Inhaltsverzeichnis
Reiner Keller/Werner Schneider/Willy Viehöver
Editorial ................................................................................................................................... 223
Themenbeiträge
Claudia Brunner
Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹.
Politisch-epistemische Überlegungen zur Zukunft der Wissenssoziologie ................... 226
Dominik Schrage
Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den
Methodenausweis – ein Kartierungsversuch ..................................................................... 246
Jürgen Spitzmüller
Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung.
Zur diskursiven Konstruktion sprachideologischer Positionen ...................................... 263
Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
Der Ausstieg aus der Atomenergie. Diskursnetzwerkanalyse
als Beitrag zur Erklärung einer radikalen Politikwende ................................................... 288
Review Essay
Karin Böke
Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse
des Forschungsnetzwerkes »Sprache und Wissen« ........................................................... 317
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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Inhaltsverzeichnis
Bericht
Anina Engelhardt/Markus Riefling
Frühjahrstagung der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie (DGS) »Die diskursive Konstruktion
von Wirklichkeit – Interdisziplinäre Perspektiven einer
wissenssoziologischen Diskursforschung« in Augsburg
am 21. und 22. März 2013 ..................................................................................................... 325
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Editorial
223
Editorial
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
mit dem vorliegenden dritten Heft ist der erste Jahrgang der Zeitschrift für Diskursforschung fast komplett. Aber eben nur fast – denn seinen tatsächlichen Abschluss findet er
mit der Veröffentlichung des ersten Sonderheftes im März 2014, das sich aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven mit dem Verhältnis von Diskurs, Interpretation
und Hermeneutik befassen wird. Die kontinuierlich steigende Zahl der bei uns eingereichten Manuskripte belegt eine erfreuliche Resonanz des Zeitschriftenprojektes und
zeigt an, dass die Institutionalisierung der Diskursforschung im deutschsprachigen
Raum, die sich ja bereits auf einige stabile Tagungs- und Netzwerkprojekte, auch auf
Buchreihen in den Sprach- und Sozialwissenschaften stützen kann, weiter voranschreitet. Ein wesentlicher Schritt dazu leistet sicherlich auch der neue Augsburger Masterstudiengang Sozialwissenschaftliche Diskursforschung, der im Oktober 2013 an den Start gegangen ist und unserer Kenntnis nach als erster deutschsprachiger Studiengang auf diesem Gebiet gelten kann. Dort werden mit starken Forschungsorientierungen auf die lokal
vertretenen Forschungsgebiete unterschiedliche sozialwissenschaftliche Zugänge zu Diskurstheorien und empirischer Diskursforschung vermittelt.
Das vorliegende Heft stellt Beiträge aus den Politikwissenschaften, der Soziologie und
der Linguistik vor, die deutlich unterstreichen, dass Diskursforschung ein Gebiet mit differenzierten Positionen und Vorgehensweisen darstellt, die weit davon entfernt sind, als
abgeschlossene und ein für allemal konventionalisierte Perspektiven gehandhabt zu werden. Zunächst befasst sich die Politologin Claudia Brunner aus der Perspektive der Postcolonial Studies mit dem wissenssoziologischen Begriff der Seinsverbundenheit des Denkens und Wissens. Sie knüpft dabei an feministische, post- und dekoloniale Traditionen
an, welche die Situiertheit jeglicher Wissensproduktion ins Zentrum stellen. Eine entlang
dieser Perspektiven weiterzuentwickelnde Wissenssoziologie wird, so die Autorin, in ihren andro- und eurozentrischen Prämissen herausgefordert, aber auch als gesellschaftskritisches Programm für die Problematisierung globaler Ungleichheitsverhältnisse gestärkt.
Der Beitrag skizziert dazu aktuelle post- und dekoloniale Interventionen in das Feld der
(deutschsprachigen) Soziologie, stellt das Konzept der Körper- und Geopolitik des Wissens vor und erörtert Wege zu einer potenziellen Dekolonisierung von Wissen(schaft).
Aus soziologischer Perspektive diskutiert dann Dominik Schrage einige in den letzten
Jahren formulierte Positionen zum Stellenwert von Methode und Methodologie in der
Diskursforschung. Dabei beschränkt sich der Beitrag auf ausgewählte, in Kontrast zueinander stehende Positionen in der deutschsprachigen Debatte, anhand derer recht unterschiedliche Auffassungen über das Wie und Warum der Diskursforschung deutlich werden. Schrage geht hierbei davon aus, dass eine Reduktion der Debatte auf ein »Pro« oder
»Contra« von Methode und/oder Methodologie verdeckt, dass auf beiden Seiten recht
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Editorial
heterogene Auffassungen bezüglich der Vorgehensweisen und der Begründung von Diskursforschung bestehen. Vor diesem Hintergrund macht der Autor den Vorschlag, Methodologie von Diskursanalysen nicht ausgehend von theoretischen Festlegungen bezüglich der Einheit der Diskursforschung zu diskutieren, sondern bei den Einheiten selbst
anzusetzen, in denen Diskursforschung faktisch betrieben wird und deren unterschiedliche Macharten dabei zu berücksichtigen.
Daran anschließend stellt Jürgen Spitzmüller aus linguistischer Perspektive eine Variante der sprachwissenschaftlichen Diskursanalyse vor, die sowohl in der Germanistischen Diskurslinguistik als auch in der interdisziplinären Diskursforschung bislang wenig bekannt ist: die soziolinguistische Sprachideologieforschung bzw. Metapragmatik.
Spitzmüller diskutiert in seinem Beitrag die zentralen Konzepte dieses Ansatzes, zeigt,
wie die diskursive Aushandlung von (kommunikativen) Ideologien und die Verfestigung
ideologischer Konzepte damit analysiert und modelliert wird, erörtert soziopragmatische Funktionen von Sprachideologien und exemplifiziert die theoretischen und methodischen Erläuterungen an einem linguistischem Fallbeispiel: der Erfindung der ›Internetsprache‹ als diskursiv-interpretativem Phänomen.
Im darauf folgenden Beitrag beschäftigen sich Sebastian Haunss, Matthias Dietz und
Frank Nullmeier aus politikwissenschaftlicher Perspektive an einem empirischen Beispiel
mit einem neuen Vorschlag zur Diskursanalyse politischer Prozesse. Sie beziehen sich
dazu auf den von der deutschen Bundesregierung im März 2011 im Anschluss an das unmittelbar vorangegangene Reaktorunglück von Fukushima beschlossenen Atomausstieg.
Während den Autoren zufolge traditionelle politikwissenschaftliche Theorien an einer
plausiblen Erklärung dieses derart plötzlichen Politikwandels scheitern, ist eine solche
aus diskursanalytischer Perspektive möglich. Hierzu nutzen Haunss, Dietz und Nullmeier die Methode der Diskursnetzwerkanalyse, um den diskursiven Stabilisierungsprozess von politischen Forderungen zur Atom- und Energiepolitik in der medialen Öffentlichkeit zwischen März und Juli 2011 zu untersuchen. Im Zentrum der Argumentation
steht die These, dass die schnelle Durchsetzung der Ausstiegsforderung sich mit Hilfe der
drei Faktoren Akteurszentralität, Konsistenz und Zusammenhalt der Diskurskoalition sowie diskursive Schwäche der Opposition erklären lässt.
Die Germanistin Karin Böke rezensiert anschließend in einem längeren Buchessay
den von Ekkehard Felder und Marcus Müller im Jahr 2009 herausgegebenen sprachwissenschaftlichen Band »Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse
des Forschungsnetzwerkes »Sprache und Wissen««. Darin wird ein breites Spektrum germanistisch-sprachwissenschaftlicher Positionen vorgestellt, die sich im Kontext des Heidelberger Forschungsnetzwerkes »Sprache und Wissen – Probleme öffentlicher und professioneller Kommunikation« mit dem Verhältnis von Wörtern und Wissen beschäftigen
und dabei viele Schnittstellten zu sozialwissenschaftlichen Fragestellungen der Diskursforschung deutlich machen. Ein Bericht der Soziologin Anina Engelhardt und des Kulturwissenschaftlers Markus Riefling zur interdisziplinären Frühjahrstagung der Sektion
Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), die unter dem Titel
»Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit – Interdisziplinäre Perspektiven einer
wissenssoziologischen Diskursforschung« mit sehr großer Publikumsbeteiligung am
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21. und 22. März 2013 an der Universität Augsburg stattfand, beschließt, neben einer Ankündigung des ersten Symposiums zum einhährigen Bestehen der Zeitschrift, das Heft.
Hinweise zur jederzeit möglichen Einsendung von Beiträgen, Tagungsberichten, Ankündigungen etc. entnehmen Sie bitte der entsprechenden Rubrik oder der Homepage
der Zeitschrift (www.uni-augsburg.de/zfd).
Erneut wünschen wir Ihnen eine anregende Lektüre.
Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver im August 2013
Anschriften:
Prof. Dr. Reiner Keller
Lehrstuhl für Soziologie
Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät
Universität Augsburg
Universitätsstraße 10
86159 Augsburg
reiner.keller@phil.uni-augsburg.de
Prof. Dr. Werner Schneider
Lehrstuhl für Soziologie/Sozialkunde
Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät
Universität Augsburg
Universitätsstraße 10
86159 Augsburg
werner.schneider@phil.uni-augsburg.de
PhD Willy Viehöver
Lehrstuhl für Soziologie
Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät
Universität Augsburg
Universitätsstraße 10
86159 Augsburg
wilhelm.viehoever@phil.uni-augsburg.de
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Claudia Brunner
Claudia Brunner
Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik
des Wissens‹
Politisch-epistemische Überlegungen zur Zukunft der
Wissenssoziologie
Zusammenfassung: Ausgehend vom wissenssoziologischen Begriff der Seinsverbundenheit knüpft
dieser Text an feministische, post- und dekoloniale Traditionen an, die die Situiertheit jeglicher Wissensproduktion ins Zentrum stellen. Eine entlang dieser Perspektiven weiterentwickelte Wissenssoziologie
wird zwar in ihren andro- und eurozentrischen Prämissen herausgefordert, aber auch als gesellschaftskritisches Programm für die Problematisierung globaler Ungleichheitsverhältnisse gestärkt. Es werden
aktuelle post- und dekoloniale Interventionen in das Feld der (deutschsprachigen) Soziologie skizziert,
Walter Mignolos Konzept der Körper- und Geopolitik des Wissens vorgestellt sowie Wege zu einer potenziellen Dekolonisierung von Wissen(schaft) erörtert.
Schlagwörter: Kolonialität des Wissens, Geopolitik des Wissens, Postkoloniale Theorie, Dekolonisierung, Androzentrismus, Eurozentrismus, Wissenssoziologie, Seinsverbundenheit
Summary: In this text, I argue that the sociology of knowledge will both be challenged and strengthened when being confronted with feminist, post- and decolonial perspectives across the field of sociology
and beyond. The example of Walter Mignolo’s concept of a body- and geopolitics of knowledge and a
discussion of recent interventions into German sociology offer ways to reconsider the premises and programme of a sociology of knowledge. Acknowledging that (scholarly) knowledge and power have been
asymmetrically organized on a global scale since the period of European colonialism and imperialism,
reflections about the (im)possibilities of a decolonization of knowledge complete my considerations.
Keywords: coloniality of knowledge, geopolitics of knowledge, postcolonial theory, decolonization, androcentrism, eurocentrism, sociology of knowledge, positionality
1. Einleitung1
»Vor der Wissenssoziologie liegt ein weites, offenes Feld empirischer Probleme«, zitiert
Reiner Keller am Ende seiner Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
(WDA) Peter L. Berger und Thomas Luckmann (Keller 2005, S. 319). Nicht nur empirische, möchte ich daran anschließen, sondern auch methodologische, theoretische, episte1
Für intensive Diskussionen und nützliche Überarbeitungsvorschläge danke ich herzlich Helmut
Krieger und Magdalena Freudenschuß, für das interdisziplinäre Lernen von und mit der WDA
danke ich Reiner Keller, für die stets freundliche und kompetente redaktionelle Unterstützung auf
dem Weg vom eingereichten Vortragsabstract zum fertigen Aufsatz Saša Bosančić und Matthias
Klaes.
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mologische sowie politische Fragen sind an das wissenssoziologische Denken und Tun zu
richten, um dieser produktiv unbequemen Perspektive gerecht zu werden. Gerade die zuletzt genannte Dimension, die wissenschaftliche als politische, wird unter WissenschaftlerInnen jedoch nicht gern selbstreflexiv geführt, riskiert man damit doch, als unwissenschaftlich diskreditiert oder allzu deutlich in einer bestimmten Positionierung erkennbar
zu werden. Dies gilt nicht nur für Personen, sondern auch für wissenschaftliche ›Schulen‹, Traditionen und Organisationsformen, die sich, wie mir scheint, nur ungern grundlegend in Frage stellen (lassen), weil damit so manche zuvor unsichtbare Prämisse des Erfolgs ins Blickfeld gerät. Zugleich ist es gerade die Anerkennung dieser Positioniertheit,
Situiertheit, und Seinsverbundenheit, die spätestens seit Karl Mannheim (Mannheim
1931; Keller 2005, S. 27 ff.) eine der stärksten Wurzeln der Wissenssoziologie selbst darstellt und es ermöglicht, den historischen, sozialen und politischen Kontext jeglichen
Wissens als für eben dieses Wissen konstitutiv zu thematisieren. Dies hat dementsprechend auch für die Wissen(schaft)ssoziologie2 selbst zu gelten, die ich zum Gegenstand
meiner Überlegungen mache, um sie in ihrer andro- und eurozentrischen bzw. (post)kolonialen »Ordnung des Eigenen« (Reuter 2002, S. 9) zu thematisieren.
Von der im Titel genannten starken Wurzel der Seinsverbundenheit ausgehend und
zu ihr zurückkommend versuche ich in diesem Beitrag, Verbindungen zu anderen epistemologischen Verwurzelungen herzustellen, die die Standortgebundenheit jeglichen
Wissens zum Ausgangspunkt ihrer Analyse und Kritik machen: feministische, post- und
dekoloniale Positionen. Sie können, so mein Argument, die Wissenssoziologie in Theorie und Praxis grundlegend herausfordern, schließlich aber in streitbarem Polylog und in
»partiellen Allianzen« (Maasen 2009, S. 88) produktiv zu deren Stärkung beitragen. Dieser Text fasst also weder empirische Ergebnisse einer konkreten diskursanalytischen Untersuchung zusammen noch beansprucht er, ein abgeschlossenes Theoriegebäude zu
präsentieren. Vielmehr geht es mir um eine Intervention in das Feld der Wissenssoziologischen Diskursforschung.3 Dieses hat nicht zuletzt dank Reiner Kellers Arbeit an und
mit der WDA im deutschsprachigen Raum in den vergangenen Jahren eine Kanonisierung im Feld der Soziologie sowie zugleich eine weit über die Disziplin hinaus reichende
Verbreitung erfahren, wie zahlreiche Tagungen, Netzwerke und Publikationen zeigen.4
Die hier geäußerte Kritik an einem Feld, einer Perspektive, das für meine wissenschaftliche Arbeit zu Fragen an der Schnittstelle von politischer und epistemischer Gewalt
2
3
4
Wenn eine wissenssoziologische Betrachtung auf die Wissenssoziologie oder die WDA selbst angewendet wird, ist gewiss von Wissenschaftssoziologie zu sprechen. Für das hier dargelegte Argument
nehme ich keine weiteren Abgrenzungen vor, sondern verwende die Begriffe wechselseitig, je nachdem, was damit gemeint ist.
Ich spreche von Diskursforschung und nicht von Diskursanalyse. Dieser Begriff bringt den prozesshaften Charakter der WDA und ähnlicher Zugänge meines Erachtens besser auf den Punkt als
die Bezeichnung Analyse es tut, die immer auch auf eine gewisse methodische Eindeutigkeit hoffen
lässt, die jedoch nicht existiert (Brunner 2011, S. 45).
Ausnahmsweise sei hier auf das Online-Portal Wikipedia verwiesen, da es für die Verbreitung der
WDA steht und zugleich zahlreiche weitere Verweise bietet: de.wikipedia.org/wiki/Wissenssoziologische_Diskursanalyse (Abruf 11.6.2013).
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Claudia Brunner
zentral geworden ist, versteht sich also als Beitrag zu deren Weiterentwicklung, getragen
von produktivem Zweifel (Hitzler/Honer 1997, S. 23 ff.). Das erkenntnisleitende Ziel ist
dabei entsprechend der genannten Zugänge ein dezidiert politisches: die vertiefte Analyse von und darauf aufbauende Kritik an globalen und miteinander in Verbindung stehenden gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen.
Dafür, so mein Argument, muss man die Wissenschaften selbst als für diese Machtasymmetrien konstitutives Element thematisieren und sollte auf die Stärken der Wissenssoziologie nicht verzichten. Dieses Verständnis von Analyse und Kritik ist zugleich auch
der starke gemeinsame Nenner, der den hier diskutierten Traditionen inhärent ist. Reiner
Kellers Anliegen, die WDA weiter zu entwickeln, kann ich nur zustimmen. Neben der
von ihm betonten Ausdehnung in Richtung Interdisziplinarität und Dispositivforschung
(Keller 2012, S. 66) plädiere ich für eine Konfrontation der euro- und androzentrischen
wissenssoziologischen Debatten mit Analysen der anhaltenden (Post)Kolonialität des
(hier vor allem wissenschaftlichen) Wissens und ihrer globalen Implikationen. Dies muss
jedoch unter Anerkennung der Tatsache geschehen, dass diese Begegnung nicht auf Augenhöhe stattfinden kann, da ihre gegenseitige Rezeption asymmetrisch verläuft. Letztere sind bislang keineswegs in den Zentren der (Wissens)Soziologie verankert, wo die
Ressourcen über deren weitere Entwicklung verhandelt und eingesetzt werden. Binnenwissenschaftliche Ungleichheitsverhältnisse (die durchaus in Relation mit politischen zu
sehen sind) verstehe ich also nicht als von ihrer eigenen wissen(schaft)ssoziologischen
Bearbeitung abgetrennt. Vielmehr ist letztere auch integraler Bestandteil der Aufrechterhaltung unterschiedlicher Asymmetrien von Wissen und Macht – und zugleich auch potenzieller Ort von Veränderbarkeit, wie uns Wissenssoziologie und Diskursforschung
lehren. Die Relevanz der Beziehung zwischen Standpunkt und Standort gilt dementsprechend auch für den vorliegenden Text, weshalb ich im Folgenden einige für die hier diskutierte Fragestellung relevante Verortungen explizit mache, die meine eigene Sprechposition und ihren Kontext konstituieren. Wenn ich dabei selbstreflexive Schleifen über den
»menschliche[n] Faktor« (ebd., S. 33) einziehe, Verweise auf die Enstehungskontexte dieser Argumentation selbst mache oder auf scheinbare Nebensächlichkeiten fokussiere, ist
dies als ausdrücklicher Teil der hier dargelegten Perspektive bzw. als Illustration meines
Arguments selbst zu verstehen.
2. Randnotizen zur diskursiven Konstruktion wissenssoziologischer
Wirklichkeit
Als Politikwissenschaftlerin mit Gender-Studies-Sozialisation und Blick auf Internationale Beziehungen, die mit wissen(schaft)ssoziologischer Agenda in der Friedens- und
Konfliktforschung tätig und im umfassenden Sinne an ›Gewalt‹ interessiert ist, richtet
sich mein Forschungsinteresse auf Zusammenhänge zwischen politischer Gewalt einerseits und epistemischer Gewalt andererseits (Brunner 2011, 2012). Letztere bezeichnet
jenen Beitrag zu gewaltförmigen gesellschaftlichen Verhältnissen, die im Wissen selbst,
in seiner Genese, Ausformung, Organisationsform und Wirkmächtigkeit, angelegt
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Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹
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sind.5 Damit befinde ich mich an der Schnittstelle bereits marginalisierter Forschungsfelder und -traditionen. Insofern spreche ich gewissermaßen von einigen Rändern aus,
die über weniger symbolisches Kapital verfügen als die von dort aus wissenssoziologisch
adressierten Ziele. Nichtsdestotrotz ermöglichen mir meine (sozial)wissenschaftliche
Sozialisation und die institutionelle Verortung an einer Universität eine partiell privilegierte Position innerhalb der existierenden Wissensproduktionsverhältnisse einzunehmen und von dort aus zu sprechen/schreiben. Oder, um es mit den Worten Deepika
Bahris auszudrücken: »We are complicitous in the same exploitative modes of production we are so privileged as to be able to academically criticize« (Bahri 1995, S. 77).
Der Kontext der Entstehung dieses Texts kann dafür als Beispiel dienen. Er basiert auf
dem Vortrag »›Geo/Politiken des Wissens‹. Postkoloniale und feministische Positionen
im Dialog mit wissenssoziologischer Diskursforschung«, den ich am 21. März 2013 als
eine der Keynote Lectures bei der Tagung der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie an der Universität Augsburg gehalten habe. Diese durchaus
privilegierte Sprechposition macht mich zum Teil jenes Settings, das ich in meinem Vortrag einer Kritik unterzogen habe. An zwei visuell-diskursiven Manifestationen lässt sich
der Euro- und Androzentrismus des Feldes, von dem aus ich mein Argument betreffend
die Geo- und Körperpolitik des Wissens entwickle, veranschaulichen. Zum ersten ist es
die Webseite der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie,
der Gastgeberin selbst, die diese Problematik auf eindrückliche Weise visuell repräsentiert. Dort werden acht Portraitfotografien von für das Feld der Wissenssoziologie zentralen wissenschaftlichen Persönlichkeiten gezeigt.6 Wenig überraschend sind diese Personen allesamt männlich, weiß und nicht weniger als geschätzte 60 Lebensjahre alt. Um
zu erkennen, um wen es sich dabei handelt, mit welchen Standorten und Standpunkten
man es also in der Wissenssoziologie zu tun hat, muss man bereits in das Feld sozialisiert
sein und an ihm mit ExpertInnenstatus teilhaben, denn die Selbstverständlichkeit des
zur Schau gebotenen wissenssoziologischen Selbstverständnisses erachtet namentliche
Benennungen oder weitere Hinweise zu den gezeigten Personen als nicht erforderlich.
Eine durchaus sympathische, jedoch in dieser Tradition verbleibende, (Selbst)Ironisierung ist auf dem Flyer zur erwähnten Tagung zu sehen. Auch auf dem kleinen Blatt, das
mit dem Motto »[l]et’s construct a social party!!!« zum musikalisch-tänzerischen Ausklingen der Veranstaltung einlädt, bleibt man visuell-repräsentativ unter sich.7 Was für
5
6
7
Bislang liegt kein ausgearbeitetes Konzept des vielfältig genutzten Begriffs »epistemic violence«
(Spivak 1988) vor. Dies ist das Ziel meines aktuellen transdisziplinären Forschungsvorhabens mit
dem Arbeitstitel »Theorizing Epistemic Violence« an der Schnittstelle von Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung und Wissenssoziologie. Mehr dazu siehe Humboldt Chancengleich
(Dezember 2012, S. 22 f.).
Siehe www.wissenssoziologie.de (Abruf 29.5.2013). Als nicht hauptberufliche Wissenssoziologin
habe ich mir (Danke an Manuela Boatcă) bei der Lösung des Rätsels helfen lassen. Es handelt sich
um Max Weber, Émile Durkheim, Karl Mannheim, Max Scheler, Thomas Luckmann, William Isaac
Thomas, Alfred Schütz und Michel Foucault.
Siehe www.philso.uni-augsburg.de/de/lehrstuehle/soziologie/sozio1/wda_tagung/Datei/WDA_
Feier_Flyer.pdf (Abruf 29.5.2013). Die abgebildeten Personen sind Reiner Keller an den Plattentellern sowie Thomas Luckmann, Michel Foucault und Peter L. Berger.
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Claudia Brunner
die Tagung selbst titelgebend war, nämlich »[d]ie diskursive Konstruktion von Wirklichkeit«, geschieht hinsichtlich der euro- und androzentrischen Wirklichkeit der deutsch(sprachig)en Wissenssoziologie u.a. auch über diese beiden Artefakte, die hier nur als
Anekdote dienen sollen, um mein politisch-epistemologisches Argument betreffend eine
Erweiterung des wissenssoziologischen Blicks auf globale Zusammenhänge in der
sozialen Realität des Lokalen zu verankern. Selbst wenn nun beispielsweise Frauen in
privilegierte Sprechpositionen gelangen, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie in den
Repräsentationen, d.h. in den diskursiven Konstruktionen der in diesem Kontext relevanten Wirklichkeit, als für diese Wirklichkeit konstitutive und sie repräsentierende Elemente vorkommen. Aus feministischer Sicht ist dies keine neue Erkenntnis (Singer 2005),
doch sie muss meines Erachtens so lange wiederholt werden, bis signifikante Umverteilungen unterschiedlicher »Kapitalsorten« (Bourdieu 1982) eingetreten sind. Dies gilt
in noch viel größerem Ausmaß für nicht-weiße Personen oder People of Color, die in
deutschsprachigen Wissenschaftsräumen ungeachtet ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung, der Studierenden und auch der zumindest jüngeren Generation von WissenschaftlerInnen weitgehend unsichtbar und damit auch ungehört bleiben.8
Dieser Umstand allein stellte jedoch ein geringeres Problem dar, würden in den weißen,
überwiegend andro- und eurozentrisch markierten Sprechpositionen eben diese Seinsverbundenheit in Bezug auf das von dort aus artikulierte, spezifisch verkörperte und situierte Wissen, seine Entstehungs- und Bearbeitungsbedingungen selbst problematisiert
und etwa zum Thema einer Tagung gemacht. Im Umkehrschluss bedeutet eine beispielsweise von einer schwarzen Frau eingenommene Sprechposition ja auch nicht notwendigerweise eine geopolitisch bewusste oder feministische Positionierung, denn mein Argument ist zwar auch, aber nicht primär jenes der Inklusion von mehr ›Anderen‹ in die wissenssoziologische und/oder diskursforschende Community der wissenssoziologischen
›Eigenen‹. Vielmehr geht es mir um die Anerkennung und Bearbeitung der Tatsache,
dass die eigenen Erkenntnis-, Sprech- und Handlungspositionen erstens nicht zufällig
die jeweils privilegierten sind, sondern das Ergebnis systematischer Exklusionsmechanismen auf der Ebene der Wissenschaften, ihrer Theorien, Methoden, Epistemologien
und Organisationsformen selbst. Und zweitens ist das gesellschaftliche Subsystem Wissenschaft nicht von jenen politischen Asymmetrien zu trennen, die sich in 500 Jahren kolonialer und imperialer Dominanz Europas herausgebildet haben (Quijano 2010). Das ist
gemeint, wenn dem dekolonialen Theoretiker Fernando Coronil daran gelegen ist, »einen
Blick auf den Zusammenhang zwischen Beobachteten und Beobachtenden zu ermöglichen, zwischen den Produkten und der Produktion, zwischen dem Wissen und dem
Ort seiner Entstehung« (Coronil 2002, S. 184), oder wenn die postkoloniale Feministin
8
Unter den SprecherInnen der Tagung war meiner Beobachtung zufolge keine einzige zu finden, und
nur ganz vereinzelt unter den sonstigen TeilnehmerInnen. Ähnliches gilt auch in Bezug auf Behinderung und/oder Klassenherkunft und andere wirkmächtige Kategorisierungen, die eine Etablierung im wissenschaftlichen Feld erleichtern oder erschweren. Dies ist spätestens seit Pierre Bourdieus Werk keine Neuigkeit für SoziologInnen, kann aber meines Erachtens nicht oft genug erwähnt
werden, um die permanente Reproduktion akademischer und sonstiger Eliten sowie die Universalisierung von deren Selbstverständlichkeiten in Erinnerung zu behalten.
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Situiert und seinsverbunden in der ›Geopolitik des Wissens‹
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Meyda Yeğenoğlu feststellt, dass die dominante Struktur des Selbstverständlichen, weil
Hegemonialen, erst dann erschüttert werden kann, wenn das Andere und die Andersheit
im Herzen eben dieses Subjekts (Yeğenoğlu 1999, S. 8), also in den epistemologischen,
theoretischen und methodologischen Prämissen der (Wissens)Soziologie selbst, verortet
werden.
Mein Plädoyer für eine feministische, post- und dekoloniale Selbstreflexion des Feldes mit dem Ziel seiner potenziellen Stärkung wird durch die genannten visuellen Manifestationen selbst durchaus nahe gelegt. Es fundiert argumentieren zu können, verdankt
sich auch einer Entwicklung in den letzten Jahren, die den Eurozentrismus der Soziologie
im Allgemeinen und der deutschsprachigen Soziologie im Besonderen thematisiert und
dabei die nachhaltige (Post)Kolonialität des Funktionssystems Wissenschaft erkennbar
macht.9 Worum es dabei geht und inwiefern diese Kritik für mein Argument nützlich ist,
wird im Folgenden dargelegt.
3. Standards, Standorte, Standpunkte
Ich gehe von der Annahme aus, dass es zwischen den genannten Perspektiven – Wissenssoziologie einerseits und feministische, post- und dekoloniale Theorien andererseits –
potenziell mehr Überschneidungen gibt, als mit primär (wissens)soziologischer Brille
bislang sichtbar ist. Als zentrale Schnittstelle aller genannten Zugänge erachte ich die Fokussierung auf die Seinsverbundenheit und Situiertheit des Wissens. Darüber hinaus halten alle Richtungen auch beträchtliche Herausforderungen füreinander bereit, die bislang noch nicht systematisch ausgearbeitet worden sind. Ein Problem dabei ist die äußerst asymmetrische Auseinandersetzung mit den jeweils ›anderen‹ Zugängen. Während
sich feministische, post- und dekoloniale Empirie und Theorien seit Jahrzehnten intensiv
mit diskursforschenden und auch wissenssoziologischen Zugängen auseinandersetzen
und diese für sich selbst fruchtbar zu machen wissen, kann in umgekehrter Richtung
nicht von einer qualifizierten Kenntnisnahme gesprochen werden. Sexualität und Geschlecht entdeckt man in der Wissenssoziologie ebenso wie ein geopolitisch informiertes
Verständnis der Kategorie Raum bestenfalls als Variablen an ihren empirischen Rändern,
jedoch kaum im Zentrum ihrer theoretischen oder gar epistemologischen Überlegungen. Wenn überhaupt, dann tauchen sie in Fußnoten (warum man sich jetzt darum nicht
auch noch kümmern könne) oder in Form allgemeiner Verweise (anstatt ganz konkreter
Zitations- und damit auch Anerkennungs- und Sichtbarkeitspraktiken) auf – kaum jedoch als zentrale Kategorien diskursforschenden und/oder wissenssoziologischen Arbei9
Als aktuelle einführende Werke für post- und dekoloniale Soziologie sind für die internationale Debatte z.B. Rethinking Modernity: Postcolonialism and the Sociological Imagination (Bhambra 2007),
Decolonizing European Sociology (Gutiérrez Rodríguez/Boatcă/Costa 2010) und Postcolonial Sociology (Go 2013) und für die deutsch(sprachig)e Postkoloniale Soziologie (Reuter/Villa 2010) zu
nennen. Allgemeiner sozialwissenschaftlich orientierte Werke in deutscher Sprache sind etwa einführend Castro Varela/Dhawan (2005) und Kerner (2012), speziell zu Fragen der Method(ologi)en
Kaltmeier/Corona Berkin (2012), noch breiter disziplinär angelegt etwa Reuter/Karentzos (2012).
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tens. Auch die Sprechenden/Schreibenden selbst sind überwiegend Angehörige einer
Mehrheitsgesellschaft, deren für intellektuelle/akademische Sprechpositionen vorgesehene Variablen nicht gerade von signifikanter Diversität geprägt sind, wie oben genannte
Beispiele illustrieren, und deren euro- und androzentrische Spezifik – weil Norm und damit unsichtbar – auch kaum zur Debatte steht. Eine Fokussierung auf die Situiertheit und
Seinsverbundenheit von Wissensproduktion ist also zwar in der Theorie die Basis jeglicher wissenssoziologischen Perspektive. Deutlich schwächer ausgeprägt als im Hinblick
auf die jeweiligen Untersuchungsgegenstände ist dieser Fokus in der Praxis allerdings,
sobald es um die eigene Erkenntnisposition geht. Wenn die gesellschaftliche Bedingtheit,
die Situiertheit, die Standortge- oder Seinsverbundenheit von wissenschaftlicher Erkenntnis in der Soziologie thematisiert wird, dann geschieht dies, so Julia Reuter (2012,
S. 302), zumeist nicht in ihren (post)kolonialen oder vergeschlechtlichten Bezügen, sondern eher in ihrem eigenen intellektuellen Feld, das ein weißes, europäisch-nordamerikanisches, bürgerliches und weitgehend männliches in den Metropolen der westlichen
Welt war und ›affirmative action‹10 zum Trotz immer noch ist.
Oder noch pointierter, auch hinsichtlich kritischer und selbstreflexiver Wendungen
innerhalb des Feldes der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften: Der ›cultural turn‹
öffnet den Blick nicht notwendigerweise für die geopolitischen Asymmetrien der Wissensverhältnisse selbst; der ›spatial turn‹ ist zumindest innerhalb der deutsch(sprachig)en Sozialwissenschaften keiner, der den sozialen Nahraum, das Territorium des Nationalstaats oder (West)Europas verlässt oder als Zentrum hegemonialer Wissensproduktion problematisiert; und auch dem jüngsten ›visual turn‹ kann in seinen konkreten Umsetzungen in der deutsch(sprachig)en Soziologie – gemessen an den Kriterien feministischer, post- und dekolonialer Perpektiven – eine gewisse Tendenz zur Kurzsichtigkeit
attestiert werden. Die Selbstverständlichkeit eines »methodologischen Nationalismus«
(Beck/Grande 2010) der Sozialwissenschaften ist jedoch nicht in erster Linie das Ergebnis methodischer Nachlässigkeit, intentionaler Ignoranz oder von praktischen Lektüredefiziten Einzelner, sondern vielmehr die anhaltende Konsequenz einer zutiefst androzentrischen (Ernst 1999; Hausen/Nowotny 1986; Haraway 1988; Harding 1991), okzidentalistischen (Coronil 2002; Dietze/Brunner/Wenzel 2009) und eurozentrischen (Conrad/Randeria 2002; Quijano 2010) sowie strukturell rassistischen (Harding 1993; Mills
1997) bzw. weißen (Collins 1990; Wollrad 2005) Verfasstheit der Wissenschaften selbst.11
Diese nicht nur zu dekonstruieren, sondern zu dekolonisieren ist das Anliegen dekolonialer Theorie, die gegenwärtig erstmals eine starke Rezeption auch im deutschsprachi10 Der englische Begriff bringt meines Erachtens angemessener zum Ausdruck, worum es dabei geht
als der deutsche Begriff ›positive Diskriminierung‹, der eine Nivellierung asymmetrischer Machtverhältnisse mit sich bringt. Strukturell Privilegierte werden nicht diskriminiert, wenn strukturell
Diskriminierte eine Unterstützung erfahren. Schließlich ist diese Unterstützung immer noch vor
dem Hintergrund von weiter existierenden Ungleichverhältnissen zu bewerten.
11 Zu den genannten Perspektiven existiert eine Vielzahl wichtiger Publikationen, die hier nicht genannt werden können. Als Einführung in diese Debatten, deren Schnittstellen und Potenziale siehe
Singer (2005). Zu einer neueren Verortung postkolonialer Genderforschung siehe Hornscheidt
(2012).
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gen Raum erfährt und von dort verorteten kritischen SozialwissenschaftlerInnen in den
letzten Jahren intensiv diskutiert wird.
So wie feministische und/oder Queere Theorie sich nicht mit der Berücksichtigung
einer Variable Geschlecht oder Sexualität zufrieden gibt, sondern vielmehr die Thematisierung von tief verwurzeltem Androzentrismus und ebensolcher Heteronormativität
in Form adäquater Untersuchungskategorien und anderer Theorien und Epistemologien
sowie Wissenschaftspraktiken einfordert, strebt post- und dekoloniale Soziologie nichts
weniger an als die Dezentrierung, Dekonstruktion und perspektivisch die Dekolonisation des impliziten Universalismus, der impliziten Teleologie der soziologischen Modernisierungstheorien, die weite Teile der Sozialwissenschaften explizit und implizit konstituieren. Der wichtige Unterschied zwischen Dekonstruktion und Dekolonisation liegt
nach Manuela Boatcă und Sérgio Costa im angestrebten Ergebnis der jeweiligen
Kritikprojekte: Während postmoderne Dekonstruktion von der Vorstellung geleitet ist,
dass ihr ein potenziell gleichberechtigtes und als konfliktfrei gedachtes Nebeneinander
autonomer Sphären folgt, verfolgen dekoloniale Perspektiven das Ziel des Sichtbarmachens von Verbindungen und Asymmetrien zwischen als gleichrangig erscheinenden
Entitäten, um deren strukturelle Asymmetrie zu problematisieren und sie in Folge auch
potenziell neu organisieren zu können (Boatcă/Costa 2010a, S. 15). Daher sprechen sie
auch nicht gern von einem allzu schnell ins Treffen geführten ›postcolonial turn‹, sondern fordern vielmehr einen klaren Blick auf den massiven ›colonial turn‹, der der Institutionalisierung der Soziologie und der Etablierung anderer Wissenschaften als imperiale Herrschaftsinstrumente vorausging (ebd., S. 14). Sie und viele andere arbeiten an
einer »Provinzialisierung Europas« (Chakrabarty 2010), die herauszuarbeiten versucht,
»welche Rolle die wissenschaftlichen Disziplinen im Rahmen kolonialer Herrschaft
gespielt haben und wie diese (neo-)koloniale Episteme und materielle Beziehungen reproduzier(t)en« (Castro Varela/Dhawan 2009, S. 9).
Reiner Kellers Worte über eine »neue Grammatik der individuellen und kollektiven
Verantwortlichkeit«12 (Keller 2005, S. 275) weiter ausbuchstabierend könnte dies bedeuten, dass sich wissenssoziologische Diskursforschung im Zuge ihrer jüngsten interdisziplinären Ausdehnung von eben jenen bislang wenig gehörten Stimmen dazu heraus- und
auffordern lässt, eine solche Verantwortlichkeit auch hinsichtlich für die Wissenssoziologie als ›neu‹ erscheinender, d.h. noch nicht umfänglich expliziter Kategorien durchzudenken: Geschlecht einerseits und geopolitischer Raum andererseits.13 Insbesondere letztere
Kategorie führe ich im übernächsten Abschnitt am Beispiel von Walter Mignolos Konzept
der Geo- und Körperpolitik des Wissens aus, um mein Hauptargument die geopolitische
Situiertheit und Seinsverbundenheit der Wissenssoziologie betreffend weiter auszuführen. Zuvor diskutiere ich jedoch zentrale jüngere sozialwissenschaftliche Arbeiten
im/aus dem deutschsprachigen Raum, die vor allem im Anschluss an TheoretikerInnen
12 Im Original kursiv.
13 Selbstverständlich sind prinzipiell auch andere Kategorien wie Klasse oder Ability (Degele/Winkler
2009; Walgenbach et al. 2007) als Erweiterung denkbar. Für mein Argument zentral soll hier aber
vor allem geopolitischer Raum berücksichtigt werden.
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mit Bezügen nach Indien und Lateinamerika für eine post- und dekoloniale Soziologie
eintreten, die diese Geo- und Körperpolitik zum Ausgangspunkt eines neuen Paradigmas macht.
4. Wissenssoziologische Ex- und Importe
Die Wissenssoziologie ist seit ihren Anfängen stark in der deutsch(sprachig)en soziologischen Tradition beheimatet und hat sich von dort aus internationalisiert. Für postkoloniale Soziologie, die erst allmählich ›hier‹ ankommt, ist gerade das Gegenteil der Fall: Sie
hat noch keinen festen Ort mit deutsch(sprachig)em Türschild, ist aber international viel
weiter vorangeschritten als dies ›hier‹ bekannt ist. Im Gegensatz zur Situation der ehemaligen kolonialen Großmächte Großbritannien und Frankreich, wo sich die Soziologie
aufgrund ihres dort stärker problematisierten kolonialen Erbes intensiver mit ihrem eigenen Anteil an der Geschichte von Expansion und Ausbeutung beschäftigt, wurde postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum bis vor wenigen Jahren kaum als relevant
erachtet (Castro Varela/Dhawan 2005, S. 7). Innerhalb der deutschsprachigen Soziologie
– die allerdings einen großen Teil der Entwicklung der Soziologie insgesamt geprägt hat
–, so Manuela Boatcă und Sérgio Costa, gelten postkoloniale Perspektiven somit als »Importe dritten Grades« (Boatcă/Costa 2010b, S. 73): erstens aus der kultur- und literaturwissenschaftlichen Tradition, zweitens aus dem englischsprachigen Raum und drittens
aus einem als nachkolonial und damit abgeschlossen verstandenen Kontext (ebd.). Gerade das – abgeschlossen – ist die Kolonialität des Wissens und der Macht jedoch nicht.14
Mit ihrer Kritik an einem Herzstück der Entstehung und Etablierung der Soziologie
selbst – der Moderne als partikularisiertem Universalismus im Gefolge der kolonialen
und imperialen Expansion Europas – stellt post- und dekoloniale Theorie also durchaus
eine Herausforderung für die (Wissens)Soziologie dar.
In den letzten Jahren haben Stimmen aus diesem Spektrum zumindest temporär relevante Sprechpositionen innerhalb des sozialwissenschaftlichen Feldes einnehmen
können, sodass es angesichts zunehmender Publikationstätigkeit immer schwieriger
wird, diese – bezeichnenderweise überproportional vielen Frauen sowie Personen mit
nicht primär/ausschließlich deutscher Herkunft – zu ignorieren. Die in die Thematik
einführenden Bände15 arbeiten überzeugend daran, die Soziologie und ihre ausdifferen14 Damit ist bezeichnet, dass die politisch-epistemischen Folgen dieser historischen Phasen noch anhalten und in der Gegenwart Wirkung haben. D.h., auch wenn z.B. Kolonialismus als politische Organisationsform im engeren Sinne seit Mitte des 20. Jahrhunderts als weitgehend überwunden gilt,
sind ehemals kolonisierte ebenso wie ehemals kolonisierende Gesellschaften immer noch von einem tief verwurzelten Zustand der (Post)Kolonialität geprägt, die in Wissens- und Machtformen bis
heute wirksam sind. Dies ist auch der Ausgangspunkt, von dem aus die hier vorgestellten Zugänge
auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Vehemenz für »dekoloniale Optionen«
(Kastner/Waibel 2012, S. 7) eintreten.
15 Für die Soziologie siehe Castro Varela/Dhawan (2005), Reuter/Villa (2010), Gutiérrez Rodríguez/
Boatcă/Costa (2010); für breiter sozialwissenschaftlich angelegte Einführungen siehe Reuter/KaBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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zierten Subfelder mit post- und dekolonialen Perspektiven zu konfrontieren, um die
nachhaltige (Post)Kolonialität des Wissens auch innerhalb der Zentren der Wissensproduktion zu thematisieren, zu problematisieren und zu analysieren. Übergeordnetes
Ziel dieses Zugangs ist es nicht zuletzt, mittels Analyse und Kritik zu einer möglichen
Überwindung von lokal und global miteinander verflochtenen Ungleichverhältnissen
beizutragen. Ausgangspunkt ist dabei die Erkenntnis, dass z.B. Soziologie und Ethnologie sowie weitere Sozialwissenschaften wie etwa Ökonomie und Politologie im Kontext
der Herausbildung europäischer Nationalstaaten im 19. Jahrhundert verstanden werden
müssen, und damit auch in den kolonialen und imperialen Bezügen einer 500 Jahre alten
Geschichte von Expansion durch Ausbeutung (Reuter 2002). Während Ethnologie, Anthropologie und Fremdsprachenphilologien respektive Regionalwissenschaften16 ihr zunehmendes Interesse an Lebensformen und Organisationsweisen in außereuropäischen
Gesellschaften in kanonisierten Wissensformen etablieren konnten, Ökonomen17 die
Sphäre des Marktes und Politologen jene des Staats zu ihrem Gegenstand machten (Wallerstein 2004), wandte sich die Soziologie im Zuge ihrer Professionalisierung den sozialen Wandlungsprozessen, Institutionen und Dynamiken innerhalb westlicher Industriegesellschaften zu, ohne jedoch deren enge Verwobenheit mit Entwicklungen im ›globalen Süden‹ in die Analyse zu integrieren. Mit einer post- und dekolonial fundierten
Veränderung des (wissens)soziologischen Blicks hingegen wird jegliche universal(istisch)e
Wissensformation als partikulare und bruchstückhafte erkennbar, und die Notwendigkeit ihrer Dezentrierung tritt deutlich zutage. Gemeinsam sorgten die genannten (und
weitere) Disziplinen damit für die Durchsetzung von Ordnung und Herrschaft im Innen- wie im Außenverhältnis, die nur in Übereinstimmung mit der Etablierung und Anwendung autoritativen und in diesem Kontext notwendigerweise eurozentrischen Wissens gelingen konnte. Wie alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist somit auch die
Soziologie, um die es für eine wissenssoziologische Reflexion hier in erster Linie geht, als
Disziplin auf Engste mit dem Kontext ihrer Genese verknüpft, mit der europäischen Moderne, die gerade dadurch zu einer universalisierten aufsteigen konnte, da sie ihre
»dunkle« oder »Unterseite« (Dussel 2003) höchst konsequent und erfolgreich aus ihrem
analytischen Repertoire auszuschließen wusste (Boatcă/Costa 2010b, S. 72 f.). Das bedeutet beispielsweise, so Manuela Boatcă und Sérgio Costa in ihrem programmatischen
Aufsatz zur Dekolonisierung der Soziologie, dass trotz paralleler Praxis und Erfahrung
rentzos (2012), Kerner (2012), Quintero/Garbe (2013); speziell zu Methodenfragen siehe Kaltmeier/Corona Berkin (2012). Als aktuelle einführende Werke für post- und dekoloniale Soziologie
in der internationalen Debatte siehe Bhambra (2007) sowie Go (2013).
16 Zur Etablierung der sozialwissenschaftlich dominierten ›area studies‹ nach Gesichtspunkten der
Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und deren Kontinuitäten und Transformationen gegenüber
den im 19. Jahrhundert etablierten fremdsprachigen Philologien siehe das erstaunlich wenig rezipierte Kapitel Orientalism Now in Edward Saids berühmtem Werk Orientalism (Said 1994, S.
284−328).
17 Hier verwende ich bewusst die männliche Form, da diese Disziplinen sich erst sehr spät Frauen
öffneten, bis heute maskulin und androzentrisch sind und für die Phase ihrer Herausbildung der
Hochschulzugang für Frauen ohnedies noch in weiter Ferne lag.
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jener Nationen, die an Sklavenhandel, Ausbeutung von Ressourcen und am Aufstieg des
gerade erst durch diese beiden Faktoren expandierenden Kapitalismus zentral beteiligt
waren, gerade nicht diese und ähnliche Phänomene Eingang in die Schlüsselbegriffe,
Theorien, Methodologien, Epistemologien und Organisationsformen der Soziologie gefunden haben. Was hingegen für die Erfolgsgeschichte der Moderne und damit auch für
ihre Leitdisziplinen konstitutiv gesetzt und gemacht wurde, waren die glänzend polierten
Seiten der (französischen) Aufklärung, der (britischen) industriellen Revolution oder der
(im deutschsprachigen Raum zu verfolgenden) Rationalisierung von Religion (ebd.).
Diese drei von den AutorInnen gewählten Länderbeispiele sind auch nicht zufällig, sondern stellen jene Bezugsräume innerhalb Westeuropas dar, die für die Herausbildung
und Fortschreibung der Soziologie als Disziplin bis heute konstitutiv sind, wie auch die
eingangs erwähnte Ahnengalerie der Wissenssoziologie zeigt.
Anders formuliert bedeutet dies, dass keiner der für das Selbstverständnis moderner
Sozialwissenschaften (und auch ihrer VorläuferInnen) zentralen Begriffe wie z.B. Fortschritt, Moderne, Rationalität, Universalität, Zivilisation, Entwicklung etc. außerhalb der
global asymmetrisch organisierten Unterwerfung, Ausbeutung und Dominanz steht, zu
deren Entfaltung und Anwendung europäische Wissenschaften als Werkzeuge der kolonialen und imperialen Expansion Europas maßgeblich beigetragen haben. Dies ist jedoch nicht primär ein Fall für WissenschaftshistorikerInnen, sondern betrifft jegliche
sozialwissenschaftliche Arbeit an Wissens-Macht-Verhältnissen. Schließlich begleiten
uns diese Begriffe in modifizierter Form auch bis heute, wenn mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Expertise im Außenverhältnis eines immer noch nationalstaatlich geprägten Paradigmas humanitäre Interventionen legitimiert, Entwicklungspolitiken installiert oder im Innenverhältnis Sicherheitsdispositive normalisiert und Migrationsregime organisiert werden. Post- und dekoloniale sowie intersektionale (Degele/Winkler
2009) oder interdependente (Walgenbach et al. 2007) feministische Zugänge fordern
genau diese Normalität und Unsichtbarkeit heraus (Hornscheidt 2012). Sie tun es jedoch
nicht nur in den je konkreten Manifestationen von Ungleichheit bei gleichzeitiger Behauptung allgemeiner Gültigkeit, um konkrete politische Ungerechtigkeits- und Ungleichheitsverhältnisse zu thematisieren, sondern auch in den erkenntnistheoretischen
Grundfesten des gesamten Gedankengebäudekomplexes euro- und androzentrischer
Wissensformationen. Damit steht auch das ›System‹ Wissenschaft selbst auf dem Prüfstand insbesondere post- und dekolonialer Perspektiven. Exemplarisch führe ich im Folgenden das Konzept der »Geopolitik des Wissens« von Walter Mignolo (2002, 2011,
2012) näher aus, in dem sich viele der genannten Kritiken bündeln lassen.
5. Die Geopolitik des Wissens und die Matrix der Kolonialität
Encarnación Gutiérrez Rodríguez weist darauf hin, dass eine angemessene Dekolonisierung der euro-amerikanischen Soziologie von dort ausgehen müsse, wo geopolitischer
Raum, Sexualität und Geschlecht im Kontext von Macht und Wissen bereits seit langem
diskutiert und auch theoretisiert werden: Black Feminism (Collins 1990; Davis 1981;
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hooks 1984; Lorde 1984) und Chicana Feminism (Anzaldúa 1987; Sandoval 2000), jeweils partiell auch von queer-theoretischen Zugängen durchquert, die die Verkörperung
von Wissen, dessen Situiertheit und Einbettung in asymmetrische Macht-, Herrschaftsund auch Gewaltverhältnisse zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen erklären (Gutiérrez Rodríguez 2010). Diese und ähnliche Zugänge werden in der gegenwärtigen Debatte
– allerdings eher implizit als explizit, wenn es um Geschlechterfragen geht – genutzt, um
die bestehende »koloniale Matrix« (Mignolo 2012, S. 137) globaler Macht-Wissens-Verhältnisse auszubuchstabieren.18 Diese Matrix konstituiert sich entlang von zwei Achsen.
Zum einen handelt es sich dabei um eine »global wirksame und eurozentrierte soziale
Klassifikation von Bevölkerung nach rassistischen Merkmalen« (Garbe 2013, S. 40), die
wiederum von Feministinnen als um die sexuelle/vergeschlechtlichte Klassifikation erweitert gedacht wird. Zum anderen wird diese Achse ergänzt durch die auf eben dieser
rassifizierten (und vergeschlechtlichten) Klassifikation basierende globale Arbeitsteilung
sowie durch die Integration aller Produktionsweisen in den globalen kapitalistischen
Markt (ebd., S. 41). Die zentralen Bereiche, über die diese Dynamik ihre nachhaltige
Wirksamkeit entfaltet hat, sind nach Aníbal Quijano und Edgardo Lander19 erstens die
Privatisierung und Ausbeutung von Land und Arbeitskraft (unter anderem durch die
rassistische Kategorisierung von Menschen), zweitens die Kontrolle der Autorität (auch
durch militärische Mittel), drittens die Kontrolle von Geschlecht und Sexualität (durch
das Christentum als Stützpfeiler des frühen Kolonialismus), viertens die Kontrolle der
Subjektivität (durch den christlichen Glauben ebenso wie später durch die Idee der Säkularität von Subjekt und BürgerInnenschaft) sowie die Kontrolle von Erkenntnis (durch
die Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen) und fünftens die Kontrolle von Natur
und Ressourcen aller Art, inklusive geistigen Eigentums (Mignolo 2012, S. 142 f.). Mit
Mignolos eigenen Worten gesprochen bilden die genannten »fünf Ebenen der kolonialen
Matrix« (ebd., S. 144) innerhalb einer rassistischen Klassifizierung sowie einer normativen patriarchalen Ordnung »jene besondere Struktur, die die Verbindung von Erkenntnis
und Kapital ab dem 16. Jahrhundert annahm« (ebd., S. 145).
Die »Kolonialität der Macht« (Quijano 2000; Garbe 2013) und die »Kolonialität des
Wissens« (Lander 2000; Germaná 2013) sind also nicht voneinander zu trennen, haben
sich die Wissenschaften doch in eben jenem epistemisch-politischen Gefüge von Kolonialität und Imperialität entwickelt und dieses zugleich mit hervorgebracht. Zentral für das
jahrhundertelange Funktionieren dieser Ko-Konstitution von universalisierendem/universalisierten Wissen und global asymmetrisch organisierten Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist – und nun komme ich wieder zu meinem Argument der geteilten
Wurzeln zwischen Wissenssoziologie und dekolonialer Theorie – die Behauptung des
18 Das heißt, wann immer post- und dekoloniale Perspektiven Eingang in neue Wissensfelder finden,
tun sie dies auch auf den Schultern vieler queerer und feministischer VorgängerInnen, die dann aber
oft unbenannt bleiben, wenngleich die Blickrichtungen ›von unten‹ einander punktuell sehr ähnlich
sind. Selbstverständlich gibt es auch vielfache Differenzen und Kritiken aneinander oder Ignoranzen voneinander, doch hier geht es mir um die geteilte Blickrichtung der unterschiedlichen Perspektivierungen von Seinsverbundenheit und Situiertheit.
19 Nach Mignolo sind die ersten vier Punkte auf Quijano zurückzuführen und der fünfte auf Lander.
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von Santiago Castro-Gómez sogenannten »Null-Punktes der Beobachtung« (CastroGómez 2005, S. 8), der den Standort der Wissensartikulation selbst unsichtbar macht.
Dass eine solche Objektivitätsbehauptung nur der Durchsetzung einer ganz spezifischen
Wissensform unter der Voraussetzung einer dominanten Machtposition zu verdanken
ist, haben WissenssoziologInnen ebenso wie zahlreiche kritische Theorien auf Basis unterschiedlicher zentraler Kategorien (Geschlecht, Sexualität, Klasse, ›Rasse‹ etc.) längst
nachgewiesen (Singer 2005), Feministinnen »the god trick« (Haraway 1988) und
RassismustheoretikerInnen eine »epistemology of ignorance« (Mills 1997, S. 18) genannt.
In Bezug auf das geopolitische Erbe eurozentrischer Wissensformationen und seiner bis
in die Gegenwart reichenden Folgen ist diese Erkenntnis jedoch bislang nicht weit verbreitet. Die seit 500 Jahren bestehende und zugleich höchst dynamische Verwobenheit
dieses ignoranten Tricks mit einem globalen politischen Gefüge imperialer Expansion
dank Ausbeutung kann mit Walter Mignolos Begriff der Geo- bzw. Körperpolitik des
Wissens, der im wissenschaftlichen wie politischen Kontext des lateinamerikanischen
Forschungskollektivs Modernidad/Colonialidad20 zu verorten ist (Quintero/Garbe 2013),
sehr treffend benannt werden.
Mit ihm, so Sabine Broeck, ist nicht nur die oben erläuterte Intention verbunden, »die
Paradigmen westlicher, weißer postaufklärerischer Moderne(n)« zu durchqueren, sondern auch jene, eine dekoloniale Alternative zu erarbeiten (Broeck 2012b, S. 168). Eine
grundsätzlich begrüßenswerte genderreflektierte Sprechweise oder die simple Anrufung
von transkultureller Hybriditiät bedeuten noch nicht die Anerkennung feministischer,
schwarzer, diasporischer oder postkolonialer epistemischer Agenz, die im Sinne einer
von Mignolo so genannten »epistemologischen Entkoppelung« (Mignolo 2012, S. 45) zur
Erosion westlicher, eurozentrischer Kultur- und Wissenshegemonie beitragen kann
(Broeck 2012a, S. 293 f.). Ebenso führt nach Sabine Broeck die adjektivisch-additive Nennung von race/class/gender oftmals eher ins gewissenberuhigende neutrale Abseits als in
eine eindeutige Kritik an Verhältnissen von Herrschaft und Ungerechtigkeit, die nach
wie vor das westliche Weiße (nicht nur, aber überwiegend) männliche Subjekt des Wissens und der Tat privilegieren – und damit auch bestimmte, dominante Formen von Wissenschaft prägen (ebd.). Erforderlich ist den hier kursorisch benannten Perspektiven
zufolge eine tief greifende Konfrontation mit jener Körper- und Geopolitik des Wissens,
in der wir als WissenschaftlerInnen selbst verortet sind und ohne deren grundlegende
Anerkennung keine Dekolonisierung möglich ist. Denn Walter Mignolo zufolge sind
»[d]ie Paradigmen der eurozentrischen Erkenntnis […] an einen Punkt angelangt, an
dem ihre eigenen Prämissen auf sie selbst angewandt werden müssten, ausgehend von
einem Arsenal an Konzepten, Visionen und Energien, die im Triumphzug des okz20 Sebastian Garbe fasst dessen Eckpfeiler wie folgt zusammen: die Ko-Konstituierung von Moderne
und Kolonialität in und seit der Eroberung Amerikas 1492; die Überschneidung von Kolonialismus,
kapitalistischem Weltsystem und Moderne als weltweites machtasymmetrisches Modell und kapitalistischer Akkumulationsform; die Betrachtung der Moderne als weltweites Phänomen; die Fokussierung auf weltweit soziale Ungleichheiten, Subalternisierungsprozesse, ungleiche soziale Klassifizierungen und Fremdbestimmungen; der Eurozentrismus als moderne/koloniale Wissens-, Repräsentations- und Reproduktionsform (Garbe 2013, S. 40).
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identalen konzeptuellen Apparats zum Schweigen gebracht oder gar nicht erkannt wurden.« (Mignolo 2012, S. 167).
6. Un/Möglichkeiten einer epistemischen Dekolonisierung
Ob und wie es gelingen kann, die Kolonialität der Macht und die mit ihr eng verwobene
Kolonialität des Wissens zu destabilisieren und an ihrer statt anderes zu etablieren, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Forderung nach einer Inklusion subalterner
und marginalisierter Wissensformen steht zugleich der Vorbehalt entgegen, dass es nach
einem halben Jahrtausend globaler Durchsetzung der euro- und androzentrischen Moderne schwierig sei, sich jenseits von deren zentralen Denkformen und Organisationsstrukturen zu verorten (Santos 2005, S. 206). Nichtsdestotrotz sind Programme wie Walter Mignolos ›Denken an/auf der Grenze‹ (Mignolo 2012) oder Linda Tuhiwai Smiths
Plädoyer für ein ›researching back/writing back/talking back‹ durch Marginalisierte
(Smith 1999) wesentliche Elemente einer angestrebten Dekolonisierung des Wissens.
Diese soll die Wissensformen multiplizieren (Kaltmeier 2012, S. 22), die intellektuelle
Arbeitsteilung mittels einer anderen Wissenschaftspolitik und -ethik neu organisieren
und »von der Ausbeutung zur dialogischen Lektüre« (ebd., S. 30) gelangen. Unstrittiger
ist der Versuch, in epistemologischer, theoretischer, methodischer und überhaupt jeglicher nur möglichen Hinsicht auf die Verbindungslinien und »geteilten Geschichten«
(Randeria 1999) zu fokussieren, anstatt auf den gewohnten Trennungen zu beharren, die
das euro- und androzentrische Wissenschaftsmodell so erfolgreich durchgesetzt hat.
Eine seit langem auch in der feministischen Forschung bestehende Forderung ist die
der »methodischen Inversion« (Kreisky 1995, S. 89). Dies bedeutet anzuerkennen, dass
etwa die Kategorien Geschlecht und geopolitischer Raum nicht erst an einen Untersuchungsgegenstand herangetragen werden müssen, um dann bestenfalls als Variablen Berücksichtigung zu finden, sondern ihm bereits eingeschrieben und daher grundlegend
als für das jeweilige Wissen konstitutiv sind. Durch diese (Denk)Bewegung des Zentrierens vermeintlicher Marginalien können dominante Paradigmen schließlich dezentriert
werden. Die genannten Möglichkeiten deuten nur ansatzweise das Spektrum der Debatte
über die Un/Möglichkeiten einer epistemischen und damit auch politischen Dekolonisierung an.
Worin sich diese und andere Stimmen jedoch einig sind, ist die Feststellung, dass es
höchst an der Zeit für eine vielstimmige Kritik der Epistemologien, Theorien, Methodologien, Organisationsformen und Arbeitsteilungen der Sozialwissenschaften und damit
auch der Soziologie sei, die auf einer erneuten Reflexion der Situiertheit jeglicher Wissensproduktion auch hinsichtlich der Kategorie geopolitischer Raum basiert und schließlich in einer grundlegend veränderten Wissenschafts- und Forschungspolitik auch im
globalen Verhältnis resultieren soll. Diese Vielstimmigkeit soll keine beliebige der ›üblichen Verdächtigen‹ der Wissenssoziologie sein, sondern muss notwendigerweise Stimmen aus dem globalen Süden und andere Minorisierte und Marginalisierte inkludieren,
die sich diese Sprechpositionen hartnäckig erkämpfen müssen. Wenn dabei EssentialisBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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men und allzu kurz gedachte Verbindungen zwischen Standorten und Standpunkten in
grundsätzlich dekonstruktive Programme zurückkehren, dann kann diesen nach Gayatri
C. Spivak auch eine mittelfristige strategische Funktion eingeräumt werden. Solange die
grundlegenden epistemisch-politischen Fragen nicht breit diskutiert werden, ist auch die
Abarbeitung einer politisch korrekten Methodencheckliste weder ausreichend noch
sinnvoll (Franzki/Aikins 2010, S. 24). Olaf Kaltmeier nennt dennoch drei Aspekte, die
aus methodologischer, epistemologischer und schließlich politischer Sicht für eine Dekolonisierung von Wissen(schaft) unverzichtbar sind: erstens Selbstreflexivität in Bezug auf
die (Post)Kolonialität des Wissens und die Verortung der eigenen Position darin, zweitens die Anerkennung einer impliziten Vielstimmigkeit jeglicher Forschung sowie die
explizite Förderung von kollektiven Formen der Wissensgenerierung unter systematischer und nicht-paternalistischer Berücksichtigung vormals ungehörter Stimmen, und
drittens schließlich das Eingeständnis, dass jedes Forschungsvorhaben auch ein politischer Akt in einem durchaus veränderbaren (geo)politischen Gefüge ist (Kaltmeier 2012,
S. 40 f.).
Wissenssoziologische Perspektiven, so mein Argument, sollten an einer solchen
Grundsatzdebatte über die kolonial und imperial geprägte Geo- und Körperpolitik des
Wissens und ihrer potenziellen Transformation besonders interessiert sein, ist ihr Gegenstand doch das Wissen selbst – und damit auch dessen Verwissenschaftlichung, die
wiederum die Wissen(schaft)ssoziologie als disziplinär verortetes Feld beschäftigen
sollte. Eine post- und dekoloniale Vertiefung der Wissenssoziologie, so denke ich, fordert
diese einerseits zwar in einigen ihrer Grundannahmen substanziell heraus. Andererseits
bedeutet sie möglicherweise eine produktive Ausdehnung ihrer Reichweite und nicht zuletzt eine Stärkung ihrer Relevanz als kritische gesellschaftswissenschaftliche Subdisziplin, wenn es ihr gelingt, die ihren Prämissen zutiefst eingeschriebene Geo- und Körperpolitik des Wissens zugunsten einer dekolonialen und radikal demokratischen Erneuerung der Wissenschaften umzuschreiben.
7. Fazit
»Jenseits affirmativer Forschung, die in ihren Analysen bestehende Deutungen zusätzlich stützt, sollte das kritische Hinterfragen gesellschaftlich anerkannter Definitionen von Wirklichkeit das Kernanliegen unabhängiger [Betonung C.B.] Sozial- und
Kulturwissenschaften bleiben. Nichts sollte sie von dieser Art des Denkens und Forschens abhalten, vor allem nicht über den Stoff, aus dem diese Disziplinen selbst gewoben sind: dem Wissen.« (Kajetzke 2008, S. 162)
Ich stimme dieser Intention grundsätzlich zu und versuche, meinen Beitrag dazu zu leisten, auch wenn zahlreiche wissenschaftspolitische Entwicklungen – Stichwort neoliberale Universität/corporate university (Broeck 2012a) – uns davon immer erfolgreicher
abzuhalten vermögen. Die Auseinandersetzung mit feministischen, post- und dekolonialen Kritiken an unterschiedlichen Formen epistemischer Gewaltförmigkeit in historiBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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schen und gegenwärtigen Wissenschaftspraktiken verunmöglicht es mir aber, den Begriff der Unabhängigkeit unmarkiert stehen zu lassen. Auch wenn sich kritische WissenschaftlerInnen gerade in der zunehmenden Deregulierung des Bildungssektors und in
der sich normalisierenden Verwertungslogik von Wissenschaft für weitgehende Unabhängigkeit wissenschaftlicher Forschung (und Lehre ebenso wie Organisationsformen)
immer wieder neu einsetzen müssen, muss uns klar sein, dass jede wissenschaftliche Tätigkeit notwendigerweise immer historisch und politisch verortet, also nie unabhängig
im Sinne einer allgemein gültigen, autoritativen Objektivität und Losgelöstheit von Genese, Kontext und Verwertungszusammenhang sein kann. Die normalisierten Positionen sind die privilegierten, während das Privileg durch seine Normalisierung unsichtbar
gemacht wird. Die Erkenntnis über die Universalisierung ganz spezifischer Partikularitäten auch im Feld der Wissenssoziologie sollte uns skeptisch machen angesichts wiederkehrender Kanonisierungen des Mainstreams und bisweilen wohlmeinender, aber zumeist unbenannter und wenig folgenreicher Inklusionen an dessen Rändern.
Uns die prinzipielle und unvermeidbare Situiertheit und Seinsverbundenheit des
Wissens unter den hinsichtlich globalisierter Macht-Wissens-Verhältnisse zentralen Dimensionen der Körper- und Geopolitik sowie der (Post)Kolonialität des Wissens zu
vergegenwärtigen, diese in ihren intersektionalen und interdependenten Dimensionen
zu analysieren und infolgedessen über Möglichkeiten der Dekolonisierung nachzudenken, kann mit dem Verlernen oder gar der Aufgabe von Privilegien einher gehen – oder
aber mit ihrer bewussten Nutzung, um Räume für Gesellschaftskritik wieder zu erweitern, zu stärken, zu einer Selbstverständlichkeit wissenssoziologischer Betätigung werden
zu lassen. Dass dies nicht widerspruchs- und kampflos vonstatten gehen kann, liegt auf
der Hand – nicht zuletzt deshalb, weil die Frage nach der Situiertheit und Seinsverbundenheit von Wissen innerhalb einer geopolitisch und nach neoliberalen Kriterien asymmetrisch organisierten ›Wissensgesellschaft‹ nicht nur eine Frage der Repräsentation
und des symbolischen Kapitals, sondern auch von Eigentumsverhältnissen im ganz materiellen Sinne ist (Kaltmeier 2012, S. 39). Dass ein solcher selbstreflexiver und Konflikte
antizipierender Zugang kein innerhalb einer Förder- oder Funktionsperiode erreichbares
und quantifizierbares Ergebnis verspricht, sondern vielmehr einen mit Deprivilegierungen verbundenen Prozess innerhalb einer bewussten »Politik der Epistemologie«
(Coronil 2002, S. 182) darstellt, muss uns ebenfalls klar sein. Doch »[w]enn die Erkenntnis ein imperiales Instrument der Kolonialisierung ist, dann ist die Dekolonialisierung
der Erkenntnis eine der dringlichsten Aufgaben« (Aníbal Quijano, zit. in: Mignolo 2012,
S. 48). Diese Aufgabe für wissenssoziologische Zusammenhänge auszuarbeiten, zu
konkretisieren und umzusetzen liegt noch vor uns.
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Anschrift:
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Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik
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A-9020 Klagenfurt
claudia.brunner@uni-klu.ac.at
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
246
Dominik Schrage
Dominik Schrage
Die Einheiten der Diskursforschung und der
Streit um den Methodenausweis
Ein Kartierungsversuch
Zusammenfassung: Der Beitrag vergleicht einige in den letzten Jahren formulierte Positionen zum
Stellenwert von Methode und Methodologie in der Diskursforschung. Er beschränkt sich dabei auf eine
Auswahl in maximalem Kontrast zueinander stehender Positionen in der deutschsprachigen Debatte,
anhand derer recht unterschiedliche Auffassungen über das Wie und Warum der Diskursforschung
deutlich werden. Auf der einen Seite steht der Anspruch, ihre Methodologie müsse in umfassende Forschungsprogramme eingebettet sein und könne nur so die in den Sozialwissenschaften üblichen Standards erfüllen (Abschnitt 1). Auf der anderen Seite gibt es auch Positionen, die sich gegenüber einer
»Methologisierung« der Diskursforschung kritisch äußern (Abschnitt 2). Der Beitrag sucht diese Frage
nicht abschließend zu beantworten, er zeigt vielmehr auf, dass eine Reduktion der Debatte auf ein »Pro«
oder »Contra« von Methode und/oder Methodologie verdeckt, dass auf beiden Seiten recht heterogene
Auffassungen über das Wie und Warum von Diskursforschung herrschen.
Schlagwörter: Diskursanalyse, Methodologie, Foucault, kritische Diskursanalyse, Strukturalismus, Hermeneutik
Summary: The paper compares several positions that have been formulated, during the last years, on the
importance of methods and methodology in discourse analysis. It confines on some contrastive positions in the German debate in which different opinions on the how and why of discourse analysis become manifest. On the one hand it is claimed that its methodology should be embedded in extensive
research programs, and only by this the common standards in the social sciences can be fulfilled (part
1). On the other hand, there are positions that express criticism towards the »methodologisation« of discourse analysis (part 2). The paper does not try to find a final answer to this question, it instead shows
that reducing the debate on a pro or con of methods and/or methodology conceals that there are, on
both sides, quite different opinions on the how and why of discourse analysis.
Keywords: Discourse analysis, methodology, Foucault, critical discourse analysis, structuralism, hermeneutics
Diskursforschung ist erfolgreich – dafür spricht ihre Präsenz in den kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, Forschungsfeldern und Debatten, nicht zuletzt auch die
Existenz vorliegender Zeitschrift. Wer diskursanalytisch arbeitet weiß aber, dass wichtige
Bedingungen eines solchen Erfolges in der Wissensordnung liegen, in der die Gegenstände, Verfahrensweisen und theoretischen Prämissen der Diskursforschung Plausibilität erlangen – und das ist in erster Linie die auf unterschiedliche Disziplinen und Felder
verteilte akademische, genauer: sozial- und kulturwissenschaftliche Wissensordnung, in
der die Diskursforschung etablierte Ansätze und Perspektiven verdrängt, ergänzt oder
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis
247
auch nur reformuliert; aber auch, weitaus schwerer zu greifen, das, was man einmal den
Zeitgeist genannt hat.
Diskursanalytisch Informierten ist zugleich bekannt, dass Einheitlichkeit suggerierende Bezeichnungen – wie ›Diskursforschung‹ selbst – trügerisch sein können, da sie
divergierende Verständnisse, Ansprüche, Theoriereferenzen, Zugänge verdecken. Diese
können aus unterschiedlichen intellektuellen, disziplinären oder methodologischen Filiationen resultieren, in die Diskursforschung einrückt und in denen sie weiterentwickelt
wird – sie lassen sich aber auch auf den verschiedenen Stellenwert zurückführen, den der
Diskursbegriff und auf diesen bezogene Forschungsstrategien in konkreten Untersuchungen und für das sie jeweils leitende Erkenntnisinteresse einnehmen.
Solche divergierenden Positionen und Ansprüche sind inzwischen in einer Reihe von
Sammelbänden und Aufsätzen dokumentiert und auch in Debattenform miteinander
konfrontiert worden.1 Sie sind teilweise so heterogen, dass sie außer der Bezeichnung
›Diskurs‹ für in Schriftform vorliegendes, öffentlich verfügbares und gesellschaftlich relevantes Wissen sowie der Bezugnahme auf Michel Foucault wenig gemein zu haben
scheinen. In diesem Beitrag werden solche Verständnisse von Diskursanalyse zunächst
(1. und 2.) anhand ihrer jeweils unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Ansprüche
an die Diskursforschung sowie ihrer Anlage unterschieden und sodann (3.) ein Vorschlag formuliert, wie die Stellung von Methoden und Methodologien in der Diskursforschung produktiv diskutiert werden könnte.
Die einführend skizzierte Möglichkeit der Selbstanwendung beansprucht als Problemformulierung nicht, originell zu sein – sie drängt sich vielmehr auf, wenn von einem Diskursbegriff ausgegangen wird, der auf die Arbeiten Michel Foucaults rekurriert, darauf
wurde schon vielfach hingewiesen.2 Und das kann gegenwärtig zumindest in den deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften als kanonisch gelten – unabhängig davon,
ob die verschiedenen Ansätze der Diskursforschung beanspruchen, das Foucaultsche
Projekt fortzuführen oder in ihm liegende Beschränkungen zu überwinden, und auch
unabhängig davon, was genau als Kern dieses Projekts angesehen wird oder woher die
Kriterien kommen, die eine Überwindung von erkannten Defiziten anleiten. Denn
schließlich greifen auch diejenigen, die von einer »Foucault-Exegese« Abstand nehmen
möchten, weil sie im »vagabundierende[n] Denkstil Foucaults« einen wesentlichen
Grund für »Unklarheiten in der Diskurs- und Dispositivforschung« sehen (Bührmann/
Schneider 2008, S. 19 f.), trotzdem die von ihm geprägten Begrifflichkeiten auf; Foucault
fungiert also nach wie vor als eine zentrale Referenz für die Selbstverständigung von Diskursforschung. Gegensätzlich sind hingegen die Ziele und Erwartungen, welche mit ei1
2
Vgl. neben den im Literaturverzeichnis aufgeführten Bänden und Beiträgen auch das nächstes Jahr
erscheinende Kompendium des DFG-Netzwerks Methodologie und Methoden der Diskursanalyse
(2014), und die darin enthaltene Debatte mit Robert Feustel, Reiner Keller, Dominik Schrage, Juliette Wedl und Daniel Wrana. Auf sie gehen wesentliche Anregungen zu diesem Beitrag zurück.
Vgl. zur Diskussion der Analytik Foucaults im Lichte des Luhmannschen Autologiebegriffs und
dessen Beobachtungstheorie Diaz-Bone (2007) sowie auch Gebhard/Schröter (2007), deren Stoßrichtung sich indes stark unterscheidet.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
248
Dominik Schrage
ner Diskursforschung im Anschluss an Foucault verbunden werden: Ein Überblick über
einige ausgewählte, aktuell vertretene Positionen in der Diskursforschung offenbart dabei vor allem unterschiedliche Erkenntnisinteressen sowie verschiedene Ansprüche an
die methodische Absicherung und Dokumentation der Vorgehensweise.
Der Beitrag selbst beansprucht selbstverständlich nicht, eine richtiggehende Diskursanalyse der Diskursforschung vorzunehmen. Versucht wird vielmehr, einige in maximalem Kontrast zueinander stehende Positionen zu identifizieren, die im Feld bezüglich des
Stellenwerts von Methode und Methodologie in der Diskursforschung vertreten werden,
und zwar anhand der vorgebrachten Argumente sowie anhand wechselseitiger kritischer
Bezugnahmen. Damit kann sicherlich noch keine ›Karte‹ des Feldes der Diskursforschung gezeichnet werden, aber es können doch orientierende Dimensionen (›Himmelsrichtungen‹) angegeben werden, die zwar perspektivisch gefärbt, aber zugleich nicht vollständig von der eigenen im Feld vertretenen Position abhängig sind. Für eine richtiggehende Karte müssten zahlreiche hier nicht eingetragene Positionen ergänzt werden,
deren Auslassung – das sei ausdrücklich hervorgehoben – keine Aussage über Relevanz
oder Triftigkeit impliziert.
1. Methodologiezentrierte Forschungsprogramme
Als methodologiezentrierte Forschungsprogramme werden hier solche Positionen gefasst, die Diskursforschung als eine auf die Erhebung und Auswertung von Diskursmaterial fokussierte Forschungsstrategie konzipieren, die jeweils in ein weiter gefasstes, Theorie und Methodologie vermittelndes Forschungsprogramm eingebettet ist. Ausgewählt
habe ich – dem Prinzip der maximalen Kontrastierung folgend – Reiner Kellers Wissenssoziologische Diskursanalyse sowie Rainer Diaz-Bones strukturalistisch-epistemologischen Ansatz. Damit werden zwei Positionen kontrastiert, die zwar beide einen starken
Anspruch auf methodologische Explikation anmelden, sich ansonsten aber stark unterscheiden, vor allem in Hinblick auf die Stellung, die sie dem Werk Foucaults beimessen:
Sie vertreten, um zwei wesentliche Differenzen hervorzuheben, zum einen gegensätzliche Auffassungen über die Kombinierbarkeit der Diskursanalyse mit anderen Paradigmata – hier besonders dem hermeneutischen – und weisen Akteuren zum anderen eine
diametral gegensätzliche Stellung zu. Ihre methodologischen Ansprüche werden deshalb
nicht nur unterschiedlich begründet, sondern haben auch voneinander abweichende
Konsequenzen.
Reiner Keller konzipiert seine Wissenssoziologische Diskursanalyse als eine differenzierte und methodologisch reflektierte Vorgehensweise, die in ein – selbst nicht auf den
diskurstheoretischen Überlegungen Foucaults basierendes – wissenssoziologisches Forschungsprogramm eingebettet ist. Erklärtermaßen – und unter dieser Prämisse nachvollziehbar – ist es aber eben dieses Programm, von dem aus die Gegenstände konkreter Diskursanalysen bestimmt werden und aus dem sich das Design der Analysen ergibt. Deren
Vorüberlegungen entstammen also der hermeneutischen Wissenssoziologie, die bereits
über eine »Theorie der gesellschaftlichen Wissensproduktion« und eine »Theorie der inBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis
249
dividuellen, sozialisatorisch-intersubjektiv vermittelten Wissensaneignung« verfügt,
welche die Wissenssoziologische Diskursanalyse Kellers rahmt (Keller 2001, S. 117). Eine
solche Anlage macht auch verständlich, dass diese damit in die bislang etablierten Methoden der qualitativen Sozialforschung einrückt, denn das interpretative Paradigma ist
der wesentliche Bezugsrahmen der hermeneutischen Wissenssoziologie und bestimmt
zugleich einen Gutteil der aktuell diskutierten qualitativen Methoden. Das übergreifende
Erkenntnisinteresse, das die Wissenssoziologische Diskursanalyse anleitet, besteht dabei
vor allem darin, ein Defizit der hermeneutischen Wissenssoziologie auszugleichen. Es
besteht für Keller darin, dass die hermeneutische Wissenssoziologie von der »Erfahrungsperspektive einzelner Gesellschaftsmitglieder« ausgeht und dabei die in Diskursen
manifestierten dauerhaften und kollektiven Wissensbestände unterschätzt; sie ist also
von einem »anti-intellektuellen Impetus« getragen (ebd., S. 120 f.). Da das Ziel in einer
diskursanalytischen Erweiterung der hermeneutischen Wissenssoziologie liegt, wird verständlich, weshalb Keller in seinem Forschungsprogramm von »kollektiven Akteuren«
ausgeht, die in Form von Konflikten die »symbolischen Ordnungen der Gesellschaft
[produzieren]« (ebd., S. 126): Denn mit Hilfe der Diskursanalyse soll deren Fixierung auf
das Einzelbewusstsein überwunden werden.
Dies bedeutet allerdings eine entscheidende Modifikation der Foucaultschen Perspektive, die – zwar praxistheoretisch modifiziert, aber gleichwohl durchweg offensichtlich – mit durchaus strukturalistisch zu nennendem Impetus die Eigenlogiken der Diskursebene betont und sie – als »Ebene«, nicht bezogen auf die je einzelne Aussage – als für
Schreibende und Sprechende unverfügbar konzipiert hatte; diese Annahme eines Hiatus
zwischen dem Einzelbewusstsein respektive Alltagsverstand und dem Diskursiven ließe
sich aber mit dem interpretativen Paradigma kaum vereinbaren. Entsprechend grenzt
sich Keller von dem »allzu starken Akzent auf der Emergenz, Autonomie und Eigenwilligkeit der Wissensordnungen« bei Foucault ab und kritisiert dessen »polemisierende
Abgrenzung gegen Hermeneutik« (ebd., S. 124). Es kann deshalb nur eine entsprechend
modifizierte Diskursanalyse innerhalb der hermeneutischen Wissenssoziologie die Aufgabe übernehmen, »institutionell-organisatorisch objektivierte Wissensvorräte« zu untersuchen (ebd., S. 121).
Einen anderen Weg der Vermittlung diskursanalytischer Forschungspraxis mit den ihr
zugrundeliegenden theoretischen Vorannahmen und Begrifflichkeiten geht Rainer DiazBone. Während Keller, wie oben erläutert, die Diskursanalyse in ein etabliertes wissenssoziologisches Paradigma integriert, dem sie ihre theoretischen Annahmen entnimmt, plädiert Diaz-Bone erstens für einen »methodologischen Holismus« (Diaz-Bone 2006, S. 4
ff.) und fordert zweitens offensiv eine »Methodologisierung der Diskursanalyse«. Er beansprucht, ein den Arbeiten Foucaults selbst zugrundeliegendes, allerdings dort unzureichend ausformuliertes einheitliches, wissenschaftstheoretisch begründetes Programm rekonstruieren zu können, das Theorie, Methodologie und Methode umfasst und die diskursanalytische Untersuchungspraxis derart anzuleiten im Stande sei, dass sie als eine
»akzeptable sozialwissenschaftliche Methode« Anerkennung finden könne (ebd., S. 41).
Diaz-Bones Position bestimmt sich somit durch eine doppelte Abgrenzung: Zum einen richtet sie sich gegen Versuche, lediglich einzelne Bestandteile – Begriffe und methoBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
250
Dominik Schrage
dische Strategien – der Foucaultschen Diskursanalyse und -theorie in mit dieser unverbundenen theoretischen Forschungsprogrammen aufgehen zu lassen, wie dies etwa bei
Keller der Fall ist. Zum anderen positioniert sich Diaz-Bone gegen eine metaphysikkritische Lesart der Diskursanalyse in der Nachfolge des Derridaschen Dekonstruktivismus,
die den methodischen Standards der Sozialwissenschaft nicht genüge, weil sie die Gründe
für ihre Kritik selbst nicht reflexiv einholen könne (ebd., S. 2). Beiden Positionen wird
mit dem Postulat des »methodologischen Holismus« begegnet, der eine notwendige Einheit des gesamten Forschungsprozesses impliziert und dabei davon ausgeht, dass es in
»jeder empirischen Forschung ein Primat der Theorie gibt« (ebd., S. 4).3 Theorie wird
hier zur »Metaphysik der Methoden und die Trias von Theorie, Methodologie und Methode bildet einen ästhetischen Zusammenhang, weil letztere in ihren Formen und Prinzipien die Formen und Prinzipien der Theorie in sich wiederholen« (ebd., S. 6).
Die Theoriekerne dieser hinter der Diskursanalyse stehenden Theorie verortet DiazBone einerseits im strukturalistischen Bruch mit den Abbildungstheorien von Sprache
bei Ferdinand de Saussure (ebd., S. 14 ff.) und andererseits in der Epistemologie Gaston
Bachelards, die den Bruch mit alltagsweltlichen Anschauungen als Voraussetzung wissenschaftlicher Forschung ansieht (Diaz-Bone 2007, S. 14 ff.). Indem diese beiden Brüche als Prämissen der Foucaultschen Diskursanalyse angesehen werden, erscheinen sie
als Teil eines weit gefassten antiphänomenologischen Programms, in dem die Diskursebene unabhängig von akteursbezogenem Erleben, Deuten und Wollen konzipiert wird.
Über diese, durchaus auch bei Foucault zu findende Abgrenzung hinausgehend, formuliert Diaz-Bone den Anspruch, dass sich von diesen Kernen aus eine Theorie gewinnen
lasse, die die »Forschungspraxis von der Rahmung der Forschungsfrage über das Forschungsdesign bis hin zum konkretesten Zuschnitt einzelner Techniken und Methoden
genauso [durchdringt] wie die Weise der Interpretation (Hermeneutik)« (Diaz-Bone
2006, S. 6). Der damit formulierte Einheitsanspruch richtet sich sowohl gegen Versuche,
lediglich partielle Elemente und methodische Strategien der Diskursanalyse in paradigmatisch anders gelagerte Theorieprogramme einzubetten – und damit nicht zuletzt auch
gegen die Wissenssoziologische Diskursanalyse Reiner Kellers –, als auch gegen dekonstruktivistische Lesarten einer kritischen Diskursanalyse, sowie gegen alle nicht ebenfalls
methodologisch-holistisch argumentierenden Positionen.
2. Method(olog)isierungskritische Positionen
Der sowohl von Keller als auch von Diaz-Bone, aber auch von anderen Autorinnen und
Autoren (etwa Bührmann/Schneider 2008, S. 76) formulierte Anspruch, Diskursanalyse
habe sich nach den in den Sozialwissenschaften etablierten methodologischen Konventionen zu richten, ist nicht unwidersprochen geblieben. Die – vorsichtig formuliert – me3
Erkennbar bestimmt sich Diaz-Bones Verständnis der Bezeichnung »methodologischer Holismus«
nicht primär durch den Gegensatz zum »methodologischen Individualismus«, sondern in der Abgrenzung von einem Eklektizismus.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis
251
thodenskeptischen Positionen sind aber mindestens so unterschiedlich motiviert und
konturiert wie die beiden hier exemplarisch dargestellten Ansätze von Keller und DiazBone. So wenig also auf der einen Seite Einigkeit darüber herrscht, ob die Existenz der
Diskursanalyse im Feld der Sozialwissenschaften besser durch die Integration in ein
schon länger existierendes, etwa hermeneutisch-wissenssoziologisches Paradigma (Keller) oder durch die selbstbewusste Formulierung eines eigenen, Theorie, Methodologie
und Methodik umfassenden Einheitsprogramms zu erfolgen habe (Diaz-Bone), so wenig
gleichen sich die Gründe, Ansprüche und Motive derer, die diesen Vorhaben skeptisch
gegenüberstehen. Wie in den vorangegangenen Passagen hilft es auch hier, verschiedene
Bezugsebenen dieser kritischen Positionen zu unterscheiden. Sie werden, da weniger systematisch ausgearbeitet, dann deutlicher, wenn sie im Zusammenhang mit den jeweils
kritisierten Positionen sowie mit der von diesen geübten Kritik dargestellt werden.
Eine erste Position verweist – ausgehend von einem an Foucaults Arbeiten angelehnten
Verständnis von Diskursanalyse – auf Inkonsistenzen, die entstehen, wenn Foucaults Archäologie des Wissens und andere seiner nicht allzu zahlreichen methodologischen Reflexionen an etablierte Standards der Sozialwissenschaften angepasst werden. Ich will
diese – von mir selbst in einigen Aufsätzen bezogene – Position hier »operationalisierungsskeptisch« nennen (Schrage 1999, 2006).4 Sie impliziert keine, wie oft karikiert,
pauschale Ablehnung systematischen und kontrollierten Vorgehens im Forschungsprozess. Vielmehr richtet sie sich primär gegen die – auch in Teilen der qualitativen Sozialforschung bereits überwundene – Annahme, es sei möglich, eine Operationalisierung
diskursanalytischer Untersuchungsstrategien losgelöst vom jeweils zu untersuchenden
Gegenstand zu erreichen (Schrage 1999). Tatsächlich richtete sich in diesem Aufsatz die
programmatische und öfter zitierte Formulierung »Methoden-Kritik« gegen eine solche
Annahme, man könne Diskurse mit einer Methode untersuchen, die nicht die Möglichkeit vorhält, ihre eigenen theoretischen und analytischen Vorverständnisse in der Konfrontation mit dem empirischen Material in Frage zu stellen (Schrage 1999, S. 65).5 Das
ist, abzüglich der einheitswissenschaftlichen Semantik und dem damit einhergehenden
Primat der Theorie, nicht allzu weit entfernt von Diaz-Bones Anspruch, dass die »Strategie und Reflexion der Forschung […] die Prinzipien der Theorie in sich aufgreifen und
wiederholen muss« (Diaz-Bone 2006, S. 6) – mit dem Unterschied allerdings, dass für die
operationalisierungsskeptische Position der Forschungsprozess, im Sinne einer Konfrontation mit dem Diskursmaterial, und nicht die Theorie als »Metaphysik« des methodisch
4
5
Eingeräumt sei, dass die Unterscheidung zwischen der hier »operationalisierungsskeptisch« genannten und der weiter unten diskutieren »methodenausweisvermeidenden« Position nicht immer
trennscharf ist. Worauf es hier aber ankommt ist, dass die erste – von mir selbst eingenommene –
Position Diskursanalyse nicht als freihändiges Improvisieren ansieht, vgl. dazu weiter unten.
Nicht ist dort hingegen die Rede von Methodologie, wie Bührmann/Schneider meinen (2008, S. 76),
was vielleicht ein Defizit sein mag, aber doch einen Unterschied macht. Es sei damit auch gar nicht
behauptet, dass eine solche Infragestellung der eigenen Begrifflichkeiten tatsächlich in jeder diskursanalytischen Forschung erforderlich ist. Es mag aber einen Forschungsstil kennzeichnen, dass
gezielt Gegenstände ausgewählt werden, bei denen dies naheliegt.
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Dominik Schrage
kontrollierten Vorgehens prioritären Status erhält. In dieser Hinsicht soll die Formulierung »Methoden-Kritik« den Anspruch ausdrücken, dass der Bedarf an Methode und
Methodologie nicht abstrakt als Erfordernis eines einheitswissenschaftlichen Programms
postuliert, sondern im Forschungsprozess selbst bestimmt wird.6
Ähnlich wie bei Diaz-Bone kann auch aus einer solchen operationalisierungsskeptischen Position in der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Kellers eine »erhebliche
Umschrift« des Foucaultschen Diskursbegriffs konstatiert und kritisiert werden
(Gebhard/Schröter 2007, S. 43), wenn die hermeneutisch-wissenssoziologischen Grundannahmen nicht geteilt werden und vielmehr beide – bei allen sonstigen Differenzen – an
der Foucaultschen Konzeption des Diskurses als überindividueller, das heißt nicht auf
Akteurshandeln konvergierender Wirklichkeitsdimension festhalten. Sicherlich kann gegen eine Modifikation der von Foucault geprägten Konzepte prinzipiell wenig eingewandt werden, zumal Reiner Keller Gründe und Konsequenzen seiner Umschrift offenlegt: Bei der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ergibt sich die das Erkenntnisinteresse leitende Programmatik ja – wie oben dargestellt – aus der hermeneutischen
Wissenssoziologie, während die dieser zuarbeitende Diskursanalyse Phänomene und
Fälle gesellschaftlicher Wissensbestände und ihres Wandels in dem dadurch gegebenen
Rahmen erschließt und dabei detailliert über die Methodik ihres Vorgehens Rechenschaft ablegt. Es stellt sich aus dieser Position allerdings die Frage, um welchen Preis die
Integration der Diskursanalyse in ein hermeneutisch-wissenssoziologische Programm
möglich ist und inwieweit eine solche Diskursanalyse mit dem Foucaultschen Projekt
vereinbar ist. Hingewiesen wird so auf die wichtige, von Diaz-Bone einheitswissenschaftlich überpointierte Problematik, dass die theoretischen Vorannahmen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse aus dem Fundus der etablierten wissenssoziologischen Hermeneutik übernommen werden, der Diskursanalyse somit vorgelagert sind und im Forschungsprozess deshalb auch selbst nicht in Frage gestellt werden. Diese Problematik
besteht unabhängig vom Nähegrad zu den Arbeiten Foucaults, jedenfalls solange, wie der
Diskursbegriff überhaupt – wie auch immer gebrochen und reformuliert – auf Foucault
zurückgeführt wird.
Deutlich wird, dass sich die schon im vorangegangenen Abschnitt identifizierten gegensätzlichen Ansprüche an die Diskursanalyse wiederholen und weiter differenzieren:
Für Keller handelt es sich um ein in den hermeneutisch-wissenssoziologischen Forschungsansatz eingepasstes Untersuchungsprogramm, das eben deshalb explizit keine eigenständige Methode ist (Keller 2001, S. 135) – insofern trifft die zuweilen geäußerte Kritik an einer Methodologisierung der Diskursanalyse im Kellerschen Programm gar nicht
den Kern der Sache (so stellenweise Gebhard/Schröter 2007, S. 44). Hinter der auf den
ersten Blick vielleicht als Foucault-exegetisch erscheinenden Kritik steckt indes der – wie
ich meine – ernst zu nehmende Anspruch, dass die Klärung der den Forschungsprozess
ermöglichenden, initiierenden und steuernden Erkenntnisinteressen und Konzepte
selbst ein genuiner Bestandteil von Diskursanalyse zu sein hätte, dass zentrale Analyse6
Besonders deutlich wird dies an der Frage, in welchem Ausmaß der Forschungsprozess selbst zu dokumentieren ist. Darauf gehe ich am Ende gesondert ein.
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Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis
253
konzepte also nicht aus einem ihr äußerlichen Theorieansatz importiert werden sollten,
Diskursforschung also auch Diskurstheorie zu sein hätte – ob dies mit, im Anschluss an
oder gegen Foucault zu geschehen hat ist eine Folgefrage, deren Gewicht im Folgenden
deutlicher wird.
Eine zweite, Methoden und Methodologien gegenüber prinzipiell ablehnende Position
unterscheidet sich von den bislang diskutierten dadurch, dass sie ihren Diskursbegriff
nicht in Auseinandersetzung mit Foucaults Überlegungen gewinnt, sondern vielmehr an
Jacques Derridas Dekonstruktivismus anschließt. Das führt dazu, dass der Diskursbegriff nicht – wie bei Foucault – eine durch ereignishafte Äußerungen konstituierte und
durch qua Analyse auffindbare Regelmäßigkeiten konturierte Wirklichkeitsdimension
bezeichnet, sondern vielmehr eine vollständig sprachförmige Wirklichkeit meint, deren
konstitutive Instabilität von dekonstruktivistischen Interventionen aufgewiesen wird.7
Die Ebene des Diskurses ist damit nicht nur grundlegend textualisiert und fällt mit Sprache zusammen, sondern zugleich auch theoretisch von vornherein auf den Widerstreit
zwischen illusionären Einheitsvorstellungen und ihrer Dekonstruktion festgelegt. Unter
diesen Prämissen wird nachvollziehbar, weshalb Vertreterinnen dieser Position nicht auf
die offene Auseinandersetzung mit einem (noch) ungeordneten Diskursmaterial setzen
und dabei mit der Aufweisbarkeit diskursiver Regelmäßigkeiten – nicht Regeln! – rechnen, sondern dieses Material vielmehr auf Einheits- und Ordnungsvorstellungen hin
sichten, um deren konstitutive Widersprüchlichkeit aufzuzeigen. Das macht es dann
plausibel, sich als »›poststrukturalistisch informierte‹ Bastler« zu verstehen (Feustel 2010,
S. 93) und den Diskursbegriff zu nutzen, um eine von Derrida inspirierte Sprachspielanalyse kritisch gegen die Wissenschaft als Wahrheitsregime und die in ihr wirksamen Methodenzwänge zu richten. Robert Feustel spitzt die Konsequenzen einer solchen dekonstruktivistischen Lesart der Diskursanalyse stark zu und speist sie in die Debatte um den
Stellenwert von Methoden und Methodologien in der Diskursanalyse ein; deshalb wird,
dem Prinzip der maximalen Kontrastierung folgend, seine Position hier kurz diskutiert.
Als Spielart von Dekonstruktion verstanden, so Feustel, betrete die Diskursanalyse
ein »unwissenschaftliches Terrain und die konkrete sprachliche Form der Analyse nimmt
eine für wissenschaftliche Standards unerhörte Position ein«. Ihre Aufgabe bestehe dabei
nicht in der »reine[n] Beschreibung von«, sondern in der »instabile[n], ungesicherte[n]
Intervention in« Diskurse (Feustel 2010, S. 89 f.). Diskursanalyse wird hier also als Gegenentwurf zu und kritische Haltung gegenüber einer auf die Erfüllung von »Standards«
reduzierten Wissenschaft proklamiert. Die solchen Standards zugrundeliegende Annahme gesicherter Erkenntnis sei nämlich, so Feustel, illusionär, vielmehr gebe es »keinen stabilen und gesicherten Ort […], von dem aus man […] über den Diskurs sprechen
kann, ohne selbst in den Diskurs verstrickt zu sein« (ebd., S. 89).
7
Das komplizierte Verhältnis der Autoren Foucault und Derrida kann hier weder dargestellt noch
aufgearbeitet werden. Ausgangspunkt müsste Derridas Kritik an Foucaults Descartes-Lektüre in
Histoire de la folie à l‘âge classique (1961) (dt.: Wahnsinn und Gesellschaft (1973), in der deutschen
Ausgabe nicht enthalten) sein, vgl. dazu Dosse (1999, S. 38 ff.).
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Dominik Schrage
Ohne Frage sind die von der Dekonstruktion immer wieder neu vorgebrachten Hinweise auf die Unmöglichkeit eines ›objektiven‹, der Ebene des Diskurses enthobenen
Standpunkts in den Sozialwissenschaften ein wichtiges erkenntniskritisches Korrektiv,
auf das eine Diskursforschung nicht verzichten sollte. Wenn aber Feustel meint, dass die
»(post-)strukturalistische[...] Erkenntniskritik […] zumeist auch Wissenschaftskritik
ist«, so schließt er die gerade in der Debatte um den Stellenwert von Methodologie und
Methoden produktive, weil erkenntniskritische Hinterfragung von allein konventionell
und nicht gegenstandsbezogen begründeten Ansprüchen auf methodische Explikation
von Diskursanalysen kurz mit der Kritik an einer Wissenschaft, die doch äußerst schablonenhafte Züge trägt (ebd., S. 83). Ignoriert wird nicht nur, dass die Verstricktheit der
Forschenden in ihren Gegenstand heute etwa für ethnographische Zugänge eine selbstverständliche und als unhintergehbar angesehene Erkenntnis darstellt (vgl. etwa Dellwing/Prus 2012, S. 83–145), sondern auch, dass dies schon ein Schlüsselproblem für die
rekonstruktiv am sozialen Handeln ansetzende Soziologie Max Webers war, das dieser
mit seinen Überlegungen zur Werturteilsproblematik ja keineswegs lösen, sondern als
von den Forschenden ständig mitzureflektierendes (und zu Entscheidungen drängendes)
Dauerproblem zu Bewusstsein bringen wollte. Dieses schablonenhafte Bild von Wissenschaft bestätigt letztlich – im Feld der Diskursforschung ja gar nicht offensiv vertretene
– Auffassungen, dass mit Hilfe von sozialwissenschaftlichen Methoden ein direkter und
zu objektivem Wissen führender Zugriff auf Wirklichkeit erlangt werden könne und fällt
damit in die vom sogenannten Positivismusstreit ausgehobenen Gräben zurück. Gerade
in der Diskursforschung käme es hingegen darauf an, so jedenfalls die hier vertretene Position, eine erkenntniskritische – und gegenüber one fits all-Methoden reservierte – Haltung als eine wissenschaftlich produktive auszuweisen, die dem zu untersuchenden Diskursmaterial gegenüber neugierig und etwaigen methodischen Routinen gegenüber
skeptisch bleibt.
Eine dritte Position lässt sich – aufgrund ihrer Präsenz in den aktuellen Debatten über
Methoden in der Diskursanalyse – am deutlichsten anhand der Gouvernementalitätsstudien markieren, die ebenfalls mit Rekurs auf Foucault, allerdings nicht primär auf die diskursanalytischen, sondern auf die gesellschaftsdiagnostischen Aspekte seines Werks, die
Relevanz methodischer Standards gegenüber dem Anspruch einer kritischen Diagnostik
der Gegenwart bewusst herabstufen. Ich will diese Position hier »methodenausweisvermeidend« nennen. Das soll verdeutlichen, dass sie sich in das Feld der Diskursforschung
weniger durch eine ausgearbeitete eigene Stellungnahme einschreibt, sondern darin zu
einem Gutteil durch die Kritik Geltung erhält, die sie auf sich zieht.
Eine methodenausweisvermeidende Position ist für die Gouvernementalitätsstudien
deshalb widerspruchslos möglich, weil die Prämissen dieses kritischen Unternehmens
sich selbst gar nicht aus konkreten Diskursanalysen ergeben, sondern einer auf kritische
Stellungnahme zu gesellschaftlichen Phänomenen zielenden Lesart der Foucaultschen
Genealogie entstammen und am Material lediglich plausibilisiert werden. Auf der Umgangsweise mit dem Diskursmaterial lastet deshalb kein besonderer, die gesamte Position
tangierender Beweisdruck.
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Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis
255
Aus einer solchen Position heraus wird die von methodologisch anspruchsvollerer
Seite erhobene »Forderung nach einem systematischen Ausweis der Art und Weise, wie
Forschende das von ihnen Beforschte erkennen und analytisch-empirisch in den Griff
nehmen oder auf den Begriff bringen« (Bührmann/Schneider 2008, S. 76) offenkundig
als nicht besonders dringlich angesehen, man meint vielmehr eine »gewisse methodische
Freihändigkeit in Kauf« nehmen zu können (Bröckling/Krasmann 2010, S. 39). Bei den
Gouvernementalitätsstudien geht es schließlich primär darum, die subjektivierende Appellstruktur von – beispielsweise – Beratungsdiskursen aufzuzeigen, deren Kritikwürdigkeit sich – erklärtermaßen und unter diesen Prämissen nachvollziehbar – aus einer tendenziell ideologiekritischen Lesart der Foucaultschen Genealogie der Moderne ergibt:
»Die Genealogie der Subjektivierung«, so schreibt beispielweise Ulrich Bröckling, »weiß
nicht, ob es ein Jenseits der Regierungen des Selbst gibt, aber sie insistiert darauf, die Zumutungen sichtbar zu machen, welche die Subjektivierungen dem Einzelnen abverlangen« (2007, S. 44).8
Nun kann sicher der Standpunkt eingenommen werden, dass der Verzicht auf eine
am Umgang mit dem Diskursmaterial ansetzende methodologische Absicherung die
wissenschaftliche Legitimität einer solchen Argumentation per se in Frage stellt. Das
aber hieße in letzter Instanz, dass die hier beispielhaft genannte – und zudem ja als normativ ausgewiesene – Haltung Bröcklings an methodischen Standards gemessen und kritisiert würde, deren Geltung zugleich für jede Art der argumentativen Positionierung im
Feld der Sozialwissenschaften beansprucht würde. Das würde nicht nur für alle normativ
begründeten Stellungnahmen gelten – die ja konstitutiv nicht methodologisch ausweisbar sind –, sondern darüber hinaus auch alle anderen Arten von argumentativ vorgebrachtem Wirklichkeitsbezug als sozialwissenschaftlich illegitim in Frage stellen, welche
die Validität ihrer Argumente nicht primär durch die Dokumentation ihres Zustandekommens aus der Erhebung und Auswertung von Daten heraus begründen. Dieser Anspruch wäre erkennbar keine spezifische, im Feld der Diskursanalyse verankerte Infragestellung, sondern brächte Auffassungen über legitime Formen des Wirklichkeitsbezugs
in den Sozialwissenschaften zur Geltung, die vor jeder Verständigung über das Warum
und Wie der Diskursforschung liegen.
Tatsächlich werden die unterschiedlichen Ansprüche an die Diskursforschung dann
genauer und differenzierter sichtbar, wenn der Vorwurf mangelnder methodologischer
Explikation nicht pauschal vorgebracht, sondern konkretisiert wird. Hierzu eignet sich
die Debatte um die Gouvernementalitätsstudien als Fallbeispiel gut. Reiner Kellers kritische Auseinandersetzung mit ihnen erschöpft sich nämlich faktisch keineswegs darin,
diesen Vorwurf pauschal-delegitimierend vorzubringen (Keller 2010). Vielmehr sucht er
seine eigene Position in der Auseinandersetzung mit den Gouvernementalitätsstudien
sachlich zu plausibiliseren und bietet dabei zusätzliche Einblicke in seine Auffassung des
Verhältnisses von begrifflicher Gegenstandsbestimmung und methodisch angeleiteter
Forschung.
8
Vgl. zur Diskussion des Verhältnisses von Diskursanalyse und Gouvernementalitätsstudien die Beiträge des Bandes Angermüller/van Dyk (2010) sowie Weber (2011).
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Keller diagnostiziert eine »Erschöpfung« der Gouvernementalitätsstudien, die darauf
zurückzuführen sei, dass sie sich »präskriptiv auf ein enges Feld interessierender Diskurse« festlegen; die »Erschöpfung« sei somit Effekt ihrer thematischen Fokussierung auf
die Regierungsformen der Gegenwart, die für Keller zu wenig Offenheit für Innovationen lässt – die für ihn offenbar wesentlich von sozialen und kulturellen Wandlungsprozessen abhängig sind, welche sich methodisch kontrolliert erfassen lassen. Seine Wissenssoziologische Diskursanalyse hingegen treffe »keine weiteren inhaltlich-konzeptionellen Vorentscheidungen über die programmatischen, normativen und kulturellen
Strukturierungen ihres Gegenstandsbereichs«, sie »betrachtet sowohl diese Punkte wie
auch Aussagen über Funktionsweisen, Strukturierungen, soziale Akteure in Diskursen
als empirisch zu klärend«. Dagegen sei das schon bei Foucault angelegte und in den vergangenen Jahren anhand vielfältiger programmatischer Diskurse dargelegte theoretische
Konzept der Gouvernementalitätsstudien nunmehr ausreichend ausgearbeitet; die »Erschöpfung« des Forschungsprogramms sei auch deswegen zu verzeichnen, weil in dem,
was diagnostiziert werde, »keine kurz- oder mittelfristigen Veränderungen erwartbar«
seien (ebd., S. 44 f.).
Für Keller ist es also »der methodologisch-methodisch unscharfe und zugleich heroische historisch-diagnostische Gestus«, der sich als »größtes Problem« der Gouvernementalitätsstudien erweise: Der Verzicht auf den Methodenausweis stütze die theoretische Geschlossenheit, und der »historisch-diagnostische Gestus« habe sich, gerade weil
die Diagnose ausformuliert sei und Plausibilität besitze, überlebt (»heroisch« meint vermutlich die kritische Geste). Entsprechend empfiehlt er eine »stärkere methodologischmethodische Explikation«, die »Möglichkeiten für einen Ausweg aus der gegenwärtigen
Redundanz der Gouvernementalitätsperspektive« weisen könne – methodologische
Selbstexplikation ist für ihn also ein Mittel gegen Redundanz (ebd., S. 47).
Kellers Kritik unterscheidet sich damit von einer Reihe anderer kritischer Einwände
gegen den Gouvernementalitätsansatz, die im Wesentlichen monieren, dass das untersuchte Material auf Programmschriften beschränkt sei (Müller 2003; Reitz/Draheim
2007). Ihnen geht es dabei gerade nicht um einen zu geringen methodologischen Explikationsgrad, sie bemängeln vielmehr die unzureichende Einordnung der im Detail untersuchten Programmschriften in übergreifende gesellschaftliche Kontexte und Veränderungsprozesse. Angemahnt wird damit eine Schärfung der historischen Diagnose, nicht
der Methodologie – was mit den Mitteln einer auf Korpusfestlegung ausgerichteten Forschungsstrategie wohl noch schwerer zu erreichen wäre. Hier stellt sich die Frage, ob eine
derartige, auch auf die historische Diagnostik abhebende Art der Kritik von vornherein
aus der Diskursforschung herausfallen sollte. Dagegen spricht, dass die Analyse von Diskursen bei den Gouvernementalitätsstudien ein durchaus charakteristischer Zug ist, zugleich aber wesentlich von deren historisch-diagnostischer Fragestellung abhängig ist
und sich deshalb nicht ohne weiteres als ein methodologiezentriertes Forschungsprogramm beurteilen lässt.
Eine weitere, detaillierter auf das Verhältnis von theoretisch-begrifflicher Situierung
und praktischer Analyse eingehende Kritik gibt Anhaltspunkte, wie eine solche, auch die
Art der Umsetzung historischer Diagnosen tangierende Diskussion innerhalb des Feldes
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Die Einheiten der Diskursforschung und der Streit um den Methodenausweis
257
der Diskursforschung geführt werden könnte. Anja Weber hebt auf Inkonsistenzen zwischen den theoretischen, die Fragestellung konstituierenden Konzepten und der die Analyse leitenden Semantik ab. In diesem Sinne kritisiert sie, dass die Gouvernementalitätsstudien das Subjektivierungskonzept Foucaults, das sie theoretisch als zentrales reklamieren, in den konkreten Analysen inkonsequent handhabten: Die »generalisierten
Überforderungs- und impliziten Entfremdungstopoi«, mit denen die Gouvernementalitätsstudien sich in ihren materialen Analysen als kritischer Ansatz ausweisen, setzen »als
Referenzpunkt Vorstellungen eines ›ursprünglichen‹, protogesellschaftlichen Wesens der
Subjekte voraus […]«, das dann als Gegeninstanz zu »den neoliberalen ›Anrufungen‹«
gestellt werde (Weber 2011, S. 191). Diese Inkonsequenz führe zu einer unzureichenden
Differenzierung zwischen disziplinärer Fremd- und postdisziplinärer Selbstkontrolle –
deren Unterschiede durch diese Art der Kritik eingeebnet würden. Verhindert werde somit eine »aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen und Transformationsprozessen adäquate Form der Kritik, die dem Umstand Rechnung trägt, dass die neoliberale Regierungsrationalität tatsächlich mit der Eröffnung erheblicher Freiheitsgrade der
Selbstführung einhergeht« – und eben darin liege die eigentliche Herausforderung (ebd.,
S. 192).
Anja Weber argumentiert damit auf einer durchaus methodologisch zu nennenden,
aber in den methodenzentrierten Forschungsprogrammen nicht explizit werdenden
Ebene: Sie entnimmt die Kriterien ihrer Kritik dem kritisierten Programm selbst, verweist auf in der Auswertung des Diskursmaterials inkonsequent gehandhabte Begriffe
und diskutiert die Konsequenzen bezüglich des Verhältnisses von Fragestellung und
Durchführung der Analyse. Ihre kritische Auseinandersetzung stützt dabei durchaus
Reiner Kellers Beobachtung einer »Erschöpfung« der Gouvernementalitätsstudien, sie
sieht die Gründe aber im Gegensatz zu ihm gerade nicht in einer durch die historischgenealogische Perspektivierung verengten und durch methodische Explikation behebbaren Ausrichtung, sondern vielmehr in einer die historisch-diagnostische Fragestellung
des Ansatzes unzureichend umsetzenden Analysesemantik, die sich eigentlich relevanten
und in den Diskursen auffindbaren Aspekten verschließt. Sichtbar wird hieran, dass es
durchaus in der Diskursforschung situierbare Arten der Auseinandersetzung mit methodenausweisvermeidenden Ansätzen gibt – sie werden freilich erst führbar, wenn man bereit ist, auch solchen Diskursanalysen, die mit ihrer »methodischen Freihändigkeit« kokettieren, eine Systematizität zuzuschreiben und sie damit als kritisierbar zu erachten.
3. Resumé und ein Vorschlag, die Einheit der Diskursforschung
anders zu fassen
Einen Schritt aus der Gemengelage von Postionierungen und Kritik heraustretend ergibt
sich in etwa folgendes Bild:
1. So umstritten die Frage ist, inwieweit die Diskursforschung methodischer Ausweise
und methodologischer Explikation bedarf, so deutlich ist doch, dass die Forderung
einer vollständig vom Gegenstandsbezug gelösten, standardisierten Methode der
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
258
2.
3.
4.
5.
Dominik Schrage
Diskursforschung nicht erhoben wird – obwohl teilweise davon ausgegangen wird,
dass dies eine Konsequenz der Erörterung von Fragen der Methodik und Methodologie sei. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass Forderungen nach methodologischer
Explikation eine wichtige Rolle bei der Bestimmung des Feldes und seiner Grenzen
spielen – das betrifft einerseits die Frage, welcher Ort der Diskursforschung in den
Sozialwissenschaften zukomme oder welchen sie beanspruchen solle und andererseits die Frage, welche Autorinnen und Autoren, Ansätze, Forschungsprogramme
und -strategien zur Diskursforschung zu zählen sind und welche beanspruchen,
dazuzuzählen. Offensichtlich deshalb wird das Feld durch diese Forderungen sowie
deren Problematisierung, Kritik und Zurückweisung strukturiert.
Diese Forderungen treffen sich zwar, insofern sie sich – wie die hier ausgewählten Positionen von Reiner Keller und Rainer Diaz-Bone – auf in den Sozialwissenschaften
etablierte Konventionen berufen und mit der Konsolidierbarkeit der Diskursforschung begründet werden. Sie werden dabei gestützt von dem Anspruch, Diskursanalyse im Zusammenhang mit einem Theorie, Methodologie und Vorgehensweise
umfassenden und explizierenden Forschungsprogramm zu betreiben. Insofern verfolgen diese Positionen ein doppeltes Interesse, nämlich die Konsolidierung der
Diskursforschung in den Sozialwissenschaften und zugleich die Stärkung ihrer Position im Feld der Diskursforschung.
Sie divergieren dabei aber stark hinsichtlich ihrer Auffassungen darüber, was der
Kern eines solchen, Diskursanalyse rahmenden Programms zu sein habe – nicht immer klar ist dabei, wie das Verhältnis zu konkurrierenden Forschungsprogrammen
ähnlich weitgehenden Anspruchs gedacht wird. Ihre Divergenzen ergeben sich
wesentlich aus den theoretischen Bezügen und Prämissen der jeweiligen Positionen,
denn sie bestimmen die Einheit des Forschungsprogramms, in dem die jeweils vertretene Art von Diskursanalyse verortet ist.
Die Frage, wie das Verhältnis von Diskurs und Akteuren bestimmt wird, macht dabei
einen wichtigen Unterschied. Wird sie, von der hermeneutischen Wissenssoziologie
ausgehend, als Untersuchungsstrategie für kollektives Akteurshandeln herangezogen
(Keller), so liegt ein signifikant anderes Forschungsprogramm vor als wenn sie in ein
strukturalistisch-epistemologisches Programm eingebettet wird, das auf eine jenseits
solchen Handelns liegende Ebene zielt (Diaz-Bone). Zu bedenken ist selbstverständlich, dass hier nur zwei ausgewählte Positionen verglichen wurden und das Feld
weitaus komplexer ist. Das Verhältnis zu den Arbeiten Foucaults spielt dabei in jedem
Fall eine wichtige Rolle.
Auch die sich kritisch mit den Forderungen nach Methodenausweis und Methodologie-Explikation auseinandersetzenden Positionen unterscheiden sich vor allem
hinsichtlich ihrer Ansprüche an die Diskursforschung sowie ihre Diskursbegriffe. Es
ergibt einen Unterschied, ob ein wissenschaftskritischer Dekonstruktivismus
(Feustel) in Methodendebatten und Methodologiereflexionen von vornherein eine
Kolonisierung der Diskursanalyse durch standardisierende Wissenschaft sieht, ob
ihre Verwendung zur Plausibilisierung kritischer Gesellschaftsdiagnosen (Gouvernementalitätsstudien) die methodologische Explikation als verzichtbar erscheinen lässt
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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oder ob die skeptische Haltung damit begründet wird, dass methodenförmige Festlegungen die Offenheit, sich vom Diskursmaterial irritieren zu lassen, einschränken
könnten (Gebhart/Schröter 2007; Schrage 1999, 2006). Auch hier spielt das Verhältnis zu Foucault eine wichtige Rolle.
Angesichts dieser komplexen Situation schlage ich vor, die Verständigung über das Verhältnis der Diskursforschung zu Methoden und Methodologien auf einer Ebene fortzusetzen, die ›noch nicht‹ den Charakter einer auf praktische Durchführung und Ergebnissicherung zielenden Methodendebatte hat und zugleich ›nicht mehr‹ in der Verortung im
theoretischen Feld der sozialwissenschaftlichen Disziplinen besteht. Denn in beiden Fällen werden gemeinhin – so jedenfalls meine Beobachtung – entweder how to do-Fragen
diskutiert oder aber grundsätzliche – und letztlich theoretisch begründete und dem Feld
der Diskursforschung äußerliche – Positionen markiert, die selbst gar nicht aus der Konfrontation mit einem spezifischen Material hervorgehen, sondern ihr vielmehr vorausgehen. Es käme aber darauf an, das zu diskutieren, was tatsächlich diskutabel ist, und dies
auf eine Weise zu tun, die bei den Erfahrungen ansetzt, die in möglichst allen Spielarten
der Diskursforschung gemacht werden (müssen).
Eine Möglichkeit, auf diese Ebene zu wechseln wäre es, die Frage aufzuwerfen, welche
Formen methodologische Explikationen überhaupt annehmen können oder sollen und
von welchen Bedingungen diese Formen abhängig sind. Tatsächlich ist die Vorstellung,
dass Diskursanalysen – so wie jede andere Art der analytischen Durchdringung von historischen oder zeitgenössischen Quellen – in freier Improvisation verfertigt würden, wenig glaubwürdig. Man kommt ja gar nicht umhin, eine Auswahl des zu lesenden Materials zu treffen, daraus Argumentationsmuster herauszulösen, diese auf verwendete Begriffe, bezogene Positionen und im Diskurs ausagierte Konflikte zu beziehen und dazu
analytische Konzepte zu verwenden, die eine Distanz zu den im Diskurs verwendeten
Begrifflichkeiten herstellen; und es ist auch kaum zu vermeiden, diese analytische Aktivität mit einer ebenso wenig dem Diskurs selbst entnommenen Fragestellung abzustimmen, aus der sich die Relevanz des Unternehmens sowie die Konturen des Untersuchungsgegenstandes erschließen. Wenn aber dies der Fall ist, so könnte eigentlich schon
dann von einer methodologischen Explikation gesprochen werden, wenn die Gründe,
weshalb so verfahren wurde wie geschehen, der am Ende vorliegenden Darstellung zu
entnehmen sind.
Meist aber implizieren Forderungen nach methodologischer Explikation noch einen
zweiten Anspruch, nämlich denjenigen, den Ablauf des Forschungsprozesses selbst zur
Darstellung zu bringen, um ihn dadurch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen und
die Plausibilität der Ergebnisse zu erhöhen. Die Diskussion um Gütekriterien in der qualitativen Sozialforschung hängt wesentlich von diesem Anspruch ab. Er leuchtet unmittelbar ein, wenn man es beispielsweise mit Interviews zu tun hat, für die Gesprächspartner ausgewählt und Leitfragen erstellt werden müssen, die den Rahmen des Sagbaren
(oder die Wahrscheinlichkeit von Thematisierungen) in der Interviewsituation bestimmen; die Begründung der Wahl des Auswertungsverfahrens sowie die Darstellung des
Forschungsverlaufs machen in diesem Zusammenhang erst nachvollziehbar, unter welBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
260
Dominik Schrage
chen Bedingungen die Daten, mit denen analytisch umgegangen wird, überhaupt entstanden sind. Auch im Bereich der Diskursanalyse lassen sich Fälle angeben, in denen die
Plausibilität der Ergebnisse von der Darstellung des Forschungsverlaufs maßgeblich gestützt wird, auch wenn die Daten ja gerade nicht im Forschungsprozess erzeugt werden:
Dies gilt etwa für Analysen von Medienberichterstattung oder anderen Arten von Diskursmaterial, bei denen die Auswahl des Korpus angesichts des großen Umfangs virtuell
möglicher Daten sinnvollerweise begründet wird (Periodikum, Zeitraum, gegebenenfalls
Einschränkungen durch Schlagwort- oder Themensuche); bei großen Korpora ist auch
die Strategie der ›Kodierung‹ zweifellos informativ, vor allem wenn relevante Zwischenschritte der finalen textlichen Dokumentation nicht zu entnehmen sind. In diesen Fällen
ist eine strukturelle Ähnlichkeit diskursanalytischen Vorgehens mit anderen Arten qualitativer Erhebungs- und Auswertungsverfahren gegeben und sie nimmt die Form einer
Fallstudie an, dies umso eher wenn mehrere Personen arbeitsteilig an der Forschung beteiligt sind.
Andere Bedingungen können aber dann vorliegen, wenn eine diskursanalytische
Strategie im Rahmen einer monographischen Arbeit verwendet wird, die zumindest partiell als Literaturstudie angelegt ist; man hat es hier zumeist mit wissenschaftlichen oder
anderen selbständig zitierbaren Texten zu tun. Die Spezifik des diskursanalytischen Zugangs liegt dann weniger in der Eingrenzung eines großen Datenkorpus und der Entwicklung von Auswertungsstrategien für große Textmengen, sondern in der Betrachtungsweise sowie in der Art der Einbettung der Ergebnisse in die diese Studie tragende
Argumentation: Im Unterschied zu herkömmlichen Literaturstudien werden die Texte ja
nicht mit dem Ziel einer additiven oder komparativen Sammlung von als wissenschaftlich gültig erachteten Erkenntnissen analysiert. Man hat es aber oft mit einem Korpus zu
tun, der sich vergleichsweise leicht (etwa durch Angabe von Forschungsdisziplinen, -feldern, -kontroversen) eingrenzen lässt. Die im Diskurs beanspruchten Geltungen werden
dabei eingeklammert und beispielweise auf Gemeinsamkeiten gegnerischer Positionen,
außerdiskursive Existenzbedingungen oder im Diskursverlauf sichtbar werdende Transformationen der Wissensordnung hin betrachtet. Die relevanten Erkenntnisse ergeben
sich dabei dadurch, dass eine eigene Fragestellung an den Diskurs herangetragen und in
der Konfrontation mit ihm kritisch weiterentwickelt wird, die auch die Auswahl des zu
untersuchenden Diskursmaterials anleitet und plausibilisiert. Diese Fragestellung ist im
Erfolgsfalle am Ende des Forschungsprozesses klarer als zu Beginn, sie ist also keine zu
prüfende Hypothese; sie strukturiert zudem – das ist ein Kennzeichen des Genres monographische Studie – als argumentativer Kern und roter Faden die gesamte textliche Darstellung, die damit einer anderen Chronologie folgt als der Forschungsprozess selbst.9
Damit soll eine Auskunftspflicht über die zu den Ergebnissen führenden Entscheidungen gar nicht bestritten werden – wohl aber darauf hingewiesen werden, dass die
Form, in der diese Auskunft gegeben wird oder werden kann, von der Art der Darstel9
Besonders bei Monographien stellt sich noch eine weitere Frage, die ich hier ganz ausgeklammert
habe, die aber für die hier diskutierte Frage ebenfalls höchst relevant ist: Kann jede wissenschaftliche Aussage methodologisch von der Empirie aufsteigend begründet werden?
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261
lung und vom verfolgten Forschungsstil abhängig sein kann. Die im Feld der Diskursforschung bislang erhobenen Forderungen nach methodologischer Explikation wurden –
wie oben erläutert – bislang vornehmlich mit der Überzeugung vorgebracht, dass die optimale Explikation der Vorgehensweise vorzugsweise im Rahmen eines einheitlichen
Forschungsprogramms möglich sei. Das bedeutete aber letztlich, wie ich zu zeigen versucht habe, dass die Verständigung über das Warum und Wie der Diskursforschung
kaum von theoretischen Positionierungen losgelöst werden könnte, über die – zumindest
angesichts der gegenwärtig existierenden Heterogenität der Auffassungen – kein Einvernehmen erzielt werden wird. Möglicherweise wäre es ein gangbarer Weg, statt die Einheitlichkeit von Forschungsprogrammen anzustreben, zunächst von der faktisch vorliegenden Einheit der Bücher auszugehen und die Diskussion um das Warum und Wie der
Diskursforschung dadurch zu konkretisieren. Das könnte auch helfen, mehr darüber herauszufinden, welche Formen methodologischer Explikation in der Diskursforschung
faktisch existieren, bevor man die Anschauungen aus anderen, ja möglicherweise ganz
unterschiedlichen Anforderungen unterliegenden Forschungsfeldern zu rasch überträgt.
Es ist – obwohl es auf den ersten Blick paradox scheinen mag – kein Zufall, dass Michel Foucault – der in seiner Archäologie des Wissens neben vielen anderen Einheiten des
Diskurses auch diejenige des Buches zu suspendieren beanspruchte – den Forschungsprozess, der letztlich sein intellektuelles Leben war, durch die Einheiten der in monographischer Form gebündelten und einander ablösenden, überbietenden, untergrabenden
Fragestellungen strukturierte und vorantrieb.
Literatur
Angermüller, J./van Dyk, S. (Hrsg.) (2010): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen. Frankfurt am Main: Campus.
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Anschrift:
Prof. Dr. Dominik Schrage
Institut für Soziologie und Kulturorganisation
Leuphana Universität Lüneburg
Scharnhorststr. 1, C5.206
21335 Lüneburg
dominik.schrage@uni.leuphana.de
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung
263
Jürgen Spitzmüller
Metapragmatik, Indexikalität,
soziale Registrierung
Zur diskursiven Konstruktion sprachideologischer Positionen
Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag stellt eine Variante der sprachwissenschaftlichen Diskursanalyse vor, die sowohl in der Germanistischen Diskurslinguistik als auch in der interdisziplinären
Diskursforschung bislang wenig bekannt ist: Die soziolinguistische Sprachideologieforschung bzw. Metapragmatik. Der Beitrag stellt die zentralen Konzepte dieses Ansatzes vor, zeigt, wie die diskursive Aushandlung von (kommunikativen) Ideologien und die Verfestigung ideologischer Konzepte damit
analysiert und modelliert wird, diskutiert soziopragmatische Funktionen von Sprachideologien und exemplifiziert die theoretischen und methodischen Erläuterungen an einem linguistischem Fallbeispiel:
der Erfindung der ›Internetsprache‹ als diskursiv-interpretativem Phänomen.
Schlagwörter: Diskurslinguistik, Metapragmatik, Sprachideologien, Soziolinguistik, Registrierung, Indexikalität
Summary: This paper introduces a strand of linguistic discourse analysis that is not much known both
in Germanic discourse linguistics and in inter-disciplinary discourse research: sociolinguistic language
ideology research or metapragmatics. The paper sketches the basic concepts of this approach, it shows
how (communicative) ideologies are discursively negotiated and describes how metapragmatics models
and analyzes the reinforcement of ideological concepts. Furthermore, the paper discusses socio-pragmatic functions of language ideologies. The theoretical and methodical elaborations are exemplified by
means of a linguistic case in point: the invention of ›the Internet language‹ as a discursive and interpretive phenomenon.
Keywords: Discourse Linguistics, Metapragmatics, Language Ideologies, Sociolinguistics, Enregisterment, Indexicality
1 Einleitung
Dieser Beitrag stellt einen linguistischen Zugang zum Diskurs vor, der in den letzten Jahren vor allem in der angloamerikanischen Soziolinguistik viel Bedeutung gewonnen hat,
in der germanistischen Diskurslinguistik bis jetzt aber noch nicht sehr intensiv rezipiert
wurde (vgl. für einige Hinweise Spitzmüller/Warnke 2011, passim): die metapragmatische Analyse sozialer Indexikalität und sozialsemiotischer Registrierungsprozesse. Diese
vor allem in der amerikanischen Linguistischen Anthropologie entwickelte Form der
Sprachhandlungsanalyse richtet ihr Interesse primär auf die Frage, wie soziale Positionen
und Sprachideologien diskursiv ausgehandelt, sozialsemiotisch aufgeladen und transformiert werden. Ihr Gegenstand ist also ein genuin linguistischer: Es geht um Sprache und
sprachliches Handeln als soziale Praxis. Dennoch ist sie auch für andere Formen der DisBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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Jürgen Spitzmüller
kursanalyse, etwa sozialwissenschaftliche, historiographische und medienwissenschaftliche, interessant, denn im Mittelpunkt dieser Forschungsrichtung steht letztlich, wenn
auch zumeist auf Sprache spezifiziert, die Frage, wie ›Dinge‹ zu sozial bedeutsamen ›Zeichen‹ werden, inwieweit diese Zeichen das Resultat diskursiver Prozesse sind und inwieweit sie das diskursive Handeln ihrerseits prägen.
Der Beitrag stellt zunächst die Grundkonzepte und -annahmen der Metapragmatik
vor, diskutiert dann einige zentrale soziale Funktionen und exemplifiziert den Ansatz
schließlich an einem linguistischen Beispiel: der ›Erfindung‹ der ›Internetsprache‹.
2 Metapragmatik: Grundkonzepte und -annahmen
Das Konzept der Metapragmatik wurde maßgeblich von dem Sprachanthropologen Michael Silverstein (u.a. 1979, 1993) geprägt und ausgearbeitet (vgl. auch Verschueren
2004). Silverstein bezeichnet, ausgehend von Roman Jakobsons (1971) metasprachlicher
Funktion, mit der metapragmatischen Funktion von Zeichen ihre Möglichkeit, reflexiv auf
pragmatische Phänomene, also auf kommunikatives Handeln, zu verweisen:
»Signs functioning metapragmatically have pragmatic phenomena – indexical sign
phenomena – as their semiotic objects; they thus have an inherently ›framing‹, or
›regimenting‹, or ›stipulative‹ character with respect to indexical phenomena.« (Silverstein 1993, S. 33)
Die Metapragmatik fokussiert also sprachliche Handlungen, die auf sprachliche Handlungen verweisen und fragt danach, wie die Kommunikationsakteure selbst kommunikatives Handeln (das ihrige und das von anderen) bzw. die Umstände kommunikativen
Handelns reflektieren und konzeptualisieren. Sie steht somit in der Tradition der Ethnomethodologie und Ethnographie, die ja auch die Soziolinguistik nachhaltig geprägt haben (vgl. v.a. Gumperz/Hymes 1972; Hymes 1974).
Im Kontext metapragmatischer Forschung wurden einige Konzepte entwickelt, die
für die Analyse metasprachlicher Diskurse zentral geworden sind, an erster Stelle das der
Sprachideologie. Dieser ebenfalls v.a. von Silverstein (1979) geprägte Begriff umfasst, im
Anschluss an die generellen Ideologiekonzepte von Vološinov (1929/1975), Gramsci
(1991–2002) und Althusser (1977), die Summe aller Werthaltungen, mit denen die
sprachliche Wirklichkeit von sozialen Akteuren diskursiv konstruiert wird. Die viel zitierte ›klassische‹ Definition lautet:
»ideologies about language, or linguistic ideologies, are any sets of beliefs about language articulated by users as a rationalization or justification of perceived language
structure and use.« (Silverstein 1979, S. 193)
Zweierlei ist dabei wichtig: Erstens umfasst der Begriff alle Werthaltungen und Einstellungen zu Sprache und Sprachgebrauch – auch, wie Silverstein klar herausstellt, linguisBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung
265
tische Theorien zu Sprache und Sprachgebrauch. Zweitens werden Sprachideologien, wie
das Verb articulated in Silversteins Definition verdeutlicht, als genuin diskursive Phänomene betrachtet. Es geht also tatsächlich (nur) um solche Werthaltungen und Einstellungen, die diskursiv geäußert und verhandelt werden (vgl. Blommaert 2005, S. 158–202).
Sprachideologien sind aus Sicht der Sprachideologieforschung grundlegend für das
gesellschaftliche Verhalten und die soziale Positionierung der Akteure. Das folgende Zitat verdeutlicht dies:
»As part of everyday behavior, the use of a linguistic form can become a pointer to
(index of) the social identities and the typical activities of speakers. But speakers (and
hearers) often notice, rationalize, and justify such linguistic indices, thereby creating
linguistic ideologies that purport to explain the source and meaning of the linguistic
differences. To put this another way, linguistic features are seen as reflecting and expressing broader cultural images of people and activities. Participants’ ideologies
about language locate linguistic phenomena as part of, and evidence for, what they believe to be systematic behavioral, aesthetic, affective, and moral contrasts among the
social groups indexed. That is, people have, and act in relation to, ideologically constructed representations of linguistic differences. In these ideological constructions,
indexical relationships become the ground on which other sign relationships are
built.« (Irvine/Gal 2000, S. 37)
Ein weiterer zentraler Begriff findet sich in diesem Zitat: der der (sozialen) Indexikalität.
Darunter versteht die Soziolinguistik, im Anschluss an die semiotische Trias von Peirce
(1903/1983), aber auch an das Indexikalitätskonzept von Garfinkel (1967), die Fähigkeit
sprachlicher Zeichen, soziale Werte, Akteurstypen und Lebensformen zu evozieren bzw.
zu kontextualisieren. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sprachliche Zeichen nicht
nur auf bestimmte Sachverhalte referieren, sondern dass sie immer auch bestimmte
Werte (bzw. Ideologien) indizieren.
Wichtig ist dabei die ebenfalls auf Silverstein zurückgehende Annahme, dass indexikalische Zuschreibungen (und mithin Sprachideologien) sozial stratifiziert sind. Sprachliche Handlungen werden demzufolge in verschiedenen Kontexten und von verschiedenen Akteuren unterschiedlich bewertet. Silverstein (2003) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Ideologien ›indexikalisch geordnet‹ sind. Dabei unterscheidet er Stufen
der gesellschaftlichen Verfestigung der indexikalisch-sozialen Bedeutung sprachlicher
Formen, v.a. die folgenden drei:
1st-order indexicality: Bezugsetzungen von sprachlichen Formen zu einem bestimmten soziodemographischen Kontext, die von ›außen‹ (bspw. durch linguistische Beobachtung) vorgenommen werden, ohne dass den Sprechern selbst bewusst ist, dass sie
›spezifisch‹ sprechen.
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266
Jürgen Spitzmüller
2nd-order indexicality: Bezugsetzungen, welche von den Akteuren selbst vorgenommen werden. Sie ermöglicht, dass sprachliche Formen selbst Kontexte signalisieren,
also als Kontextualisierungshinweise (vgl. Auer 1986) dienen können.
3rd-order indexicality: sprachliche Formen, die als so ›typisch‹ für einen bestimmten
Kontext angesehen werden, dass sie etwa in Stilisierungen einer bestimmten Personengruppe (sensu Bachtin 1971, S. 202–228) verwendet werden können.1
Entscheidend ist dabei, dass diese Ordnungen als aufeinander bezogen gedacht sind: Jede
n-te Ordnung präsupponiert die n−1-te Ordnung, was aber nicht bedeutet, dass diese
n−1-te Ordnung faktisch wirklich existiert (vgl. Silverstein 2003, S. 220). Das bedeutet,
sprachideologische Zuschreibungen entstehen aus der Annahme eines musterhaften
Sprachgebrauchs bestimmter sozialer Gruppen bzw. durch Zuschreibungen eines solchen Sprachgebrauchs. Das können Selbst- und Fremdzuschreibungen sein, die beide
vom faktischen Sprachgebrauch divergieren können (vgl. Johnstone/Andrus/Danielson
2006). Der Frage, wie solche Zuschreibungen diskursiv entstehen, geht die metapragmatische Analyse nach.
Silversteins Konzept der indexical orders wurde von Jan Blommaert aufgegriffen und
in einer spezifischen Art und Weise modifiziert, die für die Sprachideologieforschung
ebenfalls wichtig ist. In Anlehnung an Foucaults (1997) ordre du discours entwickelt
Blommaert das Konzept der orders of indexicality (vgl. Blommaert 2005, S. 73 ff., 2010, S.
37 ff.), das er folgendermaßen beschreibt:
»While performing language use, speakers […] display orientations towards orders of
indexicality – systematically reproduced, stratified meanings often called ›norms‹ or
›rules‹ of language and always typically associated with particular shapes of language
(i.e. the ›standard‹, the prestige variety, the usual way of having conversation with my
friends etc.). […] Stratification is crucial here: we are dealing with systems that organize inequality via the attribution of different indexical meanings to language forms
(e.g. by allocating ›inferior‹ value to the use of dialect varieties and ›superior‹ value to
standard varieties in public speech).« (Blommaert 2005, S. 73)
Im Unterschied zu Silverstein geht es Blommaert dabei weniger um den Prozess der Verfestigung der Indexikalität als um ihre soziale Streuung. Sein Konzept tritt der in der frühen Soziolinguistik (und auch im medialen Diskurs) verbreiteten Annahme entgegen,
dass es grundsätzlich ›bessere‹ oder ›prestigeträchtigere‹ und ›schlechtere‹ oder ›weniger
prestigeträchtige‹ Sprachen und Varietäten gebe. Dem hält er entgegen, dass es vom jeweiligen sozialen Setting, von den beteiligten Akteuren und ihren Einstellungen abhängt,
wie eine kommunikative Praxis bewertet wird und damit, wie erfolgversprechend sie ist.
1
Diese Unterscheidung schließt an eine terminologische Differenzierung von Labov (1971,
S. 192–206) an, der von indicators (≈ 1st-order), markers (≈ 2nd-order) und stereotypes
(≈ 3rd-order indexicality) spricht (vgl. Silverstein 2003, S. 217).
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung
267
So genanntes ›ethnolektales Deutsch‹ etwa (im Mediendiskurs häufig Türkendeutsch, Kanaksprak o.ä. genannt) mag in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft als Zeichen mangelnder Sprachkompetenz gelten, in bestimmten sozialen Gemeinschaften gilt sie aber
als Zeichen von Kompetenz, als Ausweis von Gruppenidentität und als Statussymbol.
Dasselbe gilt umgekehrt auch für ›standardnahes‹ Deutsch (›Hochdeutsch‹). Aus Blommaerts Sicht besonders wichtig ist, dass diese Indexikalitäts-Ordnungen soziale Ungleichheit organisieren, die besonders dann zum Vorschein kommt, wenn Akteure zwischen verschiedenen ›Indexikalitäts-Ordnungen‹ wechseln und dadurch riskieren, ihre
Fähigkeit zu verlieren, kommunikative Ziele durch die Wahl der jeweils als geeignet angesehenen Mittel zu erreichen (vgl. Blommaert 2005, S. 77).
Ein letztes Begriffspaar aus der Soziolinguistik und Linguistischen Anthropologie,
das für die Analyse sprachideologischer Diskurse wichtig ist, ist das der Registers und der
(sozialen) Registrierung (enregisterment). Der Registerbegriff hat in der Soziolinguistik
eine lange Tradition (einschlägig ist Halliday 1978, S. 31 f.), in der Linguistischen Anthropologie wurde er in den letzten Jahren aber neu und weiter entwickelt. Für diese Entwicklung sind insbesondere die Arbeiten von Asif Agha (2006, 2007) von Bedeutung. Er
definiert ein Register als
»a cultural model of action
1. which links speech repertoires to stereotypic indexical values
2. is performable through utterances (yields enactable personae/relationships)
3. is recognized by a sociohistorical population« (Agha 2007, S. 81)
»registers [are] culture-internal models of personhood linked to speech forms.«
(Agha 2007, S. 135)
Es handelt sich also um kulturell verankerte Ethnokonzepte, die sprachliche Formen mit
Personen- und Handlungstypen verbinden. Register selbst bestehen aus, wie Agha es
nennt, sozialen Emblemen:
»An emblem is a thing to which a social persona is attached. It involves three elements;
(1) a perceivable thing, or diacritic; (2) a social persona; (3) someone for whom it is
an emblem (i.e., someone who can read that persona from that thing).« (Agha 2007,
S. 235)
Ein solches Emblem kann ein bestimmter sprachlicher Ausdruck sein. Agha selbst (2007,
S. 225) nennt bspw. Cor blimey als Emblem für Cockney Slang. Für das Deutsche könnte
man mit bestimmten sozialen Gruppen und Verhaltensweisen assoziierte Lexeme und
Lexemverbindungen nennen, etwa so genannte Jugend- und Szenevokabeln, Entlehnungen, die von manchen mit positiv, von anderen mit negativ bewerteten Verhaltensweisen
und Personentypen assoziiert werden, wissenschaftliche Terminologie oder dialektale
Varianten.
Den Prozess nun, in dem ein Zeichen zu einem – von sozialen Gruppen unterschiedlicher Größe als solchem wahrgenommenen – System von sozialen Emblemen wird, also
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Jürgen Spitzmüller
zu einem Register, nennt Agha enregisterment bzw. social enregisterment, also Registrierung bzw. soziale Registrierung:
»When a thing/diacritic is widely recognized as an emblem – when many people view
it as marking the same social persona – I will say that it is enregistered as an emblem,
or is an enregistered emblem. ›Enregistered‹ just means ›widely recognized‹, and there
are degrees of it.« (Agha 2007, S. 235)
»Enregisterment: processes and practices whereby performable signs become recognized (and regrouped) as belonging to distinct, differentially valorized semiotic registers by a population.« (Agha 2007, S. 81)
Registrierungsprozesse sind also diskursive Prozesse, in denen soziale Bedeutung zugewiesen wird, und auf diese Prozesse zu achten heißt darauf zu achten, ob und wie sprachliche Formen metapragmatisch mit Personentypen und Handlungsmodellen verbunden
werden:
»Our focus […] needs to be not on things alone or personae alone but on acts of performance and construal through which the two are linked, and the conditions under
which these links become determinate for actors.« (Agha 2007, S. 235)
Auf Silversteins Konzept der indexikalischen Ordnungen bezogen können Register als
Phänomene der zweiten und dritten Ordnung betrachtet werden, und Registrierung als
Prozess der Entwicklung einer zweiten und gegebenenfalls dritten Ordnung aus der Annahme der Existenz einer ersten indexikalischen Ordnung.
3 Soziale Positionierung
Warum aber findet eine soziale Registrierung von Zeichen überhaupt statt? Die soziolinguistische Standardantwort darauf ist: Diese sozial-indexikalischen Zeichen und Bedeutungszuschreibungen dienen in erster Linie der sozialen Positionierung (bzw. der Konstruktion von Identitäten). Soziale Positionierung ist eine auch diskurslinguistisch wichtige Funktion, sie ist die Grundlage für Prozesse sozialer Stratifizierung bzw. der
Aushandlung und Verfestigung von gesellschaftlichen Hierarchien (Dynamiken der
Macht), von Prozessen also, denen das zentrale Interesse vieler Varianten der Diskursanalyse – und neuerdings auch (wieder) der Diskurslinguistik (vgl. Spitzmüller/Warnke
2011, S. 182 f.) – gilt.
Die gegebene Antwort wirft nun aber ihrerseits wieder grundlegende Fragen auf. Vor
allem: Was bedeutet, linguistisch gesehen, soziale Positionierung überhaupt? Was heißt
es, mittels Kommunikation eine ›Position‹ einzunehmen? Diese Frage wird in der Soziolinguistik zurzeit (unter dem Label Stancetaking) intensiv diskutiert (vgl. Englebretson
2007; Jaffe 2009). In diesem Zusammenhang hat John Du Bois (2007) ein durch seine
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Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung
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Abbildung 1: Das ›Stance‹-Dreieck (nach Du Bois 2007, S. 163)
Einfachheit bestechendes Modell vorgeschlagen, das die Frage zu beantworten versucht:
das so genannte ›Stance-Dreieck‹ (vgl. Abbildung 1). Demzufolge lässt sich das kommunikative ›Stancetaking‹ in drei ineinander verschachtelte Teilprozesse unterteilen:
1. den Prozess der Bewertung (evaluation) eines ›Objekts‹ (›Gegenstands‹, ›Sachverhalts‹, einer ›Idee‹, ›Tätigkeit‹ usw.) durch einen bzw. mehrere ›Akteure‹,
2. den Prozess der Positionierung (positioning) dieser Akteure in Relation zum ›Objekt‹
(durch die Bewertung) und
3. den Prozess der Ausrichtung (alignment), bei dem die Standpunkte verschiedener Akteure abgeglichen werden, also die Positionierung verschiedener Akteure zueinander
aufgrund ihrer jeweiligen Bewertungen eines spezifischen ›Objekts‹.
Das heißt, mit Du Bois gesprochen:
»Stance is a public act by a social actor, achieved dialogically through overt communicative means, of simultaneously evaluating objects, positioning subjects (self and
others), and aligning with other subjects, with respect to any salient dimension of the
sociocultural field.« (Du Bois 2007, S. 163)
Oder kürzer:
»I evaluate something, and thereby position myself, and thereby align with you.« (Du
Bois 2007, S. 163)
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
270
Jürgen Spitzmüller
Das Modell ist für das Verständnis sozialer Positionierung deswegen so hilfreich, weil es
zwei wichtige Aspekte in den Fokus rückt. Erstens unterstreicht es die Tatsache, dass Positionierung ein sozialer und interaktiver Prozess ist – und dies in mehrfacher Hinsicht,
nämlich zum einen insofern, als Standpunkte stets interaktiv ausgehandelt werden, und
zum anderen insofern, als ein Standpunkt ja nur ein Standpunkt relativ zu anderen ist.
Zweitens verdeutlicht das Modell durch die Korrelation von Standpunktbezug und Bewertung, wie wichtig der Aspekt der Ideologie für Prozesse sozialer Positionierung ist: Jeder Standpunktbezug kommuniziert, da er die Bewertung eines ›Objekts‹ einschließt
und somit Werte und Einstellungen zum Ausdruck bringt, Ideologien.
Auf der Basis dieses Modells lässt sich soziale Positionierung durch Sprachgebrauch
brauchbar modellieren, besonders dann, wenn man die Konzepte des sozialen Registers
und der sozialen Registrierung in die Modellierung mit einbezieht, was im Folgenden geschieht. Zunächst lässt sich dabei festhalten, dass auch Sprachgebräuche zum ›Objekt‹ eines Standpunktbezugs werden können, nämlich dann, wenn Akteure diesen Sprachgebrauch explizit metapragmatisch bewerten (etwa: ›Dialekte sind emotionaler und authentischer als Standardsprache‹, ›Anglizismen sind nichts als Imponiergehabe‹). In
solchen Fällen der expliziten metapragmatischen Referenz kann man die Position des
›Objekts‹ mit ›Sprachgebrauch‹ besetzen und den Prozess der ›Bewertung‹ als ›metapragmatische (sprachideologische) Bewertung‹ spezifizieren. Da Sprachgebräuche im Kontext von Registern ihrerseits mit Personen- und Handlungstypen assoziiert werden, ist
diese Bewertung gleichzeitig auch eine Bewertung sozialer Personen und Handlungen
(von assoziierten Sprechern und Lebensweisen). Aber nicht immer, und vielleicht sogar
in den wenigsten Fällen, sind metapragmatische Referenzen derart explizit (vgl. Verschueren 2004). Und tatsächlich müssen sie es auch nicht sein, denn man kann sich zu einem
Sprachgebrauch (und den damit assoziierten sozialen Werten) auch schon allein dadurch
positionieren, dass man diesen praktiziert. Praxis heißt aber nicht in jedem Fall Affirmation: Man kann einen Sprachgebrauch praktizieren und sich zugleich von ihm distanzieren, dann nämlich, wenn man eine Stilisierung vornimmt. Man muss also verschiedene
Formen der sprachlichen Performanz bzw. Stilisierung unterscheiden.
Eine hilfreiche und in der Soziolinguistik viel beachtete Unterscheidung verschiedener Stilisierungspraktiken haben Bucholtz/Hall (2006, S. 382 ff.) vorgelegt. Sie unterscheiden drei Paare solcher Praktiken:
1. Adequation und distinction: den Versuch der Herstellung von Ähnlichkeiten bzw. Unterschieden zu anderen sozialen Akteuren und Akteursgruppen bzw. (im Fall einer
Kategorisierung anderer) zwischen anderen sozialen Akteuren.
Im Prozess der Adäquation bestimmt das Streben nach sozial wahrgenommener Ähnlichkeit die Stilisierung, saliente Unterschiede werden zugunsten dessen ausgeblendet.
Der Prozess der Distinktion stellt demgegenüber einen Versuch der Abgrenzung von
anderen bzw. anderer dar, hierbei werden Unterschiede konstruiert und in den Vordergrund gestellt, saliente Ähnlichkeiten werden ausgeblendet.
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Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung
271
2. Authentication und denaturalization: den Versuch der Herstellung von ›Authentizität‹
bzw. ›Künstlichkeit‹.
Der Prozess der Authentifizierung beschreibt dabei den Versuch bzw. den formulierten Anspruch, hinsichtlich des eigenen Handelns bzw. aufgrund spezifischer Charakteristika möglichst ›authentisch‹ oder ›natürlich‹ zu sein (wobei ›Authentizität‹ und
›Natürlichkeit‹ als soziale Konstrukte bzw. als Ideologien verstanden werden), der
entgegengesetzte Prozess der Denaturalisierung den Versuch, bewusst ›un-authentisch‹ zu wirken (bspw. durch Parodie und Verfremdung) oder andere als ›un-authentisch‹ bzw. ›unnatürlich‹ darzustellen.
3. Authorization und illegitimation: den Versuch, eine soziale Position durch bestimmte
soziale Prozesse (der Institutionalisierung bzw. Machtausübung) zu legitimieren (Autorisierung) oder sie umgekehrt zu delegitimieren. Dies beinhaltet die diskursive
Durchsetzung von bzw. den diskursiven Kampf um Ideologien.
Durch eine bestimmte Sprachwahl und die Art und Weise, wie sie praktiziert wird, können Akteure also versuchen, wie eine bestimmte (imaginierte) Gruppe zu klingen oder
gerade ganz anders, um sich ihr gegenüber zu positionieren. Sie können weiterhin versuchen, als ›authentische‹ So-und-So-Sprecher zu erscheinen oder durch Verfremdung
eine andere, vielleicht kritische, vielleicht überlegene Position gegenüber So-und-SoSprechern zu markieren. Schließlich können sie versuchen, sich als legitime So-und-So-
Akteur 1
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Abbildung 3: Soziales Register
Sprecher darzustellen oder anderen diesen Status abzusprechen bzw. sie können als Rezipienten einen Produzenten aufgrund seiner Sprachwahl und der Art und Weise, wie er
sie praktiziert, als adäquaten, distinkten, authentischen, unnatürlichen, legitimen oder illegitimen So-und-So-Sprecher wahrnehmen. Die verschiedenen Ebenen hängen natürlich
letztlich zusammen, sie werden aber teilweise durch unterschiedliche kommunikative
Mittel realisiert.
Die bis hierhin genannten Aspekte lassen sich nun zu einem Modell sozialer Positionierung mittels Sprache zusammenfügen. In diesem Beitrag wird vorgeschlagen, soziale
Positionierung mittels Sprache als eine Form metapragmatischen Stancetakings, als metapragmatische Positionierung zu verstehen. Ausgangspunkt hierfür ist ein modifiziertes
Stance-Dreieck, bei dem die Stelle des ›Objekts‹ mit dem Sprachgebrauch besetzt wird
(vgl. Abbildung 2): Ein Akteur bewertet und/oder praktiziert eine Sprachgebrauchsform
in einer bestimmten Art und Weise (authentifizierend, verfremdend usw.). Dadurch, dass
er das tut, und dadurch, wie er das tut, positioniert er sich selbst in einer bestimmten Art
und Weise (affirmativ, ironisch usw.) zu diesem Sprachgebrauch. Insofern richtet sich der
Akteur gegenüber anderen Akteuren aus, die das ebenfalls in einer spezifischen Art und
Weise tun. Es kommt aber noch etwas hinzu: Der Sprachgebrauch selbst indiziert ja als
Signifikant eines Registers einerseits soziale Personentypen und andererseits typisierte
Verhaltensformen. Personen- und Verhaltenstypen werden so an eine Sprachgebrauchsform gebunden und sie werden über das Register miteinander verknüpft – ein semiotisches Beziehungsverhältnis, das man ebenfalls als triadisches modellieren kann (vgl. AbBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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bildung 3). Deshalb richtet sich ein Akteur, wenn er einen sozial registrierten Sprachgebrauch verwendet, auch zu diesen typisierten Personen aus, und er positioniert sich zu
typisierten, ›registrierten‹ Verhaltensformen.
Soziale Positionierung durch Sprache ist also ein komplexer Positionierungsprozess
über verschiedene Ebenen: Ein Akteur positioniert sich mit seinem Sprachgebrauch
nicht nur – bzw. wird aufgrund seines Sprachgebrauchs nicht nur positioniert – in Relation zu anderen Akteuren aufgrund ihrer Bewertung oder Praxis dieses Sprachgebrauchs.
Er positioniert sich – oder wird positioniert – aufgrund des bestimmte sprachliche Varianten betreffenden, sozial aber unterschiedlich distribuierten Registerwissens auch in
Relation zu typisierten Personengruppen und Verhaltensformen, die mit dem Sprachgebrauch assoziiert und von ihm kontextualisiert werden. Zu diesen (wie zu konkreten Akteuren) kann sich ein Kommunikationsakteur in bestimmter Art und Weise (affirmierend, kritisch, ironisierend usw.) durch Sprachbewertung und Sprachpraxis positionieren und ausrichten. Zusammengenommen lässt sich dies mit Hilfe des Modells
veranschaulichen, welches Abbildung 4 zeigt, ein Modell metapragmatischer Positionierung, welches die vorgestellten Modelle sozialer Positionierung (durch Sprachbewertung
und sprachliche Performanz) und sozialer Indexikalität (durch Register) integriert. Die
gestrichelten Linien auf der Seite des Registers sollen dabei verdeutlichen, dass der Registrierungsprozess ein dynamischer, potenzieller Prozess sozialer Zuschreibung ist.2
◂ richtet sich aus ▸
Akteur 2/1
Personentypus
pra
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◂ p tizie
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Sprachgebrauch
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◂v
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Verhaltenstypus
◂ positioniert sich ▸
Abbildung 4: Metapragmatische Positionierung
2
◂ verknüpft ▸
◂ richtet sich aus ▸
Akteur 1/2
Für wertvolle Hinweise zur Darstellung des Modells danke ich Sven Staffeldt.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
274
Jürgen Spitzmüller
4 Beispielfall: Die Erfindung der ›Internetsprache‹
Im Folgenden wird anhand eines Beispielfalls exemplifiziert, wie die beschriebenen Konzepte und Modelle für eine Analyse sprachideologischer Diskurse fruchtbar gemacht
werden können. Der Fall betrifft ein metasprachliches Phänomen, die mediale Wahrnehmung und Bewertung der so genannten ›Internetsprache‹.
Wenn man in eine Suchmaschine das Stichwort Internetsprache eingibt, stößt man
unter anderem auf folgende Beschreibung:
»Die meisten Internet-Neulinge stellt das World Wide Web am Anfang ihrer Reise vor
das ein oder andere Rätsel um die Bedeutung zahlreicher Begrifflichkeiten in diesem
Medium. In Chats, Foren sowie dem alltäglichen E-Mail-Verkehr hat sich nämlich
eine ganz eigene Sprache etabliert, die Internetsprache. Sie ist geprägt von Abkürzungen und Emoticons (Smileys aus Satzzeichen).« (Sprachnudel 2013a)
Diese Charakterisierung findet sich auf der Seite Sprachnudel.de, welche sich selbst als
»Wörterbuch der Jetztsprache« bezeichnet, und sich dem Besucher folgendermaßen vorstellt:
»Spar dein Geld für Sprachreisen, denn diese Seite richtet sich an alle Cracks, Geeks,
Homies und Ikonen der verschiedenen Lifestyle-Szenen, indem Sie sprachliche
Trends sammelt und Normalbürgern zugänglich macht. Was nicht im Duden steht
soll zukünftig hier gefunden werden.« (Sprachnudel 2013b)
Im Sinne dieser Selbstverpflichtung stellt die Seite unter dem genannten Lemma eine
»Liste mit entsprechenden Begriffen zur Verfügung«, um »den Netzjargon auch für die
breite Masse verständlich zu machen« (Sprachnudel 2013a). Sie besteht aus zurzeit 71
primär lexikalischen Einheiten, nämlich 47 Nomina, 18 Verben, 7 in vollständige Propositionen auflösbaren Akronymen und einem Adjektiv, und stellt eine Mischung dar aus
Fachterminologie (wie Blogosphäre, Hoax, Phishing) und ironisch-expressiven Wortbildungen (wie Fressensammlung, Wikidiot, Blogorrhö). Außerdem enthält sie, was nicht
ganz unwichtig ist, 27 Entlehnungen bzw. Lehnprägungen.
Eine ähnliche Beschreibung findet man in der selbsternannten »sinnfreien Enzyklopädie« Stupidedia (www.stupidedia.org), einer satirischen, optisch und stilistisch bewusst
an die Wikipedia anschließenden kollaborativen Plattform, die den schönen Slogan führt:
»Wissen Sie bescheid? Nein? Wir auch nicht!« (Stupidedia 2013a). Auf der Plattform
werden einerseits satirisch Tagesereignisse kommentiert und andererseits versucht man
Phänomene, welche die Beiträger für ›stupide‹ halten, mit einem ironisch gebrochenen
lexikographischen Ernst zu beschreiben.
Unter dem Lemma Internetsprache findet sich dort die folgende Definition:
»Internetsprache, die, ein modernes Phänomen der Entwicklung unserer Sprache in
ein stenotypisches Kürzelkonstrukt. Gespräche, wie sie das Beispiel rechterhand [eiBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung
275
nem angeblich aus einer Teamspeak-Konverstation zitierten Gesprächsauszug, Anm.
J.S] darstellt, hört man zu Tausenden auf so genannten Teamspeak Servern, die in der
Regel der Verständigung zwischen einer Gemeinschaft von Computerspielern dienen. Ursprünglich entstand dieser zugegeben fremd wirkende Sprachgebrauch in den
späten 90ern hauptsächlich in so genannten Chatrooms, um Gefühle und kurzzeitige
Zustände möglichst schnell und treffend auszudrücken. Dadurch entstanden logisch
anmutende Wörter wie zum Beispiel [… es folgt eine Liste von 28 Akronymen, Anm.
J.S.].« (Stupidedia 2013b; vgl. auch Abbildung 5)
Abbildung 5: »Internetsprache« (Stupidedia 2013b)
Dies sind nur zwei von sehr vielen ähnlichen Beispielen für die Beschreibung der ›Internetsprache‹, die man im und außerhalb des Netzes in großer Zahl findet. Die Beschreibung eines angeblich ›internetspezifischen‹ Sprachgebrauchs ist also keineswegs so exklusiv, wie es die Beschreibungen selbst oft für sich beanspruchen. Nicht zuletzt der von
der Sprachnudel kontrastiv genannte Duden widmet sich vielfach dem Phänomen. Schon
das orthographische Wörterbuch, das gemeinhin metonymisch als »der Duden« bezeichnet wird, enthält spätestens seit der 22. Auflage 2000 viele als ›internetspezifisch‹ eingeschätzte Einträge – zum Leidwesen vieler Sprachkritiker. Darüber hinaus gibt es aber
auch spezifische, auf ein breites Publikum ausgerichtete Publikationen des Dudenverlags
zum Thema. Ein Beispiel, auf das die folgende Analyse näher eingehen wird, ist ein von
Linguistinnen und Linguisten verfasster, in der Reihe »Thema Deutsch« herausgegebener Sammelband mit dem Titel »Von *hdl* bis *cul8r*. Sprache und Kommunikation in
den Neuen Medien« (Schlobinski 2006). Zwar setzt sich dieser Sammelband explizit kriBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
276
Jürgen Spitzmüller
tisch mit dem Konzept der ›Internetsprache‹ auseinander, dennoch profiliert er dieses allein schon im Titel – ein Faktum, auf das zurückzukommen sein wird.
Festhalten lässt sich als Ausgangsbeobachtung Folgendes:
– Im alltagsweltlichen Diskurs hat sich vielerorts die Vorstellung verfestigt, es gebe im
Internet eine eigene, durch bestimmte Merkmale klar erkennbare und abgrenzbare
›Sprache‹.
– Diese sei Neulingen unverständlich und müsse, aus Sicht eines Teils der sich
äußernden Diskursakteure, ›erlernt‹ werden, wenn man sich erfolgreich im Internet
bewegen wolle; aus Sicht anderer stellt sie ein unnötiges und sinnfreies ›Imponiergehabe‹ dar, gegen das man sich als reflektierter Sprachteilhaber wehren müsse.
– Diese ›Sprache‹ wird auch als eigenständige Sprache bezeichnet, nämlich als Netzsprache, Netspeak, Websprech, Internetslang, spezifischer als Chatslang und Chatspeak –
oder eben ganz allgemein als ›die‹ Internetsprache (wie man sieht, liefern viele
Bezeichnungen die Bewertung des Phänomens gleich mit).
Viele Linguistinnen und Linguisten stören solche Aussagen und Kategorisierungen massiv. Zu ihnen zählt bemerkenswerterweise auch der Herausgeber des genannten DudenBandes, welcher sich in vielen Aufsätzen und Vorträgen vehement gegen den so genannten ›Mythos‹ der Internetsprache ausspricht, die es seiner Meinung nach nicht gibt und
die ein Konstrukt linguistisch uninformierter Laien darstelle, die die medienlinguistische
Forschung nicht zur Kenntnis nähmen (vgl. etwa Schlobinski 2001, 2012). Die Position
Schlobinskis und vieler anderer Medienlinguisten, die ähnlich argumentieren (vgl. etwa
Schmitz 2002; Dürscheid 2004; Androutsopoulos 2006), steht dabei in der Tradition einer langen Auseinandersetzung der Sprachwissenschaft mit dem massenmedialen Diskurs zu Sprache. Im Kern läuft diese Auseinandersetzung darauf hinaus, dass die Linguisten der so genannten ›Öffentlichkeit‹ vorwerfen, sich zu sprachlichen Fragen unsachlich zu äußern und linguistische Erkenntnisse dabei zu ignorieren, während Akteure des
massenmedialen Diskurses der Linguistik umgekehrt häufig Arroganz unterstellen und
konstatieren, dass diese – beispielsweise wenn es um Bewertungen des Sprachwandels
geht – den eigentlichen Punkt verfehle (vgl. hierzu Spitzmüller 2005a, 2005b; für das
Englische Cameron 1995).
Eine genauere metapragmatische Analyse zeigt jedoch, dass die Sache nicht so einfach
ist. Am Beispiel der ›Internetsprache‹ lässt sich zeigen, dass die Annahme vieler Medienlinguisten, dass es diese nicht gebe, nicht in jeder Hinsicht zutrifft. Umgekehrt trifft aber
auch die Aussage vieler Akteure im medialen Diskurs, dass es eine ›Internetsprache‹ gebe,
nicht in jeder Hinsicht zu. Es kommt darauf an, auf welcher (indexikalischen) Ebene man
das Phänomen betrachtet. Weiterhin zeigt die Analyse, dass die Annahme vieler Linguisten, dass ›Laien‹ ihr eigenes ›sprachtheoretisches Süppchen‹ kochten, ebenfalls nicht vollständig zutrifft. Wenn man sich nämlich ansieht, wie sich dieses Konzept diskursiv entBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung
277
wickelt hat, dann lässt sich zeigen, dass einige Medienlinguisten an dieser ›Suppe‹ tatkräftig mitgekocht haben. Dies wird, mit Hilfe der besprochenen Konzepte, im Folgenden
begründet. Dabei wird der Blick auf die Geschichte des Konzeptes der ›Internetsprache‹
im sprachreflexiven Diskurs gerichtet, die, wie gezeigt wird, die Geschichte einer sozialen
Registrierung ist.
Die soziale Registrierung mediensprachlicher Formen wurde, jedenfalls für das Deutsche, bislang noch nicht systematisch aufgearbeitet. Zwar gehen viele medienlinguistische Arbeiten auf metapragmatische Zuschreibungen ein und zitieren einzelne Beispiele,
zumeist jedoch nur, um diese als ›Mythen‹ zu bewerten, denen dann die empirischen
Fakten entgegengehalten werden. Schon an systematischen Analysen zum mediensprachlichen Metadiskurs im Deutschen mangelt es, erst recht an solchen, die der Frage
nachgehen, welche Funktionen die doch sehr rekurrenten metapragmatischen Konstruktionen haben. Für das Englische ist die Situation etwas besser. Von Thurlow (2006, 2007)
etwa liegen detaillierte Analysen des mediensprachlichen Metadiskurses vor, und dezidiert die soziale Registrierung von ›Internetsprache‹ untersucht Squires (2010).
Sie zeigt am Beispiel der Ethnokategorien Netspeak und Chatspeak, wie sich ab Mitte
der 1990er-Jahre im Metadiskurs der Presse, im Netz selbst, aber auch in den frühen
linguistischen Arbeiten ein sozial distinktives Konzept einer ›Internetsprache‹ herausbildet, das zwar kaum empirisch (also auf der ersten indexikalischen Ebene) begründet ist,
aber gleichwohl diese erste Ebene präsupponiert und dadurch erheblich auf die positive
wie negative Bewertung des Mediums Internet und des dortigen Sprachgebrauchs
zurückwirkt. Wird Netspeak in den 1990er-Jahren noch vor allem mit Fachvokabular
verbunden, werden Netspeak und Chatspeak ab der Jahrtausendwende zunehmend mit
bestimmten Verschriftungsformen (Akronymen, normabweichendem Schreiben, distinktiver Interpunktion) und angeblicher geschriebener ›Mündlichkeit‹ verbunden, Phänomenen, die auch in der frühen Internetforschung fokussiert wurden.3 Squires zeigt,
dass bei der Registrierung Medialitätszuschreibungen eine wichtige Rolle gespielt haben:
In einem ›neuen‹ Medium werden ›neue‹ Kommunikationsformen erwartet; beobachtete
oder auch nur behauptete Abweichungen werden schnell als ›typisch‹ für dieses ›neue‹
Medium wahrgenommen, sie werden zumeist auf die medialen Bedingungen wie etwa
die angebliche Synchronizität des Chats zurückgeführt und mit dem favorisierten ›richtigen‹ Sprechen (den Standardnormen) kontrastiert (vgl. Squires 2010, S. 470). In einem
deutschen Zeitungstext wird diese Auffassung sehr schön auf den Punkt gebracht:
»Wo die neueste Technologie herrscht, herrscht auch die neueste Art zu kommunizieren.« (Die Welt, 2.10.1999)
3
Vgl. etwa Haase et al. (1997), Bär (2000) und Crystal (2001), die bezeichnenderweise auch von der
»Sondersprache des Internet« (Haase et al. 1997, S. 53; ähnlich auch Bär 2000, S. 16), von »Cyberdeutsch«, »Sondersprache«, »Computersprache«, »E-Hochdeutsch« (Bär 2000, S. 16, S. 32) bzw. von
»Netspeak« (Crystal 2001, S. 17–61 und passim) sprechen. Vgl. zum Konzept der ›geschriebenen
Mündlichkeit‹ in der frühen Forschung kritisch auch Spitzmüller (2005c).
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
278
Jürgen Spitzmüller
Squires zeigt weiterhin, wie ›Internetsprache‹ mit bestimmten metapragmatisch evaluierten Personentypen verknüpft wird, insbesondere mit Jugendlichen und interessanterweise vor allem mit Frauen sowie mit ›faulen‹ und ›unerfahrenen‹ Nutzern (»youth, females, the lazy or inexperienced«, Squires 2010, S. 479). Hier hat sich offenbar ein signifikanter Wandel seit der Frühzeit des Internets vollzogen, wo ›Netzsprache‹ häufig noch
als Insiderjargon vor allem technikaffiner Männer – so genannter Geeks – verstanden
wurde.
Eine Pilotstudie auf der Grundlage eines Korpus aus 121 deutschsprachigen Pressetexten (von 1995 bis Februar 2013) zeigt, dass sich die von Squires beschriebenen Entwicklungen auch im deutschsprachigen Metadiskurs erkennen lassen, wenngleich es
auch signifikante Unterschiede gibt, insbesondere die enge Verbindung mit der ›Fremdsprache‹ Englisch in der Frühzeit des Diskurses (»Monopol des Englischen«, taz,
7.12.1995) und später dann die Kopplung an den anwachsenden Anglizismendiskurs
(vgl. zu diesem Spitzmüller 2005a). Wie in Squires’ Korpus konzeptualisieren auch die
frühen deutschsprachigen Texte von Mitte bis Ende der 1990er-Jahre ›Internet-‹ und
›Chatsprache‹ noch primär als eine Menge von Fachvokabular, das es für Internetnutzer
zu erlernen gelte; die Texte enthalten dementsprechend häufig terminologische Glossare,
die die ›Internetsprache‹ erläutern (vgl. dazu auch Kreisel/Tabbert 1996; Rosenbaum
1996; Abel 1999). Ab Ende der 1990er-Jahre und insbesondere ab der Jahrtausendwende
wird ›Internetsprache‹ dann verstärkt als eine ›Geheimsprache‹ konzeptualisiert, die neben Fachvokabular vor allem aus Akronymen (wie LOL), Rebusschreibungen (wie cu)
und Emoticons (wie ;-)) besteht. Diese werden zu sozialen ›Emblemen‹ der Netzsprache
ikonisiert (vgl. zum Konzept der Ikonisierung Irvine/Gal 2000). Ein typisches (frühes)
Beispiel für den Diskurs dieser Zeit ist das folgende:
»Kauder-Websch – die neue Sprache
[…] Entstanden ist eine regelrechte Geheimsprache, für die eine spezielle Zeichensprache und Vokabeln gelernt werden müssen. Zur Grundausrüstung eines Chatters
gehören Emotionskürzel wie LOL (Laughing out Loudly = laut lachen, englisch), Abkürzungen wie ›cu‹ (tschüss), ›bvid‹ (bin verliebt in dich) oder ›blbr‹ (Bussi links,
Bussi rechts) sowie Computer-Smileys, mit denen der jeweilige Gefühlszustand ausgedrückt wird. Inzwischen sind über 650 solcher Emoticons bekannt.« (Tages-Anzeiger, 26.06.1999)
Dieses Konzept verfestigt sich über die Jahre hinweg. Im Folgenden werden einige Beispiele gegeben, in denen als Embleme Fachtermini, Anglizismen (»Englischbrocken«),
standardferne Verschriftung (wie das funzt!), Akronyme (wie lol) und Rebusschreibungen (wie cu), Inflektive (wie *traurigguck*), Emoticons (wie ;-)) und verknappte Syntax
genannt werden. Die Beispiele demonstrieren auch, dass als Personentypen vor allem Jugendliche genannt werden, deren ›Geheimsprache‹ die Eltern nicht verstünden. Im positiven Fall wird das Ganze als ›kreative Spielerei mit Normen‹ bewertet, im negativen als
›Sprachverfall‹:
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung
279
»Do you speak Internet?« (Die Welt, 21.12.1999)
»[…] die Unachtsamkeiten hinsichtlich Stil, Orthografie und Interpunktion sind beträchtlich.« (Berliner Morgenpost, 30.1.2000)
»›PROG NICH GECHECKT?‹ Journal CEBIT – Ein Sprachbrei aus Fachausdrücken,
Abkürzungen und Englischbrocken breitet sich im Internet aus. Das hört sich cool an,
lässt normale Menschen aber meist ratlos zurück.« (Stern, 7.3.2002)
»Zeichen-Sprache. Wie das Internet Kommunikation verkürzt.« (Hamburger Abendblatt, 5.4.2002)
»›Hey, frohe xmas und glg‹.« (taz, 20.12.2003)
»Kreative Plauderei im Netz. Beim Chatten experimentieren Jugendliche mit der
Sprache und mit ihrer Identität.« (Stuttgarter Nachrichten, 2.4.2005)
»Wenn sich Babsi16 mit ihrem Chat-Freund BlackyB im Internet unterhält, dann versteht ihre Mutter meist nur Bahnhof. Was bitte bedeutet lol oder cu? Und was ist
*traurigguck*?« (Stuttgarter Nachrichten, 2.4.2005)
»Web-Sprache: Zwischen ›rofly‹ und ›liebguck‹.« (Rheinische Post, 14.3.2006)
»Die Computertastatur und das angekoppelte schnellebige System verführen zu einer
eigenen Art Sprache, dem Netzjargon.« (Hamburger Abendblatt, 7.6.2006)
»›cul8r‹: Wir sehen uns später. Geheimcode? Internet-Surfer und SMS-Schreiber erfinden ihre eigene Sprache.« (Berliner Morgenpost, 9.10.2006)
»Das schnelle Medium Internet hat eine ganz eigene Form der Kommunikation hervorgebracht. So drückt man etwa in elektronischer Post seine Gefühle mit kleinen Gesichtern, so genannten Emoticons aus, die vornehmlich aus Punkten und Klammern
bestehen: :-) steht für Lachen oder ;-) für Augenzwinkern. Auch Abkürzungen wie
›hdl‹ für ›hab’ dich lieb‹ oder ›rotfl‹ für ›rolling on the floor, laughing‹ (vor Lachen auf
dem Boden wälzen) haben sich in Texten eingebürgert.« (Stuttgarter Nachrichten,
15.1.2007)
»Download mal das Proggi zum Foten, das funzt!« (Spiegel Online, 28.6.2007)
»›Webbisch‹ für Anfänger. Der Jargon der Internetforen und Chatrooms ist gewöhnungsbedürftig und nicht immer leicht zu verstehen.« (Stuttgarter Nachrichten,
22. 10. 2007)
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
280
Jürgen Spitzmüller
»Im Internet kennen sich die meisten Jugendlichen bestens aus. Dort herrscht eine
ganz bestimmte Sprache: Es gibt keine Groß- und Kleinschreibung, Wörter werden
nicht mehr ausgeschrieben, sondern durch Kürzel ausgedrückt.« (Rheinische Post,
30.4.2009)
»Lach, grins, grübel und merkwürdige Abkürzungen: In Internet-Chats hat sich nach
Untersuchungen von Wissenschaftlern ein neues Deutsch entwickelt.« (SDA – Basisdienst Deutsch, 27.5.2009)
»Dabei hat das Schreiben in Echtzeit mittlerweile sogar eine eigene Sprache hervorgebracht. Dieser Chat-Slang zeichnet sich vor allem durch die häufige Verwendung von
Abkürzungen aus: In vielen Dialogen reihen sich gleich mehrere kryptische Kürzel
wie ›np‹ (›no problem‹) oder ›bwd‹ (›bin wieder da‹ […]) aneinander.« (Focus Magazin, 26.10.2009)
»Mit LG, LOL und ROFL kurz und nervend durchs Netz« (Wiesbadener Kurier,
12.7.2011)
An dieser Stelle kann nicht detailliert auf die einzelnen Texte eingegangen werden, es
seien aber ein paar generelle Befunde genannt, die das gesamte Korpus betreffen.
Tabelle 1: Soziale Embleme der ›Internetsprache‹
Phänomen
Nennung in Dokumenten
Akronyme u. Rebusschreibung
60
Anglizismen
25
Emoticons
24
›Normferne‹ Verschriftung
24
›Mündlichkeit‹
12
Inflektive
11
Englisch
11
Reduzierte Syntax
11
Buchstabeniterationen
2
N = 121
In Tabelle 1 sind die im Korpus zumeist genannten Merkmale bzw. sozialen Embleme der
›Internetsprache‹ zusammengestellt. Es zeigt sich, dass als Embleme vor allem saliente
sprachliche Phänomene wahrgenommen werden, also solche Phänomene, die – im Vergleich zu dem, was gemeinhin als ›Standardsprache‹ oder auch ›gutes Deutsch‹ gilt –
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung
281
›markiert‹ erscheinen. Sehr häufig sind dies genuin schriftsprachliche Phänomene (Akronyme, Rebusschreibungen, Emoticons, Inflektive, Buchstabeniterationen), aber auch
so genannte ›mündliche‹ Formen (die nicht zuletzt deswegen als ›mündlich‹ gelten, weil
sie von den Erwartungen prototypischer Schriftlichkeit abweichen). Wichtig ist dabei
auch, dass sich aus solchen Zuschreibungen ex negativo Standardsprachideologien ablesen lassen: Als ›gutes Deutsch‹ gilt eine elaborierte Schriftlichkeit mit ›vollständiger‹,
komplexer Syntax, orthographiekonformes Schreiben sowie ein ›reines‹ (d.h. möglichst
von Entlehnungen ›freies‹) Deutsch (vgl. dazu Spitzmüller 2005a). Je ›exotischer‹ ein
Sprachgebrauch erscheint, desto besser lässt er sich offenbar als eigenständige ›Sprache‹
fassen, als homogenes ›Objekt‹ also, zu dem sich die Diskursakteure positionieren können.
Tabelle 2: Soziale Typen
Typus
Nennung in Dokumenten
›Jugendliche‹
30
›Geeks‹
3
(›Berufsjugendliche‹) Erwachsene
3
N = 121
Tabelle 2 zeigt die ›sozialen Typen‹, mit denen dieser Sprachgebrauch assoziiert wird.
Ähnlich wie in Squires’ Korpus werden in den ganz frühen Texten zunächst vor allem die
›Geeks‹ genannt, später dann zumeist einfach nur noch ›die Jugend‹ sowie auch Erwachsene, die nach Meinung der Autoren gerne ›jugendlich‹ wirken wollen. Dass ›Jugendlichkeit‹ (im Sinne einer sozialsymbolischen Kategorie) als sprachideologische Bezugsgröße
sehr wichtig ist, wurde bereits in anderen Analysen sprachideologischer Diskurse gezeigt, besonders in den Arbeiten zur so genannten ›Jugendsprache‹. Wie insbesondere Januschek (1989) in seiner wegweisenden Arbeit zur Erfindung der Jugendsprache zeigt,
spielen hier (affirmative wie distanzierende) Projektionen eine wichtige Rolle. Indem
sich die Diskursakteure metapragmatisch zur ›Sprache‹ angeblicher ›Jugendlicher‹ positionieren, positionieren sie sich auch zu den Werten und Einstellungen, die ›Jugendlichkeit‹ sozial zugeschrieben werden. Aspekte wie ›Progressivität‹ und ›Konservativismus‹
spielen in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle.
Tabelle 3: Handlungsformen und -gründe
Handlungsform/Grund
Nennung in Dokumenten
Abgrenzung (›Geheimsprache‹)
20
Kreativität
8
Inkompetenz/Unreflektiertheit
18
N = 121
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
282
Jürgen Spitzmüller
Die projektierten Handlungsformen, Ziele und Gründe für die ›Internetsprache‹ sind in
Tabelle 3 zusammengestellt. Als solche erkennen die Texte vor allem ›Abgrenzung‹
(Stichwort ›Geheimsprache‹), ›Sprachspielerei‹ sowie, aus kritischer Sicht, ›Inkompetenz‹
und ›mangelnde Sprachreflexion‹. Der Reiz des ›Exotischen‹, die Offenheit für ›Neues‹
oder, auf der anderen Seite, die Berufung auf ›Traditionen‹, ›sprachliche Normen‹, ›Kompetenzen‹ und ›kulturelle Werte‹ sowie die Position, die die Diskursakteure über ihre metapragmatische Bewertung relativ zu diesen Werten zu erkennen geben, sind zentrale
ideologische Ankerpunkte, mit deren Hilfe die Akteure die Grenzlinien ihrer eigenen Lebenswelt ziehen, mit denen sie der sozialen Wirklichkeit eine kontingenzreduzierte,
überschaubare ›Ordnung‹ geben und mit denen sie ihr eigenes sprachliches und soziales
Handeln legitimieren und nobilitieren.
Es zeigt sich also, dass es hier um weit mehr als um ›Sprache‹ geht. Sprachideologische
Diskurse und metapragmatische Positionierungen sind ein Mittel der Strukturierung
und Ordnung von Gesellschaft, der Konstitution sozialer Gruppen, zu denen sich die
Diskursakteure zurechnen oder von denen sie sich abgrenzen können, und der Kommunikation und Aushandlung grundlegender sozialer Werte.
Wenn man sich nun als Linguist fragt, wie dieser Geist ›aus der Flasche‹ kam (vgl. zu
diesem Bild Cameron 2004), dann muss man mit Blick auf die Texte konstatieren, dass
die Linguistik selbst ganz offensichtlich als ›Flaschenöffner‹ gedient hat (auch dies bestätigt Squires’ Befunde). Schon die frühen Texte berufen sich nämlich unmittelbar auf medienlinguistische Arbeiten. Das folgende Beispiel illustriert dies:
»Internet verändert Sprache rasant
Düsseldorf (dpa) Das Internet verändert nach Ansicht des Sprachwissenschaftlers
Prof. Dieter Stein die Sprache rasant. ›Das neue Medium bringt wieder mehr mündliche Elemente in die Sprache, weil man darin schreibt, wie man spricht‹, sagte der Anglistikprofessor am Freitag in Düsseldorf im Vorfeld einer internationalen Konferenz
über historische Linguistik. Während neue Sprachformen bisher rund 1.000 Jahre benötigten, um sich durchzusetzen, wäre das im Internet bereits nach drei Monaten bemerkbar. Dazu gehörten unter anderem das Auslassen der Artikel und einfache Satzkonstruktionen.« (taz, 9.8.1997, S. 20)
In diesem Interview wird das Bild eines geradezu ›dramatischen‹ Sprachwandels durch
das Internet und einer Sprache, die ›ganz anders‹ (und in der Tendenz ›reduziert‹) ist, gezeichnet und sprachwissenschaftlich autorisiert. In diesen frühen Texten sprechen die
Linguisten selbst häufig auch noch sehr direkt von »der Internetsprache« oder »dem
Chatslang«, sie betonen vor allem die Unterschiede zu ›alten Medien‹ und machen die
Medien häufig auf die Phänomene überhaupt erst aufmerksam, die später als Embleme
registriert werden, also auf Akronyme, Inflektive, verknappte Syntax usw.
Auch in späteren Phasen des Diskurses bleibt die linguistische Beteiligung hoch. Insgesamt beziehen sich immerhin 46 Artikel aus dem Korpus (also ca. 38%) unmittelbar
auf linguistische Untersuchungen bzw. auf Aussagen von Sprachwissenschaftlern – und
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung
283
zwar zum Teil genau der Sprachwissenschaftler, die momentan so vehement gegen den
Mythos der ›Internetsprache‹ kämpfen. In den allermeisten Fällen verwenden die Texte
diese Referenzen dabei als Stützung für die Ansicht, dass es eine spezifische ›Internetsprache‹ gibt. Selbst in den späteren Texten, in denen Linguisten versuchen, gegen diese
Annahme zu argumentieren, bleibt am Ende zumeist dieser Eindruck stehen, nicht zuletzt deswegen, weil auch diese Texte häufig eine Fülle komprimierter, hochstilisierter,
möglichst exotischer ›Internetsprache‹ präsentieren, ›Internetsprache‹ also auf der dritten indexikalischen Ebene. Auch der zu Beginn erwähnte Duden-Band (Schlobinski
2006) hat eine ganze Reihe von Artikeln nach sich gezogen, die das Buch im Wesentlichen als ›wissenschaftlichen Beweis‹ dafür anführen, dass ›Internetsprache‹ eben vor allem *hdl* und *cul8r* ist. Exemplarisch illustriert dies das folgende Zitat, das einer Besprechung dieses Buchs entnommen ist:
»Das schnelle Medium Internet hat eine ganz eigene Form der Kommunikation hervorgebracht. So drückt man etwa in elektronischer Post seine Gefühle mit kleinen Gesichtern, so genannten Emoticons aus, die vornehmlich aus Punkten und Klammern
bestehen: :-) steht für Lachen oder ;-) für Augenzwinkern. Auch Abkürzungen wie
›hdl‹ für ›hab’ dich lieb‹ oder ›rotfl‹ für ›rolling on the floor, laughing‹ (vor Lachen auf
dem Boden wälzen) haben sich in Texten eingebürgert. Während viele schon den drohenden Sprachverfall beschwören, ist vor allem bei Jugendlichen diese Art der Kommunikation in den Alltagsgebrauch eingeflossen – längst losgelöst vom Medium Internet.« (Stuttgarter Nachrichten, 15.1.2007, S. 11)
Die Analyse zeigt also, dass es tatsächlich eine ›Internetsprache‹ gibt – allerdings weniger
als faktische Form des Sprachgebrauchs denn als interpretatives Konstrukt mit einer spezifischen sozialen Bedeutung. Die Annahme einer durch bestimmte stereotype Formen
erkennbaren ›eigenen‹ Sprache, die vor allem bestimmte Sprechergruppen sprechen,
prägt ganz offensichtlich die Wahrnehmung von Mediensprache, jedenfalls die öffentlich
geäußerte Wahrnehmung. Diese ›Internetsprache‹ hat sich diskursiv entwickelt, sie
wurde über mehrere Stufen der indexikalischen Verfestigung sozial(-semiotisch) registriert – als ›Zeichen‹ bestimmter Sprechergruppen, denen man diesen Sprachgebrauch
zuschreibt, und eines bestimmten Lebensstils, den man diesen Sprechergruppen unterstellt.
Die Linguistik, die aufgrund empirischer Befunde versucht, gegen diese Vorstellung
zu argumentieren, hat nolens volens maßgeblich zur sozialen Registrierung beigetragen.
Sie ist also ein wichtiger Akteur in dieser Geschichte. Was Jannis Androutsopoulos in einer metapragmatischen Untersuchung zur Erfindung ›des‹ Ethnolekts mit Blick auf die
Rolle der Linguistik im Diskurs festgehalten hat, lässt sich nahezu unmodifiziert als Befund auch auf die vorliegende Analyse übertragen, wenn man Ethnolekt durch ›Internetsprache‹ ersetzt:
»Sprachwissenschaftler und -innen sind an der Produktion des Ethnolekts maßgeblich beteiligt. Ihre Expertenbeiträge legitimieren die journalistische […] Behandlung
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
284
Jürgen Spitzmüller
des Gegenstands und führen Verfahren vor, die den Gegenstand Ethnolekt überhaupt
erst konturieren: Benennung und Klassifizierung, normativer Vergleich und Merkmalsselektion etc. Direkte bzw. indirekte (journalistisch aufbereitete) Expertenbeiträge sind oft von Standardismus geprägt und von der journalistischen Bearbeitung
und Mediatisierung abhängig. Die Annahme, dass Expertenbeiträge in journalistischen Berichten sachliche Aufklärung leisten, trifft pauschal und verallgemeinert
nicht zu: ausschlaggebend ist vielmehr ihre journalistische Kontextualisierung.« (Androutsopoulos 2011, S. 117; vgl. zu dem letzten Punkt auch grundsätzlich Spitzmüller
2011)
Die Funktion dieses indexikalischen Konstrukts ist, wie gezeigt wurde, in erster Linie
eine soziopragmatische: Die Vorstellung einer identifizierbaren ›Sondersprache‹ ermöglicht soziale Positionierung zu dieser ›Sondersprache‹ und den mit ihr assoziierten Personentypen und Handlungsformen – sei es affirmativ oder distanzierend.
5 Resümee
Der vorliegende Beitrag hat gezeigt, wie insbesondere sprachideologische Diskurse und
die Konstitution von Sprachideologien mit Hilfe soziolinguistischer und sprachanthropologischer Konzepte gefasst und analysiert werden können. Es wurde demonstriert, wie
diskursive Konzepte im Rahmen von sozialsemiotischen Zuschreibungsprozessen emergieren, wie man soziale Positionierung durch Sprache als diskursives Phänomen begreifen und somit Stratifizierungsprozesse sprachtheoretisch genauer beschreiben kann. Im
Kontext der Diskurslinguistik kann dies als Vorschlag verstanden werden, wie man die
dort notorisch unterspezifizierte ›Akteursebene‹ (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, S. 172–
187) mit sprachwissenschaftlichen Mitteln präziser explorieren kann. Der Beitrag
schließt aber mit der Hoffnung, dass die Diskurslinguistik nicht die einzige diskursanalytische Teildisziplin ist, für die die vorgestellten Theorien und Konzepte von Interesse
sind. Idealerweise sollten sie – gemäß dem Anspruch des interdisziplinären Unternehmens Diskursforschung – auch für diskursanalytische Varianten anderer Disziplinen sowie auch für die interdisziplinäre Diskussion inspirierend (oder vielleicht auch nur widerspruchsfördernd) sein. Zumindest sollte aber deutlich geworden sein, wie tief und
verzweigt die diskursive Verwurzelung von Sprache ist, welche zentrale Rolle semiotische
und kommunikative Prozesse in diskursiven Praktiken spielen, und nicht zuletzt auch,
dass Diskurslinguistik nicht nur Historische Semantik, Korpuslinguistik und CDA, sondern ganz wesentlich auch Soziolinguistik und Linguistische Anthropologie umfasst.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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Anschrift:
PD Dr. Jürgen Spitzmüller
Deutsches Seminar
Universität Zürich
Schönberggasse 9
CH-8001 Zürich
spitzmueller@ds.uzh.ch
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
Der Ausstieg aus der Atomenergie
Diskursnetzwerkanalyse als Beitrag zur Erklärung
einer radikalen Politikwende
Zusammenfassung: Im März 2011 erfolgte in Deutschland innerhalb von nur einer Woche nach dem
Reaktorunglück im japanischen Fukushima eine radikale Politikwende hin zum Ausstieg aus der Atomenergie. Die erst im Herbst 2010 beschlossene Laufzeitverlängerung wurde wieder zurückgenommen,
der endgültige Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahre 2022 beschlossen. Ein solch plötzlicher und
umfassender Politikwandel ist erklärungsbedürftig. Während traditionelle politikwissenschaftliche Theorien an einer plausiblen Erklärung scheitern, ist eine solche aus diskursanalytischer Perspektive jedoch
möglich. Im vorliegenden Artikel nutzen wir die Methode der Diskursnetzwerkanalyse, um den diskursiven Stabilisierungsprozess von politischen Forderungen zur Atom- und Energiepolitik in der medialen
Öffentlichkeit zwischen März und Juli 2011 zu untersuchen. Wir argumentieren, dass die schnelle Durchsetzung der Ausstiegsforderung sich mit Hilfe der drei Faktoren Akteurszentralität, Konsistenz und Zusammenhalt der Diskurskoalition sowie diskursive Schwäche der Opposition erklären lässt.
Schlagwörter: Diskursanalyse, Netzwerkanalyse, Diskursnetzwerkanalyse, AKW-Politik, Diskurskoalitionen, Political Claims
Summary: In March 2011, only one week after the nuclear disaster in Fukushima, Germany saw a radical policy change towards the abandonment of nuclear energy. The prolongation of nuclear energy use
that had been adopted just some months before was withdrawn and a final exit date was set to the year
2022. Such a radical policy reversal calls for an explanation – but traditional theories from political science are not able to provide one. Only a discourse analytical perspective provides a plausible explanation.
In the article we use the method of discourse network analysis to analyze the stabilization of exit demands, based on the coding of newspaper articles from two German quality newspapers published between March and July 2011. We argue that the fast developing hegemony of the exit demand can be explained by looking at three factors: actor centrality, consistency and cohesion of discourse coalitions as
well as discursive weakness of the oppositional coalition.
Keywords: Discourse Analysis, Network Analysis, Discourse Network Analysis, Nuclear Energy Policy,
Discourse Coalitions, Political Claims
Nach heftigen Auseinandersetzungen in der schwarz-gelben Koalition und insbesondere
innerhalb der CDU wurden im September 2010 energiepolitische Beschlüsse gefasst, die
eine erhebliche Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke (AKW) umfassten und damit
eine Aufkündigung des im Jahr 2000 vereinbarten Atomkonsenses darstellten. Ein halbes
Jahr später, im März 2011, erfolgte jedoch innerhalb einer Woche nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima eine radikale Politikwende hin zum Ausstieg aus der
Atomenergie. Die Laufzeitverlängerung wurde wieder zurückgenommen, der endgültige
Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahre 2022 festgelegt. Eine solch radikale UmsteuBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
289
erung der Politik, zumal so kurz nach einer vorhergehenden gesetzgeberischen Festlegung, ist höchst erklärungsbedürftig. Radikale Politikwechsel kann es im deutschen politischen System, so die überwältigende Mehrheit der politikwissenschaftlichen Theorien, kaum geben. Ob die Theorie des mittleren Weges (Schmidt 2007), die Überlegungen
zur Zahl der Veto-Spieler (Tsebelis 2002) oder die Einigungszwänge einer Konsensdemokratie (Lijphart 1999) herangezogen werden, immer erscheint der Spielraum für einen
Akteur, sich konsequent mit seinem Politikansatz gegen alle widerstreitenden Interessen
durchzusetzen, als viel zu gering. So müssten bei einer Vielzahl von Akteuren gleichermaßen Veränderungen auftreten, um verständlich zu machen, warum der Politikwechsel
nicht an dem Widerstand anderer scheitert oder warum es nicht zu langwierigen Verhandlungen und nur inkrementellen Politikänderungen kommt. Veränderungen in der
Gesamtkonstellation müssten danach eine erhebliche Größenordnung erreichen, um
eine Politikwende wie in der deutschen Atompolitik zu erklären. Folglich sollte es für die
Forschung recht einfach sein, die entscheidenden Faktoren zu identifizieren.
Doch zieht man die traditionellen Erklärungsansätze der Politikwissenschaft zu Rate,
die meist scheinwerferartig ihre Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Faktorenbündel
richten, gelingt es nicht, solche großen Verschiebungen zu identifizieren: es sind weder
politische Institutionen noch politische Kraft- und Machtverhältnisse, aber auch keine
Veränderungen in den ökonomischen Bedingungen und Unternehmensstrategien. Die
naheliegende Vermutung, der Politikwechsel könne folglich nur am Ereignis Fukushima
liegen, scheidet als genereller Erklärungsansatz aufgrund der Entwicklung in anderen
Ländern aus. Diese reagierten in der Mehrzahl keineswegs mit einem radikalen Politikwechsel bzw. Atomausstieg. Es kann bestenfalls an der Deutung des Ereignisses in den einzelnen Ländern liegen, womit die Ebene der Diskurse in den Fokus rückt. Die bundesdeutsche Atomwende könnte vor dem Hintergrund des weitgehenden Versagens anderer
Erklärungsansätze daher im besonderen Maße geeignet sein, den Wert von Diskursanalysen aufzuzeigen, und das nicht nur im Sinne einer Forschungsrichtung, die Ideen und Diskurse als weiteren Faktor in ein variablenanalytisches politikwissenschaftliches Denken
integriert (›Ideas matter‹-Ansätze, vgl. Béland/Cox 2011; Gofas/Hay 2010). Ob Erklärung
überhaupt eine sinnvolle Zielsetzung interpretativer und diskursanalytischer Forschung
sein kann und soll, ist in der Literatur umstritten. Der vorliegende Beitrag versteht sich als
Versuch einer vorsichtigen Annäherung an die Frage, wie diskursorientierte Erklärungen
politischer Entscheidungen aussehen können. Es soll dabei nicht nur die Teilfrage geklärt
werden, wie die Stabilisierung eines politischen Claims, hier der Forderung nach Stilllegung
der Atomkraftwerke, diskursiv erfolgte. Der Anstoß zur politischen Wende durch bestimmte Akteure, insbesondere die Bundeskanzlerin, bleibt damit ebenso außerhalb der
Betrachtung wie die generelle Frage, ob eine diskursive Erklärung nicht auch die Motivation der einzelnen Artikulationen als Diskursbeiträge berücksichtigen muss.1
1
Der Beitrag ist die Weiterentwicklung eines ersten, auf die Motivlagen konzentrierten Versuchs der
Erklärung der Atomwende (Nullmeier/Dietz 2012). Methodologische Fragen einer diskursorientierten Erklärung sind in Nullmeier (2012) erörtert. Diskursnetzwerkanalysen werden erläutert in
Leifeld/Haunss (2012).
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
290
Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
Gegenstand der empirischen Untersuchung ist der Zeitraum vom Fukushima-Unfall im
März 2011 bis zum Bundestagsbeschluss zum Atomausstieg Ende Juni 2011. Die Methodik der Diskursnetzwerkanalyse (Leifeld 2009; Leifeld/Haunss 2012) wird mit Rekurs auf
die Political Claims Analysis (Koopmans/Statham 1999) genutzt, um den diskursiven
Stabilisierungsprozess von politischen Forderungen zur Atom- und Energiepolitik detailliert anhand der medialen Berichterstattung zu beschreiben. Es verschieben sich im
Zeitverlauf Forderungen und Akteure, sie bilden gemeinsam ein Netzwerk, das die diskursive Konstellation beschreibt. Mittels dieses netzwerkanalytischen Zugangs wird
nachvollziehbar, dass sich bestimmte Forderungen festsetzen, diskursiv etablieren oder
sich in eine bestimmte Richtung verschieben. Das Nachzeichnen dieser Veränderungen
im diskursiven Prozess leistet einen Beitrag zur Erklärung der Atomwende: Die empirischen Ergebnisse unserer Analyse lassen für den konkreten Fall deutlich werden, dass es
keine hinreichende Gegenwehr zu den Ausstiegsforderungen gab, die kurz nach dem
Erdbeben erhoben wurden, sich bald etablierten und dann nur noch variiert werden
konnten. Die Netzwerkanalyse zeigt auch, wann und wie welche Akteure sich in eine bestehende Konstellation von Forderungen einfügten und diese dadurch ausbauten oder
verschoben oder mit neuen Forderungen auf Nebengebieten neue thematische Felder eröffneten. Die Diskursnetzwerkanalyse erlaubt es zudem, den manchmal auch schnellen
Wandel der Diskurskoalitionen zu erkennen. Über den konkreten Fall hinaus zeigt sie
damit die eigenständige Dynamik von Diskursen, die damit weder schlicht Abbild von
Präferenzen noch sprachliche Äußerung stabiler Überzeugungen sind. So ist dieser Beitrag ein Versuch, über eine detaillierte Diskursprozessanalyse Antworten auch auf explanatorische Aufgabenstellungen zu gewinnen.
Im ersten Teil wird die politische Ereignisgeschichte rekonstruiert, ohne die die Diskursnetzwerkanalyse unverständlich bliebe (1.1); zudem wird das Versagen traditioneller
politikwissenschaftlicher Erklärungsansätze skizziert (1.2). In einem zweiten Teil stellen
wir die Analyse politischer Forderungen und die Methodik der Diskursnetzwerkanalyse
vor (2). Im Hauptteil werden die Verschiebungen der Diskursnetzwerke in acht Phasen
mit Hilfe netzwerksanalytischer Verfahren dargestellt, um die Dynamik dieser vier Monate eines politisch radikalen Wandelprozesses zu beschreiben (3). Abschließend werden
die Ergebnisse zusammengefasst und einige Überlegungen für weitere Versuche der Prozessanalyse von Diskursen und diskursorientierter Erklärung vorgetragen (4).
1 Der Atomausstieg 2011 und Versuche seiner Erklärung
1.1 Ereignisgeschichte
Die im Herbst 2010 beschlossene Laufzeitverlängerung für deutsche AKWs stellte den
erfolgreichen Abschluss der jahrelangen Versuche dar, den Atomausstiegsbeschluss der
rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder aus den Jahren 2000 bis
2002 rückgängig zu machen. Die damalige Bundesregierung begann kurz nach ihrem
Amtsantritt im Jahr 1998, den im Koalitionsvertrag verankerten Atomausstieg vorzubeBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
291
reiten. Im Juni 2000 schloss sie einen Ausstiegsvertrag mit den vier großen Energiekonzernen E.on, RWE, EnBW und Vattenfall. Dieser in der Öffentlichkeit als ›Atomkonsens‹
bezeichnete Vertrag legte eine durchschnittliche Gesamtlaufzeit pro Kraftwerk von 32
Jahren fest, woraufhin das letzte deutsche AKW im Jahre 2022 vom Netz gehen sollte.
Auf die schriftliche Vereinbarung zwischen Energiekonzernen und Regierung, die im
Juni 2000 zustande kam, folgte 2002 deren gesetzliche Verankerung in Form einer Novellierung des Atomgesetzes. Darin wurde der Neubau von Kraftwerken untersagt sowie die
zuvor unbefristete Laufzeit der Atommeiler eingeschränkt. Der Ausstiegsbeschluss
wurde von der Regierung mit der mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz und den Sicherheitsrisiken der Atomkraft begründet. Kurze Zeit später folgte die Abschaltung der
ersten Kernkraftwerke. Das AKW Stade wurde 2003 und das AKW Obrigheim 2005 vom
Netz genommen. Dies reduzierte die Anzahl der deutschen Atomkraftwerke auf 17.2
Lange Zeit konnte es so erscheinen, als sei mit den Beschlüssen zur Jahrtausendwende
zur Vermeidung weiterer politischer Konflikte im Umwelt- und Technikbereich (Feindt/
Saretzki 2010) ein endgültiger Abschied von der Atomkraft bei hinreichend langfristigem Ausstiegsverlauf gelungen. Doch mit der Regierungsübernahme durch die schwarzgelbe Regierung im Jahre 2009 wurde die Revision des Atomausstieges unter dem begrifflichen Signum der ›Brückentechnologie‹ zum Programm. Dies wurde wie folgt im
Koalitionsvertrag festgehalten:
»Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, bis sie durch erneuerbare Energien
verlässlich ersetzt werden kann. Andernfalls werden wir unsere Klimaziele, erträgliche Energiepreise und weniger Abhängigkeit vom Ausland, nicht erreichen. Dazu
sind wir bereit, die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke unter Einhaltung der strengen deutschen und internationalen Sicherheitsstandards zu verlängern. Das Neubauverbot im Atomgesetz bleibt bestehen. In einer möglichst schnell zu erzielenden Vereinbarung mit den Betreibern werden zu den Voraussetzungen einer Laufzeitverlängerung nähere Regelungen getroffen (u.a. Betriebszeiten der Kraftwerke,
Sicherheitsniveau, Höhe und Zeitpunkt eines Vorteilsausgleichs, Mittelverwendung
zur Erforschung vor allem von erneuerbaren Energien, insb. von Speichertechnologien). Die Vereinbarung muss für alle Beteiligten Planungssicherheit gewährleisten.«
(CDU/CSU/FDP 2009)
Es folgte eine Phase äußerst intensiver Auseinandersetzung innerhalb der CDU/CSU
über die Umsetzung dieser Koalitionsvereinbarung. Schließlich wurde am 28. September
2010 ein energiepolitisches Gesamtkonzept vorgelegt, auf dessen Grundlage sowie basierend auf dem Vertrag zwischen Regierung und Energiekonzernen vom 6. September des
gleichen Jahres schließlich am 28. Oktober die umfangreichen gesetzgeberischen Veränderungen unter Einschluss der Laufzeitverlängerung vom Bundestag verabschiedet wurden. Begründet wurde der »Ausstieg aus dem Ausstieg« mit den Argumenten Energie2
Zur besseren Übersichtlichkeit und mit ergänzenden Informationen wird die Entwicklung der
Atompolitik in Deutschland zwischen den Jahren 2000 und 2011 in der Tabelle 1 dargestellt.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
292
Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
sicherheit, Energiekosten und Klimaschutz. Längere Laufzeiten sollten laut Regierung
verhindern, dass Deutschland von Stromimporten abhängig würde. Zudem sollte die
Wirtschaft durch den günstigen Atomstrom profitieren und die CO2-arme Produktion
des Atomstroms zum Erreichen der deutschen Klimaschutzziele beitragen. Neben der
Laufzeitverlängerung wurden die Einführung einer Brennelemente-Steuer sowie die Einrichtung eines Energie- und Klimafonds beschlossen. Hiermit sollten Teile der durch die
Laufzeitverlängerung bei den Energiekonzernen entstehenden Gewinne abgeschöpft
und für die Förderung regenerativer Energien verwendet werden. Zudem wurden Sicherheitsnachrüstungen für die deutschen Atomkraftwerke beschlossen. Trotz der geplanten Gewinnabschöpfung und Verbesserung der Sicherheitstechnik sowie der umfassenden Argumentation für eine Laufzeitverlängerung war diese sehr umstritten. Die Opposition lehnte die Regierungspläne grundlegend ab und in den Medien wurde heftig
über diese diskutiert. Auch kam es zu einer Wiederbelebung der Anti-Atomkraftbewegung, die ihren Widerstand gegen die Laufzeitverlängerung mit teilnehmerstarken Protestaktionen zum Ausdruck brachte (Jahn/Korolczuk 2012).
Am 30. Juni 2011, nur etwas mehr als ein halbes Jahr nach dem Beschluss, die Reststrommengen für bis 1980 gebaute AKWs um acht Jahre und für neuere AKWs um 14
Jahre zu verlängern, wurde diese massive Ausdehnung des Übergangszeitraums, in dem
die »Brückentechnologie« Kernkraft eine wesentliche Rolle im Energiemix spielen sollte,
rückgängig gemacht. Die Reststrommengenregelung wurde durch feste Endtermine ersetzt, die deutlich frühere Zeitpunkte fixierten als die Berechnungen im Herbst 2010.
Hinzu kam die Sofortabschaltung von acht AKWs (einschließlich des bereits seit 2009
aufgrund von Störfällen vom Netz genommenen AKW Krümmel). Nachdem in Folge eines Erdbebens am 11. März 2011 die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima ausgelöst wurde, kam es zu umgehenden und drastischen Reaktionen in der deutschen Politik. Die Regierung verhängte vier Tage nach dem Unglück ein dreimonatiges Atommoratorium. In diesem Zeitraum sollte die Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke durch die
Reaktorsicherheitskommission geprüft werden. Zudem wurden die acht ältesten deutschen Meiler vorläufig vom Netz genommen sowie eine Ethikkommission eingesetzt, welche über die Zukunft der Atomkraft in Deutschland beraten sollte. Während die Reaktorsicherheitskommission keine neuen Erkenntnisse über mögliche Sicherheitslücken
deutscher Atomkraftwerke aus dem Fukushima-Unglück ableitete, empfahl die Ethikkommission aufgrund der neuen Bedeutung, die dem Restrisiko nach Fukushima zukomme, einen möglichst umgehenden Ausstieg aus der Atomkraft. Die Regierung entschied Ende Mai 2011, die acht vom Netz genommenen AKWs dauerhaft abzuschalten
und die wenige Monate zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung zurückzunehmen.
Diese Entscheidung wurde auch von den Ministerpräsidenten der Länder mitgetragen,
die sich bei Zusammenkünften mit der Kanzlerin mehrfach für einen zügigen Atomausstieg aussprachen (Bauchmüller 2011; Vitzthum 2011). Ende Juni 2011 wurde dann von
der Regierung und großen Teilen der Opposition eine weitere Novelle des Atomgesetzes
beschlossen. Diese schreibt vor, die verbleibenden neun deutschen Atomkraftwerke bis
2022 schrittweise abzuschalten. Am gleichen Tag verabschiedete der Bundestag auch Regelungen zum beschleunigten Ausbau der Stromnetze und der regenerativen Energien.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
293
Die Energiewirtschaft stimmte zunächst der zeitlich begrenzten Abschaltung der alten
Kernkraftwerke mehrheitlich zu. Nachdem sich allerdings abzeichnete, dass diese nicht
wieder hochgefahren und die verlängerten Laufzeiten zurückgenommen würden, äußerten insbesondere die vier großen Energiekonzerne öffentlich Kritik und reichten nach
dem Ausstiegsbeschluss des Bundestages mehrere Klagen gegen die Bundesregierung
ein. Der Zeitraum, auf den sich unsere Untersuchung konzentriert (11. März 2011 bis
1. Juli 2011), ordnet sich wie folgt in die Entwicklung der deutschen Atompolitik von
2010 bis 2013 ein.
Tabelle 1: Chronologie der deutschen Atompolitik von 2000 bis Ende 2012
Datum
Ereignis
14.6.2000
Bundesregierung schließt mit Energiewirtschaft Vereinbarung über Atomausstieg (›Atomkonsens‹)
11.6.2001
Unterzeichnung des Vertrags über den Atomausstieg zwischen rot-grüner Bundesregierung und Energiewirtschaft
22.4.2002
Bundestagsbeschluss zur Verankerung des Atomausstiegs im Atomgesetz
11.11.2003
Abschaltung AKW Stade als Folge des Atomausstiegs
11.5.2005
Abschaltung AKW Obrigheim als Folge des Atomausstiegs
2.12.2008
Parteitagsbeschluss der CDU zur Laufzeitverlängerung ohne Nennung konkreter Zahlen
17.5.2009
Beschluss Wahlkampfprogramm FDP, Forderung nach längeren Laufzeiten für
Kernkraftwerke ohne Nennung konkreter Zahlen
2.10.2009
Präsidiumsbeschluss des Bundesverband Deutscher Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) pro Laufzeitverlängerung
26.10.2009
Unterzeichnung Koalitionsvertrag CDU/CSU/FDP mit Ankündigung der Laufzeitverlängerung
6.9.2010
Unterzeichnung des Vertrags zur Laufzeitverlängerung zwischen Regierung und
Energiewirtschaft
28.9.2010
Beschluss des neuen Energiekonzepts durch die Bundesregierung (einschließlich Laufzeitverlängerung)
28.10.2010
Bundestagbeschluss zur Einführung der Kernbrennstoffsteuer zum 1.1.2012
28.10.2010
Bundestagsbeschluss zur Verankerung der Laufzeitverlängerung im Atomgesetz
8.12.2010
Bundestagsbeschluss zur Einführung des Energie- und Klimafonds zum
1.1.2012
11.3.2011
Atomunfall in Fukushima
14.3.2011
Atom-Moratorium I durch die Bundeskanzlerin: eine auf drei Monate befristete
Aussetzung der Laufzeitverlängerung für deutsche Kernkraftwerke
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
294
Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
15.3.2011
Atom-Moratorium II durch die Bundeskanzlerin: Abschaltung der sieben bzw.
acht (Krümmel) ältesten AKWs während des Moratoriums (bis zum
15.06.2011)
15.3.2011
Sicherheitsprüfauftrag an Reaktorsicherheitskommission
22.3.2011
Einsetzung der Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung durch Bundeskanzlerin Angela Merkel
8.4.2011
Atomausstiegsbeschluss des BDEW
8.4.2011
Energiekonzerne stoppen Zahlungen in Energie- und Klimafonds
17.5.2011
Veröffentlichung des Abschlussberichts der Reaktorsicherheitskommission
30.5.2011
Veröffentlichung des Abschlussberichts der Ethikkommission
30.5.2011
Beschluss der Bundesregierung zum Atomausstieg und zur dauerhaften Abschaltung der ältesten acht AKWs, eines dieser soll für eine Übergangszeit als
Puffer dienen und ggf. wieder hochgefahren werden können
30.6.2011
Bundestagsbeschluss zur Verankerung des Atomausstiegs (verkürzte Laufzeiten) im Atomgesetz
14.11.2011
Verfassungsbeschwerde von E.on gegen Atomausstieg
21.12.2011
Beginn Schiedsverfahrens zwischen Vattenfall und Bundesregierung bei Weltbankgericht (ICSID) wegen Verletzung von internationalen Investitionsschutznormen, Vattenfall fordert 3,7 Milliarden Euro Schadensersatz
13.1.2012
Finanzgericht Baden-Württemberg erklärt Brennelementsteuer für verfassungsgemäß
13.6.2012
Bekanntwerden der Verfassungsbeschwerde von RWE gegen Atomausstieg
12.7.2012
Verfassungsbeschwerde von Vattenfall gegen Atomausstieg
Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis von Presseberichten
1.2 Traditionelle Erklärungsmodelle
Diese radikale, die eigene Politik umkehrende Reaktion der Bundesregierung erklärte
sich der Ansicht einiger früher wissenschaftlicher Veröffentlichungen (Davies 2012;
Pampel 2011) schlicht durch die Dramatik der Katastrophe von Fukushima. Es habe
keine andere Reaktion auf dieses Ereignis geben können. Die Größenordnung des Ereignisses und sein Auftreten in einem Hochtechnologieland erkläre die Regierungspolitik.
Doch diese Erklärung trifft nicht zu. Es ist vor allem der internationale Vergleich, der die
These einer zwingenden Reaktion zu widerlegen vermag: Wie in Tabelle 2 dargestellt, gab
es massive energiepolitische Reaktionen auf den Unfall in Fukushima nur in Japan,
Deutschland und der Schweiz, mit Einschränkungen auch noch in Italien, Bulgarien und
Belgien. Alle anderen Länder setzten ihre Atompolitik trotz Fukushima unverändert fort
(World Energy Council 2011). Eine direkt vom Ereignis ausgehende zwingende Wirkung
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
295
kann es daher nicht gegeben haben – ganz abgesehen von den methodologischen Überlegungen, die generell gegen eine derart naturalistische Erklärung vorzubringen sind.
Tabelle 2: Politische Reaktionen auf Fukushima im internationalen Vergleich bis Ende 2012
Ausstiegsbeschluss?
Politische Reaktion auf
Fukushima bis Ende 2012
Anzahl
aktiver
AKWs
Anteil an
Stromproduktion
Kraftwerke
im Bau oder
in Planung
Deutliche Reaktionen auf das Fukushima-Unglück
Belgien
Ja
Neuerlicher Ausstiegsbeschluss im Oktober 2011,
geplante Laufzeit AKWs bis
2025
2
51%
Nein
Bulgarien
Nein
Abbruch des erdbebengefährdeten Projekts in
Belene (bereits zuvor in Kritik), Verschiebung nach
Kosloduj, Opposition erzwingt 2012 Volksabstimmung über Zukunft von
Belene (scheiterte Anfang
2013)
2
33%
Ja, 2x
Deutschland
Ja
Sofortige Abschaltung von
8 AKWs, Rücknahme Laufzeitverlängerung, Begrenzung Laufzeit übriger AKWs
bis 2021
9 (zuvor 17)
16% (zuvor 28%)
Nein
Italien
Ja
Neueinstiegspläne gestoppt, Atomkraft in Referendum im Juni 2011 abgelehnt
0
0
Ja
Japan
Nein
Abschaltung aller AKW zur
Sicherheitsprüfung, Reduktion der Atomkraftnutzung
2011 und 2012, September 2012 Ausstiegsankündigung bis ca. 2040, seit
Regierungswechsel Ende
2012 neuer Pro-Atomkraftkurs
54
29%
Ja, 5x
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
296
Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
Schweiz
Ausstiegsbeschluss
diskutiert
Einjährige Sicherheitsuntersuchung der Schweizer
AKWs; Neuplanungen gestoppt, Ausstiegsbeschluss: Laufzeit bestehender AKWs bis 2034
begrenzt
5
38%
Ja
Nur geringe bzw. keine Reaktionen auf das Fukushima-Unglück
GB
Nein
Keine
19
20%
Ja, 4x
China
Nein
Verschärfte Sicherheitsprüfungen bei Genehmigung
von AKWs
14
2%
Ja, 78x
Finnland
Nein
Keine
4
28%
Ja, 1x
Frankreich
Nein
Keine
58
74%
Ja, 2x
Österreich
Ja
Forderte Stresstest für europäische AKWs sowie Ausstieg aller Länder
0
0
Nein
Russland
Nein
keine
32
17%
Ja, 24x
Spanien
Ja, aber aufgehoben
Keine
8
21%
Nein
Tschechien
Nein
Keine
6
33%
Ja, 2x
Türkei
Nein
Keine
0
0
Ja, 4x
USA
Nein
Keine
104
20%
Ja, 5x
Polen
Nein
Keine
0
0
Ja, 6x
Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis von Presseberichten
Aber auch die weniger naiven Standarderklärungsmodelle der Politikwissenschaft versagen in der Erklärung des Atomausstiegs der Regierung Merkel: Eine politisch-institutionalistische Erklärung würde annehmen, dass Veränderungen auf Seiten der institutionellen Rahmenbedingungen erforderlich sind, um einen derart grundlegenden Politikwechsel auszulösen. Aber weder für das Institutionen-Setting des politischen Systems
der Bundesrepublik Deutschland insgesamt (Anzahl der Vetospieler, Verfassungsinstitutionen, EU-Mehrebenensystem), noch für die Institutionen, die das Politikfeld Energiepolitik bestimmen (auf der Ebene der Ministerien, Wandel der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern), lässt sich im fraglichen Zeitraum ein Wandel aufzeigen.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
297
Gleiches gilt bei Heranziehen eines politisch-ökonomischen Erklärungsansatzes. Danach müsste es im Machtgefüge zwischen Energieunternehmen und Staat eine wesentliche Veränderung gegeben haben, um den Politikwechsel zu erklären. An der äußerst
starken Stellung der vier großen Energieversorger hat sich aber zwischen Herbst 2010
und Frühjahr 2011 nichts verändert. Der Aufstieg der kommunalen Versorgungsunternehmen vollzog sich bereits vor dem Sommer 2010 und hat im folgenden Jahr keine besondere Dynamik erfahren, die einen derartigen Politikwechsel hätte verständlich machen können (Bauchmüller 2010). Eine genauere Analyse der Positionen der großen
Energieversorgungsunternehmen zeigt zudem, dass diese ihre Präferenzen und Überzeugungen ebenfalls nicht geändert haben.3
Wenn nicht die Unternehmen und deren Lobbying-Stärke in den Vordergrund gestellt werden, sondern ökonomische Rahmenbedingungen von weltwirtschaftlichen Veränderungen bis zur nationalen Konjunkturdaten, handelt es sich um einen sozioökonomischen Erklärungsansatz. Danach hätte es im Herbst/Winter 2010/2011 eines ökonomischen Einbruchs oder einer Konjunkturwende (oder spezieller eines Umbruchs auf den
Energiemärkten) bedurft, um den Wechsel in der Energiepolitik der Regierung zu erklären. Auch derartige Veränderungen sind nicht aufgetreten (BDEW 2011).
Der Machtressourcenansatz erklärt Politikverschiebungen aus dem Machtverhältnis
zwischen Arbeit und Kapital, insbesondere mit der Rolle der Sozialdemokratie und der
Gewerkschaften. Steigt deren Macht im nationalen Parlament und in den Betrieben,
kann es zu einer Linksverschiebung der politischen Entscheidungen kommen. Aber von
einem Machtzuwachs auf Seiten der linken Parteien und der Gewerkschaften kann für
die Bundesebene im Zeitraum 2010–2011 nicht die Rede sein.
Erklärungsansätze, die Parteien in den Mittelpunkt stellen (›parties matter‹), müssen
davon ausgehen, dass es eine nennenswerte Verschiebung im Parteigefüge bei Wahlen
gegeben hat, um einen Politikwechsel erklärbar zu machen. Nach der gewonnenen Bundestagswahl 2009 bildeten FDP und CDU/CSU eine Regierung, die die Laufzeitverlängerung als gemeinsames Projekt betrachtete. Im Jahr 2010 fand nur eine Landtagswahl statt
(Nordrhein-Westfalen, Mai 2010). Bei dieser musste die CDU allerdings Stimmenverluste von über 10% hinnehmen und das Ministerpräsidentenamt abgeben. Die FDP verlor in Umfragen im Jahresverlauf deutlich gegenüber ihrem Bundestagswahlergebnis von
14,6%. Darauf reagierte die Koalition im Bund aber nicht mit einer Korrektur des Regierungsprogramms, sondern mit der beschleunigten Realisierung desselben. Das Scheitern
der schwarz-grünen Regierung in Hamburg führte zu vorgezogenen Wahlen im Februar
2011, die mit einem Desaster für die CDU (minus 20,7%) endeten und der SPD die abso3
So beugten sich diese nach Fukushima zwar den Ausstiegsvorgaben und damit dem »Primat« der
Politik, hielten aber gleichzeitig an ihren Positionen fest, dass Atomkraft sicher, effizient und notwendig sei. Das Deutsche Atomforum äußerte etwa in einer Pressemeldung im März 2012, dass die
Kernkraftwerksbetreiber weiterhin vom höchsten Niveau »der Sicherheit und Effizienz« der deutschen Anlagen überzeugt seien und Atomkraft »ein wichtiger Bestandteil des deutschen Energiemix
und ein stabilisierender Faktor für unsere Netze« darstelle (Deutsches Atomforum 2012). Vom BDI
stammt die ebenfalls ›uneinsichtig‹ wirkende Aussage: »Den Verzicht auf einzelne Technologien
oder Energieträger kann sich die Menschheit nicht leisten« (BDI 2012).
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
298
Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
lute Mehrheit der Sitze einbrachten. Auch wenn die Niederlagen in NRW und Hamburg
deutlich ausfielen, kann angesichts des bekannten Musters, in Landtagswahlen die jeweilige Bundesregierung ›abzustrafen‹ und der landespolitischen Spezifika dieser Wahlen
samt der besonderen Schwäche der beiden CDU-Spitzenkandidaten, von einer grundlegenderen Verschiebung im Parteiensystem nicht gesprochen werden. Wenn Landtagswahlen generell zentrale Bedeutung für den Bund beigemessen würden, hätte es in
Deutschland ein weitaus höheres Maß an Politikwechseln geben müssen. Insofern liegt
hier eine Verschiebung in der Parteienlandschaft vor, die die regierenden Parteien hat
vorsichtig werden lassen, die aber nicht ausreichend erscheint, um den Ausstiegsbeschluss zu erklären.
Dennoch gilt als plausibelste und populärste Erklärung des Atomausstieges im März
2011 eine parteipolitische Interpretation (vgl. z.B. Jahn/Korolczuk 2012, S. 161; Wittneben 2011, S. 1): Der Atomausstieg sei eine Maßnahme gewesen, um in letzter Minute in
den Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg einzugreifen und dieses christdemokratische ›Stammland‹ weiterhin für die Partei zu sichern. Damit ein solch grundlegender
Politikwechsel als rationale Reaktion erscheint, muss erstens die Bedeutung der Wahlen
in Baden-Württemberg für die Bundesregierung oder die CDU im Bund als sehr hoch
eingeschätzt worden sein. Denn schließlich erfolgte die Veränderung der Policy auf einer
ganz anderen Ebene als der, die durch den Wahltermin direkt betroffen war. Die unmittelbare Annahme des Vorrangs der Wahlorientierung mit dem Ziel der Stimmenmaximierung kann nur für die baden-württembergischen Politiker gelten. Für Politiker der
Bundes-CDU ohne Mandat in Baden-Württemberg müsste aber ein Transfer, eine Art
Anverwandlung erfolgt sein, so dass die Stimmenmaximierungsmotive der Landespolitiker zu solchen der Bundespolitiker wurden. Damit ein grundlegender Politikwechsel
sinnvoll erscheint, muss zweitens aber auch unterstellt werden können, dass eine solch
plötzlich vollzogene Kehrtwende in einem Politikfeld so große Auswirkungen auf die
Wahlbevölkerung im betreffenden Bundesland haben wird, dass sich die Wahlchancen
deutlich verbessern. Nur wenn der Politikwechsel einen ernsthaften Beitrag zur Veränderung des Stimmverhaltens dargestellt hätte, wäre es rational gewesen, ihn aus Wahlkampfgründen überhaupt vorzunehmen. Es müsste also von Seiten der Kanzlerin und
der Berliner CDU-Politik unterstellt worden sein, dass der Ausstieg derart wirksam sei,
dass in Baden-Württemberg mit einer deutlichen, wenn nicht entscheidenden Besserung
der Wahlaussichten gerechnet werden könne. Die Umfrageergebnisse für den damaligen
CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus waren u.a. durch dessen Verhalten im Konflikt um den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs Stuttgart 21 derart niedrig (Male
2010; Stuttgarter Nachrichten, 12. März 2011), dass es erheblicher Anstöße bedurft hätte,
um noch einen Sieg der CDU herbeizuführen. Ein solch starker Schwenk mag daher
noch als ein Weg erschienen sein, um größere Verschiebungen auszulösen. Da zwischen
Moratoriumsbeschluss und Wahlen aber weniger als zwei Wochen lagen, bestand für
Korrekturen am Image des Kandidaten und der Landespartei kaum eine Chance. Dass
angesichts dieser Schwierigkeiten ernsthaft hätte erwartet werden können, dass ein
Wechsel in der Atompolitik die Wahlchancen entscheidend verändert, erscheint daher
als wenig glaubhaft.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
299
Es bleibt aber noch das Argument, dass der Ausgang der Wahl in Baden-Württemberg die rechnerische Chance für eine schwarz-grüne Koalition geboten hätte. Die Intervention qua Moratorium hätte in diesem Fall nur die Funktion gehabt, eine Koalition mit
dem geschwächten Ministerpräsidenten und den Grünen unter Kretschmann zu ermöglichen. Dies würde erklären, warum die Reaktion auf Fukushima aus Berlin so schnell erfolgte. Eine koalitionspolitische Option wäre mithin als Antrieb zu unterstellen. Dann
müsste die CDU aber zumindest die Chance gesehen haben, dass sich die Grünen ihnen
koalitionspolitisch hätten zuneigen können. Im Landtagswahlprogramm 2011 von Bündnis 90/Die GRÜNEN (2010, S. 13) findet sich keine Koalitionsaussage, aber eine scharfe
Kritik des Atomkurses von Ministerpräsident Mappus. Die Grünen zielten auf eine Regierungsbeteiligung, aber nicht auf eine spezifische Koalition, zumal es in Sachen Stuttgart 21 auch intensive Konflikte mit der SPD gab. Allerdings hatte der grüne Spitzenkandidat Winfried Kretschmann jahrelang einen Kurs verfolgt, der auf eine schwarz-grüne
Zusammenarbeit hinauslief. So konnte durchaus berechtigt unterstellt werden, dass bei
Beseitigung der größten Hürde, der AKW-Laufzeitverlängerung, die von Stefan Mappus
aktiv betrieben worden war, sich ein Weg für eine neue Koalition in Baden-Württemberg
hätte bieten können – womöglich auch ohne Stefan Mappus. Aus Sicht dieser Interpretation erscheint das Moratorium als letzter Versuch, in einem CDU-Stammland doch noch
eine zukunftsfähige Koalitionsoption zu realisieren und zudem innerparteilich die Kräfte
auszubooten, die nicht bereit waren, sich dieser neuen Option zuzuwenden. Es muss vielleicht angenommen werden, dass es gute Gründe gab zu vermuten, dass der Atomausstieg im Bund der Regierungsbildung in Baden-Württemberg die entscheidende Kehrtwende in Richtung Schwarz-Grün hätte geben können.
Unter diesen Annahmen ließe sich das Moratorium als gut begründetes Vorgehen
verstehen. Dann bliebe aber zu fragen, warum eine derartige koalitionspolitische Thematik die Kraft besessen haben soll, die grundlegende energie- und industriepolitische Entscheidung des Jahres 2010 rückgängig zu machen. Warum sollten sich die bis dato atomkraftfreundlichen Fraktionen innerhalb der Regierungsparteien, die Wirtschaftsverbände und die großen Energieunternehmen einer solchen vagen koalitionspolitischen
Option einer Partei beugen und ihre grundlegenden und langjährigen wirtschaftlichen
Interessen zurückstellen? Die parteipolitische Erklärung mag zwar relevant sein für die
Deutung der Motive einiger Akteure in der CDU/CSU, sie kann aber nicht erklären, warum sich diese parteipolitischen Interessen durchsetzen konnten.
Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Forderung nach einem Abschalten der alten
Atomkraftwerke trotz der energiepolitisch unveränderten Position der wirtschaftlich tragenden Kräfte in Deutschland schnell erweitern und zu der Suche nach Wegen eines
schnellen und vollständigen Ausstieges zuspitzen konnte? Aus einer Perspektive, die die
Diskursdynamiken ins Zentrum der Analyse stellt, sind drei Annahmen plausibel, um ein
Sich-Festsetzen einer Forderung oder eines Bündels von Forderungen erklären zu können:
1. Akteurszentralität: Um eine Forderung im Diskurs durchzusetzen, muss der/die
fordernde AkteurIn eine zentrale Position in der Auseinandersetzung einnehmen
und es müssen viele weitere Akteure, die ebenfalls relativ zentrale Positionen einnehmen, die aufgestellte Forderung unterstützen.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
300
Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
2. Konsistenz und Zusammenhalt: Es kann davon ausgegangen werden, dass eine Forderung, die anschlussfähig für andere Forderungen ist, größere Chancen auf Durchsetzung hat. In der Frame-Analyse ist dieser Zusammenhang als Frame-Bridging
bekannt und bezeichnet die Fähigkeit von Akteuren, Brücken zwischen dem eigenen
Interpretationsrahmen und denen möglicher Koalitionspartner zu bilden (Snow
2004).
3. Die Schwäche der Opposition: Die Erfolgschancen von Akteuren, die die ersten beiden
Punkte erfüllen, sollten deutlich steigen, wenn oppositionelle Akteure diese Bedingungen nicht erfüllen. Die Marginalität und Zersplitterung von Alternativforderungen erleichtert die Durchsetzung der eigenen Forderung.
Um zu zeigen, dass ein Fokus auf Diskursdynamiken besser als politikwissenschaftliche
Standardperspektiven in der Lage ist, den schnellen Wandel der deutschen Atompolitik
nach Fukushima zu erklären, werden wir im Folgenden den diskursiven Prozess mit
Hilfe der Diskursnetzwerkanalyse rekonstruieren. Auf dieser Analyse aufbauend wird
geprüft, in welchem Umfang die drei genannten Bedingungen eines erfolgreichen SichFestsetzens von Forderungen im untersuchten Fall vorhanden waren.
2 Diskursnetzwerkanalyse
Gegenüber traditionellen Erklärungsansätzen, die bei der Deutung des Atomausstieges
nicht zum Ziel führen, wird hier versucht, einen Beitrag zur Erklärung der überraschenden Politikwende mittels einer Rekonstruktion des Diskursprozesses zu liefern. Durch
die Nachzeichnung der Verschiebungen der diskursiven Konstellationen (des Zusammenspiels von Akteuren, ihren Argumenten und Forderungen) wird beschrieben, wie
sich Akzeptanz für den Atomausstieg in den Medien abzeichnete, wie sich der öffentliche
Diskurs in dem kurzen Zeitraum zwischen dem März-Ereignis des Atom-Unfalls in Fukushima und Ende Juni 2011 dynamisierte und den Ausstiegsbeschluss möglich werden
ließ. Im Zentrum einer solchen Prozessanalyse muss das Zusammenspiel zwischen Akteuren und Forderungen stehen. Welche Akteure fordern wann etwas, was zum gleichen
Zeitpunkt auch andere Akteure fordern oder gerade ablehnen? Welche Nähen entstehen
im diskursiven Raum zwischen Akteuren über gleich lautende Forderungen, welche Distanzen ergeben sich aufgrund unterschiedlicher Forderungen? Und wie verschieben
sich dadurch die politischen Akteurskonstellationen? Zur Beantwortung dieser Fragen
kombinieren wir die Diskursnetzwerkanalyse mit Elementen der Political Claims Analysis. Die Diskursnetzwerkanalyse überträgt Methoden und Werkzeuge der allgemeinen
Netzwerkanalyse auf Diskurse. Netzwerkanalytische Ansätze finden inzwischen sowohl
in den Sozial- als auch in den Naturwissenschaften ein breites Anwendungsfeld (Butts
2009). Der epistemologische Kern netzwerkanalytischer Ansätze ist dabei, dass komplexe
Systeme nicht als Aggregate isolierter Einzelbestandteile verstanden werden können,
sondern dass zu ihrem Verständnis die Interaktion zwischen den Elementen analysiert
werden muss. Diese relationale Perspektive bietet sich für die Analyse von Diskursen an,
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
301
da Diskurse nie einfach nur aggregierte Äußerungen sind, sondern aus komplexen Verbindungen zwischen Akteuren, ihren Äußerungen, anderen Akteuren und deren Äußerungen bestehen. Die Diskursnetzwerkanalyse (Leifeld 2009; Leifeld/Haunss 2012) ermöglicht es, diese diskursive Interaktion einer großen Zahl von Akteuren über die Zeit
zu analysieren und dabei der Komplexität diskursiven Geschehens Rechnung zu tragen.
Die Knoten des diskursiven Netzwerks bilden die Akteure und ihre Äußerungen – in unserem Fall ihre Claims. Ein Diskursnetzwerk besteht also aus zwei Klassen von Knoten.
Es gehört damit in die Klasse der bipartiten oder 2-mode Netzwerke. Kanten zwischen
diesen Knoten entstehen, wenn Akteure Forderungen stellen oder Entscheidungen treffen. Abbildung 1 illustriert dieses Modell.
Quelle: Janning/Leifeld/Malang/Schneider (2009: 71)
Akteure
Claims
c1
a1
c2
a2
a3
c3
a4
c5
c4
a5
Akteursnetzwerk
Affiliationsnetzwerk
Konzeptnetzwerk
Abbildung 1: Grundmodell eines Diskursnetzwerks
Das Affiliationsnetzwerk G aff verbindet Akteure a1, a2, … am mit den Claims oder Konzepten c1, c2, …. cn. In Abbildung 1 ist diese Relation mit durchgezogenen Linien dargestellt, die Akteure und Claims verbinden. In 2-mode Netzwerken existieren direkte Verbindungen nur zwischen Knoten unterschiedlicher Kategorien. Die Kanten sind gerichtet, weil Akteure Forderungen stellen, entscheiden oder handeln. Das Diskursnetzwerk
ist zudem dynamisch. Genauer gesagt existiert zu jedem Zeitpunkt t ein Affiliationsnetzwerk G taff. Schließlich sind Akteure und Claims entweder positiv (zustimmend) oder negativ (ablehnend) verbunden. Ein Akteur a1 kann beispielsweise die Laufzeitverlängerung der AKWs ablehnen, während ein anderer Akteur a2 genau diese fordert. Im Netzwerkmodell wird diesem Umstand durch ein positives oder negatives Kantengewicht der
Verbindung zwischen Akteur und Claim Rechnung getragen. Das Diskursnetzwerk in
diesem Modell ist also ein gerichtetes, dynamisches, bipartites Netzwerk.
Ausgehend von diesem Netzwerk können zwei Abbildnetzwerke generiert werden,
indem entweder Akteure miteinander verbunden werden, die die gleichen Claims teilen
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
302
Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
oder indem Claims verbunden werden, die von denselben Akteuren geteilt werden. Diese
beiden Co-Occurrence Netzwerke sind ungerichtet. In Abbildung 1 sind sie als gestrichelte Linien visualisiert. Auch die Abbildnetzwerke können für jeden Zeitpunkt t generiert werden und erlauben so eine Analyse der temporalen Entwicklung der Netzwerke.
Für Netzwerke als Ganzes und für die einzelnen Knoten lassen sich verschiedene
Maßzahlen berechnen. Das für unsere Fragestellung relevanteste Maß ist die relative Zentralität der einzelnen Knoten als Maß für die Bedeutung einzelner Akteure oder Claims
im Diskurs. Das einfachste Zentralitätsmaß ist die Degree-Zentralität, die die Anzahl der
Kanten eines Knotens angibt. In 2-mode Netzwerken ist dieses Maß aber wenig aussagekräftig, weil es nur die Anzahl der Claims eines Akteurs in einem bestimmten Zeitraum
bzw. die Anzahl der Akteure, die einen Claim formulieren, abbildet. Aussagekräftiger
sind Zentralitätsmaße, die auch die Nachbarschaft eines Knotens berücksichtigen. Möglicherweise kann nämlich ein Akteur, der nur zwei oder drei Claims formuliert, die jeweils von vielen anderen Akteuren geteilt werden, wichtiger für die Struktur eines Diskurses sein als ein Akteur, der fünf Claims formuliert, die aber niemand anderes teilt. Ein
Maß für diese, die Nachbarschaft eines Knotens berücksichtigende Zentralität ist die hub
centrality (Brandes/Wagner 2004; Kleinberg 1999). Da wir für unsere Analyse besonders
daran interessiert sind, welche Prozesse im Zentrum des Diskurses stattfinden, konzentrieren wir uns in der Darstellung der Netzwerke jeweils auf die Netzwerk-Kerne (n-cores
oder m-slices). Hierbei bezeichnet ein n-core das Sub-Netzwerk, dessen Knoten mindestens die Degree-Zentralität n haben und ein m-slice das Sub-Netzwerk, dessen Kanten
mindestens das Gewicht m haben.
Das Material, das mittels Diskursnetzwerkanalyse ausgewertet wird, besteht aus den
Forderungen politischer Akteure. Unsere Analyse beruht auf der Auswertung der Forderungen (Claims) aller Akteure, über die in zwei deutschen Tageszeitungen im Zeitraum
zwischen dem Erdbeben in Japan und dem Bundestagsbeschluss über den Atomausstieg
berichtet wurde. Ausgewertet wurden alle Artikel, die in der Süddeutschen Zeitung und
in der Welt zwischen dem 11. März 2011 und 2. Juli 2011 erschienen sind. Die beiden
Zeitungen wurden ausgewählt, um ein möglichst breites politisches Spektrum abzubilden, da wir davon ausgegangen sind, dass atomkraftkritische Akteure in der Süddeutschen Zeitung und Atomkraftbefürworter in der Welt jeweils überrepräsentiert sein
könnten. Bei der Kodierung der Artikel wurden in einem ersten Schritt in der VolltextZeitungsdatenbank Factiva alle Artikel identifiziert, die in den überregionalen Teilen der
beiden Zeitungen erschienen sind und die die trunkierten Stichworte AKW, Atom, oder
Nuklear sowie Ausstieg, Stilllegung, Abschalten oder Laufzeit in allen Flexionen, Substantiv- und Verbformen enthalten.4
In den so gefundenen Artikeln wurden dann, in Anlehnung an das von Ruud Koopmans federführend entwickelte Kodierschema der Political Claims Analysis (Koopmans/
Statham 1999; Koopmans 2002), alle Claims anhand eines zuvor entwickelten Codebuchs zuerst manuell kodiert und dann in eine Datenbank übertragen. Während Koopmans und seine KollegInnen mit einem sehr weit gefassten Claims-Begriff operieren, der
4
Für die erste Woche nach dem Erdbeben wurde auf die Einschränkung des Suchstrings verzichtet.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
303
auch bewertende Statements mit einschließt, haben wir Claims und evaluative Statements getrennt kodiert. Für diesen Artikel werten wir die evaluativen Statements nicht
quantitativ aus. Unter Claims verstehen wir jede Forderung oder Entscheidung von Akteuren im entsprechenden Politikfeld. Ein Claim kann einen oder mehrere Sätze oder
manchmal auch nur Teilsätze umfassen. Neben dem Claim wurden jeweils noch folgende
weitere Elemente kodiert: AkteurIn bzw. SprecherIn mit Name, Organisations- und Parteizugehörigkeit, Befürwortung oder Ablehnung, sowie Datum des Claims.5 Der Satz
»SPD und Grüne forderten außer der Rücknahme der Laufzeitverlängerung ein Abschalten der sieben ältesten und unsichersten Meiler« in einem Artikel in der Süddeutschen
Zeitung (Brössler 2011) wurde beispielsweise kodiert als Ablehnung der Laufzeitverlängerung der Akteure SPD und Grüne am 13. März 2011 sowie als Befürwortung des Abschaltens der Altmeiler durch die Akteure SPD und Grüne am 13. März 2011. Der Satz
enthält also (jeder Akteur wird einzeln gezählt) vier Claims. Der Satz »die TU München
hält dagegen die Sicherungssysteme für mehr als ausreichend« (Süddeutsche Zeitung,
16.4.2011), der in Koopmans Kodierschema ebenfalls als Claim gewertet würde, wurde
von uns dagegen als evaluative Aussage interpretiert und bleibt daher bei der Analyse der
Claims für diesen Artikel unberücksichtigt. Im gesamten Zeitraum wurden in beiden
Zeitungen 398 Artikel veröffentlicht (Welt 159; SZ 239), in denen Claims von Akteuren
zur Atompolitik in Deutschland enthalten waren. Das sind pro Tag in der Welt durchschnittlich 1,7, in der Süddeutschen Zeitung 2,5 relevante Artikel. In diesen Artikeln
wurden 1299 Claims kodiert (Welt 584; SZ 715). Im Zeitverlauf lassen sich mehrere Wellen verstärkter diskursiver Aktivität ausmachen (siehe Abbildung 2 und Tabelle 3), die
mit der Ereignisgeschichte des Atomausstieges korrespondieren. Um die Entwicklung
des Ausstiegsdiskurses im Zeitverlauf analysieren zu können, haben wir den Untersuchungszeitraum entsprechend den Diskursintensitäten und Ereignissen in acht Phasen
untergliedert:
1. Phase 11.–13. März: die ersten beiden Tage unmittelbar nach dem Erdbeben in Japan,
2. Phase 14.–15. März: Atom-Moratorium I (Aussetzung der Laufzeitverlängerung) und
Atommoratorium II (Abschaltung der acht ältesten Atomkraftwerke),
3. Phase 16.–22. März: Zeitraum bis zur Einrichtung der Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung,
4. Phase 23. März - 8. April: Zeitraum bis Atomausstiegsbeschluss des Bundesverbands
Deutsche Energie- und Wasserwirtschaft sowie der Einstellung der Zahlungen der
AKW-Betreiber in den seit Anfang 2012 bestehenden Energie- und Klimafonds,
5. und 6. Phase 9.–28. April und 29. April–17. Mai: Zeitraum bis zum Abschlussbericht
der Reaktorsicherheitskommission,
7. Phase 18.–30. Mai: Zeitraum bis zum Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung sowie
8. Phase 31.Mai–1. Juli: Zeitraum bis zum Bundestagsbeschluss zum Ausstieg aus der
Atomkraft.
5
Wenn im Artikel nicht explizit anders angegeben, wurde angenommen, dass der Claim vom Vortag
des Erscheinungstermins stammt.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
304
Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
30
20
0
10
claims/day
40
50
Die Phasen orientieren sich an den in Tabelle 1 aufgelisteten Ereignissen und umfassen
daher unterschiedlich lange Zeiträume mit jeweils unterschiedlich vielen Statements.
Der lange Zeitraum zwischen dem 9. April und 17. Mai wurde zudem zweigeteilt, weil er
(siehe Abbildung 2) zwei eindeutig voneinander getrennte lokale Intensitätsmaxima aufweist, die auf relevante Veränderungen der Diskursnetzwerke hinweisen.
11/03
19/03
27/03
04/04
12/04
20/04
28/04
06/05
14/05
22/05
30/05
07/06
15/06
23/06
date
Abbildung 2: Claims pro Tag
Tabelle 3: Anzahl der Claims und Aufteilung Untersuchungszeitraum
Zeitraum
Anzahl
Claims
Ereignisse
11.3–13.3
50
Tage eins und zwei nach dem Erdbeben
14.3.–15.3.
137
Atom-Moratorium I und II werden beschlossen
16.3.–22.3
165
Zeitraum bis Einrichtung Ethikkommission
23.3-8.4.
243
Zeitraum bis Atomausstiegsbeschluss BDEW & Zahlungsstopp
AKW-Betreiber
9.4.-28.4
179
29.4.-17.5.
136
18.5-30.5.
181
Zeitraum bis Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung
31.5-1.7
208
Zeitraum bis Bundestagsbeschluss Atomausstieg
Gesamt
1299
Zeitraum bis Abschlussbericht Reaktor-Sicherheits-Kommission
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
305
3 Rekonstruktion des Diskursverlaufs
Wie die Häufigkeitsverteilung der Claims pro Tag in Abbildung 2 zeigt, erreicht die Debatte ihre höchste Intensität in den unmittelbar auf Fukushima folgenden ersten Werktagen der Woche vom 14. bis 20. März 2011. Wie entwickelte sich die Debatte in diesen ersten Tagen? Die Abbildungen 3 und 4 zeigen die 3- bzw. 5-cores der Diskursnetzwerke der
ersten beiden Zeiträume. Ein n-core eines Netzwerks enthält nur die Knoten mit einer
Degree-Zentralität von mindestens n. In bipartiten Netzwerken ist es oft sinnvoll, dieses
Kriterium nur auf eine der beiden Knotenkategorien anzuwenden. In diesem Fall handelt
es sich um die Diskursnetzwerke, in denen die Claims mindestens den Degree-Zentralitätswert 3 bzw. 5 haben.
In Abbildung 3 wird deutlich, dass in den ersten beiden Tagen nach dem Erdbeben
und dem Reaktorunfall in Fukushima die Regierungsakteure umgehend reagieren, aber
zunächst nur mit dem moderaten Ruf nach einer Sicherheitsüberprüfung der deutschen
AKWs. Die Oppositionsparteien nutzen dagegen gleich die ersten Tage, um einen schnellen und/oder endgültigen Ausstieg aus der Kernenergienutzung und ein Abschalten der
Altmeiler zu fordern. Die Regierungskoalition weist zu diesem Zeitpunkt die Forderung
nach einem schnellen Ausstieg noch zurück (die gestrichelten Kanten oben rechts zwischen den Akteuren Bundesregierung und FDP und der Forderung Ausstieg ›(schnell)‹).
Allerdings scheren die Umweltpolitiker der CDU und CSU, Norbert Röttgen und Josef
Göppel, schon mit weitergehenden Forderungen zur Überprüfung der aktuellen Atompolitik und – im Falle von Göppel – sogar mit der Forderung nach Rücknahme der Laufzeitverlängerung aus dem Regierungslager aus.
Schon zwei Tage später (siehe Abbildung 4) zeigt die Momentaufnahme des bundesdeutschen AKW-Diskurses ein deutlich anderes Bild. Im Zentrum der Debatte steht die
Abbildung 3: AKW-Diskurs, Zeitraum 1: 11.–13.3.2011 (3-core)
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
Abbildung 4: AKW-Diskurs, Zeitraum 2: 14.–15.3.2011 (5-core)
In dieser und in den folgenden Abbildungen symbolisieren Kreise Akteure und graue Quadrate die
Claims. Eine durchgängige Linie steht für einen positiven Bezug zum Claim, eine gestrichelte Linie
symbolisiert die Ablehnung des Claims. Die Größe der Knoten modelliert deren Degree-Zentralität
unter Berücksichtigung des Kantengewichts. Die Stärke der Linien ist proportional zum Kantengewicht, d.h. zur Häufigkeit der Wiederholung desselben Claims durch denselben Akteur im jeweiligen
Zeitraum.
Forderung nach einem Moratorium und dem (vorübergehenden) Abschalten der Altmeiler. Dabei sind es insbesondere die LandespolitikerInnen der CDU und CSU, die die
Forderung nach Abschaltung der Altmeiler unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt hält Angela Merkel klar die ›diskursiven Zügel‹ in der Hand. Sie gibt die Regierungslinie vor und
verbindet die Forderungen nach Sicherheitsüberprüfung, Abschalten der Altmeiler und
dreimonatigem Moratorium. Grüne und SPD unterstützen die Forderung nach Abschaltung der Altmeiler, lehnen jedoch das Moratorium als unzureichend ab und fordern
stattdessen die Rückkehr zum rot-grünen Ausstiegsszenario und eine endgültige Stilllegung und nicht nur temporäre Abschaltung der Altmeiler. Die AKW-Betreiber beteiligen
sich ebenfalls am Diskurs und versuchen – allein auf weiter Flur – die gerade erst erfolgreich ausgehandelte Laufzeitverlängerung zu verteidigen. Wie zuvor bereits ausgeführt,
kommt es für die Zentralität der am Diskurs beteiligten Akteure weder allein auf die Anzahl der Äußerungen noch auf die Anzahl der Argumente an. Vielmehr ist es sinnvoll davon auszugehen, dass diejenigen Akteure besonders zentral sind, die Forderungen unterstützen, die von vielen anderen Akteuren ebenfalls unterstützt werden – insbesondere,
wenn die Forderungen der anderen Akteure ebenfalls wieder von vielen anderen geteilt
werden. Eine Maßzahl für diese Art der Zentralität ist die hub-centrality (Brandes/Wagner 2004; Kleinberg 1999). Im Diskursnetzwerk des zweiten Zeitraums liegt Angela MerBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
307
Abbildung 5: AKW-Diskurs, Zeitraum 3: 16.–22.3 (6-core)
kel mit einem Wert von 10,186 weit vor den folgenden Akteuren (E.on 5,30; Grüne 5,18;
SPD 5,18).
Im dritten Zeitraum, zwischen dem 16. und 22. März, findet eine deutliche Schwerpunktverlagerung im Diskurs statt. Die oppositionelle Forderung nach einem schnellen
Ausstieg gewinnt an Zentralität. Sie wird vereinzelt von PolitikerInnen der Regierungskoalition unterstützt, die Forderung nach einem sofortigen Ausstieg wird allerdings
deutlich zurückgewiesen. Die AKW-Befürworter verteidigen die Laufzeitverlängerung
nicht mehr offensiv, sondern weichen auf die Warnung vor übereiltem Handeln aus. Explizite Pro-AKW-Positionen sind im Diskurs weiterhin marginal. Angela Merkel bleibt
die Akteurin mit den meisten Claims, dicht gefolgt von ihrem Umweltminister, den Grünen und der SPD. Gleichzeitig differenziert Merkel ihre Forderungen aus und bezieht
jetzt, genau wie die anderen drei zentralen Akteure, zu jeweils fünf Forderungen Stellung.
Betrachtet man wieder die hub centrality, dann liegt Merkel jetzt mit einem Wert von 7,54
hinter den Grünen (9,62) und vor Röttgen (5,88) und der SPD (5,65). Merkel hat also zu
diesem Zeitpunkt einen Teil ihrer diskursiven Zentralität eingebüßt. Die Forderungen
der Opposition sind stärker in den Vordergrund gerückt. Dies ändert sich wieder im
vierten Zeitraum. Ab Mitte Mai, im siebten und achten Zeitraum, weisen die Grünen jeweils mit Abstand die höchsten hub centrality Werte auf, im fünften Zeitraum wird die
Liste der zentralsten Akteure vom SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel angeführt,
nur im sechsten Zeitraum sind der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende
Horst Seehofer, gefolgt von CDU und FDP, die zentralsten Akteure.
6
Berechnet wurden hier prozentuale hub centrality Werte, d.h. Angela Merkel vereint 10,18% der im
gesamten Netzwerk vorhandenen hub centrality auf sich.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
Abbildung 6: AKW-Diskurs, Zeitraum 4: 23.3-8.4.2011 (7-core)
Abbildung 6 zeigt den vierten Zeitraum zwischen Einsetzung der »Ethikkommission für
eine sichere Energieversorgung« und dem Votum des Bundesverbandes Deutscher Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), den Atomausstieg zu befürworten. In diesem Zeitraum weisen Umweltminister Norbert Röttgen (6,98) und Angela Merkel (4,89) die
höchsten hub centrality Werte auf. Daneben sind mit Peter Ramsauer und Horst Seehofer
zwei CSU-Politiker im Zentrum des Diskursnetzwerks angesiedelt. Die zentralen Akteure haben sich zu diesem Zeitpunkt die im vorangegangenen Zeitraum von Grünen
und SPD aufgestellte Forderung nach einem schnellen Atomausstieg zu eigen gemacht
und damit die Oppositionsparteien wieder aus dem Zentrum des Diskurses verdrängt.
Diese wiederum versuchen die Regierungsposition zu überbieten, allerdings nur mit begrenzter Resonanz. Die argumentative Verteidigung des Moratoriums wird in diesem
Zeitraum eher eine Strategie der ehemaligen Atom-Befürworter, denen der Schwenk in
Richtung Ausstieg im Grunde zu schnell geht. Bemerkenswert ist, dass im vierten Zeitraum vor allem von Akteuren aus den Regierungsparteien schon deutliche Forderungen
nach konkreter Ausgestaltung der Energiewende laut werden. Das heißt, spätestens Anfang April, also noch nicht einmal einen Monat nach dem Reaktorunglück in Fukushima,
gehen relevante Akteure der Regierungskoalition offenbar schon davon aus, dass der
›Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg‹ kommen wird und beginnen die wirtschaftlichen Claims abzustecken und den Kampf um die Verteilung der Fördermittel
zum Ausbau erneuerbarer Energien (oder auch zum Ausbau fossiler Energieversorgung)
zu beginnen.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Der Ausstieg aus der Atomenergie
309
Im fünften und sechsten Zeitraum bleibt der Raum der Forderungen konstant. Die
Diskursnetzwerke spiegeln einen auf Bundesebene von den meisten politischen Akteuren geteilten Konsens wieder, die AKWs schneller als im Rahmen der Laufzeitverlängerung vereinbart abzuschalten. Die Verteilung der Forderungen stagniert, eine Rückbewegung findet ebenso wenig statt wie eine weitere Zuspitzung der Forderungen.
Im siebten Zeitraum zwischen dem 18. und 30. Mai, zwischen der Veröffentlichung
des Abschlussberichts der Reaktorsicherheitskommission und dem Beschluss der Bundesregierung zum Atomausstieg und zur dauerhaften Abschaltung der ältesten acht
AKWs, steht die Forderung nach einem Ausstieg mit konkreten Deadlines, die sogar vor
den im rot-grünen ›Atomkonsens‹ anvisierten liegen, im Zentrum des Diskurses. Zum
ersten Mal ist die zentrale Forderung des AKW-Diskurses in diesem Zeitabschnitt höchst
umkämpft. Wieder ist es neben Angela Merkel und Norbert Röttgen insbesondere die
CSU, die die Ausstiegsforderung unterstützt, während vor allem aus der FDP, aber auch
vereinzelt aus der CDU Widerstand gegen die konkrete Festlegung auf ein Ausstiegsdatum laut wird. Ein Blick auf die hub centrality weist in diesem Zeitraum die CSU mit einem Wert von 7,79 als Akteur mit dem zweithöchsten Zentralitätswert aus, nach den
Grünen (8,39) und vor FDP (6,62) und Angela Merkel (5,61).
In der letzten Phase ist die Debatte innerhalb der Regierungsparteien zur Ruhe gekommen. Nach dem Ausstiegsbeschluss der Regierung wird der Diskurs in der Zeit bis
zum Bundestagsbeschluss eindeutig von den Grünen dominiert und ist gekennzeichnet
von Auseinandersetzungen innerhalb der grünen Partei sowie zwischen Grünen, Teilen
Abbildung 7: AKW-Diskurs, Zeitraum 7: 18.5-30.5.2011 (6-core)
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
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Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
der Anti-AKW-Bewegung und Umweltorganisationen um den richtigen Ausstiegskurs.
Es geht im Kern nur noch darum, wie schnell der Atomausstieg vollzogen werden soll.
Die von den AKW-Betreibern in dieser Phase stark gemachte Forderung nach Schadensersatz im Falle einer Rücknahme der verlängerten Laufzeiten findet nur wenig Widerhall.
Die Gruppe der Mahner vor übereiltem Handeln ist immer noch präsent, bleibt aber peripher. In der achten Phase adressieren nur noch weniger als die Hälfte aller Claims
(48,1%) unmittelbar den Ausstieg oder die Sicherheit der AKWs. In 51,9% der Claims
geht es dagegen um die zukünftige Energiepolitik jenseits der Atomkraft (31,6%) und um
Verfahrensfragen im weitesten Sinne (20,3%). In der zweiten Phase standen noch 77,8 %
Ausstiegs- und Sicherheits-Claims lediglich 22,2% Energiewende- und Verfahrensclaims
gegenüber.
Eine Analyse der Akteursnetzwerke, d.h. der Netzwerke in denen Kanten entstehen,
wenn die jeweiligen Akteure Claims teilen, veranschaulicht noch einmal die diskursive
Dynamik der ersten Tage.
Abbildung 8 zeigt die 2-slices der Akteurs-Kongruenz-Netzwerke der ersten vier Zeiträume. Das heißt, die Netzwerke enthalten die Akteure, die jeweils paarweise mindestens
zwei Claims teilen, also zum Beispiel sowohl den Ausbau erneuerbarer Energien als auch
den schnellen Atomausstieg fordern. Die Abbildung zeigt deutlich, dass die Oppositionsparteien von Anfang an mehrere Forderungen teilten und damit diskursive Kohärenz
zeigten. Bei Akteuren der Regierungsparteien entwickelt sich diese diskursive Kohärenz
erst mit der Zeit. Im dritten Zeitraum verschmelzen die vorher noch getrennten diskursiven Lager und ab dem 23. März wächst die Gruppe der Regierungsakteure, die mehrere
Claims teilen stark an und verdrängt das immer noch erkennbare separate OppositionsCluster aus dem Zentrum des Diskurses. Zweifellos hat Angela Merkel spätestens mit den
Moratoriumsbeschlüssen am 14. und 15. März die Debatte bestimmt. Dementsprechend
nimmt sie auch in Abbildung 4 eine zentrale Position im Netzwerk ein. Eine kohärente
Diskurskoalition bildet sich im Regierungslager aber erst ca. 12 Tage nach Fukushima heraus. Vor dem Hintergrund der noch kurz zuvor befürworteten Laufzeitverlängerung ist
dies eine beeindruckende Geschwindigkeit, die den relativen Stabilitätsannahmen etwa
der Literatur über Policy-Koalitionen aus der Perspektive des Advocacy-CoalitionFrameworks (Sabatier/Weible 2007) zuwider läuft.
Klar erkennbar in den Akteursnetzwerken ist auch, dass sich zu keinem Zeitpunkt
eine relevante Diskurskoalition etabliert, die an der Laufzeitverlängerung festhält. Auch
dieser Umstand ist bemerkenswert, weil die Laufzeitverlängerung Bestandteil des Koalitionsvertrags der schwarz-gelben Koalition und vor kurzem erst umgesetzt worden war,
also starke FürsprecherInnen in den Regierungsparteien gehabt haben muss. Diese waren allerdings im März 2011 nicht in der Lage und/oder nicht gewillt, gemeinsam in den
AKW-Diskurs einzugreifen.
Die Schwäche der Atomkraftbefürworter illustriert das Claims-Netzwerk in Abbildung
9. Das Netzwerk zeigt diejenigen Claims, die im vierten Zeitraum mindestens sechsmal
genannt und von mindestens zwei Akteuren verwendet worden sind. Das Bild des NetzBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
t4
t3
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Abbildung 8: 2-slices der Akteurs-Kongruenz-Netzwerke der ersten vier Zeiträume
t2
t1
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Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
Abbildung 9: Claims Netzwerk Zeitraum 4: 23.3-8.4.2011 (6,2-core)
werks zeigt ein zusammenhängendes Cluster, in dem es um den Ausstieg und die Energiewende geht. Daneben gibt es ein unverbundenes Cluster, das aus den Forderungen der
Energiekonzerne nach Schadensersatz und Beibehaltung der Laufzeitverlängerung besteht. Die diskursive Schwäche der letztgenannten Position besteht nicht nur darin, dass
es wenige Akteure sind, die diese Forderungen teilen, sondern auch darin, dass den Akteuren kein Anschluss an den Hauptdiskurs gelingt.
Die Diskursnetzwerke liefern ein detailliertes Abbild der intensiven politischen Debatte
zwischen dem Atomunglück in Fukushima und dem im Parlament mit breiter Mehrheit
verabschiedeten Ausstiegsbeschluss. Zusammenfassend lassen sich folgende Ergebnisse
festhalten:
t .JU EFS 'PSEFSVOH OBDI FJOFN .PSBUPSJVN SFBHJFSU EJF #VOEFTLBO[MFSJO "OHFMB
Merkel sehr schnell auf das Ereignis in Japan und wird hierbei von Anfang an von einzelnen Akteuren aus dem Lager der Koalitionsparteien unterstützt. In der entscheidenden frühen Phase hat Merkel einen hohen Zentralitätsgrad im Diskursnetzwerk,
bestimmt also die Hauptrichtung des Diskurses. Andere Akteure mit hohen Zentralitätswerten sehen das Moratorium zwar teilweise eher kritisch, setzen sich aber nicht
für die Beibehaltung der Laufzeitverlängerung ein, sondern formulieren im Gegenteil
weitergehende Ausstiegs-Claims. Diese weitergehenden Claims nach einem schnellen
Atomausstieg und dem Abschalten der Altmeiler gewinnen im Verlauf der Debatte
zunehmend an Zentralität und bestimmen damit das Ergebnis des Diskurses.
t /BDIFJOFSLVS[FOBOGÊOHMJDIFO1IBTFEFS6OTJDIFSIFJUGPSNVMJFSFOXJDIUJHF3FHJFrungsakteure schon zwei Wochen nach dem Reaktorunglück ein ausdifferenziertes
Set an Forderungen zum Atomausstieg und zur Energiewende. Die Tatsache, dass die
verschiedenen Forderungen von einer großen Zahl von Akteuren geteilt werden,
kann als Beleg für ihre diskursive Kohärenz gelten. Zugleich bieten die verschiedenen
Forderungen eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für Landes- und Bundespolitiker wie auch für zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Interessengruppen.
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Der Ausstieg aus der Atomenergie
313
t %JF 0QQPTJUJPO HFHFO EJF "VTTUJFHTGPSEFSVOHFO CMFJCU àCFS EFO HBO[FO ;FJUSBVN
hinweg marginal. Außer den vier AKW-Betreiber-Firmen RWE, E.on, Vattenfall und
EnBW setzen sich nur vereinzelt andere Akteure explizit für ein langfristiges Festhalten an der Kernenergie ein. Die Verklausulierung der Pro-AKW-Position als Warnung vor übereilten Handlungen ist Ausdruck der diskursiven Schwäche der AKWBefürworter. Die Wirtschaftsverbände, die Vertreter der Laufzeitverlängerung in den
Regierungsparteien und die Energieunternehmen erreichen weder eine mit den AusstiegsbefürworterInnen vergleichbare Zentralität im Diskursnetzwerk noch gelingt
ihnen eine diskursive Verknüpfung verschiedener Forderungen.
t #FNFSLFOTXFSUJTUEFSGSàIFEJTLVSTJWFO&JOTUJFHFJOFSlSFWJTJPOJTUJTDIFOk1PMJUJLJOnerhalb von CDU und CSU und die wachsende Zustimmung innerhalb dieser Parteien zum Ausstiegskurs auch auf Landesebene. Unmittelbar nach dem Erdbeben in
Japan und der sich immer deutlicher abzeichnenden Atomkatastrophe versucht die
Regierung zuerst mit Forderungen nach Sicherheitsüberprüfungen an ihrer AKWPolitik festzuhalten, während von den Oppositionsparteien, aber auch vom CSU-Umweltpolitiker Josef Göppel sofort die Forderung nach Rücknahme der Laufzeitverlängerung kommt. In dieser Situation erhält die Kanzlerin mit dem Moratorium und der
vorläufigen Abschaltung der Altmeiler aus der CDU und CSU schnell große Unterstützung, was zu einer Radikalisierung der Forderungen auch in der Regierung beiträgt, die wiederum von den CDU/CSU-Politikern gestützt wird. Die stabilste Unterstützung des Regierungskurses kommt dabei von der CSU aus Bayern. Immer wieder
gehen einzelne CSU-PolitikerInnen auch über die Regierungslinie hinaus und fordern ein schnelleres Ende der Atomkraft.
4. Fazit
Aus einer diskursanalytischen Perspektive ist der schnelle und radikale Politikwandel in
der deutschen Atompolitik nach Fukushima weniger verwunderlich als aus Sicht etablierter politikwissenschaftlicher Erklärungsmodelle. Zwar kann auch die Diskursnetzwerkanalyse nicht erklären, warum Angela Merkel sich so schnell entschieden hat, mit
der Forderung nach einem Moratorium deutlich von ihrer bis dahin verfolgten ProAtomkraft-Position abzuweichen. Die Diskursnetzwerkanalyse kann aber durchaus erklären, wie es dazu kam, dass sich die Forderung nach einem schnelleren Ausstieg und
dem Abschalten der Altmeiler in kurzer Zeit durchgesetzt hat. Die Ausstiegsforderung
konnte sich diskursiv festsetzen, weil die sie tragenden Akteure
1. zentrale Positionen im Diskursnetzwerk besetzen konnten,
2. weil es ihnen gelungen ist, schnell ein kohärentes Forderungsbündel zu etablieren,
das Anknüpfungspunkte für viele andere politische Akteure mit unterschiedlichen
Positionen und Interessen bot, und
3. weil es den Befürwortern der Laufzeitverlängerung weder gelang, zentrale Positionen
im Diskursnetzwerk zu besetzen noch ein anschlussfähiges Forderungsbündel zu entwickeln.
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Sebastian Haunss/Matthias Dietz/Frank Nullmeier
Verstärkt wurde die Ausstiegsdynamik dadurch, dass die Oppositionsparteien zwar immer wieder die Regierungsforderungen als unzureichend ablehnten, aber mit ihren eigenen Forderungen nicht im eigentlichen Sinne einen Gegen-Pol zu den Positionen zentraler Regierungsakteure aufbauten, sondern deren Forderungen in der Regel nur radikalisierten. Damit verhinderten sie eine Polarisierung der Debatte und trugen dazu bei, die
ursprünglich in ihren Konsequenzen eher unbestimmten Forderungen nach Sicherheitsüberprüfung und Moratorium in Richtung Atomausstieg zu lenken.
Die in diesem Artikel durchgeführte Diskursnetzwerkanalyse ist begrenzt, da wir den
Gesamtdiskurs in acht Phasen unterteilt und die diskursiven Ereignisse innerhalb einer
Phase jeweils zu einem Meta-Ereignis aggregiert haben. Genau genommen ermöglicht
diese teilweise Aggregation des Diskurses nur eine komparativ-statische Rekonstruktion
der Diskursdynamik. Auf der Basis der erhobenen Daten wäre es aber auch möglich, das
Gesamtnetzwerk tageweise zu unterteilen und damit eine feinere Auflösung der Diskursdynamik zu erzielen. Damit ließe sich die Analyse erweitern, indem diskursive Wendepunkte als Verschiebungen der Netzwerkstruktur analytisch aus dem Diskursverlauf bestimmt werden könnten. Eine solche Strategie ginge allerdings auf Kosten einer synthetisierenden und für die LeserInnen nachvollziehbare Beschreibung des Diskursverlaufes.
Unabhängig vom gewählten Aggregationsgrad der Untersuchung bietet die Diskursnetzwerkanalyse einen erweiterten Zugang zur Entwicklung von Akteurskonstellationen und
Diskurselementen (hier Forderungen) in Diskursen. Dieser Ansatz sollte daher weiter erprobt, entfaltet und überprüft werden.
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Anschriften:
PD Dr. Sebastian Haunss
SfB 597 - Transformations of the State
Universität Bremen
Linzer Str. 9a
28359 Bremen
sebastian.haunss@sfb597.uni-bremen.de
Matthias Dietz, M. A.
Universität Bremen
Zentrum für Sozialpolitik
Abteilung »Theorie und Verfassung
des Wohlfahrtsstaates«
Unicom-Gebäude
Mary-Somerville-Straße 5
28359 Bremen
mdietz@zes.uni-bremen.de
Prof. Dr. Frank Nullmeier
Universität Bremen
Zentrum für Sozialpolitik
Abteilung »Theorie und Verfassung
des Wohlfahrtsstaates«
Unicom-Gebäude
Mary-Somerville-Straße 5
28359 Bremen
frank.nullmeier@zes.uni-bremen.de
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Review Essay
317
Review Essay
Ekkehard Felder/Marcus Müller (Hrsg.)
(2009):
Wissen durch Sprache.
Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse
des Forschungsnetzwerkes »Sprache
und Wissen«. Berlin und New York:
de Gruyter
Das Forschungsnetzwerk »Sprache und Wissen«
präsentiert sein Arbeitsfeld (s. auch die Homepage: www.suw.uni-hd.de): Drei Jahre nach Erscheinen der ersten Projektpublikation »Semantische Kämpfe« legen die Heidelberger Linguisten
Ekkehard Felder, Initiator und Koordinator des
Forschungsnetzwerks »Sprache und Wissen –
Probleme öffentlicher und professioneller Kommunikation«, und Marcus Müller mit »Wissen
durch Sprache« einen mit insgesamt 16 Aufsätzen
recht umfangreichen zweiten Sammelband vor,
der darauf zielt, »das gesamte Spektrum wissenschaftlicher Aufgaben im Netzwerk« (S. 1) vorzustellen. Mittlerweile ist mit Band 13 (»Faktizitätsherstellung in Diskursen«) der netzwerkeigenen
Publikationsreihe »Sprache und Wissen« bei de
Gruyter der dritte Sammelband erschienen. »Wissen durch Sprache« dokumentiert zum einen die
rege Forschungstätigkeit, zum anderen aber auch
die intensive Beschäftigung der am Netzwerk Beteiligten mit verschiedenen Theorien, Methoden
und Instrumentarien einer linguistischen Diskursanalyse und ihrer empirischen Umsetzung.
So lohnt sich insbesondere für diskursanalytisch
Interessierte die Lektüre des hier besprochenen
»Programm«-Bandes des 2005 gegründeten, international und interdisziplinär ausgerichteten
Forschungsnetzwerks, das inzwischen als ein zentrales Forum im Bereich der von linguistischer
Seite initiierten germanistischen Diskursforschung gelten darf.
Der Projektname weist bereits die Richtung,
und in der Einführung zum Sammelband betonen
Felder und Müller dann auch die dem Buchtitel
»Wissen durch Sprache« zugrunde liegende Prämisse, dass »sprachliche Kommunikationsprozesse eine unhintergehbare Grundbedingung für
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
die Konstitution, Evaluation und Vermittlung von
Wissen sind« (S. 1), und zwar von individuellem
wie kollektivem, gesellschaftlichem Wissen. Letzterem gilt das primäre Erkenntnisinteresse des
Forschungsnetzwerks, allgemein formuliert als
die Frage, »wie gesamtgesellschaftlich relevante
Wissensbestände durch sprachliche Mittel geformt werden« (S. 3). Gemäß der These einer
asymmetrischen Partizipation am gesellschaftlichen Wissen in der heutigen sogenannten »Wissensgesellschaft«, stellt das Netzwerk mit der
Gegenüberstellung von professioneller und öffentlicher Kommunikation die Relation zwischen
sprachlicher Generierung von (exklusivem) Fachwissen durch Experten und der sprachlichen Vermittlung von fachbezogenem Wissen an Laien in
konkreten Sprachhandlungen in den Mittelpunkt
seiner Forschungen. Erklärtes Ziel ist es, sprachliche Wissensgenerierung und Wissensvermittlung
mit linguistischen Theorien und Methoden unter
Einbeziehung insbesondere der Kognitions- und
Sozialwissenschaften zu beschreiben, sie innerhalb gesellschaftlich relevanter Fachgebiete bzw.
Wissensdomänen zu analysieren und auch anwendungsbezogen zu agieren.
Nach einem Überblickaufsatz, in dem Ekkehard Felder Zielsetzungen, Inhalte und Aktivitäten des Forschungsnetzwerks ausführlicher vorstellt, bündelt der Sammelband die folgenden
Beiträge zu vier Rubriken mit den Schwerpunkten
Theorie (I), Einzelanalysen aus verschiedenen
Wissensdomänen (II), Vorstellung neuer Forschungsfelder im Forschungsnetzwerk (III) und
Anwendungsmöglichkeiten in der Praxis (IV).
In den theoretisch orientierten Beiträgen beschäftigen sich die Autoren vornehmlich mit der
Erarbeitung einer sprachtheoretischen Basis zu einer linguistischen Wissensanalyse, der Präzisierung von Grundbegriffen und der Entwicklung
von Untersuchungsmodellen im Rahmen verschiedener Paradigmen wie der Varietätenlinguistik (Felder), der Frametheorie (Konerding), der
Diskurslinguistik (Warnke), der conversation
analysis (Spranz-Fogasy/Lindtner) und der Kognitiven Grammatik und Konstruktionsgrammatik
(Ziem). Im Folgenden konzentriere ich mich auf
das ausführliche Referat dieser fünf grundlegen-
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Review Essay
den Theorieaufsätze, um anschließend die weiteren Beiträge in kürzerer Form vorzustellen.
In seinem Beitrag Sprachliche Formationen des
Wissens. Sachverhaltskonstitution zwischen Fachwelten, Textwelten und Varietäten widmet sich Ekkehard Felder den sprachlichen Erscheinungsformen gesellschaftlich-kollektiver Wissensbestände
in Texten aus variationslinguistischer Perspektive.
Die Basis seiner Überlegungen bildet die Annahme, dass fachliche Sachverhaltskonstitution
zum Aufbau von Fachwelten in unterschiedlichen
»Textwelten« unter der Bedingung heterogener
Wissensdispositionen der Sprachteilnehmer mit
Orientierung an text- und gesprächssortenspezifischen Kommunikationsroutinen geschieht.
Felder sieht hier Anknüpfungspunkte zu der Auffassung von sprachlichen Erscheinungen als funktiolektale Sprachvarianten, in denen sich (Fach-)
Varietäten als Subsysteme einer als heterogenes
Gesamtsystem aufgefassten (Fach-)Sprache manifestieren. In Anlehnung an Steger und Löffler
entwickelt er ein Sprachbeschreibungsmodell zur
Varietätenbestimmung in Form der koppelbaren,
graduell gestuften Dimensionen »soziale bzw.
kommunikative Reichweite« der Ausdrucksweise
und »funktionale Reichweite« (S. 48) des Inhalts,
wobei zwischen Fachsemantik mit hohem, Vermittlungssemantik mit mittlerem und Alltagssemantik mit niedrigem Fachlichkeitsgrad unterschieden wird, sowie der Dimension des historischen Zeitpunkts und der Modalität. Anschließend beschäftigt sich der Autor mit den Charakteristika von Fachsprachen, -kommunikation und
-texten einerseits und Vermittlungssprachen,
-kommunikation und -texten andererseits als den
beiden für das Forschungsinteresse relevanten Bereichen für (professionelle) Wissenskonstituierung und (öffentlichen) Wissenstransfer. Im Folgenden geht Felder auf weitere für das Forschungsnetzwerk zentrale Aspekte ein, u.a. auf die Funktion von Diskursen als transtextuellen Wissensformaten und die Verstehensrelevanz von Wissensrahmen, verweist hierzu aber auf die anschließenden, diesbezüglich ausführlicheren Aufsätze
von Konerding, Warnke und Ziem.
Klaus-Peter Konerding beschäftigt sich in
seinem Beitrag Sprache – Gegenstandskonstitution
– Wissensbereiche. Überlegungen zu (Fach-)Kulturen, kollektiven Praxen, sozialen Transzendentalien, Deklarativität und Bedingungen von Wissenstransfer in einem theoretisch breit gefächerten
Rahmen mit dem Prozess der Wissenskonstituierung und darauf aufbauend mit den Bedingungen
des Fachwissenstransfers in andere Bereiche der
Gesellschaft. Unter Einbeziehung philosophischer, soziohistorischer und kognitions- wie
sprachpsychologischer Arbeiten insbesondere
Bordieus, Polanyis und Tomasellos führt er die
von ihm als fundamental erachtete Dichotomie
zwischen prozeduralem, implizitem, stillschweigendem Wissen als ›Können‹ in Form von vorreflexiven, durch schrittweise interaktionale Einübung in kulturelle Praktiken erworbenen
Handlungsroutinen und deklarativem, explizitem,
artikuliertem Wissen ein. Der Sprache weist Konerding dabei die Rolle der Generierung deklarativen Wissens aus prozeduralem Wissen im Sinne
einer »repräsentationellen Neubeschreibung«
oder »Superformatierung« (S. 87) zu. Ausgehend
von der These, dass Wissens- als Gegenstandskonstituierung stets innerhalb kulturspezifischer
kognitiv-konzeptueller Rahmen erfolgt, vollzieht
Konerding zum einen die Anbindung seines dichotomen Wissens-Begriffs an den ›Wissensrahmen‹- bzw. Frame-Begriff, zum anderen den
Übergang zu der Frage nach dem Wissenstransfer
von Expertenwissen als fachkulturspezifisch geprägtem Wissen in laienkulturspezifisch geprägte
gesellschaftliche Bereiche. In den Ergebnissen einer framebasierten empirischen Untersuchung Sigurd Wichters zum Wissenstransfer an der
Schnittstelle zwischen Experten- und Laienkultur
in den Domänen Computertechnik, Kfz-Technik
und Medizin sieht Konerding die Erfahrungsund Praxisfundiertheit der jeweiligen Wissensbestände bestätigt und kommt zu dem Schluss, dass
vollständiger Wissenstransfer nur auf Basis »zureichender (fach)spezifischer Sozialisation« (S.
105) möglich ist. Alle übrigen Fälle seien mit Liebert als »Wissenstransformationen« (S. 106) zu
bezeichnen und erfolgten als ein kulturelles
»Über-Setzen« (S. 105) in Form von partieller Anschlussfähigkeit an verfügbares Wissen von Laien
bzw. Übertragung auf bestehende kognitive Rahmen, was dann sukzessive eine Rahmenassimilierung und -elaboration ermögliche. Missverstehen
sei indessen dort vorprogrammiert, wo sich der
›Transfer‹ auf deklarative Techniken beschränke,
wofür den Studienergebnissen Wichters zufolge
im Bereich der Medizin der Einsatz von Informations- und Aufklärungsbögen in präoperativen
Stadien ein typisches Beispiel sei.
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Eine diskurslinguistische Fundierung der
Wissensanalyse legt Ingo H. Warnke in seinem
Beitrag Die sprachliche Konstituierung von geteiltem Wissen in Diskursen vor, in dem er sich mit
Folgerungen aus dem Sprachapriori des Denkens,
der Relevanz von Verstehenshintergründen und
Diskurskohärenz für die Gültigkeit von Aussagen
und der Frage nach dem Status von Konsens und
Kontroverse in Diskursen beschäftigt. Dabei liefert Warnke unter Einbeziehung der Arbeiten
insbesondere von Busse, Foucault und Lyotard einen Einblick in basale diskurslinguistische Annahmen und Theoreme und exemplifiziert diese
am Beispiel des Diskurses über »Klimawandel«.
Zur Erläuterung des Begriffs der »sprachlichen
Wirklichkeitskonstituierung« in transtextuellen
Diskursen und der referentiellen Bezugnahme
differenziert Warnke zunächst zwischen nichtdiskursivem, auf unmittelbarer Erfahrung beruhenden »knowledge by aquaintance« und sprachlich-diskursiv erzeugtem Wissen als »knowledge
by description« (S. 123), bei dem die Referenz
kein Gegenstand der realen Welt, sondern das Resultat eines Konzeptualisierungsprozesses ist.
Warnke unterscheidet drei Typen sprachlicher
Konstituierung: die »Konstruktion von Wissen«
zur »Herstellung von Faktizität« durch Wahrheitsansprüche, die »Argumentation von Wissensakteuren« zur »Rechtfertigung von Wirklichkeit« bzw. konstruiertem Wissen durch Argumente
und die »Distribution von Wissen« zur »Durchsetzung von Geltungsansprüchen« (S. 118 ff.)
durch Regulierung. Mit Bezug auf Busse hebt
Warnke die Relevanz der »Kontextualisierung von
Wörtern in textweltbezogenen Wissensrahmen«
(S. 127) zur Generierung und zur Vermittlung
verstehensrelevanten Wissens in konkreten diskursiven Aussagen hervor. Anschließend behandelt er den Aspekt des geteilten Verstehenshintergrundes und verweist auf den von Stalnaker
verwendeten Begriff des »common ground« (S.
126) als Basis für von den Kommunikationspartnern gemeinsam anerkannte und geteilte Informationen. Dabei konstatiert Warnke, dass der
common ground als geteiltes Wissen erst durch
eine konkrete Äußerung implizit hergestellt werden kann und bezeichnet dies mit Stalnaker als
»Präsuppositions-Anpassung« (S. 128), wodurch
potentiell neues Wissen generiert wird. Mit dem
Begriff der »sprachlichen Routinen« als »verfestigte Formen des Redens« und als »Strategien bzw.
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Muster des Handelns« (S. 132) erläutert Warnke
die entscheidende Rolle von deklarativen und
prozeduralen Routinen bei der Etablierung von
geteiltem Wissen und ihre Marker-Funktion als
für den jeweiligen Diskurs typische, kohärenzstiftende Formen. Mit Verweis auf Felder (2006) bezeichnet Warnke abschließend die Kontroverse in
Form des »semantischen Kampfs« zur »Durchsetzung von interessegeleiteten Handlungs- und
Denkmustern« (S. 135) als Standardfall diskursiver Wissenskonstituierung – eine, wenn auch
nicht erst hier entwickelte,1 so immer noch zentrale These, die in mehreren der folgenden Einzelanalysen bestätigt wird. Agonale Diskurse fänden
innerfachlich wie interfachlich, zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Akteuren statt. Diskursanalyse ziele insbesondere auf
die Interaktion heterogener Akteure in semantischen Kämpfen.
Der Beitrag Fragen und Verstehen. Wissenskonstitution im Gespräch zwischen Arzt und Patient von Thomas Sprang-Fogasy und Heide
Lindtner hätte ebenso in die Rubrik »Einzelanalyse« gruppiert werden können, markiert aber als
gesprächsanalytische Variante linguistischer Wissensanalyse eine der theoretisch-methodischen
Grundsäulen des Forschungsnetzwerks. Anhand
eines authentischen ärztlichen Gesprächs untersuchen die AutorInnen die interaktiven Verstehensprozesse und Verstehensprobleme, die sich
beim »Abgleich des subjektiven Beschwerdenwissens von Patienten mit dem medizinischen Fachwissen des Arztes zur Feststellung einer Diagnose« (S. 142) auftun. Dabei fokussieren die
AutorInnen im Besonderen auf die ärztliche Frage
als prominentes Medium zur Bearbeitung von
Verstehensproblemen. Anhand eines induktiv erstellten »Perspektivenmodell[s]« (S. 148) aus drei
zusammenwirkenden Analyseebenen – der
sprachstrukturellen, der soziostrukturellen und
der interaktionsstrukturellen, die noch in eine se1
Es sei hier darauf hingewiesen, dass »konkurrierender Sprachgebrauch« und »semantische Kämpfe«
in ihrer Relevanz als Zeichen gesellschaftlich konfligierender, interessegeleiteter ›Wirklichkeits‹Konstituierung bereits von Georg Stötzel (1980,
1990) beschrieben wurden und in den diskurslinguistisch orientierten Forschungsarbeiten der sogenannten »Düsseldorfer Schule« (u.a. Stötzel/Wengeler et. al. 1995; Böke/Liedtke/Wengeler 1996) einen zentralen Stellenwert haben.
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quenzorganisatorische und eine interaktionstypologische Dimension unterteilt wird – gelingt es
den AutorInnen, die komplexe Funktion von Fragen und die Fülle interaktiver Ressourcen bei der
Verstehensarbeit im Gespräch aufzuzeigen.
Konzentriert auf die Forschungsergebnisse
der Kognitiven Linguistik und in expliziter Anknüpfung an die Ausführungen Konerdings und
Warnkes behandelt Alexander Ziem die Sprachliche Wissenskonstitution aus Sicht der Kognitiven
Grammatik und Konstruktionsgrammatik. Dabei
zielt er auf ein integratives Modell aus kognitionstheoretischer, diskurs- und gesprächsanalytischer
Methodik, widmet sich aber vor allem der Präsentation und Verteidigung der theoretischen Grundlagen der Kognitiven Linguistik zur Erklärung der
sprachlichen Konstitution von Wissen. Als gemeinsame Basis der Kognitiven Grammatik nach
Langacker und der Konstruktionsgrammatik
nach Fillmore, Goldberg, Croft und Bergen arbeitet Ziem fünf Prämissen heraus, die er als Eckpfeiler des anvisierten Beschreibungsmodells
bezeichnet. 1. In antigenerativistischer Haltung
werden Form und Bedeutung als symbolische
Einheit betrachtet und die Trennung von Sprachund Weltwissen, Semantik und Pragmatik wird
aufgegeben; 2. Kategorisierung und Schematisierung gelten als basale kognitive Fähigkeiten; 3.
grammatische Phänomene erhalten den Status
von Konzepten; 4. sensomotorische und schematisierte Körpererfahrungen gelten als Basis des
sprachlichen Wissens; 5. sprachliche Strukturen
werden als Resultat konkreter sozialer Interaktionsprozesse aufgefasst. Im Folgenden geht Ziem
näher auf den Aspekt des sprachlichen Wissens
als Netzwerk symbolischer Einheiten und auf die
komplementären Prozesse der »Kategorisierung«
(Instanz-Schemabeziehungen) und »Schematisierung« (Schema-Instanzbeziehungen) ein, um anschließend drei verstehensrelevante Schematypen
zu präsentieren, mit denen sprachliche Wissenskonstituierung untersucht werden kann: 1. »mentale Räume« (S. 185) nach Fauconnier und Turner, die während des Verstehensaktes entstehen
und durch kognitive Operationen (»mapping«,
»blending«, »compression«) beeinflusst werden,
2. »Frames« nach Fillmore bzw. »Domänen« nach
Langacker als konzeptuelle Strukturen, »die relativ stabiles Hintergrundwissen kognitiv verfügbar
machen« (S. 187) und 3. »Bildschemata« nach Lakoff/Johnson als die kognitiven Voraussetzungen
des Bedeutungserwerbs, das in der nonverbalen
und z.T. präverbalen Praxis gebildete, hoch abstrakte Musterwissen als »Wissen-wie bzw. Können« (S. 189) im Sinne des prozeduralen Wissens
nach Konerding. Dem Vorwurf, »dass Schemata
statische Einheiten seien, die der Dynamik
sprachlich-kommunikativer Verstehens- und
Handlungsprozesse nicht gerecht werden könnten« (S. 191), begegnet Ziem mit dem Verweis auf
den Brückenschlag zwischen Kognition und
Kommunikation: »Bildschemata ergeben sich aus
körpergebundener Erfahrung, und Frames strukturieren konventionelles Wissen, das seinerseits
Ergebnis der kommunikativen Praxis ist« (S. 193).
Ziem schließt mit der zentralen These, dass unter
kognitionstheoretischen Vorzeichen »nicht Sprache Wissen schafft und Sachverhalte konstituiert,
sondern dass Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer ausgehend von sprachlichen Tokens kognitive Modelle aufbauen, deren gestalthafte Erscheinung eine projizierte Wirklichkeit […]
erzeugt« (S. 198).
Damit endet der Theorieteil des Sammelbandes. Dieser dokumentiert den prägenden Einfluss
kognitionstheoretischer Paradigmen auf den
Forschungsansatz des Netzwerks, der aktuell
auch innerhalb der epistemologisch orientierten
Diskurslinguistik zu verzeichnen ist. Positiv hervorzuheben ist, dass hier unter Einbeziehung eines breiten Spektrums an sprach-, kognitionsund sozialwissenschaftlichen Arbeiten sowohl
hinlänglich etablierte als auch neuere Begrifflichkeiten wie z.B. die Differenzierung zwischen prozeduralem und deklarativem Wissen in Verbindung gebracht und erläutert werden, die dem
von Felder formulierten Ziel der Entwicklung
eines ȟbergeordneten, linguistisch fundierten
Beschreibungsapparat[es]« (S. 13) auf theoretischer Ebene näher kommen. Dieser Beschreibungsapparat verharrt hingegen noch sehr im
Kognitiv-Basalen. Was das Verhältnis von Experten- und Laienwissen, auch unter dem Aspekt sozialer Stratifizierung, betrifft, bleiben die hier vorgelegten Arbeiten eine theoretisch-methodische
Ausarbeitung weitgehend schuldig. Auch wäre
unter forschungspraktischen Aspekten die Bereitstellung eines Analyseinstrumentariums wünschenswert. Dies bleibt, wenn auch vorwiegend
eher implizit, den thematisch wie methodisch
recht heterogen angelegten Einzelanalysen vorbehalten.
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Die Zusammenstellung der empirischen Beiträge erfolgte laut Herausgeber nach der Maßgabe
möglichst breiter Repräsentanz der Wissensdomänen, die im Forschungsnetzwerk untersucht
werden. So sind die Einzelanalysen in Teil II
den Bereichen ›Geschichte-Politik-Gesellschaft‹
(Ziem), ›Bildung und Schule‹ (Kilian/Lüttenberg),
›Naturwissenschaft und Technik‹ (Zimmer), ›Medizin und Gesundheitswesen‹ (Spieß),2 ›Religion‹
(Lasch) und ›Kunst-Kunstbetrieb-Kunstgeschichte‹ (Müller) zugeordnet. Teil III bilden zwei
weitere Beiträge, die die Konzeptionen der neu integrierten Forschungsfelder ›Natur-Literatur-Kultur‹ (Goodbody) und ›Mathematik‹ (Schmidt)
vorstellen. Teil IV schließlich liefert eine Dokumentation praktischer Anwendungsmöglichkeiten linguistischer Wissensforschung anhand
sprachlicher Regulierungsversuche in Wirtschaftsunternehmen im Grenzbereich der Domänen ›Wirtschaft‹, ›Unternehmen und Organisation‹ (Hundt) sowie konkreter Spracharbeit bei
der Gesetzesformulierung in der Domäne ›Recht‹
(Nussbaumer).3 Die meisten der Einzelanalysen
schließen explizit, manche implizit, wenige nur
vage an die im ersten Teil präsentierten Theorien
an.
In seinem zweiten Beitrag zum Sammelband
legt Alexander Ziem in Frames im Einsatz. Aspekte anaphorischer, tropischer und multimodaler
Bedeutungskonstitution im politischen Kontext den
Schwerpunkt auf die Vorstellung und Anwendung
eines erweiterten, linguistisch fundierten FrameAnsatzes. Am Beispiel einiger Vokabeln aus der
›terroristischen Geheimsprache‹, die Al-KaidaAnhänger benutzten, um sich verschlüsselt über
geplante Terroranschläge auszutauschen, erläutert
Ziem mit Verweis auf die Arbeiten Konerdings die
im frame-semantischen Instrumentarium zentra2
3
Meines Erachtens ist der Beitrag von Spieß in die
Domäne ›Geschichte-Politik-Gesellschaft‹ einzuordnen, wohingegen die Domäne ›Medizin und
Gesundheitswesen‹ bereits durch den Beitrag von
Spranz-Fogasy/Lindtner repräsentiert wird.
Damit beschränkt sich der Band auf die Präsentation von Arbeiten zu 11 von insgesamt 13 Wissensdomänen, verweist aber in der Einleitung auf
einen bereits im ersten Sammelband veröffentlichten Aufsatz von Warnke zur Domäne ›Architektur
und Stadt‹ und entschuldigt das Fehlen des Bereichs
›Deutsche Sprache‹ damit, dass er erst 2008 als neue
Domäne aufgenommen worden sei.
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len Begriffe »Leerstellen«, »Füllwerte« und »Standardwerte« sowie wesentliche Charakteristika von
Frames aus schematheoretischer Perspektive, mit
denen er u.a. tropische und anaphorische Bedeutungskonstitutionen erklärt. Anhand einer politischen Karikatur analysiert der Autor mithilfe des
Frame-Ansatzes die durch die Text-Bild-Beziehung gegebenen tropologischen, morphologischen und bedeutungskonstitutiven Aspekte des
Wortes Kindsköpfe im multimodalen Kontext der
Karikatur und bezieht hierbei auch die Theorie
der konzeptuellen Verschmelzung (»blending«)
ein.
Diskurslinguistisch fundiert ist der Beitrag
von Jörg Kilian und Dina Lüttenberg zu Kompetenz. Zur sprachlichen Konstruktion von Wissen
und Können im Bildungsdiskurs nach PISA. Anhand einer lexikalisch-begrifflich orientierten
Untersuchung der Konstruktion von »Kompetenz« und »Sprachkompetenz« in den fachinternen Diskursbereichen der Bildungswissenschaft,
Sprach- und Sozialwissenschaft und den fachexternen Kommunikations- und Praxisbereichen
von Wirtschaft, Politik und Medien, ermitteln die
AutorInnen die Komplexität und Widersprüchlichkeit des »Kompetenz«-Begriffs und die damit
einhergehenden Probleme kollektiver Wissenskonstituierung. Die Konsequenzen der konstatierten Verengung des »Kompetenz«-Begriffs auf
normativ gesetzte, standardisierbare und messbare ›Fähigkeiten und Fertigkeiten‹ in den Kommunikations- und Praxisbereichen der Wirtschaft
und (Bildungs-)Politik nach Bekanntgabe der Ergebnisse der ersten PISA-Studie, die die VerfasserInnen als outcome-Konstruktionen bezeichnen,
diskutieren die AutorInnen abschließend kritisch
in Bezug auf die methodische und didaktische
Modellierung von Kompetenzerwerb in der LehrLern-Praxis von Schule und Studium.
In einem diskursiven Bezugsrahmen bewegt
sich auch die Studie Die Rahmung der Zwergenwelt. Argumentationsmuster und Versprachlichungsformen im Nanotechnologiediskurs von
René Zimmer. Der Verfasser zielt auf die Beschreibung der sprachlichen Konstruktion des
Sachverhalts »Nanotechnologie« in einer Frühphase der gesellschaftlichen Diskussion, in der es
in Expertenkreisen und auf politischer Ebene
vornehmlich um Definitionsfragen geht, sich jedoch auch eine polarisierende Bewertung der Nanotechnologie im Sinne semantischer Kämpfe in-
322
Review Essay
nerhalb gesellschaftlicher Gruppen abzeichnet.
Anhand eines Textkorpus aus öffentlichen Stellungnahmen von Wirtschaftsunternehmen und
Nichtregierungsorganisationen zeichnet Zimmer
auf der Basis des Framing-Ansatzes nach Gamson
und im Rahmen einer Inhaltsanalyse die disparaten Argumentationsmuster, Versprachlichungsformen und das Framing von »Technik- Optimisten« und »Technik-Skeptikern« nach, wobei die
Muster der letztgenannten nach Einschätzung des
Autors in Eskalationssituationen wie ›Nanounfällen‹ das Potential hätten, öffentliche Relevanz zu
erlangen und das generell positive Image der Nanotechnologie negativ zu verändern.
Constanze Spieß stellt in ihrem Aufsatz Wissenskonflikte im Diskurs. Zur diskursiven Funktion
von Metaphern und Schlüsselwörtern im öffentlichpolitischen Diskurs um die humane embryonale
Stammzellforschung die zwei der drei ›klassischen‹
Ebenen der linguistischen Diskursanalyse (Lexik,
Metaphorik, Argumentation) vor, auf denen sich
»semantische Kämpfe« (S. 314) disparater Interessengruppen ereignen, die zur sprachlichen Konstituierung konfligierender gesellschaftlicher Wissensbestände beitragen. Das diskursanalytische
Verfahren, das die Berücksichtigung der kontextuellen, thematischen und strategisch-funktionalen Dimensionen einer sprachlichen Wissensformation sowie aller sprachstrukturellen Ebenen
(Einzelwort, Proposition, Text) vorsieht, wird zunächst im Rahmen einer lexikalischen Analyse
vorgestellt, und zwar anhand der Bedeutungskonkurrenzen und Thematisierungen des Schlüsselwortes Lebensbeginn, zum anderen anhand der
»Nominationskonkurrenzen« (S. 315) für das Referenzobjekt ›verschmolzene Ei- und Samenzelle‹
im öffentlich-politisch geführten embryonalen
Stammzelldiskurs. Im Weiteren präsentiert die
Autorin die Rubikon-Metapher als den Stammzelldiskurs dominierendes metaphorisches Konzept, das ebenfalls in konkurrierender Weise von
den konfligierenden Sprechergruppen zur Stützung eigener Handlungsziele argumentativ eingesetzt wird.
Alexander Lasch behandelt in seinem Aufsatz Fensterweihe und Fensterstreit. Die Katholische Kirche und der mediale Diskurs ebenfalls
»semantische Kämpfe« (S. 337) um Deutungshoheit und Wirklichkeitskonstituierung, und zwar
bezüglich der öffentlichen Debatte anlässlich der
offiziellen Einweihung des von Gerhard Richter
gestalteten Kölner-Dom-Fensters. Auf der Grundlage von Texten aus den Onlineausgaben der deutschen Presse zeichnet Lasch den Diskursverlauf
nach als Eigenwerbungsversuch der Katholischen
Kirche via medialer Inszenierung, die einen nichtintendierten kontrovers geführten medialen Diskurs in Gang setzte, in dem die christlichen und
theologischen Dimensionen des Streits nebensächlich wurden und dessen Dynamik von der
Produktivität der beteiligten Akteure bestimmt
war. Anhand einer Ausdifferenzierung des medialen Interdiskurses in einen (religions-)politischen,
einen kunstästhetischen, einen theologischen und
einen städtischen Diskursstrang präsentiert der
Autor die kontroversen Argumentationstopoi und
Bezeichnungskonkurrenzen.
In seiner kognitionsgrammatisch orientierten
Studie Die Grammatik der Zugehörigkeit. Possessivkonstruktionen und Gruppenidentität im Schreiben über Kunst untersucht Marcus Müller das Potenzial grammatischer Konstruktionen zur
Inszenierung sozialer Zugehörigkeit am Beispiel
der Possessivkonstruktion UNSER X in einem
Teildiskurs des Bereichs ›Kunstkommunikation‹,
die als ein Medium »der Konstituierung, Regulierung und Kontrolle individueller und/oder sozialer Identitäten« (S. 379) ausgewiesen wird. Auf der
Basis eines Korpus aus Texten zur deutschen
Kunstgeschichte ermittelt Müller sechs diskurssemantisch-funktional begründete Verwendungstypen der grammatischen Kategorie POSSESSION
(Identifikation, Besitz, Inklusion, Kontiguität,
Agens-Aktion-Relation, Diachronisierung) und
zeigt, auf welche Weise die jeweils instantiierten
UNSER X-Konstruktionen zur Inszenierung nationaler Identität genutzt werden. Mit der Wahl eines kognitionsgrammatischen Ansatzes verfolgt
Müller gleichzeitig eine Tauglichkeitsprüfung und
Bewertung des kognitionsgrammatischen Paradigmas als Beschreibungsrahmen für diskurslinguistische Analysen.
Der dritte Teil beginnt mit dem Beitrag Deconstructing Greenspeak. Für eine kritische Diskursanalyse als Beitrag der Sprach- und Literaturwissenschaft zum Verständnis des Umweltproblems,
in dem Axel Goodbody zunächst das Feld des
konstruktivistischen Ansatzes in Kultur- und Sozialwissenschaft absteckt und darauf aufbauend
für einen ideologiekritischen integrativen Ansatz
aus Elementen der Kritischen Diskursanalyse
nach Fairclough, der Ökolinguistik, der ökoloBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Review Essay
gisch orientierten Literaturwissenschaft und der
Kulturökologie plädiert, deren Entstehungsgeschichten und Grundzüge vorgestellt werden. Mit
der Aufgabe einer »Dekonstruktion« der dominierenden Diskurse über Natur und Umwelt verbindet Goodbody zum einen die kritische Einsicht in die Ambivalenzen, Paradoxien und
Verbindungen der verschiedenen Umweltdiskurse
in Politik, Wirtschaft, Medien, Kultur und Literatur und die ihnen inhärenten, überwiegend
anthropozentrisch geprägten Weltsichten, die u. a.
durch die Analyse von Metaphern, syntaktischen
Strukturen, rhetorischen Tropen und zentralen
Vokabeln wie ›Natur‹, ›Natürlichkeit‹, ›Umwelt‹
und ›Nachhaltigkeit‹ und der damit verbundenen
Wertkonstellationen und Subjektpositionen ermöglicht werden soll. Der Autor verspricht sich
zum anderen einen Erkenntnisgewinn für eine
avisierte kreative Umgestaltung bestehender
Denkmuster und der Ausbildung einer »critical
language awareness«, die darauf zielen, einen
»Beitrag zur Herbeiführung einer wahrhaft nachhaltigen Lebensführung« (S. 447) zu leisten. Die
Aufnahme dieses der Kritischen Diskursanalyse
verpflichteten Beitrags dokumentiert die zu begrüßende Tendenz, der lange Zeit bestehenden
Spaltung in zwei sich gegenseitig mit großen Vorbehalten und Ignoranz begegnenden Lager4 innerhalb der linguistischen Diskursanalyse entgegenzuwirken.
Ein weiteres Forschungsfeld präsentiert Vasco
Alexander Schmidt. In seinem Aufsatz zu Vernunft und Nützlichkeit der Mathematik. Wissenskonstitution in der Industriemathematik als Gegenstand der angewandten Linguistik weist er für den
Fachbereich der Mathematik nach, dass »semantische Kämpfe« (S. 459, S. 467), hier bezogen auf die
sprachliche Konstituierung von fachlichen Gegenständen, ein wesentlicher Bestandteil eines
Forschungsprozesses sind, der auf die Entwicklung mathematischer Erkenntnisse und/oder
technischer Produkte zielt. Für die Industriemathematik konstatiert der Verfasser agonale Diskursstrukturen zwischen Mathematikern und Ingenieuren, Physikern und Managern bei der
Produktentwicklung, wobei der Mathematiker,
4
Auf die lange Zeit zu beklagenden »Grabenkämpfe«
verweisen auch Spitzmüller und Warnke in ihrer
Einführung zur Diskurslinguistik (vgl. Spitzmüller/
Warnke 2011, S. 79 f.).
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anders als in der Grundlagenmathematik, die
Nützlichkeit seiner Wissenschaft für den avisierten Zweck, z.B. eine Softwarelösung, unter Beweis
stellen und zeigen muss, dass ihr Einsatz vernünftig, weil effizienter, ist. Zur Erfassung dieses konkurrierenden Konstituierungsprozesses, der sich
u.a. bei der Erstellung von Texten der Softwaredokumentation und der Marketingmaterialien zeigt,
stellt Schmidt die ethnographische Methode des
»nützlichen Linguisten« vor, der als »mitarbeitender Beobachter« (S. 468 f.), z.B. als technischer
Redakteur oder PR-Journalist, an diesem Prozess
teilnimmt.
Teil IV beschließt den Sammelband mit zwei
›Praxis-Aufsätzen‹: Markus Hundt befasst sich
mit der Verhaltensregulierung und Identitätsstiftung durch Unternehmensverfassungen. Corporate
Governance unter sprachlichen Aspekten, die er als
der linguistischen Beratung bedürftiges Tätigkeitsfeld nachweist, und Markus Nussbaumer liefert aus der Erfahrung eines Mitglieds der verwaltungsinternen
Redaktionskommission
der
schweizerischen Bundesverwaltung Erkenntnisse
Über den Nutzen der Spracharbeit im Prozess der
Rechtsetzung, die immer auch Arbeit am juristischen Gedanken mit rechts- und lebenspraktischen Konsequenzen bedeute.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass hier
vornehmlich eine kognitionstheoretisch fundierte
linguistische Diskursanalyse verfolgt wird, deren
methodische und empirische Umsetzung allerdings durch große Heterogenität geprägt ist. Diese
Vielfalt ist indessen nicht beklagenswert, sondern
zu begrüßen. Insgesamt hinterlässt die Lektüre einen komplexen Eindruck von der Arbeit des Forschungsnetzwerks »Sprache und Wissen« als eines
vielschichtigen interessanten Projekts, das der besprochene Sammelband, seinem Anspruch gemäß, mit den ausgewählten theoretischen Arbeiten und empirischen Studien umfassend und in
überzeugender Weise zu präsentieren vermag.
Literatur
Böke, K./Liedtke, F./Wengeler, M. (1996): Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära. Berlin und New York: de Gruyter.
Spitzmüller, J./Warnke, I. H. (2011): Diskurslinguistik. Eine Einführung in die Theorien und
Methoden der transtextuellen Sprachanalyse.
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Review Essay
Berlin und Boston: de Gruyter.
Stötzel, G. (1980): Konkurrierender Sprachgebrauch in der deutschen Presse. Sprachwissenschaftliche Textinterpretationen zum Verhältnis von Sprachbewusstsein und Gegenstandskonstitution. In: Wirkendes Wort 30, S.
39–53.
Stötzel, G. (1990): Semantische Kämpfe im öffentlichen Sprachgebrauch. In: Stickel, G. (Hrsg.):
Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen
und Perspektiven. Berlin und New York: de
Gruyter, S. 45–65.
Stötzel, G./Wengeler, M. (1995): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland.
Berlin und New York: de Gruyter.
Anschrift:
Dr. Karin Böke
Institut für Germanistik
Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
boeke@phil.uni-duesseldorf.de
1. Symposium der Zeitschrift für Diskursforschung
Das Projekt »Zeitschrift für Diskursforschung« und die Perspektiven
disziplinärer, inter- und transdisziplinärer Kooperation
28. März 2014, Universität Augsburg (InnoCube)
Organisation: Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver
Mit ihrem 1. Symposium nimmt die Zeitschrift für Diskursforschung ihr
einjähriges Bestehen zum Anlass, um mit Vertreterinnen und Vertretern des
Beirates sowie weiteren Gästen zu diskutieren. Inga Truschkat (Hildesheim),
Peter Kraus (Augsburg) und Thomas Lemke (Frankfurt/Main) eröfnen die
Veranstaltung zusammen mit den Herausgebern und legen die verschiedenen
Perspektiven in Einzelbeiträgen dar. Anschließend werden auf zwei
Podiumsdiskussionen die bisherigen Erfahrungen mit und die Geschichte
der Inter- und Transdisziplinarität resümiert und deren Perspektiven aufgezeigt.
Die Podiumsdiskussionen finden unter anderem mit Beteiligung von
Johannes Angermüller (Warwick), Ekkehard Felder (Heidelberg), Rolf Parr
(Duisburg-Essen), Ingo Warnke (Bremen), Franz Eder (Wien), Jürgen Link
(Dortmund), Marcus Llanque (Augsburg) und Martin Wengeler (Trier) statt.
Die Teilnahme ist kostenlos und die Anmeldung kann bis Ende Februar
mit einer Mail an Sasa Bosancic erfolgen:
sasa.bosancic@phil.uni-augsburg.de
Weitere Informationen und ein Programm finden Sie auf unserer Homepage
www.uni-augsburg.de/zfd
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Bericht
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Bericht
Frühjahrstagung der Sektion
Wissenssoziologie der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie (DGS) »Die
diskursive Konstruktion von Wirklichkeit
– Interdisziplinäre Perspektiven
einer wissenssoziologischen
Diskursforschung« in Augsburg am
21. und 22. März 2013
Die mit über 160 TeilnehmerInnen aus dem
deutschsprachigen Raum außergewöhnlich gut
besuchte Frühjahrstagung der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) »Die diskursive Konstruktion von
Wirklichkeit – Interdisziplinäre Perspektiven einer wissenssoziologischen Diskursforschung« am
21. und 22. März 2013 in Augsburg ermöglichte
einen Überblick über die Vielfalt der Forschungen
an der Schnittstelle von Wissenssoziologie und
Diskursforschung und stellte (auch disziplinübergreifend) aktuelle Entwicklungen in der Verbindung von Diskursanalyse und Wissenssoziologie
zur Diskussion.1 In Plenen sowie in thematisch
ausgerichteten Foren (»Streams«) wurden theoretische und methodologisch-methodische Perspektiven sowie empirische Analysen vorgestellt
und diskutiert.2 Hierbei bildete Reiner Kellers
Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) einen Schwerpunkt der Tagung. Die WDA verknüpft die Tradition der hermeneutischen Wissenssoziologie und des Symbolischen Interaktionismus mit einer auf Foucault zurückgehenden
Diskursperspektive und stellt sie in den Rahmen
der interpretativen Sozialforschung (Keller 2005).
Da eine detaillierte Auseinandersetzung mit
den einzelnen Beiträgen in diesem Rahmen leider
nicht möglich ist, soll hier ein Überblick über die
auf der Tagung be- und verhandelten Themen
und Fragestellungen gegeben werden.
1
2
Organisiert wurde die Tagung von Reiner Keller
und Saša Bosančić.
Vgl. einführend in dieses Themenfeld: Keller et. al
(2005) sowie Keller/Truschkat (2012).
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Reiner Keller (Augsburg) eröffnete die Tagung mit
einer Darstellung der Verbindung der ehemals
weit voneinander entfernten Forschungsrichtungen Wissenssoziologie bzw. Interpretatives Paradigma einerseits und Diskursforschung im Anschluss an Foucault andererseits. Beide
Perspektiven haben sich aufeinander zubewegt
und eine reichhaltige Forschung hervorgebracht.
Ausgehend von einer Lesart Foucaults als Historiker der Wissensformationen nimmt Kellers WDA
archäologisch und genealogisch die Verwobenheit von Wissen und Macht in den Blick. Mithilfe
der WDA können sowohl die Ebene der Wissenskonstruktion bzw. Stabilisierung von Bedeutungen als auch Materialitäten und Praktiken der
Diskursproduktion, also die unterschiedlichen
Dimensionen gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken untersucht werden.
Dabei schlägt die WDA einige Grundbegriffe und
methodologisch-methodische Elemente vor, die
freilich nicht als standardisiertes Rezeptwissen
einzusetzen sind; die konkrete Vorgehensweise
muss in Passungsprozessen von Fragestellungen
und Forschungsgegenständen jeweils entwickelt
werden. Die Offenheit bezüglich des Forschungsgegenstandes wie auch der konkreten methodischen Umsetzung bildet die Basis für die interdisziplinäre Ausrichtung der WDA.
Inga Truschkat (Hildesheim) stellte im Anschluss
hieran in ihrem Plenarvortrag methodologische
Überlegungen zur »WDA als eklektizistisches
Neuland?« vor. Die Theorie-Synthese der WDA
(von Wissenssoziologie und Diskursanalyse)
könne, so Truschkat, in methodologischer Hinsicht ergänzt werden durch eine Verbindung von
Grounded Theory Methodologie (GTM) und Interpretativer Analytik, in die beide Ansätze ihre
jeweiligen Stärken einbringen. So liefert die GTM
eine erprobte Basis für die konkrete Arbeit am
Material, während die Interpretative Analytik die
Perspektive auf die Herausarbeitung von Kontingenzen und Machtverhältnissen fokussiert. Diese
Kombination aus den beiden Forschungsrichtungen zeichne sich sowohl in der methodologischen
Auseinandersetzung mit Adele Clarkes Situationsanalyse (Clarke 2012 und ZFD 2/2013) als
326
Bericht
auch in den gegenwärtigen WDA-basierten empirischen Arbeiten ab und biete daher eine mögliche Perspektive für eine Ausformulierung der methodologischen Grundannahmen, die auch für
das konkrete methodische Vorgehen fruchtbar gemacht werden könne.
Im Stream 1a standen öffentliche Debatten zu
Bildungsthemen – »Bildungsdiskurse« – im Vordergrund. Nadine Bernhard (Berlin) untersuchte
die europäischen Diskussionen zur »Durchlässigkeit« in zwei Zeiträumen (1990-1998; 1999-2012)
und konnte in den beiden Perioden je drei differente diskussionsstrukturierende Diskursstränge
identifizieren. Während bis 1998 ein strukturkritischer von einem elitär-funktionalistischen
und einem strukturkonservativen Strang unterschieden werden konnte, prägen in der Folgezeit
universal-strukturalistische, funktionalistisch-strukturkritische sowie strukturkritische Argumentationsmuster die Debatten. Monika Palowski (Bielefeld) stellte anschließend Ergebnisse einer Analyse
der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte
zur »Nichtversetzung« seit den 1950er Jahren vor.
Während dem Nichtversetzen in den Erziehungswissenschaften kaum positive Momente abgewonnen werden konnten, wird in der Öffentlichkeit – oftmals unter Rückgriff auf prominente
Einzelbeispiele – die Sinnhaftigkeit des »Sitzenbleibens« inszeniert. Auf diese Weise wird der
performative Aspekt diskursiver Wirklichkeitskonstruktionen deutlich: Der Diskurs über das
Versagen »zementiert« sozusagen das Versagen.
Miriam Sitter (Hildesheim) fasste im Anschluss
das Akronym PISA als »diskursiven Innovationsgenerator«. PISA beschreibt in einem Wort die
mangelnde Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems und wird zunehmend für die Fokussierung auf sozial Benachteiligte verwendet.
Auch wenn die frühkindliche Bildung bei PISA
nicht Forschungsgegenstand war, so ist es gerade
die Forderung nach früher Sprachförderung für
Kinder mit Migrationshintergrund, die sich nach
und nach in der öffentlichen Debatte sowie in der
praxisorientierten Fachliteratur für Kindertagesstätten als zentrale »Füllung« und Antreiber der
Bildungsdiskussionen herauskristallisiert.
Stream 1b behandelte die diskursive »Konstruktion von Paarbeziehungen«. Sabine Dreßler (Dresden) skizzierte den »Gleichberechtigungsdiskurs
in populären Eheratgebern der 1950er« in einem
Ost-West-Vergleich. Während in Westdeutschland Gerechtigkeit als »Herrschaftsveredelung«
des Mannes über die Frau thematisiert wird – bei
einzelnen Ausnahmen in einer emanzipatorischen Perspektive –, wird in der DDR Gleichberechtigung geradezu als Voraussetzung und Basis
einer stabilen (sozialistischen) Ehe verstanden
und erhält damit eine normative und symbolische
Aufladung. Maya Halatcheva-Trapp (München)
stellte anschließend Überlegungen aus ihrer WDA
zur »Konstruktion von ›intakter‹ Elternschaft in
der Trennungs- und Scheidungsberatung« vor.
Ihre Sekundäranalyse leitfadengestützter Interviews mit Trennungs- und ScheidungsberaterInnen konnte zwei unterschiedliche Deutungsmuster zu Tage fördern, »Partnerschaftlichkeit« und
»Fürsorge«, die in je unterschiedlichen Verständnissen den Diskurs um Elternschaft strukturieren.
Der Stream 2 sammelte Perspektiven auf die
»Diskursarena Politik«. Hier fragte Moritz von
Gliszczynski (Bielefeld) nach dem Wandel eines
Paradigmas der Grundsicherung in der Entwicklungspolitik durch die diskursive Auseinandersetzung um die Social Cash Transfers (SCT). Die
SCT konnten sich trotz widersprüchlicher Logiken innerhalb von Diskursformationen in einem
globalen Diskurs um Armut als legitimes entwicklungspolitisches Instrument um Agency und Aktivierungspolitik etablieren. Wolf Schünemann
(Landau) erkundete auf Basis von Deutungskämpfen in politischen Debatten über die EU-Referenden die Erweiterung und Bearbeitung der
Methodologie der WDA und die analytische Vergleichbarkeit der methodischen Instrumente. In
der politikwissenschaftlichen Forschung sind mit
der WDA die unterschiedlichen Wissensordnungen über »kumulierte Argumentative« als analytische Einheit für den spezifischen Ausschnitt der
Wirklichkeit innerhalb eines thematischen Diskursstranges klarer analysierbar. Sie erlauben eine
stärkere Berücksichtigung der Akteure, als dies in
der Survey-Forschung der Fall ist. Annette Knaut
(Landau) stellte anhand einer explorativen Studie
zu Differenzstrukturen in Konstruktionen von
Geschlechtlichkeit bei Spitzenpolitikerinnen
Neue Medien und Massenmedien als »gendered
institutions« vergeschlechtlichter Normativität
vor. Dabei kontrastierte sie Selbstdarstellungen
von Frauen in Spitzenpositionen in Facebook und
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Bericht
Twitter mit Fremddarstellungen in Zeitungsartikeln im Kontext von Identität und Professionalität. Neue und Alte Medien unterschieden sich in
ihrer Konfiguration und ihren Produktionsverfahren von Geschlecht und Identitäten und manifestieren auf je eigene Weise Differenzstrukturen
in der Selbst- und Fremddarstellung als Wissen
über Geschlecht.
Claudia Brunner (Klagenfurt) vertrat anschließend in ihrem Plenumsvortrag eine postkoloniale
und feministische Perspektive auf die »Geopolitik/en des Wissens« im Kontext wissenssoziologischer Diskursforschung (vgl. ihren Beitrag in diesem Band). Dabei arbeitete sie die Fokussierung
von Postkolonialismus, Feminismus und wissenssoziologischer Diskursforschung auf Macht-Wissens-Konnexe sowie auf die Gewordenheit und
damit auch Veränderbarkeit des Selbstverständlichen heraus. Kellers mit Blick auf die Diagnose
von Risikodiskursen formulierte These von einer
»neuen Grammatik der Verantwortlichkeit« (Keller 2005) gab sie eine andere Wendung und interpretierte sie als Forderung nach einer stärkeren
Selbstreflexion der Forschenden unter Rückgriff
auf postkoloniale und feministische Perspektiven.
Auf diese Weise könne ein Beitrag dazu geliefert
werden, die stark eurozentrische, maskulin-weiße
Wissenschaft zu dekolonisieren und zu dekonstruieren, um so die Partikularität und Bedingtheit
der – auch diskursanalytischen – Forschung in
den Blick zu nehmen. Mit einem »Ungehorsam«
(Walter Mignolo) gegenüber der vorherrschenden
Wissensproduktion ließe sich wissenssoziologische Diskursforschung auf sich selbst anwenden
und so einen Beitrag zu einer postkolonial und feministisch informierten Wissenschaftsforschung
leisten.
Hubert Knoblauch (Berlin) hinterfragte das Verständnis wissenssoziologischer Diskursforschung
als diskursive (Re-)Konstruktion von makrostrukturellen Legitimationsprozessen in seinem
Vortrag zum Verhältnis von diskursiver und kommunikativer Konstruktion der Wirklichkeit. Unterschiede konstatierte er im Vergleich zum Konzept der kommunikativen Konstruktion der
Wirklichkeit nicht in der Sache, sondern im Ziel
des Programms. Die kommunikative Konstruktion sei stärker sozialtheoretisch angelegt, die diskursive Konstruktion dagegen eher gesellschaftsBeltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
327
theoretisch als empirisch überprüfte Theorie der
Vorgänge im Gegenstandsbereich mit interpretativem und explanativem Anspruch einzuordnen.
Beim Diskurs gehe es also um ein Gebilde, das das
Soziale schon voraussetzt und damit nach Knoblauch eine gewisse Nähe zum Konstitutionsbegriff
der Dualität von Handlungen bei Giddens aufweist: Wissen wird im Diskurs sozial. Knoblauch
plädierte zur Profilierung der wissenssoziologisch-diskursanalytischen Perspektive für eine
klare Unterscheidung alltagssprachlicher und wissenschaftlicher Begrifflichkeiten, ohne allein auf
axiomatische Begründungen zurückzugreifen.
Dies ermögliche eigenständige Diskursanalysen,
die von reflexiven wissenschaftstheoretischen und
methodologischen Überlegungen gestützt werden
müssten. Für die Forschungspraxis folge daraus,
dass bei der Diskursanalyse das »doing Diskursanalyse« selbst zum Gegenstand wird und daher
zu beschreiben sei, »was wir tun, wenn wir Diskursanalyse machen«.
Gabriela Christmann (Erkner/Berlin) skizzierte
theoretische und methodische Anregungen der
WDA für Fragen zur »diskursiven Konstruktion
von Raum«. Am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) wurde in
den letzten Jahren eine Perspektive auf Raum erarbeitet, die den wissenssoziologischen und kommunikativen Konstruktivismus mit der relationalen Raumtheorie von Martina Löw in Verbindung
bringt. Dementsprechend werden Räume als soziale Konstruktionen verstanden, die Materielles
mit Immateriellem verbinden und die mittels wissenssoziologisch orientierter Diskursanalyse erforschbar sind. Christmann machte diese raumspezifische Anwendung der WDA an einem
ethnografischen Projekt zu »Raumpionieren« in
Stadtquartieren am Beispiel von Hamburg-Wilhelmsburg und Berlin-Moabit deutlich.
Das Verhältnis von Visualität und Diskursanalyse
bildete den Fokus des dritten Streams. Silke Betscher (Bremen) vertrat eine These der Eigenlogik
des Visuellen in Diskursen, auch wenn das Visuelle in textlich-sprachliche Elemente eingebettet
sei und mit ihnen verbunden auftrete. Ihre These
illustrierte sie am Beispiel einer seriellen ikonografischen Analyse der fotografischen Darstellung
der USA in westdeutschen Illustrierten zwischen
1945-1949, wo verschiedene diskursive Verflech-
328
Bericht
tungen an geschichtlichen und motivbezogenen
Tiefenschichten aus einem Bild zu rekonstruieren
sind. Oliver Kiefl (München) verband empirische
Begriffe der Film- und Fernsehwissenschaften mit
Beschreibungsbausteinen einer diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit am Beispiel von Fernsehinhalten als medial konstituierte Diskurse. Anhand vielfältigen empirischen Materials schlug
Kiefl audiovisuelle Daten des Fernsehens als
wichtigen Bereich zur Klärung der Spezifik des
Sinns und der Wissensproduktion vor und wählte
dies als Einstiegspunkt für eine begriffliche Erweiterung der WDA. Miriam Gothe (Dortmund)
erörterte ihr methodisches Vorgehen in der Analyse der diskursiven Konstruktion von »Qualitätsserien« des US-amerikanischen Fernsehens. Dabei verglich sie einen Expertendiskurs mit
Diskussionen in Onlineforen und innerhalb der
Kommentarfunktion in einem Onlineshop. Der
Verweis auf die Selbstevidenz von (implizitem)
audiovisuellem Wissen durch die Akteure bildet
ein Desiderat der Forschung über audiovisuelle
Artefakte einer wissenssoziologisch ausgerichteten Diskursforschung.
In Stream 4 wurde die Diskussion über »Medizin
als Diskursfeld« in den Blick genommen. Fabian
Karsch (München) arbeitete in seiner Analyse von
berufspolitischen und öffentlichkeitswirksamen
Publikationen sowie von themenzentrierten Interviews die gegenwärtige Spannung der Medizin
»zwischen Markt und Moral« heraus. Seine situationsanalytisch (Adele Clarke) ausgerichtete
WDA konnte eine zunehmende Verflüssigung der
Grenzen zwischen medizinischer Grundversorgung und der als Schönheitsbehandlungen umschriebenen Zusatzbehandlungen im Rahmen der
»Medikalisierung der Gesellschaft« aufzeigen. Die
Folge ist eine hybride Praxis von Ärzten, die zwischen den Polen Markt und Moral oszilliert. Hella
von Unger und Penelope Scott (Berlin) analysierten den »gesundheitswissenschaftlichen Diskurs
zu Migration und Infektionskrankheiten« am Beispiel der Kategorisierungen von internationalen
Infektions-Statistiken. Dabei zeigte sich, dass die
auf Klarheit und Genauigkeit abzielenden Kategorien der Infektions-Statistiken stark abhängig sind
von Interpretations-, Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen. Im dritten Beitrag stellte Jessica
Pahl (Dortmund) erste Ergebnisse einer Diskursanalyse zur Konstruktion der Metapher »Wach-
koma« vor. Da »Wachkoma« selbst innerhalb medizinischer Diskussionen kein offizieller Begriff,
sondern eine metaphorische Übertragung darstellt,
stellen Verwendungen von »Wachkoma« im Rahmen öffentlicher Debatten eine zweite Metaphorisierung dar. Mittels einer Diskursanalyse von überregionalen Zeitungen und Zeitschriften sollen die
metaphorischen Dimensionen von Wachkoma
nun detailliert herausgearbeitet werden.
Ronald Hitzler (Dortmund) thematisierte in seinem Vortrag zum Deutungsmuster »Wachkoma«
Schwierigkeiten mit der Offenheit des wissenssoziologisch-diskursanalytischen Ansatzes bei einem induktiven Vorgehen. Vor allem die dem
Phänomen inhärente Perspektivität der Wissensbestände, die zwischen professionell-rationalisierten Beobachtungen wie existenziell-affektivem
Erleben und einem außerhalb des Spezialdiskurses bestehenden common sense oszilliert, muss
adäquat methodisch berücksichtigt werden. Zugespitzt benennt Hitzler als zentrales Problem einer diskursanalytischen Untersuchung des Deutungsmusters »Wachkoma« die methodologische
Einbindung des phänomenologischen und damit
auch introspektiven Vorgehens in den Forschungsprozess. Eine von Betroffenen als existenziell erfahrene Diskrepanz zwischen dem Versprechen der Sicherung oder gar Erweiterung von
Handlungsmöglichkeiten – insbesondere durch
wissenschaftlich legitimiertes Wissen – und einer
erlebten Unbeschreiblichkeit verweise auf ein
methodisches Problem der Explizierbarkeit von
offenbar nicht ineinander überführbaren Wissensbeständen. In der Vielfalt der kollektiven
Wissensordnungen in einer Diskursanalyse um
das Phänomen »Wachkoma« entstehe die Herausforderung, im Wechselspiel zwischen der Rekonstruktion von Verweisungszusammenhängen innerhalb eines Deutungsmusters und des Erkenntnisinteresses, das eigene Vorgehen reflexiv begründbar zu halten. Die Frage, ob für die Analyse
von introspektiven Elementen die Diskursanalyse
ein geeignetes Fundament bildet, bleibt auch im
Anschluss an Hitzlers Ausführungen gegenwärtig
noch offen.
Stream 5 griff das Verhältnis von Biographie und
Subjektivierung auf. Ina Alber (Göttingen) ging
der Reproduktion von Wissensordnungen in biographischen Narrationen nach und untersuchte
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Bericht
hierzu die wechselseitigen Beziehungen zwischen
Diskursen zu zivilgesellschaftlichem Engagement
und biographisch etablierten Handlungs- und
Deutungsmustern. Die Selbstverortung und die
Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns wird durch
Deutungsbausteine eines auf Partizipation fußenden Subjektivierungsangebotes gewährleistet und
so der Diskurs um Formen und Inhalte zivilgesellschaftlichen Engagements gleichermaßen reproduziert. Anna Ransiek (Göttingen) zeigte auf, wie
Subjekte ihre Selbstverortung von Identitäten in
rassistischen Diskursen verhandeln, diese aber
auch aus dem Erleben eines biographischen
Standpunktes erklärt werden können. Aufbauend
auf theoretischen Annahmen über das Verhältnis
von Erleben und Erzählen dient das lebensgeschichtliche Interview als ein Produktions- und
Transformationsort diskursiver Aushandlungsprozesse. Lisa Pfahl (Bremen) und Boris Traue
(Berlin) formulierten in ihrem Beitrag den Vorschlag, die Subjektivierungsanalyse als Ebene der
diskursiven Prägung von Wahrnehmung, Sinn
und Erfahrung zur Erweiterung der WDA zu nutzen, die sich bisher vornehmlich der institutionellen Wissensproduktion zugewandt hat. In ihren
empirischen Arbeiten legten sie die Bedeutung
der Interpretationen von Individuen bei diskursiv
konstruierten und vermittelten Sinn- und Selbsttechniken dar, die ihre Geltung aus der pragmatischen Perspektive der Lebensführung schöpfen.
Mit einem Einbezug der subjektiven Dimension
soll das Spektrum der Analysemöglichkeiten für
die Phänomenstrukturen von Diskursen erweitert
werden, deren Polyvalenzen und Dysfunktionalitäten in dieser Perspektive greifbarer werden. Jens
Hälterlein (Potsdam), Tina Spies (Frankfurt/M.)
und Norma Möllers (Potsdam) beschäftigte die
Konstitution von Subjekten im Diskurs um »intelligente Videoüberwachung«, deren zentrales Moment Aushandlungen um legitime Deutungen
von Problemen und die Anerkennung von Lösungsstrategien darstellt. Als Folge dieser diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit müssen in
diesen Deutungskämpfen sowohl Selbstpositionierungen der Akteure als auch die Legitimierung
ihrer Handlungen entsprechend ihrer »Anrufungen« in unterschiedlichen Diskursarenen erfolgen. Alle drei Beiträge machten auf die diskursanalytische Relevanz der subjektiven Ebene der
Aneignung und »Verarbeitung« von Diskursen
aufmerksam.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
329
Im Stream 6 wurden »interdisziplinäre Perspektiven« diskutiert. David Kaldewey (Erlangen) skizzierte in seinen Ausführungen zu »System, Diskurs, Semantik« eine Synthese von Systemtheorie,
Diskursforschung und Wissenssoziologie. Hierbei
rückte er Autoren wie Scheler und Mannheim in
den Vordergrund, die sich gegenüber der im Anschluss an Schütz’ »Jedermann« auf das Alltagswissen fokussierenden Perspektive stärker auf die
intellektuelle Wissensbildung und »gepflegte Semantik« (Luhmann) ausrichten. Auf Basis der
Leitdifferenz zwischen Struktur und Semantik
könne diese Fokussierung durch eine Integration
des Diskursbegriffs in die Systemtheorie gelingen.
Ruth Mell (Mannheim) ging hiernach auf »Diskursanalytische Überlegungen zu den Wissensstrukturen sprachlich fundierter Konzepte aus
linguistischer Sicht« ein. Am Beispiel von »Aufklärung 1968« stellte sie ihr eigenes theoretischmethodologisches Instrument des »Konzepts«
vor, das sie als Wissensrahmen um verschiedene
Wissenselemente definierte. An der Bezugnahme
der sogenannten »68er« auf Begriff und historisches Ereignis der Aufklärung konnte sie die Ebenen »Basiswissen«, »Referenzwissen«, »Adaptives
Wissen« und »Reformuliertes Wissen« unterscheiden und in ihrer Verwendungsweise empirisch belegen. Anschließend stellte Andreas Stückler (Wien) Überlegungen zu einer »Diskusanalytische Rechtsnormgeneseforschung« vor. Am Beispiel
der Gesetzwerdung der österreichischen Strafprozessreform 2008 präsentierte Stückler erste vorläufige Analyseergebnisse dieser durch die Pole
»Fair Trail«, »Opferschutz« und »Verfahrenseffizienz« strukturierten diskursiven Kämpfe, die auf
diese Weise die Sinnfigur des »Beschuldigten«
konstruieren. Eveline Sander (Berlin) präsentierte
anschließend Ergebnisse ihrer WDA zur »diskursiven Konstruktion des demographischen Wandels in Personalkontexten«. Ihre Untersuchung
von Personal-Fachzeitschriften von 2000 bis 2011
konnte zwei heterogene Demographie-Diskurse –
einen herrschenden und einen kritischen – identifizieren, die mit einer je differenten Deutung der
(demographischen) Wirklichkeit und den sich daraus ergebenden politischen und wirtschaftlichen
Folgerungen um die Deutungshoheit kämpfen.
In seiner Closing-Lecture zur »diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit« rückte Keller die Perspektive der Tagung in den historischen und theo-
330
Bericht
retischen Kontext von Max Webers Grundlegung
der Soziologie als Kultur- und als Wirklichkeitswissenschaft und skizzierte künftige Aufgabenfelder zur Weiterentwicklung einer wissenssoziologisch geprägten Gegenwarts- und Wirklichkeitsanalyse unter diskursiven Vorzeichen. Im Fokus seiner Diskussion stand das Verhältnis von Interpretation, Hermeneutik und Diskursforschung.
Dabei wurden insbesondere Affinitäten zwischen
Webers Soziologie bzw. dem Interpretativen Paradigma und den verschiedenen Foucaultschen
Vorschlägen zur Diskurs- und Dispositivforschung deutlich. Zwar lässt sich Foucaults Methodologie „jenseits von Strukturalismus und [philosophischer] Hermeneutik“ (Hubert Dreyfus/Paul
Rabinow) verorten, doch das bedeutet weder –
wie mitunter kurzschlüssig gefolgert wird –, dass
sie auf Interpretationsprozesse verzichten kann,
noch dass sie außerhalb der jüngeren sozialwissenschaftlichen Hermeneutik operiert. Als Aufgaben zur Weiterentwicklung der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung benannte Keller
vor allem zwei Aspekte. Einerseits ginge es nun
darum, die methodologischen Dimensionen und
empirischen Vorgehensweisen wissenssoziologischer Diskursforschung deutlicher zu konturieren. Andererseits böte der Dispositivbegriff
innerhalb der wissenssoziologischen Diskursforschung Ansatzpunkte, die starke Textlastigkeit
bisheriger Forschungen zu mildern und gleichzeitig empirische, kategoriale sowie theoretische
Bezüge zu nahestehenden Ansätzen der Wissensforschung (etwa in der Wissenschafts- und Technikforschung) in den Blick zu nehmen.
Fazit:
Auf der Augsburger Tagung wurde die auch über
die Soziologie deutlich hinausreichende Fruchtbarkeit der Forschungsperspektive einer wissenssoziologischen Diskursforschung in ihrer Breite
deutlich. Die WDA als prominenter Ansatz innerhalb dieser Perspektive bietet einen – spezifisch
ausgestaltbaren und auszugestaltenden – theoretisch-methodologischen Rahmen für konkrete
empirische Diskursanalysen. Diskussionen im
Kontext von Wissenssoziologie und Diskursforschung wurden in Augsburg in Bezug auf Fragen
nach theoretischen Verhältnisbestimmungen wissenssoziologischer Diskursforschung zu Theorie-
konstruktionen wie der Phänomenologie (Hitzler), kommunikationsbasierten Ansätzen (Knoblauch), zur Systemtheorie Luhmanns (Kaldewey)
sowie zur Linguistik (Mell) aufgeworfen. Außerdem wurden methodisch-methodologische Perspektiven hinsichtlich der Grounded Theory Methodologie, deren Weiterentwicklung zur Situationsanalyse (Clarke 2012) (Truschkat, Karsch) sowie der Analyse von Film und Foto (Betscher,
Kiefl und Grothe) diskutiert. Wissenssoziologische Diskursforschung bietet, so wurde deutlich,
über Disziplingrenzen hinweg für verschiedenste
Forschungsinteressen eine hilfreiche Basis für empirische Diskursanalysen, theoretische Differenzierungen und methodologische Weiterentwicklungen.
Vor dem Hintergrund der Gesamtbilanz der
Tagung erscheint es sinnvoll, stärker über Grenzziehungen wissenssoziologischer Diskursforschung
nachzudenken. Die WDA als spezifisches Forschungsprogramm könnte so stärker die Differenzen zu konkurrierenden diskursanalytischen Ansätzen in den Fokus rücken und sich hinsichtlich
der theoretischen und methodisch-methodologischen Grundannahmen gegen alternative gegenwärtige Strömungen abgrenzen. Das Potential der
WDA liegt nicht allein darin, Normalität als normatives Machtverhältnis zu de-chiffrieren, sondern in der Dualität von Struktur und Wissen gerade den konstruktiven Charakter des Geltenden
in seiner Vielfalt, in seinem Facettenreichtum
greifbar und transparent zu machen. Dieses Potenzial zeigt sich auch im großen Interesse an der
klareren Einbindung von Akteursperspektiven in
die wissenssoziologische Diskursforschung. Hier
scheint gegenwärtig eine Weiterentwicklung erarbeitet zu werden, die sich zum Teil auf Foucaults
Konzept der Subjektivierung (Pfahl/Traue/Schürmann, Hälterlein/Spies/Möllers) stützt, oder sich
an Konzepte der Biographieforschung (Alber,
Ransiek) bzw. gegenstandsbezogen an Akteurskonzepte wissenssoziologischer und anderer Theorietraditionen anlehnt. Die Augsburger Tagung
konnte eindrucksvoll zeigen, dass eine solche
Weiterentwicklung wissenssoziologischer Diskursforschung nicht nur sinnvoll und möglich,
sondern auch für die weitere Forschung an und
mit Phänomenen der diskursiven Konstruktion
von Wirklichkeit fruchtbar ist.
Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013
Bericht
Literatur:
Clarke, Adele (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn.
Hrsg. und mit einem Vorwort von R. Keller.
Wiesbaden: VS.
Keller, R. (2005): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS.
Keller, R./Hirseland A./Schneider W./Viehöver,
W. (Hrsg.) (2005): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von
Wissenssoziologie und Diskursforschung.
Konstanz: UVK.
Keller, R./Truschkat, I. (2012) (Hrsg.): Methodologie und Praxis der Wissenssoziologischen
Diskursanalyse. Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden: VS.
Anschriften:
Anina Engelhardt, M. A.
Technische Universität Berlin
Institut für Soziologie
DFG- Graduiertenkolleg
»Innovationsgesellschaft heute«
Fraunhoferstraße 33-36
10587 Berlin
anina.engelhardt@innovation.tu-berlin.de
Dr. Markus Riefling
Freier Wissenschaftler und Bildungsreferent
Albert-Haueisen-Ring 65
67071 Ludwigshafen
rieflingmarkus@yahoo.de
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332
Serviceteil
Zeitschrift für Diskursforschung
ZfD
Die Zeitschrift für Diskursforschung ist die erste Fachzeitschrift, die der anhaltenden Konjunktur
von sozialwissenschaftlicher Diskursforschung im deutschsprachigen Raum Rechnung trägt.
Als interdisziplinäres Forum für discourse studies wird sie theoretische, methodologisch-methodische und empirische Beiträge aus den Sozialwissenschaften und angrenzenden Disziplinen
veröffentlichen.
Herausgeber: Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver
Beirat: Johannes Angermüller, Andrea D. Bührmann, Rainer Diaz-Bone, Adele Clarke, Franz X.
Eder, Ekkehard Felder, Herbert Gottweis, Fabian Kessl, Achim Landwehr, Thomas Lemke, Frank
Nullmeier, Rolf Parr, Inga Truschkat, Ingo Warnke, Martin Wengeler, Ruth Wodak
Redaktion: Sasa Bosancic, Matthias Sebastian Klaes, Universität Augsburg, Lehrstuhl für
Soziologie (Prof. Keller), Postfach, 86135 Augsburg, E-Mail: zfd@phil.uni-augsburg.de,
Tel. 0821/598-4071, www.uni-augsburg.de/zfd
ZfD – Regeln für die Einreichung der Manuskripte: Die ZfD unterliegt einem doppelten
anonymen peer-review-Ver fahren. Manuskripte können in deutscher oder englischer Sprache
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Keywords in beiden Sprachen. Das Manuskript ist anonymisiert und entsprechend der formalstilistischen Hinweise der ZfD einzureichen. Alle Regeln zur Einreichung der Manuskripte finden
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Beltz Juventa | Zeitschrift für Diskursforschung Heft 3/2013