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Kulturkampf und Identitaet -- 10 Thesen

György G. MÁRKUS Kulturkampf und Identität 10 Thesen zur politischen Spaltung in Ungarn Die – im wesentlichen, immer mehr nur noch 2 – politische Parteien sind Hauptakteure der ungarischen Politik. Was die gesellschaftliche Basis, ihre Einbettung, die Realität/Kohärenz ihrer Botschaften bzw. betrifft sind sie schwach. Gegenüber den aeusserst wichtig/tuend/en, jedoch defizitären Parteien verhält man sich ambivalent. Parteibindungen der Wähler waren lange Zeit recht volatil. Später entstanden zwei parteigebundene politisch-gesellschaftliche Lager mit militanten Anhängern. Zur gleichen Zeit hat sich eine tiefe Parteinverdrossenheit ausgebildet – oft auch gegenüber der eigenen Lagerpartei. (Typisch für die Linke: man entfremdet sich von der eigenen Partei/Regierung, die andere Seite wird jedoch als Urfeind angesehen.) Das Freund-Feind-Verhältnis bleibt weiterhin bestimmend. Es gilt allgemein: in der anfänglichen Entwicklungsphase jeglicher politischen Gemeinschaft (und das ist der Fall für die Parteien – hauptsächlich für die „neuen“, etwas weniger für die Nachfolgeparteien – wenn es problematisch ist, eigene Werte, eigene Interessen, einen gemeinsamen Nenner aufzuzeigen, bedarf man - zur Kohäsion und besonders zur effektiven politischen Mobilisierung eines existenzbedrohenden Feindes/Feindbildes. In stabilisierten bürgerlichen Demokratien mobilisieren Parteien auf Grund gesellschaftlicher Konfliktlinien: sie vermitteln (politics) zwischen Gesellschaft (policy) und Macht bzw. Politikinhalten (policies). Auf diese Vermittlung (translation of social into political cleavages) ist ja ihre Representationsfunkion zurückzuführen, sie bestimmt ihren Spielraum, ihre Handlungoptionen. In Ungarn (OME) haben wir es mit ursprünglich – über der Gesellschaft – „schwebenden“ Parteien zu tun, die entweder frei zum Voluntarismus oder unfrei zum Determinismus, d.h. zur defensiven Anpassung an ‚Sachzwänge’ neigen. Der Drang zur Stimmenmaximierung und dadurch zur Beibehaltung oder zur Erbeutung der Macht bringt sie dazu, dass siegleichzeitig entgegengesetzte Fronten der cleavages aufgreifen (die MSZP insbesondere) oder/und dass sie selber Konfliktlinien machen (schaffen), aktivieren bzw. verdrängen (Fidesz insbesondere). Dieser Unterschied der Verhaltensweisen, betrachtet vom Gesichtspunkt der sozialen Gestaltung und der Globalisierung, drückt sich in entgegengesetzten Politikinhalten aus: entweder im Antikapitalismus bzw. Antiglobalismus (evtl. Skepsis) oder in freiwilliger Unterordnung (Akzeptanz) unter Märkte. Vom Gesichtspunkt der nationalen Geschichte geht es beim „zukunftsorientierten“ Voluntarismus um Nostalgie, um Beharren in romantischen Identitäten, bei der realistischen Anpassung an das Umfeld jedoch um radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Im Laufe des Systemwechsels haben die kulturellen und politischen Eliten, bzw. die von ihnen besetzten Parteien nach einer dreifachen Konfrontation sich von einander abgesondert bzw. miteinander rivalisiert: Traditionalismus (Gegenmoderne oder identitätsbewahrende Modernisierung a la Japan) versus Verwestlichung mit Wertewandel (nachholende Modernisierung): Schicksalsgemeinschaft versus Marktgesellschaft (Tönnies), Klerikalismus versus Sekularismus, in Begriffen der traditionellen ungarischen Geschichtsschreibung: Vaterland oder/versus/und Fortschritt. Radikaler Bruch oder – teilweise – Kontinuität mit der spätkommunistischen ‚kádárschen’ Gesellschaft: militanter Antikommunismus versus Fortsetzung (der Werte, der Attitüden, der Verhältnisse, der Strukturen, der Eliten) des Reformkommunismus. Koordinierung der Volkswirtschaft durch Märkte oder Staat. 4. Die Parteien erwiesen sich als flüssig, die politischen Akteure haben sich ständig ge- und verändert. Manche sind verschwunden bzw. sind marginalisiert worden. Einige haben – gerade in der Konfliktstruktur – die Platze getauscht. Die drei Konfliktlinien selber haben sich reproduziert, stabilisiert. (freezing of cleavages) Bezüglich der cleavage um die kulturelle Identität geriet Fidesz von ‚links’ auf ‚rechts’ (vom Kosmopolitismus zum Nationalismus), im Falle der Konfliktlinie der Wirtschaftssteuerung von ‚rechts’ auf ‚links’ (von technokratischem Marktliberalismus zum gegen Privatisierung gerichteten Etatismus) – im Unterschied zur entgegengerichteten Laufbahn der Sozialisten. SZDSZ, die einst essentiell antikommunistische Partei der Freidemokraten (Nachfolgerin der ‚Demokratischen Opposition’) wurde zur Verbündeten (zur Hilfstruppe) der postkommunistischen MSZP. 5. Politik in Ungarn verläuft als Kulturkampf, als cultural politics (Lipset), gesellschafts-, wirtschafts- und außenpolitische Themen werden mit Identitätsargumenten unterstützt (Privatisierung führe zum moralischen Verfall der Nation…), die Akteure schleichen in historisch-kulturell gefärbte Kostüme. Die Konfliktlinie um Verwestlichung – nationaler Traditionalismus (Wirtschaft vs. Kultur, nachholende vs. ‚organische’ Modernisierung) hat sich die anderen cleavages -- mit dem Charakter des Politischen als cultural/symbolic politics -- unter sich geordnet (und damit auch verzerrt). Die Dominanz der kulturellen cleavages ist auf folgende Faktorenbündel zurückzuführen: Die bedeutsamen Parteien sind aus Subkulturen der Intelligenz (als ‚Mileuparteien’) entstanden. Die Eliten sind aus der ordnungspolitischen TINA-Hypothese (There is No Alternative) der bipolaren Welt ausgegangen. Verhandlungen, Rundtischgespräche bzw. Kompromisse haben zum Wechsel geführt und die Rolle der ‚antikommunistischen’ cleavage geschwächt bzw. umgeformt. Im Umfeld der ‚Intelligenz’ war – teils mit kaum veränderten Inhalt, teils als historisch-ideologische Kulisse zur Führung der politischen Kämpfe der(post)modernen Zeit – die Kontinuität der mehrere Jahrhunderte langen politischen Auseinandersetzungen gegeben: mit dem Ausdruck von I. Bibó, „das Elend der ostmitteleuropaischen Kleinstaaterei“: die Gegenüberstellung von „Vaterland“ und „Fortschritt“ (seit Joseph II), die Spaltung (der Dualismus) der sozialen Struktur (historische-staendische versus bürgerlich- ‚kulturell andersartige’ Gruppen), der Streit zwischen ‚urbanen’ und ‚völkischen’ Kulturen (incl. Antisemitismus). Als Ergebnis eskaliert der alte Kulturkampf seit der Wende im Zeichen der Fragen: „Wer ist Ungar?“, „Wer ist Europäer?“ 6. In Folge der Sozialisation durch den spätkommunistischen materialistisch-konsumorientierten) Goulaschkommunismus widersetzte sich nach 1990 die breite Öffentlichkeit dem Kulturkampf. (Das hat 1994 auch zur Protestwahl, zur schmetternden Niederlage der ersten national-christlichen Regierungskoalition und zum eindeutigen Sieg der Postkommunisten geführt.) Die andauernde soziale Transformationskrise einerseits und die veränderte sozialdemagogische Kommunikation der Rechten, d.h. die Indoktrination, die Nationalismus und das Versprechen der Sozialstaatlichkeit kombinierte, anderseits, hat Teile der frustrierten Gruppen politisch mobilisiert. 7. Im weiteren Laufe des Kulturkampfes, der Klassenkämpfe ersetzte, haben die kumulierenden Konfliktlinien sich gegenseitig verstärkt. Das Bokros-Paket von 1995, die Quasi-Schocktherapie seitens der Sozialisten signalisierte in den Positionen an den Konfliktlinien eine inhaltliche Kohärenz der „Linken“:. Im Zeichen des Primats der Akzeptanz der Globalisierung ging die dominante Verwestlichung (1) mit einer umfassenden Kommodifizierung (Vermarktung) der Gesellschaft einher (2), und zwar bei der herrschenden Rolle der ex-kommunistischen technokratischen Eliten(3). Auf diese Variante linker Politik reagierte die postkommunistische Rechte mit einer aggressiven kulturkampferischen Gegenoffensive: Der Globalisierung wurde nationale Identität (1), der radikalen Kommodifizierung das Leitbild einer homogenen Gemeinschaft, und eines interventionistischen nation building Wohlfahrt- und Obrigkeitsstaates gesetzt (2), und zwar im Zeichen antikommunistischer Ressentiments, die paradoxerweise mit nostalgischen Wünschen für die alte (kádársche) soziale Sicherheit verbunden sind (3). 8. Weder die Struktur der sich gegenseitig stärkenden cleavages, noch die Dominanz der cultural poilitics, d.h. der kulturkampferischen Identitatspolitik begünstigen die Festigung der liberalen, pluralistischen Demokratie. In Ungarn fand eine Vesaulung ‚von oben statt’, die Schaffung von zwei kulturell und politisch bedingten Lagern. Die zwei zur gegenseitigen Kommunikation unwilligen und unfähigen Segmente der Gesellschaft trennen sich voneinander durch je eigenen Institutionen, Infrastrukturen, NGOs, und Medienwelten. Im krassen Unterschied zu den westeuropäischen versaulten Gesellschaften, die ‚organisch’ aus a priori gegebenen religiösen-sprachlichen-kulturellen Unterschieden entstanden und sich mehrheitlich zu Konkordanzdemokratien entwickelten, etablierte sich die Spaltung (‚kalter Bürgerkrieg’, der Kompromisse und jegliche Art von Konsensus ausschließt) in Ungarn als Folge der Machtinspirationen einer politischen Partei, nämlich der Fidesz. 9. Wir haben es mit zwei von je einer ‚rechten’ und einer „linken“ politischen Kultur geprägten Lagern zu tun. Linke politische Kultur Rechte politische Kultur Offenheit, Diversitaet Geschlossenheit,Homogenisierung, Universalismus Partikularismus Moderne der Aufklarung Traditionalismus, Postmoderne, Gegenmoderne Vernunft Mythos Individualität Gemeinschaft Markt Kultur Gesellschaft Nation, Volk Defensiver Determinismus offensiver Voluntarismus Multikulturalismus Kulturkampf laissez-faire Autorität Partizipation Führerprinzip Interesse - Gruppe Identität – Bewegung . Im Zeichen des ‚Sozialnationalismus’ reagiert die Rechte auf reale Ungleichheiten des Kapitalismus mit der Thematisierung der Probleme der nationalen (kulturellen) Identität. Das entspricht der Wirklichkeit, den Strukturen eines klassenlosen Kapitalismus. Die Grenze zwischen der mainstream Rechten und der ausgrenzenden Rechten wird flüssig. 10. Der Kulturkampf dringt auch in die Felder der Europapolitik ein. Die Linke identifiziert Fortschritt mit supranationalen Strukturen, die Rechte strahlt Skepsis wegen Verletzung der nationalen Interessen, wegen Schwächung der nationalen Identität aus und verteidigt die Souverenitaet des Nationalstaates. 6