Aus:
Stefan Beck, Jörg Niewöhner, Estrid Sörensen
Science and Technology Studies
Eine sozialanthropologische Einführung
Juni 2012, 358 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2106-8
Dieser Band ist die erste deutschsprachige sozialanthropologische Einführung in das
Feld der Science and Technology Studies – ein Forschungsfeld, das sich der empirischen Untersuchung des alltäglichen Zusammenspiels von Wissenschaft, Technologie
und gesellschaftlicher Ordnung widmet. Der sozialanthropologische Zugriff stellt neben den grundlegenden theoretischen und methodischen Aspekten klassische sowie
neuere ethnographische Arbeiten in den Mittelpunkt und diskutiert die Bedeutung
von Materialität, Wissen und Praxis sowie von Infrastrukturen und Klassifikationen
für das Verständnis von Wissenschaft und Technik.
Stefan Beck (Prof. Dr.) lehrt Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu
Berlin.
Jörg Niewöhner (PhD) leitet das Labor Sozialanthropologische Wissenschafts- und
Technikforschung der Humboldt-Universität zu Berlin.
Estrid Sörensen (PhD) ist Juniorprofessorin für Kulturpsychologie und Räume anthropologischen Wissens an der Ruhr-Universität Bochum.
Weitere Informationen und Bestellung unter:
www.transcript-verlag.de/ts2106/ts2106.php
© 2012 transcript Verlag, Bielefeld
Klassifikationen und
Rückkoppelungseffekte
M ARTINA K LAUSNER
Das Thema Klassifikationen und deren Rückkoppelungseffekte berührt einen zentralen
Bereich sowohl aktueller Ansätze im Feld der Science and Technology Studies als auch
wissensanthropologischer Forschungen: Techno-wissenschaftliches Wissen findet nicht
einfach nur in Laboren oder Elfenbeintürmen statt; vielmehr durchdringt dieses Wissen
Alltagswelten in vielfältiger Weise. Das Kapitel stellt drei Ansätze vor, die sich aus
unterschiedlichen disziplinären Hintergründen mit Klassifikationssystemen und deren
alltäglichen Wirkweisen und Konsequenzen beschäftig haben. In der Ethnologie bzw.
Anthropologie spielten Klassifikationssysteme in der Untersuchung fremder Kulturen
über lange Zeit eine zentrale Rolle. Gerade im Kulturvergleich von Klassifikationssystemen wurde deutlich, dass Klassifikationen, wie z. B. »rein« oder »unrein«, nur
scheinbare naturgetreue Repräsentationen darstellen, sondern vielmehr durch soziale und
kulturell geprägte Ordnungen strukturiert sind. Galt diese Deutung von Klassifikationen als sozial strukturiert, lange Zeit ausschließlich für so genanntes ›primitives Denken‹, so hat unter anderem die Sozialanthropologin Mary Douglas gezeigt, dass nichtwissenschaftliches Klassifizieren und wissenschaftliches Klassifizieren nach den gleichen
Prinzipien funktionieren.
Der kanadische Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking beschäftigt sich hingegen mit
der grundlegend historischen Bedingtheit von Klassifikationen. Neben seinen diskursanalytischen Arbeiten, die sich in enger Anlehnung an Michel Foucault der Genealogie
wissenschaftlicher Wissensobjekte widmen, sind für das vorliegende Kapitel vor allem
seine Konzepte des »Making Up« und der so genannte Rückkoppelungseffekt von zentraler Bedeutung: Durch Klassifikationen konstituiert sich eine neue Erfahrung des
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M ARTINA K LAUSNER
Mensch-Seins; d. h. durch wissenschaftliche und bürokratische Klassifikationen werden
›neue Arten‹ von Menschen gemacht. Stärker an den konkreten gegenwärtigen, alltäglichen Praxen des Klassifizierens interessiert sind die US-amerikanischen Wissenschaftlerinnen Susan Leigh Star und Geoffrey Bowker. Sie beschäftigen sich vor allem mit
den Konsequenzen von Klassifikationen, welche diese als universalisierte Standards in
bürokratischen und wissenschaftlichen Infrastrukturen produzieren. Unter Verweis auf
feministische Theorieansätze kritisieren Bowker und Star die politische Indifferenz der
Akteur-Netzwerk Theorie als »managerial bias« und fordern eine analytische Fokussierung auf Ausschlussmechanismen und das nicht-passförmige Monströse. Die vorgestellten drei Ansätze richten den Blick auf das Alltägliche, das Unsichtbare, scheinbar
Selbstverständliche und bieten eine wichtige Problematisierung blinder Flecken in der
Wissenschaftsforschung.
Weiterführende Literatur
Epstein, Steven (2007): Inclusion: the Politics of Difference in Medical Research, Chicago: University of Chicago Press.
Epstein beschreibt mit »Inclusion« das komplexe Spannungsfeld gesundheitspolitischer
und biomedizinischer Regulierung von Diversität und Gleichheit in den USA. Nachdem lange Zeit »Mann, weiß, mittleres Alter« als das Standardstudienobjekt biomedizinischer Forschung galt, forderten seit den 1980er Jahren unterschiedliche Interessenvertretungen die Berücksichtigung von so genannten Minderheitengruppen in biomedizinischen Studien. Ironischerweise führte dieses neue »difference-and-inclusion«-Paradigma
jedoch auch zu einer erneuten Essentialisierung und Biologisierung von sozioökonomischer Differenz.
Bowker, Geoffrey (2005): Memory Practices in the Sciences, Cambridge,
MA: The MIT Press.
In »Memory Practices« untersucht Bowker die Informations- und Speichertechnologien
dreier wissenschaftlicher Disziplinen in unterschiedlichen Epochen: der Geologie im 19.
Jahrhundert, der Kybernetik zur Mitte des 20. Jahrhunderts und der gegenwärtigen
Biodiversitäts-Forschung. Wie er in seiner detaillierten Analyse der unterschiedlichen
Informationsinfrastrukturen herausarbeitet, beeinflussen Informationstechnologien nicht
nur, wie in den Wissenschaften Wissen vermittelt und erinnert wird, sondern vor allem
auch, was vergessen wird.
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K LASSIFIKATIONEN
E INLEITUNG
Dieses Kapitel zu Klassifikationen und den daraus resultierenden Effekten
thematisiert weniger einen spezifischen theoretischen Zugang, sondern zuerst einmal ein Themenfeld: wissenschaftliche, bürokratische, alltägliche
Klassifikationssysteme. Arbeiten im Bereich der Kultur- und Sozialanthropologie und der Science and Technology Studies, die Klassifikationssysteme beforschen, behandeln dabei sowohl die Entwicklung von wissenschaftlichen Klassifikationssystemen und deren Implementierung und Nutzung
sowie die dabei entstehenden Effekte. Insbesondere für den Bereich der
Medizin gibt es zahlreiche empirische Untersuchungen, die zeigen, wie
Krankheitsklassifikationen entstehen und welche Auswirkungen diese
Klassifikationen bei einer Diagnose auf die Betroffenen haben. Die folgende Auseinandersetzung mit Klassifikationen und deren Rückkoppelungseffekten soll verdeutlichen, dass wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliche Praxen unsere Alltage in vielfältiger Weise prägen und verändern.
Noch vor unserer Geburt werden wir vermessen und nach wissenschaftlichen Normen bewertet. Ob wir als gesund oder krank, als zu dick oder zu
dünn klassifiziert werden, prägt unser Selbstverständnis und die Handlungsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen.
Wir sind Techniknutzerinnen, Patienten, Bürgerinnen, Konsumenten,
Klienten und damit Teil vielfältiger bürokratischer sowie technowissenschaftlicher Netzwerke. Klassifikationssysteme umgeben uns überall, meist
ohne, dass es uns bewusst ist. In das Bewusstsein treten Klassifikationssysteme in der Regel dann, wenn etwas nicht passt, eine Irritation entsteht. Vor allem weil Klassifikationssysteme scheinbar unüberwindbare
Grenzen setzen und Exklusionseffekte erzeugen können, haben Klassifikationen immer auch eine moralische und eine politische Dimension. Ein Ziel
des Kapitels ist, deutlich zu machen, welche Arbeit hinter diesen oft unsichtbaren, scheinbar selbstverständlichen Klassifikationen steckt. Wie die
Untersuchung der Genese von Klassifikationssystemen deutlich macht, sind
diese selbst Bestandteil und Produkt soziomaterieller Praxen und immer
auch eingebunden in lokale Kontexte. Ihre ›Produktionsbedingungen‹ zu
analysieren, bedeutet damit auch immer eine Problematisierung ihrer
scheinbaren Natürlichkeit und Universalität.
Klassifikationen und deren Rückkoppelungseffekte berühren einen
zentralen Bereich sowohl der Science and Technology Studies als auch wis-
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sensanthropologischer Forschungen: Techno-wissenschaftliches Wissen
findet nicht in Laboren oder Elfenbeintürmen statt; vielmehr durchdringt
dieses Wissen Alltagswelten in vielfältiger Weise, schafft neue Kollektive,
Wissensformen und Praxismuster und ist dabei selbst grundlegend eingebettet in kulturelle, soziale, historische Kontexte (vgl. Downey/Dumit
1997).
In der Sozial- und Kulturanthropologie, ebenso wie in der Soziologie,
diente die Untersuchung von Klassifikationssystemen allgemein immer
wieder auch als Ausgangspunkt für grundlegende sozialtheoretische Fragen: Wie interagieren Individuum und Kollektiv, Gesellschaft und Gruppen, wie funktioniert soziale Ordnung? Wie verändern und stabilisieren
Klassifikationssysteme unseren Alltag? Die Ansätze, die in diesem Kapitel
vorgestellt werden, haben sich aus verschiedenen disziplinären Perspektiven mit Klassifikationssystemen beschäftigt und dabei immer auch jene angedeuteten sozialtheoretischen Fragen mit verfolgt. Die britische Anthropologin Mary Douglas ist der Frage nachgegangen, wie Klassifikationen individuelles Denken und Handeln formen und zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung von Institutionen, bzw. sozialen Gruppen beitragen. Klassifikationen stehen bei Douglas also für kollektiv geteilte Denkweisen, die
sich in Symbolen und Ritualen oder auch alltäglichen Gewohnheiten ausdrücken. Dabei hat Douglas unter anderem gezeigt, dass alltägliches, nichtwissenschaftliches Klassifizieren und wissenschaftliches Klassifizieren
nach den gleichen Prinzipien funktionieren. Für den Wissenschaftsphilosophen Ian Hacking sind Klassifikationen wirkmächtige Zuschreibungen, die
in Diskurse, Institutionen und Praxen eingebettet sind. Hacking geht es dabei um die Interaktion zwischen einer Klassifikation und den klassifizierten
Individuen sowie die Rückwirkungen – Hacking nennt sie LoopingEffekte –, die aus dieser Interaktion entstehen. Die Erforschung dieser Interaktion und deren Effekte ist für Hacking eng mit der Frage verknüpft,
was es eigentlich bedeutet, ein Individuum zu sein. Geoffrey Bowker und
Susan Leigh Star zeigen anhand vielfältiger Beispiele, dass Klassifikationen das Grundgerüst von Informationsinfrastrukturen in unserer modernen
Welt sind. Sie betonen die politische Dimension von Klassifikationssystemen und die damit verbundenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen.
Für Bowker und Star sind Klassifikationen dabei immer sowohl materiell
als auch symbolisch zu verstehen.
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K LASSIFIKATIONEN
Obwohl die drei Ansätze vor unterschiedlichen disziplinären und theoretischen Hintergründen argumentieren, eint sie ein gemeinsames Interesse:
Alle drei Ansätze richten ihren Blick vor allem auf die vielfältigen, alltäglichen Konsequenzen von Klassifikationen. Aus der Fülle der geistes- wie
sozialwissenschaftlichen Arbeiten zu Klassifikationen ragen diese drei Ansätze deshalb heraus, weil sie die Auseinandersetzung mit Klassifikationssystemen als zentrales analytisches Moment ihrer theoretischen Ansätze
verstehen und wichtige Konzepte für die Untersuchung von Klassifikationen vorgelegt haben. Entsprechend geht es im Folgenden sowohl um empirische Beispiele der Produktion und Implementierung von wissenschaftlichen Klassifikationen als auch um die Diskussion analytischer Konzepte in
der Untersuchung von Klassifikationen und die von ihnen ausgehenden
Rückkoppelungseffekte.
M ARY D OUGLAS : K LASSIFIKATION ALS K ULTUR
K ULTUR ALS K LASSIFIKATIONSSYSTEM
UND
In der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie haben Klassifikationssysteme in der Untersuchung fremder Kulturen eine zentrale Rolle gespielt. Verwandtschaftssysteme, Nahrungsmitteltabus, Kosmologien wurden als kulturell geprägte Klassifikationsmuster mit spezifischen Funktionen für die jeweilige soziale Gruppe beschrieben. Es waren diese Themen,
die Douglas’ Studium der Anthropologie in Oxford prägten. Sie studierte
dort nach dem Zweiten Weltkrieg bei Edward Evans-Pritchard, und führte
ihre Feldforschungen in Afrika durch. Gemeinhin werden Douglas’ Arbeiten dem britischen Strukturalismus zugeordnet. In ihrem späteren Hauptwerk »Purity and Danger« aus dem Jahr 1966 setzt sie sich mit den Klassifikationen von Reinheit und Schmutz und deren Bedeutungen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten auseinander. Dabei zeigt Douglas, dass
das, was als schmutzig oder als rein bezeichnet wird, von dem jeweiligen
(kulturell geprägten) Klassifikationssystem abhängt: »Shoes are not dirty in
themselves, but it is dirty to place them on the dining-table; food is not
dirty in itself, but it is dirty to leave cooking utensils in the bedroom, or
food bespattered on clothing. [...] In short, our pollution behaviour is the
reaction which condemns any object or idea likely to confuse or contradict
cherished classifications.« (Douglas 2009 (1966): 44f.)
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M ARTINA K LAUSNER
Drei Aspekte sind zentral für Douglas’ Verständnis von Klassifikationssystemen: Erstens, Klassifikationen erscheinen auf den ersten Blick als unproblematisch und natürlich. Schmutz, so könnte man meinen, sei eben ›realer‹, ›absoluter‹ Schmutz; ihn zu erkennen bedürfe keiner Interpretation. In
zahlreichen Vergleichen macht Douglas hingegen deutlich, dass Klassifizieren immer kulturell geprägt ist: »There is no such thing as absolute dirt:
it exists in the eye of the beholder.« (ebd.: 2) Schmutz ist eine Frage der
Perspektive; Klassifikation ist Kultur. Und zweitens: Kultur ist Klassifikation. Klassifikationen sind, so Douglas, die Grundlagen sozialer Ordnung;
sie prägen das individuelle Denken und Handeln der einzelnen Mitglieder
einer sozialen Gruppe, sie entscheiden über Zugehörigkeit und Ausschluss,
über richtiges und falsches Verhalten, sogar über richtiges und falsches
Denken. Für Douglas funktioniert diese Art Internalisierung von Klassifikationen wie das Erlernen einer Sprache bei einem Kind. Jegliche Form der
Kognition ist, in ihrem Sinne, sozial strukturiert und rekurriert auf bestehende Klassifikationen. Drittens, haben Klassifikationen immer auch eine
moralische Dimension: »any choosing for is also a choosing against«
(Douglas 1996: xiv). Schmutz steht in diesem Sinne nur als Beispiel für
›Devianz‹ generell, für das, was unsere Ordnung stört.
Klassifikationen werden uns meistens dann bewusst, wenn ihre scheinbare Problemlosigkeit nicht mehr garantiert ist, wenn sie nicht mehr ›geräuschlos‹ funktionieren. Doch in der Regel bleibt das, was durch funktionierende Klassifikationen ausgeschlossen ist, unsichtbar; d. h. auch: Klassifikationen haben Konsequenzen. Gerade im Rahmen ›devianter‹ Ereignisse
werden moralische Grenzziehungen und die soziale Ordnung einer Gruppe
oder Gesellschaft sichtbar. Das Beispiel Schmutz macht zudem deutlich,
dass es Douglas vor allem um das Alltägliche und Gewöhnliche geht; sie
untersucht die selbstverständlichen Rituale und Aktivitäten des Alltags und
zeigt wie hier soziale Ordnung reproduziert wird. Douglas ging dabei von
einer Vielfalt an Bedeutungsmöglichkeiten aus, die von unterschiedlichen
Gruppen jeweils ›realisiert‹ werden.
Im Laufe ihrer Karriere nahm Mary Douglas eine ganze Bandbreite von
Klassifikationssystemen und sozialen Institutionen in den Blick (wobei Institutionen bei ihr ein Synonym für soziale Kollektive sind): von dem kongolesischen Volk der Lele, dem britischen und schwedischen Arbeitsmarkt,
spirituellen Hindu-Rituale in Indien, über den bereits erwähnten Schmutz in
unterschiedlichen kulturellen Kontexten bis hin zur Umweltbewegung in
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K LASSIFIKATIONEN
den USA. In ihrem einflussreichen, 1986 veröffentlichten Buch »Wie Institutionen denken« breitet sie ihre theoretischen Grundlagen sozialer Ordnung aus.
Die Hauptfrage ist, wie Institutionen (also soziale Gruppen) individuelles Denken und Handeln prägen. Douglas’ Antwort: durch Klassifikationen.
Sie bezieht sich in ihrer theoretischen Auseinandersetzung auf den polnischen Biologen und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck und den französischen Soziologen Émile Durkheim, der zusammen mit seinem Kollegen Marcel Mauss einen mittlerweile klassischen Aufsatz über primitive
Klassifikationen veröffentlicht hatte. (Durkheim/Mauss 1903) Sowohl
Durkheim als auch Fleck betonen in ihren Arbeiten den fundamentalen Einfluss, den die kollektiven Vorstellungen einer sozialen Gruppe (Durkheim)
bzw. der Denkstil eines Denkkollektivs (Fleck) auf die Erkenntnisfähigkeit
des Individuums haben. Knapp zusammengefasst: Der Denkstil einer
Gruppe setzt den Rahmen für jede individuelle Erkenntnis; er prägt unser
Wahrnehmungsvermögen und setzt den Kontext und die Grenzen für jedes
Urteil über die Realität; und zu seinen wesentlichen Merkmalen gehört,
dass er den Mitgliedern des betreffenden Denkkollektivs verborgen bleibt.
(WISSENSCHAFTSTHEORIE)
Soziale Gruppen prägen fundamental, wie wir denken und handeln und
sie tun dies unter anderem durch die Etablierung von Klassifikationen. In
dem erwähnten Aufsatz über Klassifikationen in so genannten primitiven
Gesellschaften konstatieren Durkheim und Mauss den sozialen Ursprung
jeglicher Klassifikation. Klassifikationen als Beschreibungen und Strukturierungen der Welt seien nie einfach nur Abbildungen natürlich vorhandener Ordnungen von Dingen, Tieren etc., sondern immer eine Projektion sozialer Strukturen und Kategorien auf die Natur. Ähnlich argumentiert
Douglas, dass die Natur an sich nicht über eine gegebene Ordnung verfüge;
es ist die Analogisierung sozialer Klassifikationen mit einer scheinbar natürlichen Ordnung, die den sozialen Klassifikationen Legitimität verleiht.
Entscheidend für die Wirkmächtigkeit von Klassifikationen sei dabei, dass
dem Einzelnen der soziale Ursprung jeglicher Klassifikation und deren Einschreibung in die Natur verborgen bleibt. Dieser Mechanismus der Analogisierung von sozialer Ordnung und Natur und die dabei stattfindende Reifikation sozialer Klassifikationen seien, so Douglas, das stabilisierende
Prinzip von sozialen Institutionen:
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»Es bedarf einer Analogie, dank derer die formale Struktur eines wichtigen Komplexes sozialer Beziehungen in der natürlichen Welt, in der übernatürlichen Welt, im
Himmel oder sonst wo wiederzufinden ist, wobei es allein darauf ankommt, dass
dieses ›sonst wo‹ nicht als gesellschaftlich erzeugtes Konstrukt erkennbar ist. Wenn
die Analogie von der Natur auf einen Komplex sozialer Beziehungen und von dort
auf einen anderen Komplex und von dort wiederum auf die Natur übertragen wird,
dann gräbt sich diese wiederholt auftretende formale Struktur ins Bewusstsein ein,
und das Hin und Her dieser Übertragungen stattet sie mit einer Wahrheit aus, die für
sich selbst spricht.« (Douglas 1991 (1986): 84)
Es gibt keine Klassifikationen, die eine a priori existierende Realität beschreiben, jedes Klassifikationssystem und jegliche Erkenntnis hat eine soziale Grundlage, »jede Realität ist soziale Realität« (Douglas 1975: 5). Die
wiederholte Analogisierung gräbt diese Struktur in unser Denken ein. Der
entscheidende Schritt bei Douglas, der sie letztendlich mit Fleck gegen
Durkheim argumentieren lässt, ist dass dies nicht nur auf ›primitive‹ Kulturen und Religion zutrifft, sondern im gleichen Maße auf moderne Gesellschaften wie auf Wissenschaft.1 Auch wissenschaftliche Erkenntnis, so
Douglas, ist eine grundlegend soziale Erkenntnis und kann niemals objektiv
im Sinne einer reinen Beschreibung ›natürlicher Tatsachen‹ sein. Ihre Arbeiten durchzieht eine fundamentale Kritik an der zu ihrer Zeit üblichen
anthropologischen Unterscheidung zwischen so genannten primitiven Wissenssystemen und denen der modernen, so genannten zivilisierten Welt.
Douglas’ Forderung nach einer analytischen Gleichsetzung von ›primitiven‹ und ›modernen‹ Denken bleibt keine abstrakte, theoretische Formulierung, sondern zeigt sich auch in der Bandbreite ihrer empirischen Arbeitsfelder. Es ist diese Erweiterung von Durkheims Wissenssoziologie auf
›moderne‹ Gesellschaften und wissenschaftliche Institutionen, die sie als
1 »But instead of showing us the social structuring of our minds, he [Durkheim]
showed us the minds of feathered Indians and painted aborigines. With unforgivable optimism he declared that his discoveries applied to them only.« (Douglas
1975, S. XX) Ihr Lösungsvorschlag: Nur eine Woche Feldforschung hätte gereicht, um ihn eines Besseren zu belehren. Der Wissenschaftssoziologe David
Bloor, zentraler Vertreter der Edinburgh School, bietet eine etwas versöhnlichere
Lesart von Durkheims und Mauss’ klassischem Aufsatz an, in dem er die beiden
nicht nur gegen Angriffe wie die von Douglas verteidigt, sondern deren Konzept
erweitert und auf wissenschaftliche Klassifikationen anwendet. (Bloor 1982)
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K LASSIFIKATIONEN
Vorreiterin einer kulturvergleichenden Wissensanthropologie ausweist.
(Crick 1982) Auch wenn das von ihr angewandte funktionalistische Interpretationsmuster heute mitunter sehr formalistisch wirkt, ist es die Radikalität mit der sie auf die soziale Basis jeglichen Wissens hinweist, die sie für
das Feld der Science and Technology Studies relevant und produktiv machte.2 Douglas kritisiert die blinde Autorisierung angeblicher wissenschaftlicher Objektivität, deren Dekonstruktion sie für längst überfällig hält und
fordert auch für die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Institutionen und Wissen »aktive Theorien von Wissen«, die auf die Wandelbarkeit
und konstante Revision wissenschaftlicher Erkenntnis fokussieren. (Douglas 1975: xviii)
Klassifikationen (und auch Theorien) sind in diesem Sinne ebenso
wandelbar wie es die sozialen Institutionen sind, die sich durch interne wie
externe Faktoren, Phasen der Krise und neue Bedürfnisse verändern und
weiterentwickeln. Douglas’ Vorstellung von Wissen und Klassifikationen
ist somit in ein explizit dynamisches Modell eingebettet: Institutionen, deren Klassifikationssysteme und die betreffenden Individuen befinden sich
in einem unendlichen Kreislauf »von Menschen, die Institutionen schaffen,
zu Institutionen, die für Klassifikationen sorgen, zu Klassifikationen, die
Handeln anleiten, zu Handlungen, die nach Benennung verlangen, zu Menschen und anderen Lebewesen schließlich, die positiv oder negativ auf die
Benennung reagieren.« (Douglas 1991 (1986): 167) Menschen, Institutionen und Klassifikationen interagieren und verändern sich wechselseitig.
Douglas geht noch einen Schritt weiter: Klassifikationen »schaffen zum
Teil sogar erst die Realität, auf die sie sich beziehen.« (ebd.: 164) Mit der
Hervorbringung von Klassifikationen, so Douglas, findet immer auch eine
Rückkoppelung statt. Douglas entwickelt diesen Gedanken in enger Auseinandersetzung mit den Arbeiten des Philosophen Ian Hacking, um den es
im Folgenden gehen wird.
2 So erhält die Grande Dame der Sozialanthropologie 1994 eine für Anthropologen
bis dahin eher ungewöhnliche Auszeichnung. Die »Society for Social Studies of
Science« (die US-amerikanische Institution der STS; www.4s.org) verleiht Mary
Douglas den Bernal Preis für ihren »herausragenden Beitrag zum Feld der Science
and Technology Studies«.
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I AN H ACKING : »M AKING
»L OOPING E FFECT «
UP
P EOPLE «
UND DER
Ian Hacking ist ein kanadischer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker,
der seine Arbeiten selbst zwischen einer Foucault’schen Wissensarchäologie und der Mikrosoziologie Erving Goffmans positioniert.3 Hacking beschreibt Klassifizierungsprozesse als »Making Up People« (auf Deutsch:
Menschen durch Etikettierung machen) und untersucht die Konsequenzen
dieses Klassifizierens als so genannten »Looping Effect« (Rückkoppelungseffekt). In Hackings Untersuchungen geht es in erster Linie um bürokratische und wissenschaftliche Klassifikationssysteme. »Making Up People« verweist darauf, wie neue wissenschaftliche Klassifikationen – wie z. B.
die medizinische Klassifikation »Multiple Persönlichkeit« – neue Konzeptionen und ebenso neue Erfahrungen des Mensch-Seins hervorbringt, die
vorher nicht existiert haben. Hacking formuliert prägnant, dass hierdurch
neue »Arten von Menschen« entstünden. Interessant ist nun, dass Hacking
mit der Bezeichnung »Looping Effect« die Veränderung betont, die durch
die Interaktion zwischen einer (wissenschaftlichen) Klassifikation und den
klassifizierten Menschen auf beiden Seiten entstehen. Nicht nur das
Mensch-Sein, sondern auch die Klassifikation verändern sich durch die Interaktion.
Wie bereits angedeutet, ist Ian Hackings Wissenschaftsphilosophie
stark beeinflusst von den Arbeiten Michel Foucaults, den man ebenfalls als
»Klassifikationsforscher« bezeichnen kann. Ohne an dieser Stelle auf
Foucault eingehen zu können, sei hier erwähnt, dass im Verständnis von
Foucault und Hacking in Klassifikationssysteme immer Machtverhältnisse
eingeschrieben sind und Klassifizierungsprozesse meist mit Kontrolle verknüpft sind. Ähnlich wie Foucault arbeitet Hacking diskursanalytisch und
rekonstruiert in seiner Analyse historische Entwicklungsstränge wissenschaftlichen Wissens und Genealogien von Klassifikationen. Hacking geht
in seinen Arbeiten der Frage nach, wie zu einer spezifischen historischen
Zeit neue Wissensobjekte konstituiert werden: »how theses various concepts, practices, and corresponding institutions, which we can treat as objects of knowledge, at the same time disclose new possibilities for human
3 Seine ausführliche Selbstverortung, auch als Einführung in sein wissenschaftliches
Denken, ist nachzulesen in Hacking 2004.
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K LASSIFIKATIONEN
choice and action«. (Hacking 2002: 4) Seine Arbeiten verweisen also in
zwei Richtungen: Zum einen geht es ihm um die Frage, wie in den Wissenschaften neue Phänomene geschaffen werden (Creation of Phenomena) und
neue Klassifikationen entstehen.4 Zum anderen geht es ihm um die Konsequenzen, die wissenschaftliche Klassifikationen haben, und wie sie neue
Arten von Menschen hervorbringen (Making Up People).
In seiner 1995 veröffentlichten Studie »Rewriting the Soul. Multiple
Personality and the Sciences of Memory« beschreibt Hacking beides: Wie
das psychiatrische Phänomen »Multiple Persönlichkeit« in einer bestimmten historischen Situation wissenschaftlich hergestellt wurde, aber auch wie
diese Klassifikation neue Handlungsmöglichkeiten und andere Formen des
Mensch-Seins hervorbrachte. (Hacking 1995) Zwei historische Zeiträume
sind für Hacking entscheidend für die wissenschaftliche ›Herstellung‹ von
Multipler Persönlichkeit: Während die Jahre 1874–1886 in Frankreich den
Boden für die wissenschaftliche Formierung des Krankheitsbildes bereiteten, führte die ›Wiederentdeckung‹ der Krankheit in den 1970er Jahren in
den USA innerhalb weniger Jahre zu einer Epidemie von Multiplen Persönlichkeiten. Anhand dieser Wandlungsfähigkeit der Klassifikation Multiple
Persönlichkeit, deren Entstehen, Verschwinden und Wiederauftauchen zu
bestimmten historischen Situationen in begrenzten lokalen Kontexten, arbeitet Hacking heraus, wie einerseits wissenschaftsinterne Faktoren, die
Verbreitung neuer diagnostischer Methoden oder theoretischer Ansätze,
neue Klassifikationen schaffen, aber auch, wie spezifische gesellschaftliche
Konstellationen und Vorstellungen von ›gültigem‹ Wissen an deren Produktion beteiligt sind.
Wie ein Archäologe gräbt Hacking in den überlieferten Fallbeschreibungen und Fachartikeln der Jahre 1874–1886 die zugrunde liegende Konfiguration von Wissen heraus, die Multiple Persönlichkeit als Wissensobjekt möglich machten: Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich
beschreibt er als entscheidende Umbruchphase für Psychologie und Psychiatrie, in der sich die von ihm als »sciences of memory« bezeichneten neuen
wissenschaftlichen Bereiche zu formieren begannen. Mit »sciences of memory« bezeichnet Hacking Ansätze in Neurologie, Experimenteller Psychologie und Psychodynamik, die Erinnerung als beobachtbare psychologische
Prozesse und Kräfte erforschen und damit zu einer Verwissenschaftlichung
4 Siehe beispielsweise Hacking 1983.
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der Seele beitragen. Es sind die in diese spezifischen Wissenskonfigurationen eingeschriebenen Konzepte von Seele und Psyche, von Gedächtnis und
Persönlichkeit, die das Krankheitsbild Multiple Persönlichkeit überhaupt
denkbar und damit diagnostizierbar und behandelbar, aber auch erlebbar
und erfahrbar machten. Während er einerseits die wissenschaftlichen Diskurse und klinischen Praxen sowie die institutionellen als auch kulturellen
Kontexte beschreibt, zeigt er ebenso deutlich, wie sich die betroffenen
Menschen an die wissenschaftlichen Diskurse und Klassifikationspraxen
jener Zeit anpassen. Als die Klassifikation der Multiplen Persönlichkeit
aufgrund veränderter wissenschaftlicher Konstellationen (Hacking nennt
u. a. die zunehmende Dominanz psychoanalytischer Konzepte) nicht mehr
dem Geist der Zeit entsprach, verschwand das Krankheitsbild für einige
Jahrzehnte nicht nur aus den wissenschaftlichen Diskursen und klinischen
Praxen der Medizin, sondern auch als »a way of being«.
Anfang der 70er Jahre begann in den USA eine zweite Konjunktur der
Klassifikation von Patienten als Multiple Persönlichkeit. Bis dahin hatte es
zwar immer wieder einige wenige Fälle sogenannten dissoziativen Verhaltens gegeben, die aber meist unter anderen Krankheitsbildern, vor allem
Schizophrenie, subsumiert wurden. Nachdem die Diagnose der Multiplen
Persönlichkeitsstörung 1972 das erste Mal (wieder) benannt wurde, stieg
die Anzahl von Patienten mit den entsprechenden Symptomen in den 70er
Jahren rapide an. 1980 wurde Multiple Persönlichkeitsstörung als Diagnosekategorie im »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« offiziell anerkannt; 1982 sprach man zum ersten Mal von einer Epidemie. Als
Ursache für die Störung vermutete man sexuellen Missbrauch in der frühen
Kindheit, der verdrängt worden war und zu einer »Spaltung« der Persönlichkeit führte. Immer mehr Menschen erinnerten sich in Therapien plötzlich ihres verdrängten, sexuellen Missbrauchs. Wie Hacking feststellt: Eine
Multiple Persönlichkeit zu sein »became a way of being a person.«
Dass die Klassifikation Multiple Persönlichkeit in den 1970er Jahren in
den USA denkbar, diagnostizierbar und erfahrbar wurde, hatte wie Hacking
zeigt, wiederum sowohl wissenschaftsinterne als auch gesellschaftlich kulturelle Gründe. Multiple Persönlichkeit »passte« zu den Hypothesen der
Entwicklungspsychologie und zu neuen Theorien über biochemische Veränderungen im Rahmen traumatischer Erfahrung (vgl. Young 1995). Hacking arbeitet heraus, wie durch spezifische Messinstrumente und Validierungsmethoden neue Fakten produziert wurden und die Klassifikation Mul-
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K LASSIFIKATIONEN
tiple Persönlichkeit wissenschaftlich objektiviert wurde. Die Herstellung
Multipler Persönlichkeit als wissenschaftliches Objekt war zudem erst
möglich aufgrund gesellschaftlich veränderter Vorstellungen von Kindheit
und Sexualität. Vorangetrieben wurde die epidemische Verbreitung dieser
Diagnoseklassifikation aus Hackings Sicht vor allem durch die massive
Medialisierung, Popularisierung und vor allem auch Politisierung von Multipler Persönlichkeit.
Auch wenn es, wie Hacking immer wieder betont, keine universelle
Theorie des Making Up People geben könne, arbeitet er am Beispiel der
Multiplen Persönlichkeit generalisierbare Elemente heraus, die einen analytischen Rahmen auch für andere Klassifikationsdynamiken anbieten:
»We have (a) a classification, multiple personality, associated with what at the time
was called a ›disorder‹, Multiple Personality Disorder. This is the kind of person that
is a moving target. We have (b) the people, those people I call unhappy, unable to
cope, or whatever relatively non-judgmental term you might prefer. We have (c) institutions, which include clinics, annual meetings of the International Society for the
Study of Multiple Personality and Dissociation. Afternoon talk shows on American
Television [...]. Weekend training programs for therapists […]. There is the (d)
knowledge, by which I do not mean justified true belief [...]. [Rather] the presumptions that are taught, disseminated, refined, within the context of the institutions.
[…] For example that multiple personality is caused by early sexual abuse [...] and
the like.« (Hacking 2006: 3f.)
Auch wenn es in Psychiatrie wie Wissenschaft heftige Kontroversen über
die ›Echtheit‹ der Diagnose Multiple Persönlichkeitsstörung bzw. Dissoziativen Persönlichkeitsstörung, wie die Diagnose heute genannt wird, gab und
gibt, wird die Diagnoseklassifikation in klinisch-psychiatrischen Praxen bis
heute verwendet. Hierzu ein Beispiel aus meiner eigenen Feldforschung in
der Psychiatrie:
Es ist mein zweiter Feldforschungstag auf einer psychiatrischen Station eines Bezirkskrankenhauses, ich sitze zusammen mit dem Stationsarzt, einer Patientin und
der Oberärztin in einem der Behandlungszimmer. Der Stationsarzt hatte die Oberärztin zum Gespräch dazu gebeten, weil er sich mit der Diagnose bei der Patientin nicht
ganz sicher ist. Die Oberärztin bittet die Frau ihr zu erzählen, aufgrund welcher
Probleme sie in der Psychiatrie sei. Frau M. fängt leise und stockend an zu erzählen:
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Zuerst berichtet sie von quälenden Stimmen, die sie ständig begleiten; dann beschreibt sie, dass sie manchmal mit der U-Bahn irgendwo hinfahren will und dann
plötzlich wie aus einer Trance auftaucht und gar nicht weiß, wo sie ist und wie sie
dorthin gekommen ist. Manchmal findet sie in ihrer Wohnung Zettel, die sie geschrieben haben muss, oder Dinge, die sie eingekauft haben muss, und kann sich gar
nicht mehr daran erinnern. Die Oberärztin hakt zwischendurch nach: Was das denn
für Dinge seien? Und wie wäre die Handschrift auf den Zetteln, erkenne sie die als
ihre Handschrift wieder? Ohne dass ich vorher mit dem Stationsarzt über die mögliche Diagnose gesprochen hatte, wird mir sehr schnell klar, worauf die Erzählungen
der Patientin und die Nachfragen der Oberärztin hinauslaufen: Multiple Persönlichkeit. Ich bin irritiert, weil ich davon ausging, dass man dieses Krankheitsbild mittlerweile stark anzweifelt und diese Diagnose nicht mehr verwendet wird. Nach dem
Gespräch habe ich Gelegenheit, den Arzt nach der Diagnose Multiple Persönlichkeit
zu fragen. Das nenne man nicht mehr Multiple Persönlichkeit, erklärt er mir, sondern Dissoziative Störung. Und doch, das gäbe es. Er hätte das schon mehrmals sehr
eindrucksvoll erlebt, wie Patienten mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung im
Verlauf eines Gesprächs plötzlich »switchen«. Das wäre wirklich unheimlich, so etwas zu beobachten. Bei der Patientin von eben wäre er sich aber nicht so sicher, sie
würde zu offensichtlich die richtigen Erzählungen anbieten. Einmal hätte sie in einem Gespräch mit ihm auch so einen plötzlichen Wechsel im Verhalten und auch in
der Stimmlage gezeigt, aber er hatte da eher den Eindruck sie würde ihm etwas vorspielen. Deshalb hatte er letztendlich auch die Oberärztin dazu gebeten, die sei auf
diesem Gebiet sehr versiert.
Ein Jahr später, bei meinem zweiten Feldforschungsaufenthalt auf derselben psychiatrischen Station, begegnet mir die Patientin Frau M. zufällig wieder; wieder sitze
ich im Arztgespräch dabei. Dieses Mal sind die Erzählungen jedoch irgendwie anders. Sie erzählt von Ängsten, die sie hat und wie alleine sie sich oft fühlt. Ich frage
den Assistenzarzt später nach dieser Veränderung. Ja, die Patientin hätte das Team
letztes Jahr mit diesen Erzählungen ganz schön beschäftigt, fast hätten sie ihr die
Multiple Persönlichkeit abgenommen. Nach einigem Hin und Her hat sie dann die
Diagnose Abhängige Persönlichkeitsstörung bekommen. Das Verhalten der Patientin wäre durchaus typisch für diese Patienten. Sie seien nicht in der Lage, direkt um
Hilfe zu bitten, sondern versuchten, über solche dramatischen Geschichten Aufmerksamkeit zu bekommen.
Diese Episode aus meiner Feldforschung lässt sich mit dem analytischen
Instrumentarium, das Hacking entwickelt, besser einordnen: Wir haben die
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Klassifikation Multiple Persönlichkeitsstörung bzw. Dissoziative Störung.
Wir haben den Menschen, der wie Hacking es beschreibt: »unhappy, unable
to cope« ist. Wir haben die Institution Klinik, in der diese Klassifikation relevant ist, die sie zuschreibt oder auch aberkennt; und wir haben das Wissen, über das nicht nur die Psychiater als Experten verfügen, sondern auch
die Patientin. Im Übergang zur Diagnose »Abhängige Persönlichkeitsstörung« entstehen neue Loopingeffekte, andere Erzählungen, eine ›neue‹ Patientin. Zusammengefasst: Etwas zu kategorisieren, zu benennen, zu klassifizieren führt also dazu, dass sich die so Klassifizierten der Klassifikation
entsprechend verhalten.
Wie in diesem empirischen Beispiel sowie auch in den Fachdebatten
über die ›Echtheit‹ der Diagnose Multiple Persönlichkeit offenkundig wird,
reflektieren die Experten und Expertinnen in der Psychiatrie diese mögliche
Rückkoppelung der Benennungspraxen auf die Selbst-Wahrnehmung der
Patienten durchaus. Im psychiatrisch-psychologischen Fachjargon wird in
diesem Zusammenhang in der Regel von potentiellen Labeling-Effekten5
gesprochen: Jemanden als psychisch krank zu ›labeln‹, führe zu einer veränderte Selbstwahrnehmung des so Klassifizierten. Im Unterschied zu Hackings Konzept beschränkt sich der Ansatz allerdings tatsächlich auf den
individuellen Akt der Zuschreibung, die Diagnose, und reflektiert weniger
die Einbettung der Klassifikationen von »kinds of people« in weitergehende Diskurse und Wissenssysteme.
Seinen Ansatz bezeichnet Hacking als dynamic nominalism: »the claim
of dynamic nominalism is not that there was a kind of person who came increasingly to be recognized by bureaucrats or by students of human nature
but rather that a kind of person came into being at the same time as the kind
itself was being invented.« (Hacking 1999 (1986): 165) Sein Ansatz des
dynamischen Nominalismus solle keinesfalls mit sozialkonstruktivistischen
Ansätzen verwechselt werden, betont Hacking. Ihm ginge es nicht darum
zu fragen: »Is it real?« Oder nachzuweisen, etwas sei »nur konstruiert«.
Sein Interesse liegt auf den Effekten wissenschaftlicher Zuschreibungen
5 Der so genannte Labeling Approach wurde ursprünglich in der DevianzSoziologie entwickelt: Deviant, so eine klassische Formulierung, sei derjenige, auf
den das Label »deviant« erfolgreich übertragen wurde (vgl. Becker 1973). In psychiatrisch-psychologischen Fachdiskursen steht dieser Ansatz in einem engen Zusammenhang mit Debatten über die stigmatisierende Wirkung psychiatrischer Diagnosen.
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und den Prozessen, in denen sie für die Betroffenen Realität annehmen und
ihre Erfahrungsweisen wie Selbstsichten prägen und letztendlich wiederum
die Klassifikation verändern. Während Mary Douglas die epistemologische
Frage nach Klassifikationen, verstanden als alltägliche Wissensformen sozialer Gruppen, zum Ausgangpunkt ihrer Untersuchungen gemacht hat, stehen für Hacking vielmehr ontologische Fragen im Vordergrund: die Frage
nach dem »coming into being«, einer neuen Konstitution von (In der Welt)
Sein.
Auch wenn Hacking in erster Linie diskursanalytisch und nicht empirisch-ethnografisch arbeitet, ist es gerade diese Frage nach den im Alltag
von Menschen relevanten Effekten, nach dem spezifischen »way of being a
person«, die seine Perspektive produktiv für ethnografische Arbeiten
macht, die sowohl wissenschaftliche Wissensproduktion wie auch alltägliche Praxis untersuchen und in ihren Konsequenzen für Wissenspraxen von
Menschen beschreiben.
G EOFFREY B OWKER UND S USAN L EIGH S TAR :
I NFRASTRUKTUREN UND M ONSTER
In ihrer »Klassifikationsstudie« »Sorting Things Out. Classification and its
Consequences« untersuchen Geoffrey Bowker und Susan Leigh Star eine
Bandbreite von Klassifikationssystemen: das internationale medizinische
Diagnoseklassifikationssystem ICD, die Klassifikation von Pflegepraxen in
US-amerikanischen Krankenhäusern, Rasseklassifikationen während der
Apartheid in Südafrika, sowie die historisch sehr unterschiedlichen Klassifizierungen von Viren und Tuberkulosekranken. Sie interessiert, wie Klassifikationen produziert werden, wie sie sich verbreiten und welche Konsequenzen Klassifikationen haben. Ihr Blick liegt im Vergleich zu Douglas
und Hacking stärker auf der tatsächlichen, alltäglichen Arbeit, die in die
Herstellung und Aufrechterhaltung von Klassifikationssystemen investiert
wird.
Dabei betonen Bowker und Star, dass Klassifikationssysteme immer
Teil eines komplexen Gefüges sozialer, symbolischer, technologischer, moralischer, historischer und organisatorischer Komponenten sind. Ihr besonderes Interesse gilt den Klassifikationssystemen, die in Arbeitsroutinen und
Organisationsstrukturen eingebettet sind und auf komplexen technologi-
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schen Entwicklungen basieren. Neue Infrastrukturen entstehen, so Bowker
und Star, wenn »systems of classifications form a juncture of social organization, moral order, and layers of technical integration.« (Bowker/Star
2000: 33) Infrastrukturen sind Routineabläufe und Technologien, die historisch eingebettet sind und auf sozialen Aushandlungsprozessen einer Vielzahl von communities of practice basieren, also verschiedenen Akteuren,
die durch die Partizipation in einem bestimmten Handlungskontext und geteiltes (praktisches) Wissen miteinander verbunden sind. Entsprechend der
Komplexität der zu untersuchenden Gefüge, sind auch die Materialien, die
Bowker und Star für ihre Analysen heranziehen, äußerst vielfältig: belletristische Literatur und Film ebenso wie Interviews und Forschungsliteratur,
historische Quellen oder Statistiken.
Ein klassisches Beispiel für eine solche komplexe Infrastruktur stellt die
ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related
Health Problems) dar, auf die Bowker und Star in ihrem Buch ausführlich
eingehen.6 Sie untersuchen den historischen Hintergrund der Entwicklung
der ICD als Informationsinfrastruktur, und beschreiben, wie sich durch die
Implementierung elektronischer Informationsinfrastrukturen medizinische
Arbeitspraxen und entsprechende »worlds of knowledge« grundlegend verändert haben.
Das ICD-System entwickelte sich im 19. Jahrhundert aus dem Internationalen Todesursachenverzeichnis und wurde innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem weltweit von Staatsapparaten, Versicherungsanstalten und
Krankenhäusern verwendeten Diagnoseklassifikationssystem. Als Grundlage für eine Vielzahl von Datenbanken und Gesundheitsstatistiken wird
das Klassifikationssystem mittlerweile von Medizinstudenten weltweit im
Rahmen ihrer Ausbildung gelernt und ist damit fest verankert in den alltäglichen professionellen Praxen von Akteuren im Gesundheitssystem und
staatlicher Bürokratie. Zugleich wären die Entwicklung und Verbreitung
des ICD-Systems ohne moderne Informationstechnologie nicht möglich
gewesen, die wiederum Form und Struktur des Klassifikationssystems
maßgeblich beeinflusst hat. Hier gehen Bowker und Star einen entscheidenden Schritt weiter als Douglas (und auch Hacking), wie sie selbst betonen: In ihrer Analyse von Infrastrukturen als Klassifikationssystemen ginge
es nicht wie bei Douglas darum, diese als Projektionen des Sozialen auf das
6 Siehe Kapitel 2 und 3 in Bowker/Star 2000.
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Natürliche zu verstehen. Bowker und Star sind der Überzeugung, dass sie
anhand ihrer Untersuchungen zeigen können, dass Klassifikationssysteme
aus einer Ko-Konstruktion von Natur und Gesellschaft hervorgehen. (Bowker/Star: 61) Klassifikationssysteme seien in diesem Sinne immer als Hybride zu verstehen: »Classifications are material, as well as symbolic.«
(ebd.: 39)
Klassifikationen haben für Bowker und Star nicht nur eine symbolische,
soziale Bedeutung; sie sind ebenso materiell zu verstehen. In ihren Augen
bedeutet die Untersuchung von Klassifikationssystemen, dass man einen
analytischen Fokus auf die Beziehungen zwischen Menschen und Objekten
legen kann: »We draw attention here to the places [...] where human and
non-human are constructed to be operationally and analytically equivalent.«
(Bowker/Star 1997: 196) Infrastrukturen und Klassifikationssysteme könnte
man demnach als Ergebnis von Translationsprozessen im Sinne der AkteurNetzwerk Theorie verstehen. (AKTEUR-NETZWERK THEORIE) Tatsächlich
beziehen sich Bowker und Star explizit auf die ANT, verstehen ihre Arbeit
aber auch als kritische Erweiterung. Ihrer Ansicht nach schenkt die ANT
der konkreten Arbeit, die in die Herstellung von Akteur-Netzwerken eingeht, zu wenig Aufmerksamkeit. Im Gegensatz dazu ginge es ihnen vor allem »to explore the terrain of the politics of science in action.« (Bowker/Star 2000: 48) Die Untersuchung von Klassifikationssystemen, wie sie
üblicherweise vorgenommen werden, offenbare außerdem einen weiteren
blinden Fleck der ANT – der Fokus müsse auf Kokonstruktionsprozesse gelegt werden, die nicht von einem Akteur gemacht oder verändert werden,
sondern von Kollektiven, von »communities of practice«. Und schließlich
bleibe man blind gegenüber dem, was ausgeschlossen und unsichtbar gemacht wird, wenn man nur den »mächtigen« Akteuren in ihren Netzwerken
folge. (STS UND POLITIK)
Bowker und Star machen einen – wie sie es nennen – »managerial bias«
der ANT-orientierten Arbeiten für diese blinden Flecke der Analyse verantwortlich, eine einseitige Aufmerksamkeit für wissenschaftliche und
technologische Erfolgsgeschichten. Susan Leigh Star kritisierte dies bereits
in einem ihrer früheren Texte, der den Untertitel »On being allergic to
onions« trägt. In dem Artikel beschreibt sie unter anderem wie sie aufgrund
einer Allergie in einem Fastfood-Restaurant einen Hamburger ohne Zwiebeln bestellt – erfolglos. Sie nimmt dieses Scheitern an den Standards einer
Fastfood-Kette als Ausgangspunkt, um über alternative analytische Modelle
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in der Untersuchung soziotechnischer Netzwerke und deren Stabilisierungsprozesse nachzudenken. Sie konstatiert, dass der Fokus auf die
machtvollen Produzenten zum einen ausblende, dass für die Stabilisierung
von Netzwerken sehr viel unsichtbare Arbeit [invisible work] von Nöten ist
– eben nicht nur die Arbeit der Wissenschaftler, sondern auch die der Laborassistentinnen oder Sekretärinnen, wie Star mit Verweis auf Latours Laborstudien betont; zum anderen werden diejenigen, die nicht in die Standards der Infrastruktur passen, doppelt unsichtbar gemacht: durch die Klassifikationen der Infrastruktur, die sie zu Außenseitern macht oder disziplinierend einpasst; und zum zweiten Mal durch einen analytischen Bias
(bspw. der ANT), der auf die sichtbaren Macher abzielt. Star fordert als Alternative, das Heterogene, das nicht-passförmige Monströse, den Cyborg
als Ausgangspunkt für die Analyse von soziotechnischen Netzwerken zu
nehmen.
Mit der Figur des Cyborg verweist Susan Leigh Star auf die feministische Wissenschaftstheoretikerin Donnay Haraway, die mit dem Cyborg das
Sinnbild des Hybriden, der Maschine-Mensch-Kreatur, des sowohl Sozialen wie auch Materiellen wie auch Fiktiven, immer Partiellen skizzierte. In
Stars Worten: »that which is between the categories, yet in relationship to
them«. (Star 1991: 39)
Insgesamt sind Bowker und Star weniger an grundlegenden ontologischen Fragen interessiert, wie dies Hacking mit seinem Begriff des dynamischen Nominalismus ist, als an den konkreten politischen Implikationen
und moralischen Konsequenzen, die Klassifikationen haben. Ihr Ziel ist es,
die politische Dimension einer Akteur-Netzwerk Theorie stark zu machen
und den analytischen Blick auf die Außenseiter, das ›Unreine‹, den Cyborg
zu richten. Die Betonung der Konsequenzen, die Klassifizierungen für die
klassifizierten Menschen haben, kündigt sich bereits im Untertitel ihres Buches an: »Classification and its Consequences«. Ähnlich wie Douglas betonen Bowker und Star dabei die moralische Dimension von Klassifikationsprozessen: »Each standard and each category valorizes some point of view
and silcences another. […] For any individual, group or situation, classifications and standards give advantage or they give suffering.« (ebd.: 5ff.)
Gerade das, was unsichtbar gemacht und zum Schweigen gebracht
wird, steht im Fokus der Arbeiten von Bowker und Star. Klassifizierungssysteme seien machtvolle Werkzeuge um Menschen, die nicht in dominante
Kategorien der Privilegierten passen, zu disziplinieren und zu kontrollieren.
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Dieses Einwirken auf Menschen durch Klassifikationen belegen sie mit
dem Begriff »torque«, ein schwer übersetzbarer Begriff, der im eigentlichen Sinne die physikalische Größe der Drehkraft beschreibt. Menschen
werden mit massivem Kraft- bzw. Machtaufwand in Kategorien hinein gepresst und in eine neue Form eingepasst. Ohne auf das konkrete Bild ausführlicher eingehen zu können, sei hier festgestellt, dass es gerade im Vergleich zu Hackings relativ neutralem Begriff des »Making Up People« um
einen Akt massiven, gewaltsamen Einwirkens, des »Zurechtstutzens« von
Menschen geht. Anschaulich wird dieses massive Einwirken auf Menschen
durch Klassifikationen in einem der beiden Beispiele, die Bowker und Star
wählen, um den Zusammenhang von Klassifikation und deren Auswirkungen auf Biografien zu verdeutlichen: eine »Torquing-Studie« der Rasseklassifikationen und Re-Klassifikationen während der Apartheid in Südafrika, die die Biografien von Menschen massiv verändert haben (Bowker/Star 1997: 195–225).
Zwischen 1950 und dem Ende des Apartheid-Regimes 40 Jahre später,
herrschte in Südafrika ein äußerst rigides und vor allem allumfassendes Regime von Rasseklassifikationen. Die Bevölkerung war in vier RasseGruppen eingeteilt – weiß/Europäisch, Bantu (schwarz), Asiatisch und Farbig (»mixed race«) – und entsprechend dieser Aufteilung wurden die Menschen in ihrem alltäglichen Leben segregiert. Anhand zahlreicher Einzelschicksale demonstrieren Bowker und Star, wie diese rassistische Segregation massiv in den Arbeitsalltag der Menschen, ihre Familienbeziehungen,
Wohnmöglichkeiten und Bildungschancen eingriff bis hin zur Einschränkung ihrer Bewegungsmöglichkeiten im eigenen Land. Bowker und Star
zeigen vor allem die konkreten Mechanismen und Techniken der Rasseklassifikation und beschreiben, wie im südafrikanischen Apartheits-Regime
Rasseklassifikationen hergestellt, begründet und naturalisiert wurden. Entstanden ist über die Jahrzehnte ein Kafkaeskes Kontrollsystem, das vor allem deutlich wird, wenn man sich die Lebensläufe der Menschen ansieht,
die nur schwer in die vier Hauptkategorien von Rassezugehörigkeit eingepasst werden konnten. Auf dem Papier gab es ausschließlich jene vier Kategorien – klassische aristotelische Klassifikationen, die nach eindeutigen
Zuschreibungen verlangen. In dieser Logik ist ein Mensch entweder eindeutig weiß oder er ist eindeutig nicht weiß, etwas dazwischen gibt es nicht.
Bowker und Star interessiert aber gerade dieses Grenzgebiet der NichtEindeutigkeiten, der nicht passförmigen Menschen, die brutal in eine der
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vier Kategorien gepresst wurden, mit oftmals tragischen Konsequenzen für
ihre weiteren Biografien. Obgleich die Kategorien offiziell »wissenschaftlich begründet« und »objektiv nachweisbar« waren, mussten sich die zuständigen südafrikanischen Behörden einiges einfallen lassen, um eine Eindeutigkeit der Zuschreibung zu produzieren. Dabei schockieren nicht nur
die von Bowker und Star zusammengetragenen absurden »Messtechniken«,
sondern vor allem die Willkürlichkeit mit der über das Leben von Menschen entschieden wurde. Tatsächlich war es gerade die Gleichzeitigkeit
von idealtypischen, aristotelischen Klassifikationen und so genannten prototypischen Klassifikationen, die dieses machtvolle rassistische System stabilisierte. So konnte es beispielsweise passieren, dass Kinder, deren Eltern
beide als ›weiß‹ klassifiziert wurden und die nach der aristotelischen Klassifikationslogik ebenfalls als ›weiß‹ eingestuft werden sollten, aber aufgrund dunklerer Haut, krausem Haar oder einer spezifisch geformten Nase,
also aufgrund prototypischer Kriterien, als Angehörige der ›schwarzen‹
Rasse deklariert wurden – mit massiven Konsequenzen. Es war gerade die
Tatsache, dass der bürokratische (Re-) Klassifizierungsprozess inkonsistent
ablief, die den Machthabenden Akteuren umso mehr Privilegien und Möglichkeiten der Unterdrückung und des Ausschlusses gab – und all dies im
Namen wissenschaftlicher, objektiver Klassifikationen.
Auch wenn das letzte Beispiel vor allem die dramatischen negativen
Konsequenzen für die Klassifizierten verdeutlicht, behaupten Bowker und
Star nicht grundsätzlich, dass Klassifikationen an sich etwas Schlechtes seien, aber eine Klassifizierung wäre immer eine moralische Entscheidung,
der man nicht entgehen kann. Im Moment des Klassifizierens liegt ihres Erachtens nach aber auch ein potentieller Widerstand, weil »any given classification provides surfaces of resistances, blocks against certain agendas,
and smooth roads for others« (ebd.: 324). Anhand ihrer unterschiedlichen
Beispiele betonen Bowker und Star mit »Sorting Things Out« auch die
Wandlungsfähigkeit und vor allem die Handlungsfähigkeit der einzelnen
Akteure und Akteurinnen. Klassifikationssysteme sind daher immer auch
vieldeutig, verhandelbar und lokalen Anpassungen ausgesetzt. »There is a
permanent tension between the formal and the empirical, the local and the
situated, and attemps to represent information across localities.« (ebd.: 291)
Ziel empirischer Untersuchungen sei es, Klassifizierungsprozesse transparent zu machen und dieses Spannungsverhältnis, das jedem Klassifikationssystem innewohnt, zu beschreiben.
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F AZIT
Mit Klassifikationssystemen und den daraus resultierenden Konsequenzen
beschäftigen sich zahlreiche Arbeiten in der Sozial- und Kulturanthropologie sowie der Science and Technology Studies. Im vorliegenden Kapitel
wurden drei Ansätze vorgestellt und in ihrer Relevanz für europäischethnologische Forschung im Feld der Science and Technology Studies diskutiert. Die Arbeiten der britischen Sozialanthropologin Mary Douglas betonen die grundlegend soziale Basis von Klassifizierungen und deren Funktion zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Douglas problematisiert, wie
Klassifikationen durch ihre scheinbare »Naturgegebenheit« spezifische
Formen des Ein- und Ausschlusses erzeugen und zugleich als natürlich erscheinen lassen; sie müssen deshalb immer auch in Bezug auf ihre Konsequenzen analysiert werden. Durch die von Douglas eingeforderte prinzipielle Vergleichbarkeit klassischer ethnologischer Felder wie »primitive«
Verwandtschaftssysteme oder Kosmologien und modernen wissenschaftlichen Klassifikationssystemen ermöglichte sie entscheidende Anknüpfungspunkte zwischen ethnologischen Arbeiten und Ansätzen der Science and
Technology Studies. Der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking bietet mit
seinem Konzept des Making Up People ein analytisches Modell, den dynamischen Nominalismus, um die Wirkungen von wissenschaftlichen Klassifikationen auf Menschen und vice versa zu analysieren. Hackings Frage
danach, wie Menschen durch wissenschaftliche Zuschreibungen gemacht
werden und dabei neue Handlungsmöglichkeiten und Selbstverständnisse
entstehen, bietet produktive Anhaltspunkte, um im Rahmen ethnografischer
Forschung veränderte alltägliche Praxismuster und Selbstzuschreibungen
herauszuarbeiten.7 Hackings historische Analyse der Herstellung wissenschaftlicher Wissensobjekte und seine Skizzierung der Genealogien spezifischer Wissensbestände und -konfigurationen bietet zudem zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine ethnografische Untersuchung gegenwärtiger
technowissenschaftlicher Wissensproduktionen.
Ebenfalls interessiert an den Genealogien von Klassifikationssystemen,
aber vor allem an den konkreten Arbeitspraxen des Klassifizierens
7 Beck (2011) beispielsweise schlägt einen, auf Hacking rekurrierenden, »erweiterten Loopingeffect« vor, der stärker als Hacking die gesellschaftliche Dimension
der implizierten Prozesse thematisiert.
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sind Geoffrey Bowker und Susan Leigh Star. Ähnlich wie Hacking analysieren sie sowohl die Produktion von Klassifikationssystemen, als auch die
Konsequenzen für die Klassifizierten. Sie ergänzen die beiden ersten Ansätze durch ihr spezifisches Interesse an modernen Informationstechnologien als Teil von Infrastrukturen und Arbeitsroutinen. Bowker und Stars’
Fokus auf die Materialität von Klassifikationssystemen knüpft dabei an
Konzepte der Akteur-Netzwerk Theorie an, problematisiert jedoch deren
relative Indifferenz gegenüber der politischen Dimension wissenschaftlichen Arbeitens.
In der Untersuchung von Klassifikationssystemen ist den drei Ansätzen
vor allem ihr genuines Interesse an der Alltäglichkeit und den moralischen
Konsequenzen gemein. Klassifikationen, gerade auch wissenschaftliche
Klassifikationen, sind überall, wenn auch meist unsichtbar; sie ermöglichen
oder beschränken unser Tun, unser Wünschen, unser Mensch-Sein in vielfältiger Weise. Sichtbar werden sie oftmals erst, wenn Menschen nicht einfach in Klassifikationskategorien passen (und das tun sie selten). Es sind
die massiven Konsequenzen von Klassifizierungen, wie sie in diesem Kapitel beschrieben wurden, die der Untersuchung von Klassifikationssystemen
vor allem auch eine politische Dimension verleihen. In diesem Sinne: »The
only good classification is a living classification.« (Bowker/Star 2000: 326)
L ITERATUR
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