang 2013) 2 33% Ja, 2x Deutschland Ja Sofortige Abschaltung von 8 AKWs, Rücknahme Laufzeitverlängerung, Begrenzung Laufzeit übriger AKWs bis 2021 9 (zuvor 17) 16% (zuvor 28%) Nein Italien Ja Neueinstiegspläne gestoppt, Atomkraft in Referendum im Juni 2011 abgelehnt 0 0 Ja Japan Nein Abschaltung aller AKW zur Sicherheitsprüfung, Reduktion der Atomkraftnutzung 2011 und 2012, September 2012 Ausstiegsankündigung bis ca. 2040, seit Regierungswechsel Ende 2012 neuer Pro-Atomkraftkurs 54 29% Ja, 5x Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 296 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier Schweiz Ausstiegsbeschluss diskutiert Einjährige Sicherheitsuntersuchung der Schweizer AKWs; Neuplanungen gestoppt, Ausstiegsbeschluss: Laufzeit bestehender AKWs bis 2034 begrenzt 5 38% Ja Nur geringe bzw. keine Reaktionen auf das Fukushima-Unglück GB Nein Keine 19 20% Ja, 4x China Nein Verschärfte Sicherheitsprüfungen bei Genehmigung von AKWs 14 2% Ja, 78x Finnland Nein Keine 4 28% Ja, 1x Frankreich Nein Keine 58 74% Ja, 2x Österreich Ja Forderte Stresstest für europäische AKWs sowie Ausstieg aller Länder 0 0 Nein Russland Nein keine 32 17% Ja, 24x Spanien Ja, aber aufgehoben Keine 8 21% Nein Tschechien Nein Keine 6 33% Ja, 2x Türkei Nein Keine 0 0 Ja, 4x USA Nein Keine 104 20% Ja, 5x Polen Nein Keine 0 0 Ja, 6x Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis von Presseberichten Aber auch die weniger naiven Standarderklärungsmodelle der Politikwissenschaft versagen in der Erklärung des Atomausstiegs der Regierung Merkel: Eine politisch-institutionalistische Erklärung würde annehmen, dass Veränderungen auf Seiten der institutionellen Rahmenbedingungen erforderlich sind, um einen derart grundlegenden Politikwechsel auszulösen. Aber weder für das Institutionen-Setting des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland insgesamt (Anzahl der Vetospieler, Verfassungsinstitutionen, EU-Mehrebenensystem), noch für die Institutionen, die das Politikfeld Energiepolitik bestimmen (auf der Ebene der Ministerien, Wandel der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern), lässt sich im fraglichen Zeitraum ein Wandel aufzeigen. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 297 Gleiches gilt bei Heranziehen eines politisch-ökonomischen Erklärungsansatzes. Danach müsste es im Machtgefüge zwischen Energieunternehmen und Staat eine wesentliche Veränderung gegeben haben, um den Politikwechsel zu erklären. An der äußerst starken Stellung der vier großen Energieversorger hat sich aber zwischen Herbst 2010 und Frühjahr 2011 nichts verändert. Der Aufstieg der kommunalen Versorgungsunternehmen vollzog sich bereits vor dem Sommer 2010 und hat im folgenden Jahr keine besondere Dynamik erfahren, die einen derartigen Politikwechsel hätte verständlich machen können (Bauchmüller 2010). Eine genauere Analyse der Positionen der großen Energieversorgungsunternehmen zeigt zudem, dass diese ihre Präferenzen und Überzeugungen ebenfalls nicht geändert haben.3 Wenn nicht die Unternehmen und deren Lobbying-Stärke in den Vordergrund gestellt werden, sondern ökonomische Rahmenbedingungen von weltwirtschaftlichen Veränderungen bis zur nationalen Konjunkturdaten, handelt es sich um einen sozioökonomischen Erklärungsansatz. Danach hätte es im Herbst/Winter 2010/2011 eines ökonomischen Einbruchs oder einer Konjunkturwende (oder spezieller eines Umbruchs auf den Energiemärkten) bedurft, um den Wechsel in der Energiepolitik der Regierung zu erklären. Auch derartige Veränderungen sind nicht aufgetreten (BDEW 2011). Der Machtressourcenansatz erklärt Politikverschiebungen aus dem Machtverhältnis zwischen Arbeit und Kapital, insbesondere mit der Rolle der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Steigt deren Macht im nationalen Parlament und in den Betrieben, kann es zu einer Linksverschiebung der politischen Entscheidungen kommen. Aber von einem Machtzuwachs auf Seiten der linken Parteien und der Gewerkschaften kann für die Bundesebene im Zeitraum 2010–2011 nicht die Rede sein. Erklärungsansätze, die Parteien in den Mittelpunkt stellen (›parties matter‹), müssen davon ausgehen, dass es eine nennenswerte Verschiebung im Parteigefüge bei Wahlen gegeben hat, um einen Politikwechsel erklärbar zu machen. Nach der gewonnenen Bundestagswahl 2009 bildeten FDP und CDU/CSU eine Regierung, die die Laufzeitverlängerung als gemeinsames Projekt betrachtete. Im Jahr 2010 fand nur eine Landtagswahl statt (Nordrhein-Westfalen, Mai 2010). Bei dieser musste die CDU allerdings Stimmenverluste von über 10% hinnehmen und das Ministerpräsidentenamt abgeben. Die FDP verlor in Umfragen im Jahresverlauf deutlich gegenüber ihrem Bundestagswahlergebnis von 14,6%. Darauf reagierte die Koalition im Bund aber nicht mit einer Korrektur des Regierungsprogramms, sondern mit der beschleunigten Realisierung desselben. Das Scheitern der schwarz-grünen Regierung in Hamburg führte zu vorgezogenen Wahlen im Februar 2011, die mit einem Desaster für die CDU (minus 20,7%) endeten und der SPD die abso3 So beugten sich diese nach Fukushima zwar den Ausstiegsvorgaben und damit dem »Primat« der Politik, hielten aber gleichzeitig an ihren Positionen fest, dass Atomkraft sicher, effizient und notwendig sei. Das Deutsche Atomforum äußerte etwa in einer Pressemeldung im März 2012, dass die Kernkraftwerksbetreiber weiterhin vom höchsten Niveau »der Sicherheit und Effizienz« der deutschen Anlagen überzeugt seien und Atomkraft »ein wichtiger Bestandteil des deutschen Energiemix und ein stabilisierender Faktor für unsere Netze« darstelle (Deutsches Atomforum 2012). Vom BDI stammt die ebenfalls ›uneinsichtig‹ wirkende Aussage: »Den Verzicht auf einzelne Technologien oder Energieträger kann sich die Menschheit nicht leisten« (BDI 2012). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 298 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier lute Mehrheit der Sitze einbrachten. Auch wenn die Niederlagen in NRW und Hamburg deutlich ausfielen, kann angesichts des bekannten Musters, in Landtagswahlen die jeweilige Bundesregierung ›abzustrafen‹ und der landespolitischen Spezifika dieser Wahlen samt der besonderen Schwäche der beiden CDU-Spitzenkandidaten, von einer grundlegenderen Verschiebung im Parteiensystem nicht gesprochen werden. Wenn Landtagswahlen generell zentrale Bedeutung für den Bund beigemessen würden, hätte es in Deutschland ein weitaus höheres Maß an Politikwechseln geben müssen. Insofern liegt hier eine Verschiebung in der Parteienlandschaft vor, die die regierenden Parteien hat vorsichtig werden lassen, die aber nicht ausreichend erscheint, um den Ausstiegsbeschluss zu erklären. Dennoch gilt als plausibelste und populärste Erklärung des Atomausstieges im März 2011 eine parteipolitische Interpretation (vgl. z.B. Jahn/Korolczuk 2012, S. 161; Wittneben 2011, S. 1): Der Atomausstieg sei eine Maßnahme gewesen, um in letzter Minute in den Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg einzugreifen und dieses christdemokratische ›Stammland‹ weiterhin für die Partei zu sichern. Damit ein solch grundlegender Politikwechsel als rationale Reaktion erscheint, muss erstens die Bedeutung der Wahlen in Baden-Württemberg für die Bundesregierung oder die CDU im Bund als sehr hoch eingeschätzt worden sein. Denn schließlich erfolgte die Veränderung der Policy auf einer ganz anderen Ebene als der, die durch den Wahltermin direkt betroffen war. Die unmittelbare Annahme des Vorrangs der Wahlorientierung mit dem Ziel der Stimmenmaximierung kann nur für die baden-württembergischen Politiker gelten. Für Politiker der Bundes-CDU ohne Mandat in Baden-Württemberg müsste aber ein Transfer, eine Art Anverwandlung erfolgt sein, so dass die Stimmenmaximierungsmotive der Landespolitiker zu solchen der Bundespolitiker wurden. Damit ein grundlegender Politikwechsel sinnvoll erscheint, muss zweitens aber auch unterstellt werden können, dass eine solch plötzlich vollzogene Kehrtwende in einem Politikfeld so große Auswirkungen auf die Wahlbevölkerung im betreffenden Bundesland haben wird, dass sich die Wahlchancen deutlich verbessern. Nur wenn der Politikwechsel einen ernsthaften Beitrag zur Veränderung des Stimmverhaltens dargestellt hätte, wäre es rational gewesen, ihn aus Wahlkampfgründen überhaupt vorzunehmen. Es müsste also von Seiten der Kanzlerin und der Berliner CDU-Politik unterstellt worden sein, dass der Ausstieg derart wirksam sei, dass in Baden-Württemberg mit einer deutlichen, wenn nicht entscheidenden Besserung der Wahlaussichten gerechnet werden könne. Die Umfrageergebnisse für den damaligen CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus waren u.a. durch dessen Verhalten im Konflikt um den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs Stuttgart 21 derart niedrig (Male 2010; Stuttgarter Nachrichten, 12. März 2011), dass es erheblicher Anstöße bedurft hätte, um noch einen Sieg der CDU herbeizuführen. Ein solch starker Schwenk mag daher noch als ein Weg erschienen sein, um größere Verschiebungen auszulösen. Da zwischen Moratoriumsbeschluss und Wahlen aber weniger als zwei Wochen lagen, bestand für Korrekturen am Image des Kandidaten und der Landespartei kaum eine Chance. Dass angesichts dieser Schwierigkeiten ernsthaft hätte erwartet werden können, dass ein Wechsel in der Atompolitik die Wahlchancen entscheidend verändert, erscheint daher als wenig glaubhaft. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 299 Es bleibt aber noch das Argument, dass der Ausgang der Wahl in Baden-Württemberg die rechnerische Chance für eine schwarz-grüne Koalition geboten hätte. Die Intervention qua Moratorium hätte in diesem Fall nur die Funktion gehabt, eine Koalition mit dem geschwächten Ministerpräsidenten und den Grünen unter Kretschmann zu ermöglichen. Dies würde erklären, warum die Reaktion auf Fukushima aus Berlin so schnell erfolgte. Eine koalitionspolitische Option wäre mithin als Antrieb zu unterstellen. Dann müsste die CDU aber zumindest die Chance gesehen haben, dass sich die Grünen ihnen koalitionspolitisch hätten zuneigen können. Im Landtagswahlprogramm 2011 von Bündnis 90/Die GRÜNEN (2010, S. 13) findet sich keine Koalitionsaussage, aber eine scharfe Kritik des Atomkurses von Ministerpräsident Mappus. Die Grünen zielten auf eine Regierungsbeteiligung, aber nicht auf eine spezifische Koalition, zumal es in Sachen Stuttgart 21 auch intensive Konflikte mit der SPD gab. Allerdings hatte der grüne Spitzenkandidat Winfried Kretschmann jahrelang einen Kurs verfolgt, der auf eine schwarz-grüne Zusammenarbeit hinauslief. So konnte durchaus berechtigt unterstellt werden, dass bei Beseitigung der größten Hürde, der AKW-Laufzeitverlängerung, die von Stefan Mappus aktiv betrieben worden war, sich ein Weg für eine neue Koalition in Baden-Württemberg hätte bieten können – womöglich auch ohne Stefan Mappus. Aus Sicht dieser Interpretation erscheint das Moratorium als letzter Versuch, in einem CDU-Stammland doch noch eine zukunftsfähige Koalitionsoption zu realisieren und zudem innerparteilich die Kräfte auszubooten, die nicht bereit waren, sich dieser neuen Option zuzuwenden. Es muss vielleicht angenommen werden, dass es gute Gründe gab zu vermuten, dass der Atomausstieg im Bund der Regierungsbildung in Baden-Württemberg die entscheidende Kehrtwende in Richtung Schwarz-Grün hätte geben können. Unter diesen Annahmen ließe sich das Moratorium als gut begründetes Vorgehen verstehen. Dann bliebe aber zu fragen, warum eine derartige koalitionspolitische Thematik die Kraft besessen haben soll, die grundlegende energie- und industriepolitische Entscheidung des Jahres 2010 rückgängig zu machen. Warum sollten sich die bis dato atomkraftfreundlichen Fraktionen innerhalb der Regierungsparteien, die Wirtschaftsverbände und die großen Energieunternehmen einer solchen vagen koalitionspolitischen Option einer Partei beugen und ihre grundlegenden und langjährigen wirtschaftlichen Interessen zurückstellen? Die parteipolitische Erklärung mag zwar relevant sein für die Deutung der Motive einiger Akteure in der CDU/CSU, sie kann aber nicht erklären, warum sich diese parteipolitischen Interessen durchsetzen konnten. Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Forderung nach einem Abschalten der alten Atomkraftwerke trotz der energiepolitisch unveränderten Position der wirtschaftlich tragenden Kräfte in Deutschland schnell erweitern und zu der Suche nach Wegen eines schnellen und vollständigen Ausstieges zuspitzen konnte? Aus einer Perspektive, die die Diskursdynamiken ins Zentrum der Analyse stellt, sind drei Annahmen plausibel, um ein Sich-Festsetzen einer Forderung oder eines Bündels von Forderungen erklären zu können: 1. Akteurszentralität: Um eine Forderung im Diskurs durchzusetzen, muss der/die fordernde AkteurIn eine zentrale Position in der Auseinandersetzung einnehmen und es müssen viele weitere Akteure, die ebenfalls relativ zentrale Positionen einnehmen, die aufgestellte Forderung unterstützen. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 300 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier 2. Konsistenz und Zusammenhalt: Es kann davon ausgegangen werden, dass eine Forderung, die anschlussfähig für andere Forderungen ist, größere Chancen auf Durchsetzung hat. In der Frame-Analyse ist dieser Zusammenhang als Frame-Bridging bekannt und bezeichnet die Fähigkeit von Akteuren, Brücken zwischen dem eigenen Interpretationsrahmen und denen möglicher Koalitionspartner zu bilden (Snow 2004). 3. Die Schwäche der Opposition: Die Erfolgschancen von Akteuren, die die ersten beiden Punkte erfüllen, sollten deutlich steigen, wenn oppositionelle Akteure diese Bedingungen nicht erfüllen. Die Marginalität und Zersplitterung von Alternativforderungen erleichtert die Durchsetzung der eigenen Forderung. Um zu zeigen, dass ein Fokus auf Diskursdynamiken besser als politikwissenschaftliche Standardperspektiven in der Lage ist, den schnellen Wandel der deutschen Atompolitik nach Fukushima zu erklären, werden wir im Folgenden den diskursiven Prozess mit Hilfe der Diskursnetzwerkanalyse rekonstruieren. Auf dieser Analyse aufbauend wird geprüft, in welchem Umfang die drei genannten Bedingungen eines erfolgreichen SichFestsetzens von Forderungen im untersuchten Fall vorhanden waren. 2 Diskursnetzwerkanalyse Gegenüber traditionellen Erklärungsansätzen, die bei der Deutung des Atomausstieges nicht zum Ziel führen, wird hier versucht, einen Beitrag zur Erklärung der überraschenden Politikwende mittels einer Rekonstruktion des Diskursprozesses zu liefern. Durch die Nachzeichnung der Verschiebungen der diskursiven Konstellationen (des Zusammenspiels von Akteuren, ihren Argumenten und Forderungen) wird beschrieben, wie sich Akzeptanz für den Atomausstieg in den Medien abzeichnete, wie sich der öffentliche Diskurs in dem kurzen Zeitraum zwischen dem März-Ereignis des Atom-Unfalls in Fukushima und Ende Juni 2011 dynamisierte und den Ausstiegsbeschluss möglich werden ließ. Im Zentrum einer solchen Prozessanalyse muss das Zusammenspiel zwischen Akteuren und Forderungen stehen. Welche Akteure fordern wann etwas, was zum gleichen Zeitpunkt auch andere Akteure fordern oder gerade ablehnen? Welche Nähen entstehen im diskursiven Raum zwischen Akteuren über gleich lautende Forderungen, welche Distanzen ergeben sich aufgrund unterschiedlicher Forderungen? Und wie verschieben sich dadurch die politischen Akteurskonstellationen? Zur Beantwortung dieser Fragen kombinieren wir die Diskursnetzwerkanalyse mit Elementen der Political Claims Analysis. Die Diskursnetzwerkanalyse überträgt Methoden und Werkzeuge der allgemeinen Netzwerkanalyse auf Diskurse. Netzwerkanalytische Ansätze finden inzwischen sowohl in den Sozial- als auch in den Naturwissenschaften ein breites Anwendungsfeld (Butts 2009). Der epistemologische Kern netzwerkanalytischer Ansätze ist dabei, dass komplexe Systeme nicht als Aggregate isolierter Einzelbestandteile verstanden werden können, sondern dass zu ihrem Verständnis die Interaktion zwischen den Elementen analysiert werden muss. Diese relationale Perspektive bietet sich für die Analyse von Diskursen an, Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 301 da Diskurse nie einfach nur aggregierte Äußerungen sind, sondern aus komplexen Verbindungen zwischen Akteuren, ihren Äußerungen, anderen Akteuren und deren Äußerungen bestehen. Die Diskursnetzwerkanalyse (Leifeld 2009; Leifeld/Haunss 2012) ermöglicht es, diese diskursive Interaktion einer großen Zahl von Akteuren über die Zeit zu analysieren und dabei der Komplexität diskursiven Geschehens Rechnung zu tragen. Die Knoten des diskursiven Netzwerks bilden die Akteure und ihre Äußerungen – in unserem Fall ihre Claims. Ein Diskursnetzwerk besteht also aus zwei Klassen von Knoten. Es gehört damit in die Klasse der bipartiten oder 2-mode Netzwerke. Kanten zwischen diesen Knoten entstehen, wenn Akteure Forderungen stellen oder Entscheidungen treffen. Abbildung 1 illustriert dieses Modell. Quelle: Janning/Leifeld/Malang/Schneider (2009: 71) Akteure Claims c1 a1 c2 a2 a3 c3 a4 c5 c4 a5 Akteursnetzwerk Affiliationsnetzwerk Konzeptnetzwerk Abbildung 1: Grundmodell eines Diskursnetzwerks Das Affiliationsnetzwerk G aff verbindet Akteure a1, a2, … am mit den Claims oder Konzepten c1, c2, …. cn. In Abbildung 1 ist diese Relation mit durchgezogenen Linien dargestellt, die Akteure und Claims verbinden. In 2-mode Netzwerken existieren direkte Verbindungen nur zwischen Knoten unterschiedlicher Kategorien. Die Kanten sind gerichtet, weil Akteure Forderungen stellen, entscheiden oder handeln. Das Diskursnetzwerk ist zudem dynamisch. Genauer gesagt existiert zu jedem Zeitpunkt t ein Affiliationsnetzwerk G taff. Schließlich sind Akteure und Claims entweder positiv (zustimmend) oder negativ (ablehnend) verbunden. Ein Akteur a1 kann beispielsweise die Laufzeitverlängerung der AKWs ablehnen, während ein anderer Akteur a2 genau diese fordert. Im Netzwerkmodell wird diesem Umstand durch ein positives oder negatives Kantengewicht der Verbindung zwischen Akteur und Claim Rechnung getragen. Das Diskursnetzwerk in diesem Modell ist also ein gerichtetes, dynamisches, bipartites Netzwerk. Ausgehend von diesem Netzwerk können zwei Abbildnetzwerke generiert werden, indem entweder Akteure miteinander verbunden werden, die die gleichen Claims teilen Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 302 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier oder indem Claims verbunden werden, die von denselben Akteuren geteilt werden. Diese beiden Co-Occurrence Netzwerke sind ungerichtet. In Abbildung 1 sind sie als gestrichelte Linien visualisiert. Auch die Abbildnetzwerke können für jeden Zeitpunkt t generiert werden und erlauben so eine Analyse der temporalen Entwicklung der Netzwerke. Für Netzwerke als Ganzes und für die einzelnen Knoten lassen sich verschiedene Maßzahlen berechnen. Das für unsere Fragestellung relevanteste Maß ist die relative Zentralität der einzelnen Knoten als Maß für die Bedeutung einzelner Akteure oder Claims im Diskurs. Das einfachste Zentralitätsmaß ist die Degree-Zentralität, die die Anzahl der Kanten eines Knotens angibt. In 2-mode Netzwerken ist dieses Maß aber wenig aussagekräftig, weil es nur die Anzahl der Claims eines Akteurs in einem bestimmten Zeitraum bzw. die Anzahl der Akteure, die einen Claim formulieren, abbildet. Aussagekräftiger sind Zentralitätsmaße, die auch die Nachbarschaft eines Knotens berücksichtigen. Möglicherweise kann nämlich ein Akteur, der nur zwei oder drei Claims formuliert, die jeweils von vielen anderen Akteuren geteilt werden, wichtiger für die Struktur eines Diskurses sein als ein Akteur, der fünf Claims formuliert, die aber niemand anderes teilt. Ein Maß für diese, die Nachbarschaft eines Knotens berücksichtigende Zentralität ist die hub centrality (Brandes/Wagner 2004; Kleinberg 1999). Da wir für unsere Analyse besonders daran interessiert sind, welche Prozesse im Zentrum des Diskurses stattfinden, konzentrieren wir uns in der Darstellung der Netzwerke jeweils auf die Netzwerk-Kerne (n-cores oder m-slices). Hierbei bezeichnet ein n-core das Sub-Netzwerk, dessen Knoten mindestens die Degree-Zentralität n haben und ein m-slice das Sub-Netzwerk, dessen Kanten mindestens das Gewicht m haben. Das Material, das mittels Diskursnetzwerkanalyse ausgewertet wird, besteht aus den Forderungen politischer Akteure. Unsere Analyse beruht auf der Auswertung der Forderungen (Claims) aller Akteure, über die in zwei deutschen Tageszeitungen im Zeitraum zwischen dem Erdbeben in Japan und dem Bundestagsbeschluss über den Atomausstieg berichtet wurde. Ausgewertet wurden alle Artikel, die in der Süddeutschen Zeitung und in der Welt zwischen dem 11. März 2011 und 2. Juli 2011 erschienen sind. Die beiden Zeitungen wurden ausgewählt, um ein möglichst breites politisches Spektrum abzubilden, da wir davon ausgegangen sind, dass atomkraftkritische Akteure in der Süddeutschen Zeitung und Atomkraftbefürworter in der Welt jeweils überrepräsentiert sein könnten. Bei der Kodierung der Artikel wurden in einem ersten Schritt in der VolltextZeitungsdatenbank Factiva alle Artikel identifiziert, die in den überregionalen Teilen der beiden Zeitungen erschienen sind und die die trunkierten Stichworte AKW, Atom, oder Nuklear sowie Ausstieg, Stilllegung, Abschalten oder Laufzeit in allen Flexionen, Substantiv- und Verbformen enthalten.4 In den so gefundenen Artikeln wurden dann, in Anlehnung an das von Ruud Koopmans federführend entwickelte Kodierschema der Political Claims Analysis (Koopmans/ Statham 1999; Koopmans 2002), alle Claims anhand eines zuvor entwickelten Codebuchs zuerst manuell kodiert und dann in eine Datenbank übertragen. Während Koopmans und seine KollegInnen mit einem sehr weit gefassten Claims-Begriff operieren, der 4 Für die erste Woche nach dem Erdbeben wurde auf die Einschränkung des Suchstrings verzichtet. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 303 auch bewertende Statements mit einschließt, haben wir Claims und evaluative Statements getrennt kodiert. Für diesen Artikel werten wir die evaluativen Statements nicht quantitativ aus. Unter Claims verstehen wir jede Forderung oder Entscheidung von Akteuren im entsprechenden Politikfeld. Ein Claim kann einen oder mehrere Sätze oder manchmal auch nur Teilsätze umfassen. Neben dem Claim wurden jeweils noch folgende weitere Elemente kodiert: AkteurIn bzw. SprecherIn mit Name, Organisations- und Parteizugehörigkeit, Befürwortung oder Ablehnung, sowie Datum des Claims.5 Der Satz »SPD und Grüne forderten außer der Rücknahme der Laufzeitverlängerung ein Abschalten der sieben ältesten und unsichersten Meiler« in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung (Brössler 2011) wurde beispielsweise kodiert als Ablehnung der Laufzeitverlängerung der Akteure SPD und Grüne am 13. März 2011 sowie als Befürwortung des Abschaltens der Altmeiler durch die Akteure SPD und Grüne am 13. März 2011. Der Satz enthält also (jeder Akteur wird einzeln gezählt) vier Claims. Der Satz »die TU München hält dagegen die Sicherungssysteme für mehr als ausreichend« (Süddeutsche Zeitung, 16.4.2011), der in Koopmans Kodierschema ebenfalls als Claim gewertet würde, wurde von uns dagegen als evaluative Aussage interpretiert und bleibt daher bei der Analyse der Claims für diesen Artikel unberücksichtigt. Im gesamten Zeitraum wurden in beiden Zeitungen 398 Artikel veröffentlicht (Welt 159; SZ 239), in denen Claims von Akteuren zur Atompolitik in Deutschland enthalten waren. Das sind pro Tag in der Welt durchschnittlich 1,7, in der Süddeutschen Zeitung 2,5 relevante Artikel. In diesen Artikeln wurden 1299 Claims kodiert (Welt 584; SZ 715). Im Zeitverlauf lassen sich mehrere Wellen verstärkter diskursiver Aktivität ausmachen (siehe Abbildung 2 und Tabelle 3), die mit der Ereignisgeschichte des Atomausstieges korrespondieren. Um die Entwicklung des Ausstiegsdiskurses im Zeitverlauf analysieren zu können, haben wir den Untersuchungszeitraum entsprechend den Diskursintensitäten und Ereignissen in acht Phasen untergliedert: 1. Phase 11.–13. März: die ersten beiden Tage unmittelbar nach dem Erdbeben in Japan, 2. Phase 14.–15. März: Atom-Moratorium I (Aussetzung der Laufzeitverlängerung) und Atommoratorium II (Abschaltung der acht ältesten Atomkraftwerke), 3. Phase 16.–22. März: Zeitraum bis zur Einrichtung der Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung, 4. Phase 23. März - 8. April: Zeitraum bis Atomausstiegsbeschluss des Bundesverbands Deutsche Energie- und Wasserwirtschaft sowie der Einstellung der Zahlungen der AKW-Betreiber in den seit Anfang 2012 bestehenden Energie- und Klimafonds, 5. und 6. Phase 9.–28. April und 29. April–17. Mai: Zeitraum bis zum Abschlussbericht der Reaktorsicherheitskommission, 7. Phase 18.–30. Mai: Zeitraum bis zum Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung sowie 8. Phase 31.Mai–1. Juli: Zeitraum bis zum Bundestagsbeschluss zum Ausstieg aus der Atomkraft. 5 Wenn im Artikel nicht explizit anders angegeben, wurde angenommen, dass der Claim vom Vortag des Erscheinungstermins stammt. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 304 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier 30 20 0 10 claims/day 40 50 Die Phasen orientieren sich an den in Tabelle 1 aufgelisteten Ereignissen und umfassen daher unterschiedlich lange Zeiträume mit jeweils unterschiedlich vielen Statements. Der lange Zeitraum zwischen dem 9. April und 17. Mai wurde zudem zweigeteilt, weil er (siehe Abbildung 2) zwei eindeutig voneinander getrennte lokale Intensitätsmaxima aufweist, die auf relevante Veränderungen der Diskursnetzwerke hinweisen. 11/03 19/03 27/03 04/04 12/04 20/04 28/04 06/05 14/05 22/05 30/05 07/06 15/06 23/06 date Abbildung 2: Claims pro Tag Tabelle 3: Anzahl der Claims und Aufteilung Untersuchungszeitraum Zeitraum Anzahl Claims Ereignisse 11.3–13.3 50 Tage eins und zwei nach dem Erdbeben 14.3.–15.3. 137 Atom-Moratorium I und II werden beschlossen 16.3.–22.3 165 Zeitraum bis Einrichtung Ethikkommission 23.3-8.4. 243 Zeitraum bis Atomausstiegsbeschluss BDEW & Zahlungsstopp AKW-Betreiber 9.4.-28.4 179 29.4.-17.5. 136 18.5-30.5. 181 Zeitraum bis Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung 31.5-1.7 208 Zeitraum bis Bundestagsbeschluss Atomausstieg Gesamt 1299 Zeitraum bis Abschlussbericht Reaktor-Sicherheits-Kommission Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 305 3 Rekonstruktion des Diskursverlaufs Wie die Häufigkeitsverteilung der Claims pro Tag in Abbildung 2 zeigt, erreicht die Debatte ihre höchste Intensität in den unmittelbar auf Fukushima folgenden ersten Werktagen der Woche vom 14. bis 20. März 2011. Wie entwickelte sich die Debatte in diesen ersten Tagen? Die Abbildungen 3 und 4 zeigen die 3- bzw. 5-cores der Diskursnetzwerke der ersten beiden Zeiträume. Ein n-core eines Netzwerks enthält nur die Knoten mit einer Degree-Zentralität von mindestens n. In bipartiten Netzwerken ist es oft sinnvoll, dieses Kriterium nur auf eine der beiden Knotenkategorien anzuwenden. In diesem Fall handelt es sich um die Diskursnetzwerke, in denen die Claims mindestens den Degree-Zentralitätswert 3 bzw. 5 haben. In Abbildung 3 wird deutlich, dass in den ersten beiden Tagen nach dem Erdbeben und dem Reaktorunfall in Fukushima die Regierungsakteure umgehend reagieren, aber zunächst nur mit dem moderaten Ruf nach einer Sicherheitsüberprüfung der deutschen AKWs. Die Oppositionsparteien nutzen dagegen gleich die ersten Tage, um einen schnellen und/oder endgültigen Ausstieg aus der Kernenergienutzung und ein Abschalten der Altmeiler zu fordern. Die Regierungskoalition weist zu diesem Zeitpunkt die Forderung nach einem schnellen Ausstieg noch zurück (die gestrichelten Kanten oben rechts zwischen den Akteuren Bundesregierung und FDP und der Forderung Ausstieg ›(schnell)‹). Allerdings scheren die Umweltpolitiker der CDU und CSU, Norbert Röttgen und Josef Göppel, schon mit weitergehenden Forderungen zur Überprüfung der aktuellen Atompolitik und – im Falle von Göppel – sogar mit der Forderung nach Rücknahme der Laufzeitverlängerung aus dem Regierungslager aus. Schon zwei Tage später (siehe Abbildung 4) zeigt die Momentaufnahme des bundesdeutschen AKW-Diskurses ein deutlich anderes Bild. Im Zentrum der Debatte steht die Abbildung 3: AKW-Diskurs, Zeitraum 1: 11.–13.3.2011 (3-core) Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 306 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier Abbildung 4: AKW-Diskurs, Zeitraum 2: 14.–15.3.2011 (5-core) In dieser und in den folgenden Abbildungen symbolisieren Kreise Akteure und graue Quadrate die Claims. Eine durchgängige Linie steht für einen positiven Bezug zum Claim, eine gestrichelte Linie symbolisiert die Ablehnung des Claims. Die Größe der Knoten modelliert deren Degree-Zentralität unter Berücksichtigung des Kantengewichts. Die Stärke der Linien ist proportional zum Kantengewicht, d.h. zur Häufigkeit der Wiederholung desselben Claims durch denselben Akteur im jeweiligen Zeitraum. Forderung nach einem Moratorium und dem (vorübergehenden) Abschalten der Altmeiler. Dabei sind es insbesondere die LandespolitikerInnen der CDU und CSU, die die Forderung nach Abschaltung der Altmeiler unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt hält Angela Merkel klar die ›diskursiven Zügel‹ in der Hand. Sie gibt die Regierungslinie vor und verbindet die Forderungen nach Sicherheitsüberprüfung, Abschalten der Altmeiler und dreimonatigem Moratorium. Grüne und SPD unterstützen die Forderung nach Abschaltung der Altmeiler, lehnen jedoch das Moratorium als unzureichend ab und fordern stattdessen die Rückkehr zum rot-grünen Ausstiegsszenario und eine endgültige Stilllegung und nicht nur temporäre Abschaltung der Altmeiler. Die AKW-Betreiber beteiligen sich ebenfalls am Diskurs und versuchen – allein auf weiter Flur – die gerade erst erfolgreich ausgehandelte Laufzeitverlängerung zu verteidigen. Wie zuvor bereits ausgeführt, kommt es für die Zentralität der am Diskurs beteiligten Akteure weder allein auf die Anzahl der Äußerungen noch auf die Anzahl der Argumente an. Vielmehr ist es sinnvoll davon auszugehen, dass diejenigen Akteure besonders zentral sind, die Forderungen unterstützen, die von vielen anderen Akteuren ebenfalls unterstützt werden – insbesondere, wenn die Forderungen der anderen Akteure ebenfalls wieder von vielen anderen geteilt werden. Eine Maßzahl für diese Art der Zentralität ist die hub-centrality (Brandes/Wagner 2004; Kleinberg 1999). Im Diskursnetzwerk des zweiten Zeitraums liegt Angela MerBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 307 Abbildung 5: AKW-Diskurs, Zeitraum 3: 16.–22.3 (6-core) kel mit einem Wert von 10,186 weit vor den folgenden Akteuren (E.on 5,30; Grüne 5,18; SPD 5,18). Im dritten Zeitraum, zwischen dem 16. und 22. März, findet eine deutliche Schwerpunktverlagerung im Diskurs statt. Die oppositionelle Forderung nach einem schnellen Ausstieg gewinnt an Zentralität. Sie wird vereinzelt von PolitikerInnen der Regierungskoalition unterstützt, die Forderung nach einem sofortigen Ausstieg wird allerdings deutlich zurückgewiesen. Die AKW-Befürworter verteidigen die Laufzeitverlängerung nicht mehr offensiv, sondern weichen auf die Warnung vor übereiltem Handeln aus. Explizite Pro-AKW-Positionen sind im Diskurs weiterhin marginal. Angela Merkel bleibt die Akteurin mit den meisten Claims, dicht gefolgt von ihrem Umweltminister, den Grünen und der SPD. Gleichzeitig differenziert Merkel ihre Forderungen aus und bezieht jetzt, genau wie die anderen drei zentralen Akteure, zu jeweils fünf Forderungen Stellung. Betrachtet man wieder die hub centrality, dann liegt Merkel jetzt mit einem Wert von 7,54 hinter den Grünen (9,62) und vor Röttgen (5,88) und der SPD (5,65). Merkel hat also zu diesem Zeitpunkt einen Teil ihrer diskursiven Zentralität eingebüßt. Die Forderungen der Opposition sind stärker in den Vordergrund gerückt. Dies ändert sich wieder im vierten Zeitraum. Ab Mitte Mai, im siebten und achten Zeitraum, weisen die Grünen jeweils mit Abstand die höchsten hub centrality Werte auf, im fünften Zeitraum wird die Liste der zentralsten Akteure vom SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel angeführt, nur im sechsten Zeitraum sind der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer, gefolgt von CDU und FDP, die zentralsten Akteure. 6 Berechnet wurden hier prozentuale hub centrality Werte, d.h. Angela Merkel vereint 10,18% der im gesamten Netzwerk vorhandenen hub centrality auf sich. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 308 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier Abbildung 6: AKW-Diskurs, Zeitraum 4: 23.3-8.4.2011 (7-core) Abbildung 6 zeigt den vierten Zeitraum zwischen Einsetzung der »Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung« und dem Votum des Bundesverbandes Deutscher Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), den Atomausstieg zu befürworten. In diesem Zeitraum weisen Umweltminister Norbert Röttgen (6,98) und Angela Merkel (4,89) die höchsten hub centrality Werte auf. Daneben sind mit Peter Ramsauer und Horst Seehofer zwei CSU-Politiker im Zentrum des Diskursnetzwerks angesiedelt. Die zentralen Akteure haben sich zu diesem Zeitpunkt die im vorangegangenen Zeitraum von Grünen und SPD aufgestellte Forderung nach einem schnellen Atomausstieg zu eigen gemacht und damit die Oppositionsparteien wieder aus dem Zentrum des Diskurses verdrängt. Diese wiederum versuchen die Regierungsposition zu überbieten, allerdings nur mit begrenzter Resonanz. Die argumentative Verteidigung des Moratoriums wird in diesem Zeitraum eher eine Strategie der ehemaligen Atom-Befürworter, denen der Schwenk in Richtung Ausstieg im Grunde zu schnell geht. Bemerkenswert ist, dass im vierten Zeitraum vor allem von Akteuren aus den Regierungsparteien schon deutliche Forderungen nach konkreter Ausgestaltung der Energiewende laut werden. Das heißt, spätestens Anfang April, also noch nicht einmal einen Monat nach dem Reaktorunglück in Fukushima, gehen relevante Akteure der Regierungskoalition offenbar schon davon aus, dass der ›Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg‹ kommen wird und beginnen die wirtschaftlichen Claims abzustecken und den Kampf um die Verteilung der Fördermittel zum Ausbau erneuerbarer Energien (oder auch zum Ausbau fossiler Energieversorgung) zu beginnen. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 309 Im fünften und sechsten Zeitraum bleibt der Raum der Forderungen konstant. Die Diskursnetzwerke spiegeln einen auf Bundesebene von den meisten politischen Akteuren geteilten Konsens wieder, die AKWs schneller als im Rahmen der Laufzeitverlängerung vereinbart abzuschalten. Die Verteilung der Forderungen stagniert, eine Rückbewegung findet ebenso wenig statt wie eine weitere Zuspitzung der Forderungen. Im siebten Zeitraum zwischen dem 18. und 30. Mai, zwischen der Veröffentlichung des Abschlussberichts der Reaktorsicherheitskommission und dem Beschluss der Bundesregierung zum Atomausstieg und zur dauerhaften Abschaltung der ältesten acht AKWs, steht die Forderung nach einem Ausstieg mit konkreten Deadlines, die sogar vor den im rot-grünen ›Atomkonsens‹ anvisierten liegen, im Zentrum des Diskurses. Zum ersten Mal ist die zentrale Forderung des AKW-Diskurses in diesem Zeitabschnitt höchst umkämpft. Wieder ist es neben Angela Merkel und Norbert Röttgen insbesondere die CSU, die die Ausstiegsforderung unterstützt, während vor allem aus der FDP, aber auch vereinzelt aus der CDU Widerstand gegen die konkrete Festlegung auf ein Ausstiegsdatum laut wird. Ein Blick auf die hub centrality weist in diesem Zeitraum die CSU mit einem Wert von 7,79 als Akteur mit dem zweithöchsten Zentralitätswert aus, nach den Grünen (8,39) und vor FDP (6,62) und Angela Merkel (5,61). In der letzten Phase ist die Debatte innerhalb der Regierungsparteien zur Ruhe gekommen. Nach dem Ausstiegsbeschluss der Regierung wird der Diskurs in der Zeit bis zum Bundestagsbeschluss eindeutig von den Grünen dominiert und ist gekennzeichnet von Auseinandersetzungen innerhalb der grünen Partei sowie zwischen Grünen, Teilen Abbildung 7: AKW-Diskurs, Zeitraum 7: 18.5-30.5.2011 (6-core) Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 310 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier der Anti-AKW-Bewegung und Umweltorganisationen um den richtigen Ausstiegskurs. Es geht im Kern nur noch darum, wie schnell der Atomausstieg vollzogen werden soll. Die von den AKW-Betreibern in dieser Phase stark gemachte Forderung nach Schadensersatz im Falle einer Rücknahme der verlängerten Laufzeiten findet nur wenig Widerhall. Die Gruppe der Mahner vor übereiltem Handeln ist immer noch präsent, bleibt aber peripher. In der achten Phase adressieren nur noch weniger als die Hälfte aller Claims (48,1%) unmittelbar den Ausstieg oder die Sicherheit der AKWs. In 51,9% der Claims geht es dagegen um die zukünftige Energiepolitik jenseits der Atomkraft (31,6%) und um Verfahrensfragen im weitesten Sinne (20,3%). In der zweiten Phase standen noch 77,8 % Ausstiegs- und Sicherheits-Claims lediglich 22,2% Energiewende- und Verfahrensclaims gegenüber. Eine Analyse der Akteursnetzwerke, d.h. der Netzwerke in denen Kanten entstehen, wenn die jeweiligen Akteure Claims teilen, veranschaulicht noch einmal die diskursive Dynamik der ersten Tage. Abbildung 8 zeigt die 2-slices der Akteurs-Kongruenz-Netzwerke der ersten vier Zeiträume. Das heißt, die Netzwerke enthalten die Akteure, die jeweils paarweise mindestens zwei Claims teilen, also zum Beispiel sowohl den Ausbau erneuerbarer Energien als auch den schnellen Atomausstieg fordern. Die Abbildung zeigt deutlich, dass die Oppositionsparteien von Anfang an mehrere Forderungen teilten und damit diskursive Kohärenz zeigten. Bei Akteuren der Regierungsparteien entwickelt sich diese diskursive Kohärenz erst mit der Zeit. Im dritten Zeitraum verschmelzen die vorher noch getrennten diskursiven Lager und ab dem 23. März wächst die Gruppe der Regierungsakteure, die mehrere Claims teilen stark an und verdrängt das immer noch erkennbare separate OppositionsCluster aus dem Zentrum des Diskurses. Zweifellos hat Angela Merkel spätestens mit den Moratoriumsbeschlüssen am 14. und 15. März die Debatte bestimmt. Dementsprechend nimmt sie auch in Abbildung 4 eine zentrale Position im Netzwerk ein. Eine kohärente Diskurskoalition bildet sich im Regierungslager aber erst ca. 12 Tage nach Fukushima heraus. Vor dem Hintergrund der noch kurz zuvor befürworteten Laufzeitverlängerung ist dies eine beeindruckende Geschwindigkeit, die den relativen Stabilitätsannahmen etwa der Literatur über Policy-Koalitionen aus der Perspektive des Advocacy-CoalitionFrameworks (Sabatier/Weible 2007) zuwider läuft. Klar erkennbar in den Akteursnetzwerken ist auch, dass sich zu keinem Zeitpunkt eine relevante Diskurskoalition etabliert, die an der Laufzeitverlängerung festhält. Auch dieser Umstand ist bemerkenswert, weil die Laufzeitverlängerung Bestandteil des Koalitionsvertrags der schwarz-gelben Koalition und vor kurzem erst umgesetzt worden war, also starke FürsprecherInnen in den Regierungsparteien gehabt haben muss. Diese waren allerdings im März 2011 nicht in der Lage und/oder nicht gewillt, gemeinsam in den AKW-Diskurs einzugreifen. Die Schwäche der Atomkraftbefürworter illustriert das Claims-Netzwerk in Abbildung 9. Das Netzwerk zeigt diejenigen Claims, die im vierten Zeitraum mindestens sechsmal genannt und von mindestens zwei Akteuren verwendet worden sind. Das Bild des NetzBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 t4 t3 Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 311 Abbildung 8: 2-slices der Akteurs-Kongruenz-Netzwerke der ersten vier Zeiträume t2 t1 Der Ausstieg aus der Atomenergie 312 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier Abbildung 9: Claims Netzwerk Zeitraum 4: 23.3-8.4.2011 (6,2-core) werks zeigt ein zusammenhängendes Cluster, in dem es um den Ausstieg und die Energiewende geht. Daneben gibt es ein unverbundenes Cluster, das aus den Forderungen der Energiekonzerne nach Schadensersatz und Beibehaltung der Laufzeitverlängerung besteht. Die diskursive Schwäche der letztgenannten Position besteht nicht nur darin, dass es wenige Akteure sind, die diese Forderungen teilen, sondern auch darin, dass den Akteuren kein Anschluss an den Hauptdiskurs gelingt. Die Diskursnetzwerke liefern ein detailliertes Abbild der intensiven politischen Debatte zwischen dem Atomunglück in Fukushima und dem im Parlament mit breiter Mehrheit verabschiedeten Ausstiegsbeschluss. Zusammenfassend lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: t .JU EFS 'PSEFSVOH OBDI FJOFN .PSBUPSJVN SFBHJFSU EJF #VOEFTLBO[MFSJO "OHFMB Merkel sehr schnell auf das Ereignis in Japan und wird hierbei von Anfang an von einzelnen Akteuren aus dem Lager der Koalitionsparteien unterstützt. In der entscheidenden frühen Phase hat Merkel einen hohen Zentralitätsgrad im Diskursnetzwerk, bestimmt also die Hauptrichtung des Diskurses. Andere Akteure mit hohen Zentralitätswerten sehen das Moratorium zwar teilweise eher kritisch, setzen sich aber nicht für die Beibehaltung der Laufzeitverlängerung ein, sondern formulieren im Gegenteil weitergehende Ausstiegs-Claims. Diese weitergehenden Claims nach einem schnellen Atomausstieg und dem Abschalten der Altmeiler gewinnen im Verlauf der Debatte zunehmend an Zentralität und bestimmen damit das Ergebnis des Diskurses. t /BDIFJOFSLVS[FOBOGÊOHMJDIFO1IBTFEFS6OTJDIFSIFJUGPSNVMJFSFOXJDIUJHF3FHJFrungsakteure schon zwei Wochen nach dem Reaktorunglück ein ausdifferenziertes Set an Forderungen zum Atomausstieg und zur Energiewende. Die Tatsache, dass die verschiedenen Forderungen von einer großen Zahl von Akteuren geteilt werden, kann als Beleg für ihre diskursive Kohärenz gelten. Zugleich bieten die verschiedenen Forderungen eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für Landes- und Bundespolitiker wie auch für zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Interessengruppen. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Der Ausstieg aus der Atomenergie 313 t %JF 0QQPTJUJPO HFHFO EJF "VTTUJFHTGPSEFSVOHFO CMFJCU àCFS EFO HBO[FO ;FJUSBVN hinweg marginal. Außer den vier AKW-Betreiber-Firmen RWE, E.on, Vattenfall und EnBW setzen sich nur vereinzelt andere Akteure explizit für ein langfristiges Festhalten an der Kernenergie ein. Die Verklausulierung der Pro-AKW-Position als Warnung vor übereilten Handlungen ist Ausdruck der diskursiven Schwäche der AKWBefürworter. Die Wirtschaftsverbände, die Vertreter der Laufzeitverlängerung in den Regierungsparteien und die Energieunternehmen erreichen weder eine mit den AusstiegsbefürworterInnen vergleichbare Zentralität im Diskursnetzwerk noch gelingt ihnen eine diskursive Verknüpfung verschiedener Forderungen. t #FNFSLFOTXFSUJTUEFSGSàIFEJTLVSTJWFO&JOTUJFHFJOFSlSFWJTJPOJTUJTDIFOk1PMJUJLJOnerhalb von CDU und CSU und die wachsende Zustimmung innerhalb dieser Parteien zum Ausstiegskurs auch auf Landesebene. Unmittelbar nach dem Erdbeben in Japan und der sich immer deutlicher abzeichnenden Atomkatastrophe versucht die Regierung zuerst mit Forderungen nach Sicherheitsüberprüfungen an ihrer AKWPolitik festzuhalten, während von den Oppositionsparteien, aber auch vom CSU-Umweltpolitiker Josef Göppel sofort die Forderung nach Rücknahme der Laufzeitverlängerung kommt. In dieser Situation erhält die Kanzlerin mit dem Moratorium und der vorläufigen Abschaltung der Altmeiler aus der CDU und CSU schnell große Unterstützung, was zu einer Radikalisierung der Forderungen auch in der Regierung beiträgt, die wiederum von den CDU/CSU-Politikern gestützt wird. Die stabilste Unterstützung des Regierungskurses kommt dabei von der CSU aus Bayern. Immer wieder gehen einzelne CSU-PolitikerInnen auch über die Regierungslinie hinaus und fordern ein schnelleres Ende der Atomkraft. 4. Fazit Aus einer diskursanalytischen Perspektive ist der schnelle und radikale Politikwandel in der deutschen Atompolitik nach Fukushima weniger verwunderlich als aus Sicht etablierter politikwissenschaftlicher Erklärungsmodelle. Zwar kann auch die Diskursnetzwerkanalyse nicht erklären, warum Angela Merkel sich so schnell entschieden hat, mit der Forderung nach einem Moratorium deutlich von ihrer bis dahin verfolgten ProAtomkraft-Position abzuweichen. Die Diskursnetzwerkanalyse kann aber durchaus erklären, wie es dazu kam, dass sich die Forderung nach einem schnelleren Ausstieg und dem Abschalten der Altmeiler in kurzer Zeit durchgesetzt hat. Die Ausstiegsforderung konnte sich diskursiv festsetzen, weil die sie tragenden Akteure 1. zentrale Positionen im Diskursnetzwerk besetzen konnten, 2. weil es ihnen gelungen ist, schnell ein kohärentes Forderungsbündel zu etablieren, das Anknüpfungspunkte für viele andere politische Akteure mit unterschiedlichen Positionen und Interessen bot, und 3. weil es den Befürwortern der Laufzeitverlängerung weder gelang, zentrale Positionen im Diskursnetzwerk zu besetzen noch ein anschlussfähiges Forderungsbündel zu entwickeln. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 314 Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier Verstärkt wurde die Ausstiegsdynamik dadurch, dass die Oppositionsparteien zwar immer wieder die Regierungsforderungen als unzureichend ablehnten, aber mit ihren eigenen Forderungen nicht im eigentlichen Sinne einen Gegen-Pol zu den Positionen zentraler Regierungsakteure aufbauten, sondern deren Forderungen in der Regel nur radikalisierten. Damit verhinderten sie eine Polarisierung der Debatte und trugen dazu bei, die ursprünglich in ihren Konsequenzen eher unbestimmten Forderungen nach Sicherheitsüberprüfung und Moratorium in Richtung Atomausstieg zu lenken. Die in diesem Artikel durchgeführte Diskursnetzwerkanalyse ist begrenzt, da wir den Gesamtdiskurs in acht Phasen unterteilt und die diskursiven Ereignisse innerhalb einer Phase jeweils zu einem Meta-Ereignis aggregiert haben. Genau genommen ermöglicht diese teilweise Aggregation des Diskurses nur eine komparativ-statische Rekonstruktion der Diskursdynamik. Auf der Basis der erhobenen Daten wäre es aber auch möglich, das Gesamtnetzwerk tageweise zu unterteilen und damit eine feinere Auflösung der Diskursdynamik zu erzielen. Damit ließe sich die Analyse erweitern, indem diskursive Wendepunkte als Verschiebungen der Netzwerkstruktur analytisch aus dem Diskursverlauf bestimmt werden könnten. Eine solche Strategie ginge allerdings auf Kosten einer synthetisierenden und für die LeserInnen nachvollziehbare Beschreibung des Diskursverlaufes. Unabhängig vom gewählten Aggregationsgrad der Untersuchung bietet die Diskursnetzwerkanalyse einen erweiterten Zugang zur Entwicklung von Akteurskonstellationen und Diskurselementen (hier Forderungen) in Diskursen. Dieser Ansatz sollte daher weiter erprobt, entfaltet und überprüft werden. Literatur: Bauchmüller, M. (2010): Ökostrom aus der Region ist angesagt. In: Süddeutsche Zeitung, 2.9.2010. Bauchmüller, M. (2011): Erst mal abschalten. Die Bundesregierung will Tatkraft beweisen und legt die sieben ältesten Atomkraftwerke vorübergehend still – über deren Zukunft sagt sie noch nichts. In: Süddeutsche Zeitung, 16.3.2011. BDEW, Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (2011): Energiemarkt Deutschland. 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Universität Bremen Zentrum für Sozialpolitik Abteilung »Theorie und Verfassung des Wohlfahrtsstaates« Unicom-Gebäude Mary-Somerville-Straße 5 28359 Bremen mdietz@zes.uni-bremen.de Prof. Dr. Frank Nullmeier Universität Bremen Zentrum für Sozialpolitik Abteilung »Theorie und Verfassung des Wohlfahrtsstaates« Unicom-Gebäude Mary-Somerville-Straße 5 28359 Bremen frank.nullmeier@zes.uni-bremen.de Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Review Essay 317 Review Essay Ekkehard Felder/Marcus Müller (Hrsg.) (2009): Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes »Sprache und Wissen«. Berlin und New York: de Gruyter Das Forschungsnetzwerk »Sprache und Wissen« präsentiert sein Arbeitsfeld (s. auch die Homepage: www.suw.uni-hd.de): Drei Jahre nach Erscheinen der ersten Projektpublikation »Semantische Kämpfe« legen die Heidelberger Linguisten Ekkehard Felder, Initiator und Koordinator des Forschungsnetzwerks »Sprache und Wissen – Probleme öffentlicher und professioneller Kommunikation«, und Marcus Müller mit »Wissen durch Sprache« einen mit insgesamt 16 Aufsätzen recht umfangreichen zweiten Sammelband vor, der darauf zielt, »das gesamte Spektrum wissenschaftlicher Aufgaben im Netzwerk« (S. 1) vorzustellen. Mittlerweile ist mit Band 13 (»Faktizitätsherstellung in Diskursen«) der netzwerkeigenen Publikationsreihe »Sprache und Wissen« bei de Gruyter der dritte Sammelband erschienen. »Wissen durch Sprache« dokumentiert zum einen die rege Forschungstätigkeit, zum anderen aber auch die intensive Beschäftigung der am Netzwerk Beteiligten mit verschiedenen Theorien, Methoden und Instrumentarien einer linguistischen Diskursanalyse und ihrer empirischen Umsetzung. So lohnt sich insbesondere für diskursanalytisch Interessierte die Lektüre des hier besprochenen »Programm«-Bandes des 2005 gegründeten, international und interdisziplinär ausgerichteten Forschungsnetzwerks, das inzwischen als ein zentrales Forum im Bereich der von linguistischer Seite initiierten germanistischen Diskursforschung gelten darf. Der Projektname weist bereits die Richtung, und in der Einführung zum Sammelband betonen Felder und Müller dann auch die dem Buchtitel »Wissen durch Sprache« zugrunde liegende Prämisse, dass »sprachliche Kommunikationsprozesse eine unhintergehbare Grundbedingung für Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 die Konstitution, Evaluation und Vermittlung von Wissen sind« (S. 1), und zwar von individuellem wie kollektivem, gesellschaftlichem Wissen. Letzterem gilt das primäre Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerks, allgemein formuliert als die Frage, »wie gesamtgesellschaftlich relevante Wissensbestände durch sprachliche Mittel geformt werden« (S. 3). Gemäß der These einer asymmetrischen Partizipation am gesellschaftlichen Wissen in der heutigen sogenannten »Wissensgesellschaft«, stellt das Netzwerk mit der Gegenüberstellung von professioneller und öffentlicher Kommunikation die Relation zwischen sprachlicher Generierung von (exklusivem) Fachwissen durch Experten und der sprachlichen Vermittlung von fachbezogenem Wissen an Laien in konkreten Sprachhandlungen in den Mittelpunkt seiner Forschungen. Erklärtes Ziel ist es, sprachliche Wissensgenerierung und Wissensvermittlung mit linguistischen Theorien und Methoden unter Einbeziehung insbesondere der Kognitions- und Sozialwissenschaften zu beschreiben, sie innerhalb gesellschaftlich relevanter Fachgebiete bzw. Wissensdomänen zu analysieren und auch anwendungsbezogen zu agieren. Nach einem Überblickaufsatz, in dem Ekkehard Felder Zielsetzungen, Inhalte und Aktivitäten des Forschungsnetzwerks ausführlicher vorstellt, bündelt der Sammelband die folgenden Beiträge zu vier Rubriken mit den Schwerpunkten Theorie (I), Einzelanalysen aus verschiedenen Wissensdomänen (II), Vorstellung neuer Forschungsfelder im Forschungsnetzwerk (III) und Anwendungsmöglichkeiten in der Praxis (IV). In den theoretisch orientierten Beiträgen beschäftigen sich die Autoren vornehmlich mit der Erarbeitung einer sprachtheoretischen Basis zu einer linguistischen Wissensanalyse, der Präzisierung von Grundbegriffen und der Entwicklung von Untersuchungsmodellen im Rahmen verschiedener Paradigmen wie der Varietätenlinguistik (Felder), der Frametheorie (Konerding), der Diskurslinguistik (Warnke), der conversation analysis (Spranz-Fogasy/Lindtner) und der Kognitiven Grammatik und Konstruktionsgrammatik (Ziem). Im Folgenden konzentriere ich mich auf das ausführliche Referat dieser fünf grundlegen- 318 Review Essay den Theorieaufsätze, um anschließend die weiteren Beiträge in kürzerer Form vorzustellen. In seinem Beitrag Sprachliche Formationen des Wissens. Sachverhaltskonstitution zwischen Fachwelten, Textwelten und Varietäten widmet sich Ekkehard Felder den sprachlichen Erscheinungsformen gesellschaftlich-kollektiver Wissensbestände in Texten aus variationslinguistischer Perspektive. Die Basis seiner Überlegungen bildet die Annahme, dass fachliche Sachverhaltskonstitution zum Aufbau von Fachwelten in unterschiedlichen »Textwelten« unter der Bedingung heterogener Wissensdispositionen der Sprachteilnehmer mit Orientierung an text- und gesprächssortenspezifischen Kommunikationsroutinen geschieht. Felder sieht hier Anknüpfungspunkte zu der Auffassung von sprachlichen Erscheinungen als funktiolektale Sprachvarianten, in denen sich (Fach-) Varietäten als Subsysteme einer als heterogenes Gesamtsystem aufgefassten (Fach-)Sprache manifestieren. In Anlehnung an Steger und Löffler entwickelt er ein Sprachbeschreibungsmodell zur Varietätenbestimmung in Form der koppelbaren, graduell gestuften Dimensionen »soziale bzw. kommunikative Reichweite« der Ausdrucksweise und »funktionale Reichweite« (S. 48) des Inhalts, wobei zwischen Fachsemantik mit hohem, Vermittlungssemantik mit mittlerem und Alltagssemantik mit niedrigem Fachlichkeitsgrad unterschieden wird, sowie der Dimension des historischen Zeitpunkts und der Modalität. Anschließend beschäftigt sich der Autor mit den Charakteristika von Fachsprachen, -kommunikation und -texten einerseits und Vermittlungssprachen, -kommunikation und -texten andererseits als den beiden für das Forschungsinteresse relevanten Bereichen für (professionelle) Wissenskonstituierung und (öffentlichen) Wissenstransfer. Im Folgenden geht Felder auf weitere für das Forschungsnetzwerk zentrale Aspekte ein, u.a. auf die Funktion von Diskursen als transtextuellen Wissensformaten und die Verstehensrelevanz von Wissensrahmen, verweist hierzu aber auf die anschließenden, diesbezüglich ausführlicheren Aufsätze von Konerding, Warnke und Ziem. Klaus-Peter Konerding beschäftigt sich in seinem Beitrag Sprache – Gegenstandskonstitution – Wissensbereiche. Überlegungen zu (Fach-)Kulturen, kollektiven Praxen, sozialen Transzendentalien, Deklarativität und Bedingungen von Wissenstransfer in einem theoretisch breit gefächerten Rahmen mit dem Prozess der Wissenskonstituierung und darauf aufbauend mit den Bedingungen des Fachwissenstransfers in andere Bereiche der Gesellschaft. Unter Einbeziehung philosophischer, soziohistorischer und kognitions- wie sprachpsychologischer Arbeiten insbesondere Bordieus, Polanyis und Tomasellos führt er die von ihm als fundamental erachtete Dichotomie zwischen prozeduralem, implizitem, stillschweigendem Wissen als ›Können‹ in Form von vorreflexiven, durch schrittweise interaktionale Einübung in kulturelle Praktiken erworbenen Handlungsroutinen und deklarativem, explizitem, artikuliertem Wissen ein. Der Sprache weist Konerding dabei die Rolle der Generierung deklarativen Wissens aus prozeduralem Wissen im Sinne einer »repräsentationellen Neubeschreibung« oder »Superformatierung« (S. 87) zu. Ausgehend von der These, dass Wissens- als Gegenstandskonstituierung stets innerhalb kulturspezifischer kognitiv-konzeptueller Rahmen erfolgt, vollzieht Konerding zum einen die Anbindung seines dichotomen Wissens-Begriffs an den ›Wissensrahmen‹- bzw. Frame-Begriff, zum anderen den Übergang zu der Frage nach dem Wissenstransfer von Expertenwissen als fachkulturspezifisch geprägtem Wissen in laienkulturspezifisch geprägte gesellschaftliche Bereiche. In den Ergebnissen einer framebasierten empirischen Untersuchung Sigurd Wichters zum Wissenstransfer an der Schnittstelle zwischen Experten- und Laienkultur in den Domänen Computertechnik, Kfz-Technik und Medizin sieht Konerding die Erfahrungsund Praxisfundiertheit der jeweiligen Wissensbestände bestätigt und kommt zu dem Schluss, dass vollständiger Wissenstransfer nur auf Basis »zureichender (fach)spezifischer Sozialisation« (S. 105) möglich ist. Alle übrigen Fälle seien mit Liebert als »Wissenstransformationen« (S. 106) zu bezeichnen und erfolgten als ein kulturelles »Über-Setzen« (S. 105) in Form von partieller Anschlussfähigkeit an verfügbares Wissen von Laien bzw. Übertragung auf bestehende kognitive Rahmen, was dann sukzessive eine Rahmenassimilierung und -elaboration ermögliche. Missverstehen sei indessen dort vorprogrammiert, wo sich der ›Transfer‹ auf deklarative Techniken beschränke, wofür den Studienergebnissen Wichters zufolge im Bereich der Medizin der Einsatz von Informations- und Aufklärungsbögen in präoperativen Stadien ein typisches Beispiel sei. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Review Essay Eine diskurslinguistische Fundierung der Wissensanalyse legt Ingo H. Warnke in seinem Beitrag Die sprachliche Konstituierung von geteiltem Wissen in Diskursen vor, in dem er sich mit Folgerungen aus dem Sprachapriori des Denkens, der Relevanz von Verstehenshintergründen und Diskurskohärenz für die Gültigkeit von Aussagen und der Frage nach dem Status von Konsens und Kontroverse in Diskursen beschäftigt. Dabei liefert Warnke unter Einbeziehung der Arbeiten insbesondere von Busse, Foucault und Lyotard einen Einblick in basale diskurslinguistische Annahmen und Theoreme und exemplifiziert diese am Beispiel des Diskurses über »Klimawandel«. Zur Erläuterung des Begriffs der »sprachlichen Wirklichkeitskonstituierung« in transtextuellen Diskursen und der referentiellen Bezugnahme differenziert Warnke zunächst zwischen nichtdiskursivem, auf unmittelbarer Erfahrung beruhenden »knowledge by aquaintance« und sprachlich-diskursiv erzeugtem Wissen als »knowledge by description« (S. 123), bei dem die Referenz kein Gegenstand der realen Welt, sondern das Resultat eines Konzeptualisierungsprozesses ist. Warnke unterscheidet drei Typen sprachlicher Konstituierung: die »Konstruktion von Wissen« zur »Herstellung von Faktizität« durch Wahrheitsansprüche, die »Argumentation von Wissensakteuren« zur »Rechtfertigung von Wirklichkeit« bzw. konstruiertem Wissen durch Argumente und die »Distribution von Wissen« zur »Durchsetzung von Geltungsansprüchen« (S. 118 ff.) durch Regulierung. Mit Bezug auf Busse hebt Warnke die Relevanz der »Kontextualisierung von Wörtern in textweltbezogenen Wissensrahmen« (S. 127) zur Generierung und zur Vermittlung verstehensrelevanten Wissens in konkreten diskursiven Aussagen hervor. Anschließend behandelt er den Aspekt des geteilten Verstehenshintergrundes und verweist auf den von Stalnaker verwendeten Begriff des »common ground« (S. 126) als Basis für von den Kommunikationspartnern gemeinsam anerkannte und geteilte Informationen. Dabei konstatiert Warnke, dass der common ground als geteiltes Wissen erst durch eine konkrete Äußerung implizit hergestellt werden kann und bezeichnet dies mit Stalnaker als »Präsuppositions-Anpassung« (S. 128), wodurch potentiell neues Wissen generiert wird. Mit dem Begriff der »sprachlichen Routinen« als »verfestigte Formen des Redens« und als »Strategien bzw. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 319 Muster des Handelns« (S. 132) erläutert Warnke die entscheidende Rolle von deklarativen und prozeduralen Routinen bei der Etablierung von geteiltem Wissen und ihre Marker-Funktion als für den jeweiligen Diskurs typische, kohärenzstiftende Formen. Mit Verweis auf Felder (2006) bezeichnet Warnke abschließend die Kontroverse in Form des »semantischen Kampfs« zur »Durchsetzung von interessegeleiteten Handlungs- und Denkmustern« (S. 135) als Standardfall diskursiver Wissenskonstituierung – eine, wenn auch nicht erst hier entwickelte,1 so immer noch zentrale These, die in mehreren der folgenden Einzelanalysen bestätigt wird. Agonale Diskurse fänden innerfachlich wie interfachlich, zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Akteuren statt. Diskursanalyse ziele insbesondere auf die Interaktion heterogener Akteure in semantischen Kämpfen. Der Beitrag Fragen und Verstehen. Wissenskonstitution im Gespräch zwischen Arzt und Patient von Thomas Sprang-Fogasy und Heide Lindtner hätte ebenso in die Rubrik »Einzelanalyse« gruppiert werden können, markiert aber als gesprächsanalytische Variante linguistischer Wissensanalyse eine der theoretisch-methodischen Grundsäulen des Forschungsnetzwerks. Anhand eines authentischen ärztlichen Gesprächs untersuchen die AutorInnen die interaktiven Verstehensprozesse und Verstehensprobleme, die sich beim »Abgleich des subjektiven Beschwerdenwissens von Patienten mit dem medizinischen Fachwissen des Arztes zur Feststellung einer Diagnose« (S. 142) auftun. Dabei fokussieren die AutorInnen im Besonderen auf die ärztliche Frage als prominentes Medium zur Bearbeitung von Verstehensproblemen. Anhand eines induktiv erstellten »Perspektivenmodell[s]« (S. 148) aus drei zusammenwirkenden Analyseebenen – der sprachstrukturellen, der soziostrukturellen und der interaktionsstrukturellen, die noch in eine se1 Es sei hier darauf hingewiesen, dass »konkurrierender Sprachgebrauch« und »semantische Kämpfe« in ihrer Relevanz als Zeichen gesellschaftlich konfligierender, interessegeleiteter ›Wirklichkeits‹Konstituierung bereits von Georg Stötzel (1980, 1990) beschrieben wurden und in den diskurslinguistisch orientierten Forschungsarbeiten der sogenannten »Düsseldorfer Schule« (u.a. Stötzel/Wengeler et. al. 1995; Böke/Liedtke/Wengeler 1996) einen zentralen Stellenwert haben. 320 Review Essay quenzorganisatorische und eine interaktionstypologische Dimension unterteilt wird – gelingt es den AutorInnen, die komplexe Funktion von Fragen und die Fülle interaktiver Ressourcen bei der Verstehensarbeit im Gespräch aufzuzeigen. Konzentriert auf die Forschungsergebnisse der Kognitiven Linguistik und in expliziter Anknüpfung an die Ausführungen Konerdings und Warnkes behandelt Alexander Ziem die Sprachliche Wissenskonstitution aus Sicht der Kognitiven Grammatik und Konstruktionsgrammatik. Dabei zielt er auf ein integratives Modell aus kognitionstheoretischer, diskurs- und gesprächsanalytischer Methodik, widmet sich aber vor allem der Präsentation und Verteidigung der theoretischen Grundlagen der Kognitiven Linguistik zur Erklärung der sprachlichen Konstitution von Wissen. Als gemeinsame Basis der Kognitiven Grammatik nach Langacker und der Konstruktionsgrammatik nach Fillmore, Goldberg, Croft und Bergen arbeitet Ziem fünf Prämissen heraus, die er als Eckpfeiler des anvisierten Beschreibungsmodells bezeichnet. 1. In antigenerativistischer Haltung werden Form und Bedeutung als symbolische Einheit betrachtet und die Trennung von Sprachund Weltwissen, Semantik und Pragmatik wird aufgegeben; 2. Kategorisierung und Schematisierung gelten als basale kognitive Fähigkeiten; 3. grammatische Phänomene erhalten den Status von Konzepten; 4. sensomotorische und schematisierte Körpererfahrungen gelten als Basis des sprachlichen Wissens; 5. sprachliche Strukturen werden als Resultat konkreter sozialer Interaktionsprozesse aufgefasst. Im Folgenden geht Ziem näher auf den Aspekt des sprachlichen Wissens als Netzwerk symbolischer Einheiten und auf die komplementären Prozesse der »Kategorisierung« (Instanz-Schemabeziehungen) und »Schematisierung« (Schema-Instanzbeziehungen) ein, um anschließend drei verstehensrelevante Schematypen zu präsentieren, mit denen sprachliche Wissenskonstituierung untersucht werden kann: 1. »mentale Räume« (S. 185) nach Fauconnier und Turner, die während des Verstehensaktes entstehen und durch kognitive Operationen (»mapping«, »blending«, »compression«) beeinflusst werden, 2. »Frames« nach Fillmore bzw. »Domänen« nach Langacker als konzeptuelle Strukturen, »die relativ stabiles Hintergrundwissen kognitiv verfügbar machen« (S. 187) und 3. »Bildschemata« nach Lakoff/Johnson als die kognitiven Voraussetzungen des Bedeutungserwerbs, das in der nonverbalen und z.T. präverbalen Praxis gebildete, hoch abstrakte Musterwissen als »Wissen-wie bzw. Können« (S. 189) im Sinne des prozeduralen Wissens nach Konerding. Dem Vorwurf, »dass Schemata statische Einheiten seien, die der Dynamik sprachlich-kommunikativer Verstehens- und Handlungsprozesse nicht gerecht werden könnten« (S. 191), begegnet Ziem mit dem Verweis auf den Brückenschlag zwischen Kognition und Kommunikation: »Bildschemata ergeben sich aus körpergebundener Erfahrung, und Frames strukturieren konventionelles Wissen, das seinerseits Ergebnis der kommunikativen Praxis ist« (S. 193). Ziem schließt mit der zentralen These, dass unter kognitionstheoretischen Vorzeichen »nicht Sprache Wissen schafft und Sachverhalte konstituiert, sondern dass Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer ausgehend von sprachlichen Tokens kognitive Modelle aufbauen, deren gestalthafte Erscheinung eine projizierte Wirklichkeit […] erzeugt« (S. 198). Damit endet der Theorieteil des Sammelbandes. Dieser dokumentiert den prägenden Einfluss kognitionstheoretischer Paradigmen auf den Forschungsansatz des Netzwerks, der aktuell auch innerhalb der epistemologisch orientierten Diskurslinguistik zu verzeichnen ist. Positiv hervorzuheben ist, dass hier unter Einbeziehung eines breiten Spektrums an sprach-, kognitionsund sozialwissenschaftlichen Arbeiten sowohl hinlänglich etablierte als auch neuere Begrifflichkeiten wie z.B. die Differenzierung zwischen prozeduralem und deklarativem Wissen in Verbindung gebracht und erläutert werden, die dem von Felder formulierten Ziel der Entwicklung eines »übergeordneten, linguistisch fundierten Beschreibungsapparat[es]« (S. 13) auf theoretischer Ebene näher kommen. Dieser Beschreibungsapparat verharrt hingegen noch sehr im Kognitiv-Basalen. Was das Verhältnis von Experten- und Laienwissen, auch unter dem Aspekt sozialer Stratifizierung, betrifft, bleiben die hier vorgelegten Arbeiten eine theoretisch-methodische Ausarbeitung weitgehend schuldig. Auch wäre unter forschungspraktischen Aspekten die Bereitstellung eines Analyseinstrumentariums wünschenswert. Dies bleibt, wenn auch vorwiegend eher implizit, den thematisch wie methodisch recht heterogen angelegten Einzelanalysen vorbehalten. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Review Essay Die Zusammenstellung der empirischen Beiträge erfolgte laut Herausgeber nach der Maßgabe möglichst breiter Repräsentanz der Wissensdomänen, die im Forschungsnetzwerk untersucht werden. So sind die Einzelanalysen in Teil II den Bereichen ›Geschichte-Politik-Gesellschaft‹ (Ziem), ›Bildung und Schule‹ (Kilian/Lüttenberg), ›Naturwissenschaft und Technik‹ (Zimmer), ›Medizin und Gesundheitswesen‹ (Spieß),2 ›Religion‹ (Lasch) und ›Kunst-Kunstbetrieb-Kunstgeschichte‹ (Müller) zugeordnet. Teil III bilden zwei weitere Beiträge, die die Konzeptionen der neu integrierten Forschungsfelder ›Natur-Literatur-Kultur‹ (Goodbody) und ›Mathematik‹ (Schmidt) vorstellen. Teil IV schließlich liefert eine Dokumentation praktischer Anwendungsmöglichkeiten linguistischer Wissensforschung anhand sprachlicher Regulierungsversuche in Wirtschaftsunternehmen im Grenzbereich der Domänen ›Wirtschaft‹, ›Unternehmen und Organisation‹ (Hundt) sowie konkreter Spracharbeit bei der Gesetzesformulierung in der Domäne ›Recht‹ (Nussbaumer).3 Die meisten der Einzelanalysen schließen explizit, manche implizit, wenige nur vage an die im ersten Teil präsentierten Theorien an. In seinem zweiten Beitrag zum Sammelband legt Alexander Ziem in Frames im Einsatz. Aspekte anaphorischer, tropischer und multimodaler Bedeutungskonstitution im politischen Kontext den Schwerpunkt auf die Vorstellung und Anwendung eines erweiterten, linguistisch fundierten FrameAnsatzes. Am Beispiel einiger Vokabeln aus der ›terroristischen Geheimsprache‹, die Al-KaidaAnhänger benutzten, um sich verschlüsselt über geplante Terroranschläge auszutauschen, erläutert Ziem mit Verweis auf die Arbeiten Konerdings die im frame-semantischen Instrumentarium zentra2 3 Meines Erachtens ist der Beitrag von Spieß in die Domäne ›Geschichte-Politik-Gesellschaft‹ einzuordnen, wohingegen die Domäne ›Medizin und Gesundheitswesen‹ bereits durch den Beitrag von Spranz-Fogasy/Lindtner repräsentiert wird. Damit beschränkt sich der Band auf die Präsentation von Arbeiten zu 11 von insgesamt 13 Wissensdomänen, verweist aber in der Einleitung auf einen bereits im ersten Sammelband veröffentlichten Aufsatz von Warnke zur Domäne ›Architektur und Stadt‹ und entschuldigt das Fehlen des Bereichs ›Deutsche Sprache‹ damit, dass er erst 2008 als neue Domäne aufgenommen worden sei. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 321 len Begriffe »Leerstellen«, »Füllwerte« und »Standardwerte« sowie wesentliche Charakteristika von Frames aus schematheoretischer Perspektive, mit denen er u.a. tropische und anaphorische Bedeutungskonstitutionen erklärt. Anhand einer politischen Karikatur analysiert der Autor mithilfe des Frame-Ansatzes die durch die Text-Bild-Beziehung gegebenen tropologischen, morphologischen und bedeutungskonstitutiven Aspekte des Wortes Kindsköpfe im multimodalen Kontext der Karikatur und bezieht hierbei auch die Theorie der konzeptuellen Verschmelzung (»blending«) ein. Diskurslinguistisch fundiert ist der Beitrag von Jörg Kilian und Dina Lüttenberg zu Kompetenz. Zur sprachlichen Konstruktion von Wissen und Können im Bildungsdiskurs nach PISA. Anhand einer lexikalisch-begrifflich orientierten Untersuchung der Konstruktion von »Kompetenz« und »Sprachkompetenz« in den fachinternen Diskursbereichen der Bildungswissenschaft, Sprach- und Sozialwissenschaft und den fachexternen Kommunikations- und Praxisbereichen von Wirtschaft, Politik und Medien, ermitteln die AutorInnen die Komplexität und Widersprüchlichkeit des »Kompetenz«-Begriffs und die damit einhergehenden Probleme kollektiver Wissenskonstituierung. Die Konsequenzen der konstatierten Verengung des »Kompetenz«-Begriffs auf normativ gesetzte, standardisierbare und messbare ›Fähigkeiten und Fertigkeiten‹ in den Kommunikations- und Praxisbereichen der Wirtschaft und (Bildungs-)Politik nach Bekanntgabe der Ergebnisse der ersten PISA-Studie, die die VerfasserInnen als outcome-Konstruktionen bezeichnen, diskutieren die AutorInnen abschließend kritisch in Bezug auf die methodische und didaktische Modellierung von Kompetenzerwerb in der LehrLern-Praxis von Schule und Studium. In einem diskursiven Bezugsrahmen bewegt sich auch die Studie Die Rahmung der Zwergenwelt. Argumentationsmuster und Versprachlichungsformen im Nanotechnologiediskurs von René Zimmer. Der Verfasser zielt auf die Beschreibung der sprachlichen Konstruktion des Sachverhalts »Nanotechnologie« in einer Frühphase der gesellschaftlichen Diskussion, in der es in Expertenkreisen und auf politischer Ebene vornehmlich um Definitionsfragen geht, sich jedoch auch eine polarisierende Bewertung der Nanotechnologie im Sinne semantischer Kämpfe in- 322 Review Essay nerhalb gesellschaftlicher Gruppen abzeichnet. Anhand eines Textkorpus aus öffentlichen Stellungnahmen von Wirtschaftsunternehmen und Nichtregierungsorganisationen zeichnet Zimmer auf der Basis des Framing-Ansatzes nach Gamson und im Rahmen einer Inhaltsanalyse die disparaten Argumentationsmuster, Versprachlichungsformen und das Framing von »Technik- Optimisten« und »Technik-Skeptikern« nach, wobei die Muster der letztgenannten nach Einschätzung des Autors in Eskalationssituationen wie ›Nanounfällen‹ das Potential hätten, öffentliche Relevanz zu erlangen und das generell positive Image der Nanotechnologie negativ zu verändern. Constanze Spieß stellt in ihrem Aufsatz Wissenskonflikte im Diskurs. Zur diskursiven Funktion von Metaphern und Schlüsselwörtern im öffentlichpolitischen Diskurs um die humane embryonale Stammzellforschung die zwei der drei ›klassischen‹ Ebenen der linguistischen Diskursanalyse (Lexik, Metaphorik, Argumentation) vor, auf denen sich »semantische Kämpfe« (S. 314) disparater Interessengruppen ereignen, die zur sprachlichen Konstituierung konfligierender gesellschaftlicher Wissensbestände beitragen. Das diskursanalytische Verfahren, das die Berücksichtigung der kontextuellen, thematischen und strategisch-funktionalen Dimensionen einer sprachlichen Wissensformation sowie aller sprachstrukturellen Ebenen (Einzelwort, Proposition, Text) vorsieht, wird zunächst im Rahmen einer lexikalischen Analyse vorgestellt, und zwar anhand der Bedeutungskonkurrenzen und Thematisierungen des Schlüsselwortes Lebensbeginn, zum anderen anhand der »Nominationskonkurrenzen« (S. 315) für das Referenzobjekt ›verschmolzene Ei- und Samenzelle‹ im öffentlich-politisch geführten embryonalen Stammzelldiskurs. Im Weiteren präsentiert die Autorin die Rubikon-Metapher als den Stammzelldiskurs dominierendes metaphorisches Konzept, das ebenfalls in konkurrierender Weise von den konfligierenden Sprechergruppen zur Stützung eigener Handlungsziele argumentativ eingesetzt wird. Alexander Lasch behandelt in seinem Aufsatz Fensterweihe und Fensterstreit. Die Katholische Kirche und der mediale Diskurs ebenfalls »semantische Kämpfe« (S. 337) um Deutungshoheit und Wirklichkeitskonstituierung, und zwar bezüglich der öffentlichen Debatte anlässlich der offiziellen Einweihung des von Gerhard Richter gestalteten Kölner-Dom-Fensters. Auf der Grundlage von Texten aus den Onlineausgaben der deutschen Presse zeichnet Lasch den Diskursverlauf nach als Eigenwerbungsversuch der Katholischen Kirche via medialer Inszenierung, die einen nichtintendierten kontrovers geführten medialen Diskurs in Gang setzte, in dem die christlichen und theologischen Dimensionen des Streits nebensächlich wurden und dessen Dynamik von der Produktivität der beteiligten Akteure bestimmt war. Anhand einer Ausdifferenzierung des medialen Interdiskurses in einen (religions-)politischen, einen kunstästhetischen, einen theologischen und einen städtischen Diskursstrang präsentiert der Autor die kontroversen Argumentationstopoi und Bezeichnungskonkurrenzen. In seiner kognitionsgrammatisch orientierten Studie Die Grammatik der Zugehörigkeit. Possessivkonstruktionen und Gruppenidentität im Schreiben über Kunst untersucht Marcus Müller das Potenzial grammatischer Konstruktionen zur Inszenierung sozialer Zugehörigkeit am Beispiel der Possessivkonstruktion UNSER X in einem Teildiskurs des Bereichs ›Kunstkommunikation‹, die als ein Medium »der Konstituierung, Regulierung und Kontrolle individueller und/oder sozialer Identitäten« (S. 379) ausgewiesen wird. Auf der Basis eines Korpus aus Texten zur deutschen Kunstgeschichte ermittelt Müller sechs diskurssemantisch-funktional begründete Verwendungstypen der grammatischen Kategorie POSSESSION (Identifikation, Besitz, Inklusion, Kontiguität, Agens-Aktion-Relation, Diachronisierung) und zeigt, auf welche Weise die jeweils instantiierten UNSER X-Konstruktionen zur Inszenierung nationaler Identität genutzt werden. Mit der Wahl eines kognitionsgrammatischen Ansatzes verfolgt Müller gleichzeitig eine Tauglichkeitsprüfung und Bewertung des kognitionsgrammatischen Paradigmas als Beschreibungsrahmen für diskurslinguistische Analysen. Der dritte Teil beginnt mit dem Beitrag Deconstructing Greenspeak. Für eine kritische Diskursanalyse als Beitrag der Sprach- und Literaturwissenschaft zum Verständnis des Umweltproblems, in dem Axel Goodbody zunächst das Feld des konstruktivistischen Ansatzes in Kultur- und Sozialwissenschaft absteckt und darauf aufbauend für einen ideologiekritischen integrativen Ansatz aus Elementen der Kritischen Diskursanalyse nach Fairclough, der Ökolinguistik, der ökoloBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Review Essay gisch orientierten Literaturwissenschaft und der Kulturökologie plädiert, deren Entstehungsgeschichten und Grundzüge vorgestellt werden. Mit der Aufgabe einer »Dekonstruktion« der dominierenden Diskurse über Natur und Umwelt verbindet Goodbody zum einen die kritische Einsicht in die Ambivalenzen, Paradoxien und Verbindungen der verschiedenen Umweltdiskurse in Politik, Wirtschaft, Medien, Kultur und Literatur und die ihnen inhärenten, überwiegend anthropozentrisch geprägten Weltsichten, die u. a. durch die Analyse von Metaphern, syntaktischen Strukturen, rhetorischen Tropen und zentralen Vokabeln wie ›Natur‹, ›Natürlichkeit‹, ›Umwelt‹ und ›Nachhaltigkeit‹ und der damit verbundenen Wertkonstellationen und Subjektpositionen ermöglicht werden soll. Der Autor verspricht sich zum anderen einen Erkenntnisgewinn für eine avisierte kreative Umgestaltung bestehender Denkmuster und der Ausbildung einer »critical language awareness«, die darauf zielen, einen »Beitrag zur Herbeiführung einer wahrhaft nachhaltigen Lebensführung« (S. 447) zu leisten. Die Aufnahme dieses der Kritischen Diskursanalyse verpflichteten Beitrags dokumentiert die zu begrüßende Tendenz, der lange Zeit bestehenden Spaltung in zwei sich gegenseitig mit großen Vorbehalten und Ignoranz begegnenden Lager4 innerhalb der linguistischen Diskursanalyse entgegenzuwirken. Ein weiteres Forschungsfeld präsentiert Vasco Alexander Schmidt. In seinem Aufsatz zu Vernunft und Nützlichkeit der Mathematik. Wissenskonstitution in der Industriemathematik als Gegenstand der angewandten Linguistik weist er für den Fachbereich der Mathematik nach, dass »semantische Kämpfe« (S. 459, S. 467), hier bezogen auf die sprachliche Konstituierung von fachlichen Gegenständen, ein wesentlicher Bestandteil eines Forschungsprozesses sind, der auf die Entwicklung mathematischer Erkenntnisse und/oder technischer Produkte zielt. Für die Industriemathematik konstatiert der Verfasser agonale Diskursstrukturen zwischen Mathematikern und Ingenieuren, Physikern und Managern bei der Produktentwicklung, wobei der Mathematiker, 4 Auf die lange Zeit zu beklagenden »Grabenkämpfe« verweisen auch Spitzmüller und Warnke in ihrer Einführung zur Diskurslinguistik (vgl. Spitzmüller/ Warnke 2011, S. 79 f.). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 323 anders als in der Grundlagenmathematik, die Nützlichkeit seiner Wissenschaft für den avisierten Zweck, z.B. eine Softwarelösung, unter Beweis stellen und zeigen muss, dass ihr Einsatz vernünftig, weil effizienter, ist. Zur Erfassung dieses konkurrierenden Konstituierungsprozesses, der sich u.a. bei der Erstellung von Texten der Softwaredokumentation und der Marketingmaterialien zeigt, stellt Schmidt die ethnographische Methode des »nützlichen Linguisten« vor, der als »mitarbeitender Beobachter« (S. 468 f.), z.B. als technischer Redakteur oder PR-Journalist, an diesem Prozess teilnimmt. Teil IV beschließt den Sammelband mit zwei ›Praxis-Aufsätzen‹: Markus Hundt befasst sich mit der Verhaltensregulierung und Identitätsstiftung durch Unternehmensverfassungen. Corporate Governance unter sprachlichen Aspekten, die er als der linguistischen Beratung bedürftiges Tätigkeitsfeld nachweist, und Markus Nussbaumer liefert aus der Erfahrung eines Mitglieds der verwaltungsinternen Redaktionskommission der schweizerischen Bundesverwaltung Erkenntnisse Über den Nutzen der Spracharbeit im Prozess der Rechtsetzung, die immer auch Arbeit am juristischen Gedanken mit rechts- und lebenspraktischen Konsequenzen bedeute. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass hier vornehmlich eine kognitionstheoretisch fundierte linguistische Diskursanalyse verfolgt wird, deren methodische und empirische Umsetzung allerdings durch große Heterogenität geprägt ist. Diese Vielfalt ist indessen nicht beklagenswert, sondern zu begrüßen. Insgesamt hinterlässt die Lektüre einen komplexen Eindruck von der Arbeit des Forschungsnetzwerks »Sprache und Wissen« als eines vielschichtigen interessanten Projekts, das der besprochene Sammelband, seinem Anspruch gemäß, mit den ausgewählten theoretischen Arbeiten und empirischen Studien umfassend und in überzeugender Weise zu präsentieren vermag. Literatur Böke, K./Liedtke, F./Wengeler, M. (1996): Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära. Berlin und New York: de Gruyter. Spitzmüller, J./Warnke, I. H. (2011): Diskurslinguistik. Eine Einführung in die Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse. 324 Review Essay Berlin und Boston: de Gruyter. Stötzel, G. (1980): Konkurrierender Sprachgebrauch in der deutschen Presse. Sprachwissenschaftliche Textinterpretationen zum Verhältnis von Sprachbewusstsein und Gegenstandskonstitution. In: Wirkendes Wort 30, S. 39–53. Stötzel, G. (1990): Semantische Kämpfe im öffentlichen Sprachgebrauch. In: Stickel, G. (Hrsg.): Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven. Berlin und New York: de Gruyter, S. 45–65. Stötzel, G./Wengeler, M. (1995): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin und New York: de Gruyter. Anschrift: Dr. Karin Böke Institut für Germanistik Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf boeke@phil.uni-duesseldorf.de 1. Symposium der Zeitschrift für Diskursforschung Das Projekt »Zeitschrift für Diskursforschung« und die Perspektiven disziplinärer, inter- und transdisziplinärer Kooperation 28. März 2014, Universität Augsburg (InnoCube) Organisation: Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver Mit ihrem 1. Symposium nimmt die Zeitschrift für Diskursforschung ihr einjähriges Bestehen zum Anlass, um mit Vertreterinnen und Vertretern des Beirates sowie weiteren Gästen zu diskutieren. Inga Truschkat (Hildesheim), Peter Kraus (Augsburg) und Thomas Lemke (Frankfurt/Main) eröfnen die Veranstaltung zusammen mit den Herausgebern und legen die verschiedenen Perspektiven in Einzelbeiträgen dar. Anschließend werden auf zwei Podiumsdiskussionen die bisherigen Erfahrungen mit und die Geschichte der Inter- und Transdisziplinarität resümiert und deren Perspektiven aufgezeigt. Die Podiumsdiskussionen finden unter anderem mit Beteiligung von Johannes Angermüller (Warwick), Ekkehard Felder (Heidelberg), Rolf Parr (Duisburg-Essen), Ingo Warnke (Bremen), Franz Eder (Wien), Jürgen Link (Dortmund), Marcus Llanque (Augsburg) und Martin Wengeler (Trier) statt. Die Teilnahme ist kostenlos und die Anmeldung kann bis Ende Februar mit einer Mail an Sasa Bosancic erfolgen: sasa.bosancic@phil.uni-augsburg.de Weitere Informationen und ein Programm finden Sie auf unserer Homepage www.uni-augsburg.de/zfd Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Bericht 325 Bericht Frühjahrstagung der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) »Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit – Interdisziplinäre Perspektiven einer wissenssoziologischen Diskursforschung« in Augsburg am 21. und 22. März 2013 Die mit über 160 TeilnehmerInnen aus dem deutschsprachigen Raum außergewöhnlich gut besuchte Frühjahrstagung der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) »Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit – Interdisziplinäre Perspektiven einer wissenssoziologischen Diskursforschung« am 21. und 22. März 2013 in Augsburg ermöglichte einen Überblick über die Vielfalt der Forschungen an der Schnittstelle von Wissenssoziologie und Diskursforschung und stellte (auch disziplinübergreifend) aktuelle Entwicklungen in der Verbindung von Diskursanalyse und Wissenssoziologie zur Diskussion.1 In Plenen sowie in thematisch ausgerichteten Foren (»Streams«) wurden theoretische und methodologisch-methodische Perspektiven sowie empirische Analysen vorgestellt und diskutiert.2 Hierbei bildete Reiner Kellers Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) einen Schwerpunkt der Tagung. Die WDA verknüpft die Tradition der hermeneutischen Wissenssoziologie und des Symbolischen Interaktionismus mit einer auf Foucault zurückgehenden Diskursperspektive und stellt sie in den Rahmen der interpretativen Sozialforschung (Keller 2005). Da eine detaillierte Auseinandersetzung mit den einzelnen Beiträgen in diesem Rahmen leider nicht möglich ist, soll hier ein Überblick über die auf der Tagung be- und verhandelten Themen und Fragestellungen gegeben werden. 1 2 Organisiert wurde die Tagung von Reiner Keller und Saša Bosančić. Vgl. einführend in dieses Themenfeld: Keller et. al (2005) sowie Keller/Truschkat (2012). Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Reiner Keller (Augsburg) eröffnete die Tagung mit einer Darstellung der Verbindung der ehemals weit voneinander entfernten Forschungsrichtungen Wissenssoziologie bzw. Interpretatives Paradigma einerseits und Diskursforschung im Anschluss an Foucault andererseits. Beide Perspektiven haben sich aufeinander zubewegt und eine reichhaltige Forschung hervorgebracht. Ausgehend von einer Lesart Foucaults als Historiker der Wissensformationen nimmt Kellers WDA archäologisch und genealogisch die Verwobenheit von Wissen und Macht in den Blick. Mithilfe der WDA können sowohl die Ebene der Wissenskonstruktion bzw. Stabilisierung von Bedeutungen als auch Materialitäten und Praktiken der Diskursproduktion, also die unterschiedlichen Dimensionen gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken untersucht werden. Dabei schlägt die WDA einige Grundbegriffe und methodologisch-methodische Elemente vor, die freilich nicht als standardisiertes Rezeptwissen einzusetzen sind; die konkrete Vorgehensweise muss in Passungsprozessen von Fragestellungen und Forschungsgegenständen jeweils entwickelt werden. Die Offenheit bezüglich des Forschungsgegenstandes wie auch der konkreten methodischen Umsetzung bildet die Basis für die interdisziplinäre Ausrichtung der WDA. Inga Truschkat (Hildesheim) stellte im Anschluss hieran in ihrem Plenarvortrag methodologische Überlegungen zur »WDA als eklektizistisches Neuland?« vor. Die Theorie-Synthese der WDA (von Wissenssoziologie und Diskursanalyse) könne, so Truschkat, in methodologischer Hinsicht ergänzt werden durch eine Verbindung von Grounded Theory Methodologie (GTM) und Interpretativer Analytik, in die beide Ansätze ihre jeweiligen Stärken einbringen. So liefert die GTM eine erprobte Basis für die konkrete Arbeit am Material, während die Interpretative Analytik die Perspektive auf die Herausarbeitung von Kontingenzen und Machtverhältnissen fokussiert. Diese Kombination aus den beiden Forschungsrichtungen zeichne sich sowohl in der methodologischen Auseinandersetzung mit Adele Clarkes Situationsanalyse (Clarke 2012 und ZFD 2/2013) als 326 Bericht auch in den gegenwärtigen WDA-basierten empirischen Arbeiten ab und biete daher eine mögliche Perspektive für eine Ausformulierung der methodologischen Grundannahmen, die auch für das konkrete methodische Vorgehen fruchtbar gemacht werden könne. Im Stream 1a standen öffentliche Debatten zu Bildungsthemen – »Bildungsdiskurse« – im Vordergrund. Nadine Bernhard (Berlin) untersuchte die europäischen Diskussionen zur »Durchlässigkeit« in zwei Zeiträumen (1990-1998; 1999-2012) und konnte in den beiden Perioden je drei differente diskussionsstrukturierende Diskursstränge identifizieren. Während bis 1998 ein strukturkritischer von einem elitär-funktionalistischen und einem strukturkonservativen Strang unterschieden werden konnte, prägen in der Folgezeit universal-strukturalistische, funktionalistisch-strukturkritische sowie strukturkritische Argumentationsmuster die Debatten. Monika Palowski (Bielefeld) stellte anschließend Ergebnisse einer Analyse der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte zur »Nichtversetzung« seit den 1950er Jahren vor. Während dem Nichtversetzen in den Erziehungswissenschaften kaum positive Momente abgewonnen werden konnten, wird in der Öffentlichkeit – oftmals unter Rückgriff auf prominente Einzelbeispiele – die Sinnhaftigkeit des »Sitzenbleibens« inszeniert. Auf diese Weise wird der performative Aspekt diskursiver Wirklichkeitskonstruktionen deutlich: Der Diskurs über das Versagen »zementiert« sozusagen das Versagen. Miriam Sitter (Hildesheim) fasste im Anschluss das Akronym PISA als »diskursiven Innovationsgenerator«. PISA beschreibt in einem Wort die mangelnde Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems und wird zunehmend für die Fokussierung auf sozial Benachteiligte verwendet. Auch wenn die frühkindliche Bildung bei PISA nicht Forschungsgegenstand war, so ist es gerade die Forderung nach früher Sprachförderung für Kinder mit Migrationshintergrund, die sich nach und nach in der öffentlichen Debatte sowie in der praxisorientierten Fachliteratur für Kindertagesstätten als zentrale »Füllung« und Antreiber der Bildungsdiskussionen herauskristallisiert. Stream 1b behandelte die diskursive »Konstruktion von Paarbeziehungen«. Sabine Dreßler (Dresden) skizzierte den »Gleichberechtigungsdiskurs in populären Eheratgebern der 1950er« in einem Ost-West-Vergleich. Während in Westdeutschland Gerechtigkeit als »Herrschaftsveredelung« des Mannes über die Frau thematisiert wird – bei einzelnen Ausnahmen in einer emanzipatorischen Perspektive –, wird in der DDR Gleichberechtigung geradezu als Voraussetzung und Basis einer stabilen (sozialistischen) Ehe verstanden und erhält damit eine normative und symbolische Aufladung. Maya Halatcheva-Trapp (München) stellte anschließend Überlegungen aus ihrer WDA zur »Konstruktion von ›intakter‹ Elternschaft in der Trennungs- und Scheidungsberatung« vor. Ihre Sekundäranalyse leitfadengestützter Interviews mit Trennungs- und ScheidungsberaterInnen konnte zwei unterschiedliche Deutungsmuster zu Tage fördern, »Partnerschaftlichkeit« und »Fürsorge«, die in je unterschiedlichen Verständnissen den Diskurs um Elternschaft strukturieren. Der Stream 2 sammelte Perspektiven auf die »Diskursarena Politik«. Hier fragte Moritz von Gliszczynski (Bielefeld) nach dem Wandel eines Paradigmas der Grundsicherung in der Entwicklungspolitik durch die diskursive Auseinandersetzung um die Social Cash Transfers (SCT). Die SCT konnten sich trotz widersprüchlicher Logiken innerhalb von Diskursformationen in einem globalen Diskurs um Armut als legitimes entwicklungspolitisches Instrument um Agency und Aktivierungspolitik etablieren. Wolf Schünemann (Landau) erkundete auf Basis von Deutungskämpfen in politischen Debatten über die EU-Referenden die Erweiterung und Bearbeitung der Methodologie der WDA und die analytische Vergleichbarkeit der methodischen Instrumente. In der politikwissenschaftlichen Forschung sind mit der WDA die unterschiedlichen Wissensordnungen über »kumulierte Argumentative« als analytische Einheit für den spezifischen Ausschnitt der Wirklichkeit innerhalb eines thematischen Diskursstranges klarer analysierbar. Sie erlauben eine stärkere Berücksichtigung der Akteure, als dies in der Survey-Forschung der Fall ist. Annette Knaut (Landau) stellte anhand einer explorativen Studie zu Differenzstrukturen in Konstruktionen von Geschlechtlichkeit bei Spitzenpolitikerinnen Neue Medien und Massenmedien als »gendered institutions« vergeschlechtlichter Normativität vor. Dabei kontrastierte sie Selbstdarstellungen von Frauen in Spitzenpositionen in Facebook und Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Bericht Twitter mit Fremddarstellungen in Zeitungsartikeln im Kontext von Identität und Professionalität. Neue und Alte Medien unterschieden sich in ihrer Konfiguration und ihren Produktionsverfahren von Geschlecht und Identitäten und manifestieren auf je eigene Weise Differenzstrukturen in der Selbst- und Fremddarstellung als Wissen über Geschlecht. Claudia Brunner (Klagenfurt) vertrat anschließend in ihrem Plenumsvortrag eine postkoloniale und feministische Perspektive auf die »Geopolitik/en des Wissens« im Kontext wissenssoziologischer Diskursforschung (vgl. ihren Beitrag in diesem Band). Dabei arbeitete sie die Fokussierung von Postkolonialismus, Feminismus und wissenssoziologischer Diskursforschung auf Macht-Wissens-Konnexe sowie auf die Gewordenheit und damit auch Veränderbarkeit des Selbstverständlichen heraus. Kellers mit Blick auf die Diagnose von Risikodiskursen formulierte These von einer »neuen Grammatik der Verantwortlichkeit« (Keller 2005) gab sie eine andere Wendung und interpretierte sie als Forderung nach einer stärkeren Selbstreflexion der Forschenden unter Rückgriff auf postkoloniale und feministische Perspektiven. Auf diese Weise könne ein Beitrag dazu geliefert werden, die stark eurozentrische, maskulin-weiße Wissenschaft zu dekolonisieren und zu dekonstruieren, um so die Partikularität und Bedingtheit der – auch diskursanalytischen – Forschung in den Blick zu nehmen. Mit einem »Ungehorsam« (Walter Mignolo) gegenüber der vorherrschenden Wissensproduktion ließe sich wissenssoziologische Diskursforschung auf sich selbst anwenden und so einen Beitrag zu einer postkolonial und feministisch informierten Wissenschaftsforschung leisten. Hubert Knoblauch (Berlin) hinterfragte das Verständnis wissenssoziologischer Diskursforschung als diskursive (Re-)Konstruktion von makrostrukturellen Legitimationsprozessen in seinem Vortrag zum Verhältnis von diskursiver und kommunikativer Konstruktion der Wirklichkeit. Unterschiede konstatierte er im Vergleich zum Konzept der kommunikativen Konstruktion der Wirklichkeit nicht in der Sache, sondern im Ziel des Programms. Die kommunikative Konstruktion sei stärker sozialtheoretisch angelegt, die diskursive Konstruktion dagegen eher gesellschaftsBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 327 theoretisch als empirisch überprüfte Theorie der Vorgänge im Gegenstandsbereich mit interpretativem und explanativem Anspruch einzuordnen. Beim Diskurs gehe es also um ein Gebilde, das das Soziale schon voraussetzt und damit nach Knoblauch eine gewisse Nähe zum Konstitutionsbegriff der Dualität von Handlungen bei Giddens aufweist: Wissen wird im Diskurs sozial. Knoblauch plädierte zur Profilierung der wissenssoziologisch-diskursanalytischen Perspektive für eine klare Unterscheidung alltagssprachlicher und wissenschaftlicher Begrifflichkeiten, ohne allein auf axiomatische Begründungen zurückzugreifen. Dies ermögliche eigenständige Diskursanalysen, die von reflexiven wissenschaftstheoretischen und methodologischen Überlegungen gestützt werden müssten. Für die Forschungspraxis folge daraus, dass bei der Diskursanalyse das »doing Diskursanalyse« selbst zum Gegenstand wird und daher zu beschreiben sei, »was wir tun, wenn wir Diskursanalyse machen«. Gabriela Christmann (Erkner/Berlin) skizzierte theoretische und methodische Anregungen der WDA für Fragen zur »diskursiven Konstruktion von Raum«. Am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) wurde in den letzten Jahren eine Perspektive auf Raum erarbeitet, die den wissenssoziologischen und kommunikativen Konstruktivismus mit der relationalen Raumtheorie von Martina Löw in Verbindung bringt. Dementsprechend werden Räume als soziale Konstruktionen verstanden, die Materielles mit Immateriellem verbinden und die mittels wissenssoziologisch orientierter Diskursanalyse erforschbar sind. Christmann machte diese raumspezifische Anwendung der WDA an einem ethnografischen Projekt zu »Raumpionieren« in Stadtquartieren am Beispiel von Hamburg-Wilhelmsburg und Berlin-Moabit deutlich. Das Verhältnis von Visualität und Diskursanalyse bildete den Fokus des dritten Streams. Silke Betscher (Bremen) vertrat eine These der Eigenlogik des Visuellen in Diskursen, auch wenn das Visuelle in textlich-sprachliche Elemente eingebettet sei und mit ihnen verbunden auftrete. Ihre These illustrierte sie am Beispiel einer seriellen ikonografischen Analyse der fotografischen Darstellung der USA in westdeutschen Illustrierten zwischen 1945-1949, wo verschiedene diskursive Verflech- 328 Bericht tungen an geschichtlichen und motivbezogenen Tiefenschichten aus einem Bild zu rekonstruieren sind. Oliver Kiefl (München) verband empirische Begriffe der Film- und Fernsehwissenschaften mit Beschreibungsbausteinen einer diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit am Beispiel von Fernsehinhalten als medial konstituierte Diskurse. Anhand vielfältigen empirischen Materials schlug Kiefl audiovisuelle Daten des Fernsehens als wichtigen Bereich zur Klärung der Spezifik des Sinns und der Wissensproduktion vor und wählte dies als Einstiegspunkt für eine begriffliche Erweiterung der WDA. Miriam Gothe (Dortmund) erörterte ihr methodisches Vorgehen in der Analyse der diskursiven Konstruktion von »Qualitätsserien« des US-amerikanischen Fernsehens. Dabei verglich sie einen Expertendiskurs mit Diskussionen in Onlineforen und innerhalb der Kommentarfunktion in einem Onlineshop. Der Verweis auf die Selbstevidenz von (implizitem) audiovisuellem Wissen durch die Akteure bildet ein Desiderat der Forschung über audiovisuelle Artefakte einer wissenssoziologisch ausgerichteten Diskursforschung. In Stream 4 wurde die Diskussion über »Medizin als Diskursfeld« in den Blick genommen. Fabian Karsch (München) arbeitete in seiner Analyse von berufspolitischen und öffentlichkeitswirksamen Publikationen sowie von themenzentrierten Interviews die gegenwärtige Spannung der Medizin »zwischen Markt und Moral« heraus. Seine situationsanalytisch (Adele Clarke) ausgerichtete WDA konnte eine zunehmende Verflüssigung der Grenzen zwischen medizinischer Grundversorgung und der als Schönheitsbehandlungen umschriebenen Zusatzbehandlungen im Rahmen der »Medikalisierung der Gesellschaft« aufzeigen. Die Folge ist eine hybride Praxis von Ärzten, die zwischen den Polen Markt und Moral oszilliert. Hella von Unger und Penelope Scott (Berlin) analysierten den »gesundheitswissenschaftlichen Diskurs zu Migration und Infektionskrankheiten« am Beispiel der Kategorisierungen von internationalen Infektions-Statistiken. Dabei zeigte sich, dass die auf Klarheit und Genauigkeit abzielenden Kategorien der Infektions-Statistiken stark abhängig sind von Interpretations-, Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen. Im dritten Beitrag stellte Jessica Pahl (Dortmund) erste Ergebnisse einer Diskursanalyse zur Konstruktion der Metapher »Wach- koma« vor. Da »Wachkoma« selbst innerhalb medizinischer Diskussionen kein offizieller Begriff, sondern eine metaphorische Übertragung darstellt, stellen Verwendungen von »Wachkoma« im Rahmen öffentlicher Debatten eine zweite Metaphorisierung dar. Mittels einer Diskursanalyse von überregionalen Zeitungen und Zeitschriften sollen die metaphorischen Dimensionen von Wachkoma nun detailliert herausgearbeitet werden. Ronald Hitzler (Dortmund) thematisierte in seinem Vortrag zum Deutungsmuster »Wachkoma« Schwierigkeiten mit der Offenheit des wissenssoziologisch-diskursanalytischen Ansatzes bei einem induktiven Vorgehen. Vor allem die dem Phänomen inhärente Perspektivität der Wissensbestände, die zwischen professionell-rationalisierten Beobachtungen wie existenziell-affektivem Erleben und einem außerhalb des Spezialdiskurses bestehenden common sense oszilliert, muss adäquat methodisch berücksichtigt werden. Zugespitzt benennt Hitzler als zentrales Problem einer diskursanalytischen Untersuchung des Deutungsmusters »Wachkoma« die methodologische Einbindung des phänomenologischen und damit auch introspektiven Vorgehens in den Forschungsprozess. Eine von Betroffenen als existenziell erfahrene Diskrepanz zwischen dem Versprechen der Sicherung oder gar Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten – insbesondere durch wissenschaftlich legitimiertes Wissen – und einer erlebten Unbeschreiblichkeit verweise auf ein methodisches Problem der Explizierbarkeit von offenbar nicht ineinander überführbaren Wissensbeständen. In der Vielfalt der kollektiven Wissensordnungen in einer Diskursanalyse um das Phänomen »Wachkoma« entstehe die Herausforderung, im Wechselspiel zwischen der Rekonstruktion von Verweisungszusammenhängen innerhalb eines Deutungsmusters und des Erkenntnisinteresses, das eigene Vorgehen reflexiv begründbar zu halten. Die Frage, ob für die Analyse von introspektiven Elementen die Diskursanalyse ein geeignetes Fundament bildet, bleibt auch im Anschluss an Hitzlers Ausführungen gegenwärtig noch offen. Stream 5 griff das Verhältnis von Biographie und Subjektivierung auf. Ina Alber (Göttingen) ging der Reproduktion von Wissensordnungen in biographischen Narrationen nach und untersuchte Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Bericht hierzu die wechselseitigen Beziehungen zwischen Diskursen zu zivilgesellschaftlichem Engagement und biographisch etablierten Handlungs- und Deutungsmustern. Die Selbstverortung und die Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns wird durch Deutungsbausteine eines auf Partizipation fußenden Subjektivierungsangebotes gewährleistet und so der Diskurs um Formen und Inhalte zivilgesellschaftlichen Engagements gleichermaßen reproduziert. Anna Ransiek (Göttingen) zeigte auf, wie Subjekte ihre Selbstverortung von Identitäten in rassistischen Diskursen verhandeln, diese aber auch aus dem Erleben eines biographischen Standpunktes erklärt werden können. Aufbauend auf theoretischen Annahmen über das Verhältnis von Erleben und Erzählen dient das lebensgeschichtliche Interview als ein Produktions- und Transformationsort diskursiver Aushandlungsprozesse. Lisa Pfahl (Bremen) und Boris Traue (Berlin) formulierten in ihrem Beitrag den Vorschlag, die Subjektivierungsanalyse als Ebene der diskursiven Prägung von Wahrnehmung, Sinn und Erfahrung zur Erweiterung der WDA zu nutzen, die sich bisher vornehmlich der institutionellen Wissensproduktion zugewandt hat. In ihren empirischen Arbeiten legten sie die Bedeutung der Interpretationen von Individuen bei diskursiv konstruierten und vermittelten Sinn- und Selbsttechniken dar, die ihre Geltung aus der pragmatischen Perspektive der Lebensführung schöpfen. Mit einem Einbezug der subjektiven Dimension soll das Spektrum der Analysemöglichkeiten für die Phänomenstrukturen von Diskursen erweitert werden, deren Polyvalenzen und Dysfunktionalitäten in dieser Perspektive greifbarer werden. Jens Hälterlein (Potsdam), Tina Spies (Frankfurt/M.) und Norma Möllers (Potsdam) beschäftigte die Konstitution von Subjekten im Diskurs um »intelligente Videoüberwachung«, deren zentrales Moment Aushandlungen um legitime Deutungen von Problemen und die Anerkennung von Lösungsstrategien darstellt. Als Folge dieser diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit müssen in diesen Deutungskämpfen sowohl Selbstpositionierungen der Akteure als auch die Legitimierung ihrer Handlungen entsprechend ihrer »Anrufungen« in unterschiedlichen Diskursarenen erfolgen. Alle drei Beiträge machten auf die diskursanalytische Relevanz der subjektiven Ebene der Aneignung und »Verarbeitung« von Diskursen aufmerksam. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 329 Im Stream 6 wurden »interdisziplinäre Perspektiven« diskutiert. David Kaldewey (Erlangen) skizzierte in seinen Ausführungen zu »System, Diskurs, Semantik« eine Synthese von Systemtheorie, Diskursforschung und Wissenssoziologie. Hierbei rückte er Autoren wie Scheler und Mannheim in den Vordergrund, die sich gegenüber der im Anschluss an Schütz’ »Jedermann« auf das Alltagswissen fokussierenden Perspektive stärker auf die intellektuelle Wissensbildung und »gepflegte Semantik« (Luhmann) ausrichten. Auf Basis der Leitdifferenz zwischen Struktur und Semantik könne diese Fokussierung durch eine Integration des Diskursbegriffs in die Systemtheorie gelingen. Ruth Mell (Mannheim) ging hiernach auf »Diskursanalytische Überlegungen zu den Wissensstrukturen sprachlich fundierter Konzepte aus linguistischer Sicht« ein. Am Beispiel von »Aufklärung 1968« stellte sie ihr eigenes theoretischmethodologisches Instrument des »Konzepts« vor, das sie als Wissensrahmen um verschiedene Wissenselemente definierte. An der Bezugnahme der sogenannten »68er« auf Begriff und historisches Ereignis der Aufklärung konnte sie die Ebenen »Basiswissen«, »Referenzwissen«, »Adaptives Wissen« und »Reformuliertes Wissen« unterscheiden und in ihrer Verwendungsweise empirisch belegen. Anschließend stellte Andreas Stückler (Wien) Überlegungen zu einer »Diskusanalytische Rechtsnormgeneseforschung« vor. Am Beispiel der Gesetzwerdung der österreichischen Strafprozessreform 2008 präsentierte Stückler erste vorläufige Analyseergebnisse dieser durch die Pole »Fair Trail«, »Opferschutz« und »Verfahrenseffizienz« strukturierten diskursiven Kämpfe, die auf diese Weise die Sinnfigur des »Beschuldigten« konstruieren. Eveline Sander (Berlin) präsentierte anschließend Ergebnisse ihrer WDA zur »diskursiven Konstruktion des demographischen Wandels in Personalkontexten«. Ihre Untersuchung von Personal-Fachzeitschriften von 2000 bis 2011 konnte zwei heterogene Demographie-Diskurse – einen herrschenden und einen kritischen – identifizieren, die mit einer je differenten Deutung der (demographischen) Wirklichkeit und den sich daraus ergebenden politischen und wirtschaftlichen Folgerungen um die Deutungshoheit kämpfen. In seiner Closing-Lecture zur »diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit« rückte Keller die Perspektive der Tagung in den historischen und theo- 330 Bericht retischen Kontext von Max Webers Grundlegung der Soziologie als Kultur- und als Wirklichkeitswissenschaft und skizzierte künftige Aufgabenfelder zur Weiterentwicklung einer wissenssoziologisch geprägten Gegenwarts- und Wirklichkeitsanalyse unter diskursiven Vorzeichen. Im Fokus seiner Diskussion stand das Verhältnis von Interpretation, Hermeneutik und Diskursforschung. Dabei wurden insbesondere Affinitäten zwischen Webers Soziologie bzw. dem Interpretativen Paradigma und den verschiedenen Foucaultschen Vorschlägen zur Diskurs- und Dispositivforschung deutlich. Zwar lässt sich Foucaults Methodologie „jenseits von Strukturalismus und [philosophischer] Hermeneutik“ (Hubert Dreyfus/Paul Rabinow) verorten, doch das bedeutet weder – wie mitunter kurzschlüssig gefolgert wird –, dass sie auf Interpretationsprozesse verzichten kann, noch dass sie außerhalb der jüngeren sozialwissenschaftlichen Hermeneutik operiert. Als Aufgaben zur Weiterentwicklung der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung benannte Keller vor allem zwei Aspekte. Einerseits ginge es nun darum, die methodologischen Dimensionen und empirischen Vorgehensweisen wissenssoziologischer Diskursforschung deutlicher zu konturieren. Andererseits böte der Dispositivbegriff innerhalb der wissenssoziologischen Diskursforschung Ansatzpunkte, die starke Textlastigkeit bisheriger Forschungen zu mildern und gleichzeitig empirische, kategoriale sowie theoretische Bezüge zu nahestehenden Ansätzen der Wissensforschung (etwa in der Wissenschafts- und Technikforschung) in den Blick zu nehmen. Fazit: Auf der Augsburger Tagung wurde die auch über die Soziologie deutlich hinausreichende Fruchtbarkeit der Forschungsperspektive einer wissenssoziologischen Diskursforschung in ihrer Breite deutlich. Die WDA als prominenter Ansatz innerhalb dieser Perspektive bietet einen – spezifisch ausgestaltbaren und auszugestaltenden – theoretisch-methodologischen Rahmen für konkrete empirische Diskursanalysen. Diskussionen im Kontext von Wissenssoziologie und Diskursforschung wurden in Augsburg in Bezug auf Fragen nach theoretischen Verhältnisbestimmungen wissenssoziologischer Diskursforschung zu Theorie- konstruktionen wie der Phänomenologie (Hitzler), kommunikationsbasierten Ansätzen (Knoblauch), zur Systemtheorie Luhmanns (Kaldewey) sowie zur Linguistik (Mell) aufgeworfen. Außerdem wurden methodisch-methodologische Perspektiven hinsichtlich der Grounded Theory Methodologie, deren Weiterentwicklung zur Situationsanalyse (Clarke 2012) (Truschkat, Karsch) sowie der Analyse von Film und Foto (Betscher, Kiefl und Grothe) diskutiert. Wissenssoziologische Diskursforschung bietet, so wurde deutlich, über Disziplingrenzen hinweg für verschiedenste Forschungsinteressen eine hilfreiche Basis für empirische Diskursanalysen, theoretische Differenzierungen und methodologische Weiterentwicklungen. Vor dem Hintergrund der Gesamtbilanz der Tagung erscheint es sinnvoll, stärker über Grenzziehungen wissenssoziologischer Diskursforschung nachzudenken. Die WDA als spezifisches Forschungsprogramm könnte so stärker die Differenzen zu konkurrierenden diskursanalytischen Ansätzen in den Fokus rücken und sich hinsichtlich der theoretischen und methodisch-methodologischen Grundannahmen gegen alternative gegenwärtige Strömungen abgrenzen. Das Potential der WDA liegt nicht allein darin, Normalität als normatives Machtverhältnis zu de-chiffrieren, sondern in der Dualität von Struktur und Wissen gerade den konstruktiven Charakter des Geltenden in seiner Vielfalt, in seinem Facettenreichtum greifbar und transparent zu machen. Dieses Potenzial zeigt sich auch im großen Interesse an der klareren Einbindung von Akteursperspektiven in die wissenssoziologische Diskursforschung. Hier scheint gegenwärtig eine Weiterentwicklung erarbeitet zu werden, die sich zum Teil auf Foucaults Konzept der Subjektivierung (Pfahl/Traue/Schürmann, Hälterlein/Spies/Möllers) stützt, oder sich an Konzepte der Biographieforschung (Alber, Ransiek) bzw. gegenstandsbezogen an Akteurskonzepte wissenssoziologischer und anderer Theorietraditionen anlehnt. Die Augsburger Tagung konnte eindrucksvoll zeigen, dass eine solche Weiterentwicklung wissenssoziologischer Diskursforschung nicht nur sinnvoll und möglich, sondern auch für die weitere Forschung an und mit Phänomenen der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit fruchtbar ist. Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 Bericht Literatur: Clarke, Adele (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Hrsg. und mit einem Vorwort von R. Keller. Wiesbaden: VS. Keller, R. (2005): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS. Keller, R./Hirseland A./Schneider W./Viehöver, W. (Hrsg.) (2005): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung. Konstanz: UVK. Keller, R./Truschkat, I. (2012) (Hrsg.): Methodologie und Praxis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden: VS. Anschriften: Anina Engelhardt, M. A. Technische Universität Berlin Institut für Soziologie DFG- Graduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute« Fraunhoferstraße 33-36 10587 Berlin anina.engelhardt@innovation.tu-berlin.de Dr. Markus Riefling Freier Wissenschaftler und Bildungsreferent Albert-Haueisen-Ring 65 67071 Ludwigshafen rieflingmarkus@yahoo.de Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013 331 332 Serviceteil Zeitschrift für Diskursforschung ZfD Die Zeitschrift für Diskursforschung ist die erste Fachzeitschrift, die der anhaltenden Konjunktur von sozialwissenschaftlicher Diskursforschung im deutschsprachigen Raum Rechnung trägt. Als interdisziplinäres Forum für discourse studies wird sie theoretische, methodologisch-methodische und empirische Beiträge aus den Sozialwissenschaften und angrenzenden Disziplinen veröffentlichen. Herausgeber: Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver Beirat: Johannes Angermüller, Andrea D. Bührmann, Rainer Diaz-Bone, Adele Clarke, Franz X. Eder, Ekkehard Felder, Herbert Gottweis, Fabian Kessl, Achim Landwehr, Thomas Lemke, Frank Nullmeier, Rolf Parr, Inga Truschkat, Ingo Warnke, Martin Wengeler, Ruth Wodak Redaktion: Sasa Bosancic, Matthias Sebastian Klaes, Universität Augsburg, Lehrstuhl für Soziologie (Prof. Keller), Postfach, 86135 Augsburg, E-Mail: zfd@phil.uni-augsburg.de, Tel. 0821/598-4071, www.uni-augsburg.de/zfd ZfD – Regeln für die Einreichung der Manuskripte: Die ZfD unterliegt einem doppelten anonymen peer-review-Ver fahren. Manuskripte können in deutscher oder englischer Sprache eingereicht werden und sollten einen Gesamtumfang von 60 000 Zeichen inklusive Leerzeichen nicht überschreiten. Jedem Artikel ist ein Abstract sowohl in deutscher und englischer Sprache (inklusive der Übersetzung des Titels) im Umfang von 600-800 Zeichen beizufügen sowie 6-8 Keywords in beiden Sprachen. Das Manuskript ist anonymisiert und entsprechend der formalstilistischen Hinweise der ZfD einzureichen. Alle Regeln zur Einreichung der Manuskripte finden Sie auf der Homepage www.uni-augsburg.de/zfd Verlag: Julius Beltz GmbH & Co. KG, Beltz Juventa, Werderstr. 10, 69469 Weinheim Anzeigen: Claudia Klinger, Julius Beltz GmbH & Co. KG, Postfach 100154, 69441 Weinheim, Tel.: 0 62 01/60 07-386, Fax: 0 62 01/60 07-93 31, E-Mail: anzeigen@beltz.de Fragen zum Abonnement: Beltz Medien-Ser vice, Postfach 100565, D-69445 Weinheim, Tel.: 0 62 01/60 07-330, Fax: 0 62 01/60 07-93 31, E-Mail: medienser vice@beltz.de Einzelheftbestellungen: Beltz Medien-Ser vice bei Rhenus, D-86895 Landsberg, Tel.: 0 81 91/9 70 00-622, Fax: 0 81 91/9 70 00-405, E-Mail: bestellung@beltz.de Bezugsbedingungen: Jahresabonnement Euro 49,00, Studierende mit Studiennachweis Euro 35,00 Einzelheft Euro 29,95, jeweils zzgl. Versand. Der Gesamtbezugspreis (Abonnement zzgl. Versandspesen) ist preisgebunden. Jahresabonnement (3 Hefte). Das Kennenlernabo umfasst 2 Hefte zum Preis von Euro 29,95 inkl. Versand. Abbestellungen spätestens 6 Wochen vor Jahresabonnementsende. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Ver wertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver vielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Jahresregister 2013 der Zeitschrift für Diskursforschung finden Sie als kostenlosen Download unter http://www.beltz.de/de/beltz-juventa/zeitschriften.html Printed in Germany ISSN 2195-867X Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013