FremdSehen
archimaera
#1
www.archimaera.de – architektur.kultur.kontext.online
ISSN:1865-7001
Januar 2008
Willkommen
Die Auseinandersetzung mit Architektur kennt viele Methoden und Ansätze,
denen die existierende Publikationslandschat in jeweils spezifischen
Fachzeitschriten Rechnung trägt. Ein
Periodikum, das die unterschiedlichen
Standpunkte mit dem Ziel der gegenseitigen Befruchtung vereint, existiert
bisher weder im Bereich der konventionellen noch im Bereich der Neuen
Medien.
Wir, eine Gruppe junger Architekten, Kunst- und Architekturhistoriker, haben es uns zum Ziel gesetzt,
diese Lücke zu schließen. Denn wir
verstehen Architektur als übergreifendes Kulturphänomen, das es in seiner
gesamten Spannweite zu erfassen gilt.
Der Architekturdiskurs benötigt dringend ein Forum, in dem ein Austausch
auf fächer- und methodenübergreifender Ebene stattfinden kann.
Mit archimaera entsteht eine unabhängige Online-Zeitschrit für Architektur, die einen Blick über den Tellerrand der jeweiligen Disziplin
ermöglicht, Schnittmengen aufzeigt
und den Austausch zwischen Praxis,
Geschichte, heorie und Reflexion fördert. Sie ist als Publikationsmöglichkeit für Künstler und Wissenschatler gedacht, die ihre Arbeit in einen
inner- und interdisziplinären Diskurs
einbetten wollen. Ziel ist es, dass entwerfende Architekten, Architekturtheoretiker, Architekturhistoriker und
Architekturbegeisterte anderer Disziplinen nicht wie üblich an separaten
Strippen ziehen, sondern ihre Fäden
zu einem stabilen Netz verweben, das
dem durchhängenden Architekturdiskurs neue Tragfähigkeit verleiht.
1
archimaera ist als ortsungebundenes,
international erreichbares InternetMedium konzipiert, das die Vernetzung zwischen der jüngeren, an Architekturthemen interessierten Forschergeneration fördern soll. Die Mitglieder
ihres Gründerteams rekrutieren sich
aus verschiedenen euopäischen Universitäten, Architekturbüros und Forschungsinstituten und verstehen sich
als Anknüpfungspunkt für ein europaweites Netzwerk, das sich der interdisziplinären und interkulturellen Annäherung an das Phänomen Architektur
verschreibt.
Wir laden ein, beim Aufspannen und
Ausgestalten dieses Netzwerkes mitzuarbeiten. Zu diesem Zweck werden
die ersten Ausgaben von archimaera
thematische Knotenpunkte, Topoi
oder Schlagworte für ein interdisziplinäres Brainstorming vorschlagen,
um wissenschatliche Texte, Entwürfe,
Zeichnungen und andere künstlerische Arbeiten als Ausdrucksmöglichkeiten eines kreativen, historischen
und philosophischen Architekturdiskurses zusammen zu bringen.
Für die Realisierung des Projektes haben wir große Hilfe von Seiten
des Hochschulbibliothekenzentrums
(HBZ) NRW erfahren. Hierfür möchten wir uns bei Herrn Dr. Horstmann,
Frau Nötzelmann und Herrn Neumann herzlich bedanken. Ein ganz
besonderer Dank gilt Herrn Dr. Reimer und Herrn Schirrwagen, die die
technische Realisierung des OnlinePortals durchgeführt haben. Außerdem bedanken wir uns bei Herrn Prof.
Pieper, der unserer Zeitschrit in seinem Lehrstuhl "Asyl" gewährt.
2
FremdSehen
archimaera versteht sich als Einladung zum "FremdSehen", d.h.
als Anregung, neuartige Sichtweisen zuzulassen, zu verstehen und zu
genießen. "FremdSehen" kann hierbei
als Notwendigkeit und Methode für
die Architekturbetrachtung verstanden werden. "FremdSehen" steht für
Neugier auf Unbekanntes, Anderes,
nie Gesehenes, für einen Blick nach
außen. "FremdSehen" heißt aber auch,
neue Methoden jenseits des eigenen
Fachgebiets zu erproben, anzuwenden
und davon zu berichten. "FremdSehen"
ist insofern ein Synonym für das Programm von archimaera, deshalb
haben wir uns entschieden, das erste
Het diesem hema zu widmen.
Vom Wortsinn her zielt "FremdSehen"
auf die Wahrnehmung, das Sehen.
"FremdSehen" in diesem Sinne meint
die Begegnung mit unbekannten
Gebäuden, fremden Welten und anderen Kulturen, kurz: die Rezeption von
Architekturkultur. Hierunter fällt auch
die verfremdete und veränderte Wahrnehmung von Bekanntem durch Perspektivenwechsel und durch Veränderungen im Betrachter, am Objekt oder
im Vorgang der Wahrnehmung.
Dieser Definition des "FremdSehens"
ist der größte Teil der Beiträge dieser
Ausgabe gewidmet. Als erstes nimmt
uns Erich Lehner mit auf eine Reise
nach Sumatra, um uns eine Einführung in dortige Haustypologien zu
geben und hieran die Bindung zwischen kultureller Identität und lokaler Bautradition zu verdeutlichen. Karl
Kegler führt uns nach Indien, wo er
in der Geschichte der Stadt Lucknow
einen zerbrochenen Spiegel europäischer Architektur entdeckt hat. Indi3
sche Architektur zeigt uns auch Fedor
Roth mit seinen Zeichnungen, die
im Verlauf verschiedener Indienreisen entstanden sind. Einen letzten
Blick in den fernen Osten ermöglicht
uns Manfred Speidels Darstellung der
klassischen japanischen Architektur in
ihrer Bedeutung als Inspirationsquelle
der klassischen Moderne und gewinnbringendes Betrachtungsobjekt in
heutiger Zeit.
"FremdSehen" im erweiterten Sinne
meint auch, Dinge mit anderen Augen
zu betrachten. Als Beispiel hierfür weist homas Knüvener nach,
dass selbst etwas Unangenehmes, ja
Abstoßendes wie eine Mülldeponie
die Chance in sich birgt, gestalterisch
tätig zu werden und sich der Schrecken verbrauchter Flächen vom reinen
Infrastrukturprojekt zur LandschatsBaustelle wandeln kann. Mit Arne
Scheuermann haben wir einen Kommunikationsdesigner eingeladen, ein
Architekturobjekt seiner Wahl einer
genauen Betrachtung zu unterziehen.
In seiner Analyse des Berner Hauptbahnhofs wird deutlich, wie die Architektur als Rahmen konsumorientierter
Erlebnisketten genutzt werden kann.
Den Schlusspunkt des Hetes bildet
ein Text von Mirko Baum aus seinem
gerade erschienenen Buch Ulice na
konci světa – Straße am Ende der Welt.
Zur Architektur führen viele Wege und
jeder erzählt seine eigene Geschichte.
Genau dies vermittelt der Text von
Mirko Baum und eben deshalb ist er
ein wunderbarer Abschluss für die
erste Ausgabe dieser Zeitschrit.
Daniel Buggert und Karl Kegler
(Herausgeber des Heftes)
4
Inhalt
6
7
23
43
51
79
97
Impressum
Erich Lehner (Wien)
Architekturtradition und
ethnische Identität
Bautypen der Karo-Batak und
Toba-Batak auf Sumatra
Karl R. Kegler (Köln/Aachen)
Zerbrochene Spiegel
Teil 1: Das Eigene und das Fremde
Das "exotische Europa" und die
Bauten der Nawabs von Oudh
Fedor Roth (Aachen)
Zeichnungen hinduistischer
Baukunst in Indien
Karl R. Kegler (Köln/Aachen)
Zerbrochene Spiegel
Teil 2: Kopie und Synthese
Das "exotische Europa" und die
Bauten der Nawabs von Oudh
Manfred Speidel (Aachen)
Träume vom Anderen
Japanische Architektur mit
europäischen Augen gesehen
– Einige Aspekte zur Rezeption
zwischen 1900 und 1950.
Thomas Knüvener (Köln)
Ästhetik der Deponie
Arne Scheuermann (Bern)
105 RailCity oder Hauptbahnhof?
Eine designtheoretische
Interpretation von
Transportströmen und
Einkaufserlebnissen im
Hauptbahnhof Bern
Mirko Baum (Aachen)
113 Straße am Ende der Welt.
Thema des nächsten Heftes
121 Raubkopie
5
Impressum
archimaera
architektur. kultur. kontext. online
ISSN:1865-7001
www.archimaera.de
Herausgeber
redaktion archimaera
c/o Daniel Buggert
Lehrstuhl für Baugeschichte
RWTH Aachen
Schinkelstraße 1
52056 Aachen
Redaktion
Relja Arnautovic, Daniel Buggert,
Nadja Horsch, Karl R. Kegler, Joachim
Müller, Anke Naujokat, Martino
Stierli
Herausgeber des Heftes
FremdSehen
Daniel Buggert, Karl R. Kegler
Kontakt:
redaktion [at] archimaera.de
Grafik/ Layout
Online: Karl R. Kegler
Druckfassung (pdf): Daniel Buggert
Technische Realisation
Hochschulbibliothekszentrum des
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6
Erich Lehner
(Wien)
Architekturtradition und
ethnische Identität
Bautypen der Karo-Batak und Toba-Batak auf Sumatra
Sumatra ist die Heimat vielfältiger indigener Bautraditionen, deren Überleben wegen der schnellen Modernisierung des Landes gefährdet ist. Dem
Verlust lebendiger Bautraditionen folgt ein Verlust von Vielfalt und kultureller Identität. Der Beitrag widmet sich zunächst der indigenen Baukultur
der Karo- und Toba-Batak, zweier Ethnien im Norden Sumatras. Ein zweiter
Abschnitt stellt ausgehend von den traditionellen Haustypen die Anpassungsstrategien –chancen dar, die sich aus den westlichen Einflüssen und
den daraus resultierenden veränderten Familiengrößen ergeben. Die
Anpassungsstrategien der Karo- und Toba-Batak illustrieren ein verzweifeltes Streben nach regionaler Zugehörigkeit und nach kultureller Identität im Zeitalter eines global-uniformen Architekturschaffens.
http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-11994
Januar 2008
#1 "FremdSehen"
S. 7-21
Einleitung
Der südostasiatische Archipel1 ist weltweit eines der interessantesten Gebiete
indigener Architekturtraditionen. Eine
erstaunliche Vielfalt von Baukulturen
höchster architektonischer Qualitäten
widerspiegelt in hohem Grad kulturelle Identitäten.
Die Vielfalt an unterschiedlichen Baukulturen ergibt sich allein schon aus
den riesigen geographischen Dimensionen des südostasiatischen Archipels:
So erstreckt sich etwa das Staatsgebiet der heutigen Republik Indonesien
über eine Länge, die der Ausdehnung
Europas von Portugal bis zum Ural
entspricht, wobei allerdings das Gebiet
von zahllosen Inseln unterschiedlicher Größe zergliedert ist2, deren Grad
ihrer Isolierung voneinander die weitgehend eigenständige Entwicklung
einzelner ethnischer Gruppen fördert.
Eine Vielfalt eigenständiger Baukulturen entstand bisweilen auch innerhalb
zusammenhängender Landgebiete; die
interessanteste Region bildet in dieser
Hinsicht die Insel Sumatra (Abb. 1).
Sumatra3, die zweitgrößte Insel Indonesiens, liegt genau am Äquator, weist
jedoch durch ihre starke Gliederung
in Niederungen und Bergregionen
unterschiedliche Klimazonen auf, die
von einem unerträglich feucht-heißen
Ambiente in den östlichen Sumpfgebieten bis hin zu wohltemperierten4
Abb. 1. Die Insel Sumatra,
die den westlichen Teil des
südostasiatischen Archipels
bildet. Die in diesem Artikel
behandelten Baukulturen
der Batak befinden sich in
der Provinz Nordsumatra
(Sumatera Utara).
8
Zonen in den Bergregionen reichen. In
diesen höher gelegenen Gebieten siedeln etwa die Batak und die Minangkabau,5 während die Acehnesen, eine
Kulturgruppe, die eine entferntere Verwandtschat zu den anderen auf Sumatra ansässigen Ethnien aufweist,6 auch
tiefer liegende Regionen bevölkern7.
Traditionen indigener Baukulturen
haben sich bei den verschiedenen Ethnien auf Sumatra in unterschiedlicher
Intensität erhalten; am stärksten sind
sie noch bei den Batak und Minangkabau lebendig, während von den traditionellen Bauten der Acehnesen lediglich vereinzelte Objekte verblieben, die
zudem ot nur noch museale Funktion
besitzen.
Das Identitätsbewusstsein einzelner Ethnien spielt auf Sumatra eine
wesentliche Rolle, wobei der Bezug
auf Charakteristika traditioneller Baukulturen eine Schlüsselposition einnimmt. Besonders deutlich zeigt sich
dies in einer Gegenüberstellung von
ethnischen Gruppen der Batak,8 insbesondere jener der Toba-Batak und
Karo-Batak, deren Kulturen sich im
Hochland Nordsumatras in enger geographischer Nachbarschat entwickelten. Trotz dieser Nachbarschat und
der ethnischen Verwandtschat entwickelten Toba- und Karo-Batak Siedlungsformen ganz unterschiedlichen
Charakters, und auch ihre Bautypen
weisen ganz unterschiedliche Merkmale auf. Dennoch zeigt sich bei nähe-
Abb. 2. Drei charakteristische
Bautypen der Karo-Batak,
die in ihrem Aufbau von
Unterbau, Wandzone und
Dachbereich deutlich die
Wertigkeit dieser drei Zonen
zeigen; den höchsten Rang
nimmt dabei die Dachzone
ein. (Zeichnungen nach:
Müller 2005)
keit durch Pfahlbauweise und mächtige
Überdachung als Schutz gegen hetige
tropische Regengüsse); die konstruktive Bewältigung der Erdbebensicherheit10 (Vermeiden der direkten Übertragung dynamischer Kräte); und
Wohnhaustypen9
schließlich die Symbolik von Unterwelt, irdischer und überirdischer Welt,
Dreiteiliger Aufbau
die im indischen Kulturraum nicht nur
in der Sakralarchitektur typenbildend
Der strukturelle Aubau eines Gebäu- wirkt11, sondern sich auch auf das Kondes in drei Zonen unterschiedlicher zept des Wohnhauses auswirkt.
Wertigkeit und Ausbildung ist ein
weit verbreitetes Prinzip in südostasi- Resultiert also aus bautechnischen und
atischen Architekturtraditionen. Die funktionalen Ursachen eine Gliederung
Gliederung in Unterbau, Wandzone des Baukörpers in drei Zonen unterund Dachbereich ergibt sich als Resul- schiedlicher Wertigkeiten, so generiert
tat mehrerer Faktoren, die zueinan- die Symbolik des Bauwerk in seiner
der in logischer Verknüpfung stehen: Widerspiegelung kosmischer Vorstelder bautechnische Schutz gegen Nässe lungen eine Steigerung dieser Wertig(Abhalten der hohen Bodenfeuchtig- keiten vom Unterbau über die Wandzone zur Dachzone. Dieser Steigerung im Symbolgehalt entspricht eine
Steigerung der Gestaltung – sowohl in der
ornamentalen Wertigkeit
als auch in der geometrischen Valenz, artikuliert
im Übergang vom Stabwerk des Unterbaus über
die flächige Ausbildung
der Wandzone zur skulpturalen Gestaltung des
Dachkörpers (Abb. 2).
rer Betrachtung, dass sich diese Differenzen weitgehend auf das Erscheinungsbild der Bauwerke beschränken,
während diese in struktureller Hinsicht
durchaus viele Parallelen aufweisen.
Unterbau: Sphäre des
Animalischen
Der Unterbau des Hauses entspricht in seiner
symbolischen Wertigkeit der Unterwelt, der
Welt des Übels und der
animalischen
Begierden. In dieser Zone des
Hauses wird der Abfall
gelagert, hier befinden
sich Stallungen für die
Haustiere 12 Die niederrangige Bedeutung des
Abb. 3. Die Skelettkonstruktion des Unterbaus eines
Wohnhauses der Karo-Batak
mit den deutlich zur Schau
gestellten bautechnischen
Details der Schlitz-Zapfenverbindungen und der
Basissteine, die das Verrotten
der Steher verhindern sollen.
(Lingga)
9
Unterbaus drückt sich in der geringen
Beachtung einer ästhetischen Ausführung aus. Die nackte Konstruktion bleibt ohne Ornamentierung
und künstlerisch-skulpturale Ausbildungen; Vorrichtungen für die statische und dynamische Festigkeit werden nicht verborgen, sondern in aller
Deutlichkeit präsentiert: Die Zapfenverbindungen zwischen den vertikalen Pfählen und den horizontalen Aussteifungshölzern, sowie die manchmal
recht ungefügen Basissteine, welche
ein rasches Verrotten der Pfähle verhindern sollen (Abb. 3).13
Wandzone: Sphäre des Menschlichen
Die Wandzone – Aufenthaltsort der
Hausbewohner – entspricht in ihrer
Symbolik der Sphäre der irdischen
Welt. Begrenzt wird dieser Bereich
durch einen ebenflächigen Abschluss
in Form einer Plankenwand; der
Dekor ist weitgehend flächig und zeigt
in manchen Fällen sehr deutlich seine
Verwurzelung in bautechnischen Elementen, wie etwa bei den konstruktiven Verschnürungen der Wandplanken, die in ihrer obligatorischen Ausführung zu abstrahierten Darstellungen von Eidechsen umgedeutet werden (Abb. 4). Ähnlich der Ausbildung
des Unterbaus werden konstruktive
Details also auch in der Wandzone
noch gezeigt, hier allerdings transformiert zu Dekorformen.14
Dachzone: Sphäre des Göttlichen
Hauses. In seiner Symbolik wird er
der Welt des Göttlichen, der Ahnen,
gleichgesetzt und bleibt im Wesentlichen frei von praktischer Nutzung.15
Die Position des Daches als höchstgelegenes Element des Bauwerks entspricht der Vorstellung der Götterwelten am Gipfel des kosmischen Berges
Meru.16 Anstatt der nackten Konstruktion des Unterbaus oder dem flächigen
Dekor der Wandzone wird der gesamte
Dachbereich in seiner Körperhatigkeit zur Skulptur. In der baukulturellindividuellen Gestaltung des Dachkörpers finden wir hier die stärksten
Unterschiede zu anderen Ethnien: Die
Dachform wird zum Zeichen kultureller Identität.
So weist die Dachgestalt des traditionellen Hauses der Toba-Batak zwei
wesentliche Hauptcharakteristika auf:
eine extreme Durchbiegung des Satteldaches17 und eine mehrfach durchbrochene, hypertroph dekorierte Giebelzone, wodurch die höchst charakteristische Gestalt des Daches sowohl bei
der Betrachtung von der Seite als auch
in der Frontalansicht in Erscheinung
tritt. Beides ist von Relevanz im Siedlungsbild des Toba-Dorfes mit seinem
lang gestreckten zentralen Platz: In
Blickrichtung längs des Platzes dominieren die markanten sattelförmigen
Dächer, in Blickrichtung zu den Häusern reihen sich die charakteristischen
mehrschichtigen Giebelfronten aneinander (Abb. 5).
Bei den traditionellen Wohnhäusern
Der Dachbereich bildet die voluminö- der Karo-Batak sind die bestimmenden
seste Zone im dreiteiligen Aubau des Charakteristika der Dächer nicht nur
Abb. 4. Konstruktive Details
der Wandzone als Dekor:
Plankenverschnürungen in
Form von Eidechsen an einem
Wohnhaus der Karo-Batak.
(Peceren)
10
Abb. 5. Die markante Gestalt
der sattelförmigen Dächer
mit ihren weit vorkragenden
Giebeln verleiht den Dorfplätzen der Toba-Batak ihre
charakteristische Prägung.
Leider sind heutzutage fast
alle der ursprünglichen Strohdeckungen durch Wellblech
ersetzt. (Samosir)
deren markante Formgebung, sondern
auch das dominante Volumen, in seiner Mächtigkeit das Erscheinungsbild
des einzelnen Bauwerks und sogar der
Siedlung bestimmend. Der Dachkörper des Karo-Batak-Wohnhauses weist
ebenfalls zwei Schauseiten mit unterschiedlicher Charakteristik auf: Von
der Frontseite aus betrachtet erscheint
das Dach in der Silhouette eines einfachen Dreiecks, aber differenziert in
der Oberflächenstruktur, nämlich dem
Deckungsmaterial im Fußwalmbereich
und dem Flechtwerk im Giebelbereich,
während es hingegen von der Seite aus
betrachtet zwar eine einheitliche Oberflächenstruktur, jedoch eine differenziert-markante Silhouette aufweist, die
dem Dach den Namen "Wasserbüffel"
eingebracht hat (Abb. 6).18
Durch die beträchtliche Differenz zwischen Frontalansicht und Seitenansicht der Dachkörper, die sowohl bei
den Haustypen der Toba als auch der
Karo offensichtlich ist und bemerkenswerterweise durch unterschiedliche Gestaltungsmittel erreicht wird,
erhält der Baukörper des Wohnhauses in seiner Gesamtheit eine markante axiale Ausrichtung. Diese Ausrichtung wird zum Ordnungsfaktor im
Abb. 6. Die markante Dachform des Wohnhauses der
Karo-Batak, gezeigt in ihren
unterschiedlichen Schauseiten
der Frontalansicht (links) und
Seitenansicht (rechts).
(Lingga und Barusjahe)
11
Erscheinungsbild der Siedlung, sowohl
bei den Toba-Batak, die gleichförmige
Ausrichtung zum Platz hin akzentuierend, wie auch bei den Karo-Batak,
die unregelmäßige Bebauung strukturierend, indem die Dachform den auf
annähernd quadratischer Grundfläche
aubauenden Häusern eine ausgeprägte
gemeinsame Ausrichtung verleiht.19
Gemeinsamkeiten im dreiteiligen
Aufbau
Die Steigerung der Symbolik des
architektonischen Ausdrucks und
der Gestaltungsmittel vom Unterbau
über die Wandzone zum Dachbereich
wurde bereits in mehrfacher Hinsicht
erwähnt: die sukzessive Steigerung von
ästhetischer Wirkung und Dekorformen, die sukzessive Verschleierung
konstruktiver Realitäten, sowie die
sukzessive Steigerung von der Skelettstruktur des Unterbaus über die flächig begrenzte Wandzone zum körperhaten Dach. Der essentielle Faktor ist
jedoch die Steigerung der identitätsbildenden Elemente (Abb. 7): Die Unterbauten werden bei den Toba und den
Karo weitgehend identisch ausgebildet;
die Wandzone erfährt bei den Haustypen beider Baukulturen eine flächige
Begrenzung, weist jedoch unterschiedliche Dekorformen auf: Die Dachzone besitzt schließlich das höchste
Potential an gestalterischer Identität,
die sich in mehrfacher Hinsicht manifestiert: einerseits im Satteldach mit
durchgebogenem First und gewölbten
Dachflächen bei den Toba oder dem
Fußwalmdach mit körperlich-kantig
begrenzten ebenen Dachflächen bei
den Karo; andererseits in den prominenten Frontseiten, welche bei den
Toba aus mehreren Ebenen bestehen
und mit Balkonen20 als – mehr oder
weniger symbolische – Verbindung
der Privatzone des Hauses mit dem
öffentlichen Bereich des Platzes versehen sind, während bei den Häusern
der Karo der dichte Abschluss durch
den Fußwalm und der darüber liegenden ebenflächig geschlossenen Giebelzone typenbildend wirkt.
Räumliches Konzept
Die traditionellen Wohnhäuser der
Karo-Batak und Toba-Batak differieren
nicht bloß in ihrem Erscheinungsbild;
ein entscheidender Unterschied besteht
auch im räumlichen Konzept21. Ist das
Toba-Wohnhaus im Wesentlichen für
eine einzige Familie ausgelegt, so lebten
im Karo-Wohnhaus bis zu acht Familien.
Die größeren Dimensionen des Innenraums bedingten hier eine komplexere
Struktur des Tragsystems, das krätige
Innenstützen aufweist, womit es möglich ist, den gesamten Innenraum ohne
tragende Zwischenwände und damit
ohne fixe räumliche Teilung auszubilden.22 Die Platzeinteilung im Einheitsraum, dessen einzelne Kompartimente
fallweise durch flexible Raumteiler wie
Matten und Textilien visuell voneinander getrennt werden können, war dennoch für die Mitglieder des Haushaltes
verbindlich vorgegeben und widerspiegelte die Rangordnung der Bewohner.23
Entsprechend der großen Bewohneranzahl gibt es im Haus mehrere Feuerstellen, deren Rauch sich im hohen Dachraum verteilt und durch Giebelöffnungen und Dachdeckung abzieht. Ein
zentraler Erschließungsgang verläut
genau in der Längsachse des Gebäudes
und verbindet die beiden Eingänge an
den beiden Fußwalm-Giebelseiten des
Hauses, die im Wesentlichen identisch
ausgebildet sind. Damit erhält das Bauwerk zwei Hauptfronten; es ist demnach
nicht eindeutig nach einer bestimmten
Seite hin ausgerichtet (Abb. 8 oben).
Das Wohnhaus der TobaBatak besitzt dagegen nur
einen einzigen Eingang
und ist somit konzeptuell
nach einer Seite gerichtet, die als prominente
Schaufront ausgebildet
wird. Das Gebäude weist
damit eine prononcierte
"Vorder-" und "Hinterseite" auf, was sich nicht
nur im Siedlungskonzept
der entlang eines Platzes angeordneten Häuser
auswirkt, sondern auch
in der räumlichen Disposition des Kochbereichs:
Ursprünglich besaß auch
das Toba-Wohnhaus eine
Feuerstelle im Inneren
des Hauptraums;24 unter
dem Einfluss der europäischen Kolonisatoren
wurde jedoch aus Gründen der Brandgefahr
für die Kochstelle ein
Anbau an der Rückseite
des Hauses errichtet,25
der eine starke räumliche
Abb. 7. Im Aufbau von
Unterbau, Wandzone und
Dachbereich der Wohnhaustypen von Toba-Batak (oben)
und Karo-Batak (unten)
erkennt man wiederum
deutlich die Hochrangigkeit
der Dachzone, welche in ihrer
jeweils charakteristischen Ausbildung typenbildend wirkt.
(3DModell: Müller 2005)
12
rakteristisch ist, aber auch
hier von den ethnischen
Gruppen der Karo-Batak
und Toba-Batak wiederum in unterschiedlicher Art und Weise realisiert wird.
Abb. 8. Ein Vergleich der
Grundrisse des Karo- und
Toba-Wohnhaustyps zeigt
die gänzlich unterschiedliche
räumliche Konzeption: Zum einen das groß dimensionierte,
nach zwei Seiten gerichtete
Rumah der Karo-Batak
(oberes Bild), zum anderen das
wesentlich kleinere Rumah
der Toba-Batak (unteres Bild),
welches eine eindeutige
Ausrichtung nach einer
einzigen Seite hin aufweist; an
der Rückseite ist als Anbau die
Küche appliziert.
(Grundrisse nach Müller 2005).
Trennung des nutzbaren Innenraums
bewirkt und damit möglicherweise den
Auslöser für weitere fixe Raumteilungen gegeben hat, die heute des Öteren
errichtet werden und den ursprünglichen Einheitsraum in mehrere Kämmerchen zergliedern (Abb. 8 unten).
Eingangszonen
In vielen Baukulturen gehört die Eingangszone zu den prominentesten
Bereichen im Erscheinungsbild des
Hauses und nimmt im Allgemeinen
eine dominante Position in der Hauptfassade ein.26 In verschiedenen Baukulturen Südostasiens erfährt dagegen
der Hauseingang keinerlei prominente
Gestaltung — eine Situation, die auch
für die Bautraditionen der Batak cha-
Abb. 9. In ihrer Anspruchslosigkeit stehen die Eingangssituationen bei den traditionellen Wohnhäusern der Batak
im krassen Gegensatz zur
übersteigerten Gestaltung der
Hauptfassaden: Bei den TobaBatak (Bild links) ist es ein
bescheidenes Leiterchen, bei
den Karo-Batak (Bild rechts)
eine primitive Plattform
aus zusammengebundenen
Bambusstäben.
(Ambarita und Barusjahe).
13
Die zurückhaltende Ausbildung der Eingangszone fällt als besonders
merkwürdiges Phänomen dort auf, wo die
Frontseite sich prestigeträchtig zur Schau stellt
und mit Giebelbalkonen
nach außen öffnet (Abb.
9 links): Der Eingang ins
traditionelle Wohnhaus
der Toba-Batak erfolgt
über ein schmales Leiterchen durch eine von
außen nicht erkennbare kleine Luke.
Auch bei den Wohnhäusern der KaroBatak liegen die Eingänge an den prominenten Giebelseiten, stehen jedoch
ebenfalls in sonderbarem Kontrast
zu den elaborierten Ausbildungen
der Wand- und Dachzone: Die Eingangszone wird hier von einer Plattform aus primitiv zusammengebundenen Bambusrohren gebildet, an die
eine ebenso primitive Leiter gelehnt ist
(Abb. 9 rechts); ins Hausinnere gelangt
man durch eine winzige Tür mit einer
hohen Schwelle.
Eine der Ursachen für derartig bescheidene Ausbildungen der Eingangszone ist die Verteidigungsfunktion der
Wohnhäuser: In dem einen Fall haben
es unliebsame Eindringlinge schwer,
der Toba-Batak scheinen eine bedeutendere
Rolle erst in jüngerer Zeit
und unter europäischem
Einfluss genommen zu
haben: Vielen Wohnhäusern der Toba ist heute
eine massive Freitreppe
aus Beton vorgelagert,
die in höchst seltsamem
Kontrast zum Holzskelettbau des Hauses steht
(Abb. 10).28 Als Pendant
zu dieser Situation mögen
die merkwürdigen, des
Öteren aus Betonfertigteilen hergestellten Stiegenaufgänge
erwähnt
werden, die im rührendhilflosen Streben nach
Modernisierung an die
traditionellen Ovalhäuser im Norden von Nias,
einer Sumatra vorgelagerten Insel,29 appliziert
werden.30
Abb. 10. Zur Aufwertung der
Eingangssituation werden den
traditionellen Wohnhäusern
der Toba-Batak heute oft
völlig deplaciert wirkende
Freitreppen aus massivem
Beton vorgelagert (Samosir).
durch eine weit hinter die Außenwand
versetzte Luke, wie sie bei den Toba
gebräuchlich ist, ins Hausinnere zu
gelangen; im anderen Fall können die
wie Provisorien erscheinenden Eingangsplattformen der Karo bei einem
drohenden Angriff mit wenigen Handgriffen abgebaut werden.
Übrigens ist die Existenz dieser Bambusplattformen im ursprünglichen
Konzept der traditionellen KaroBatak-Wohnhäuser zu hinterfragen.
Es könnte sich um eine nachträglich –
möglicherweise unter dem Einfluss der
Europäer27 – entstandene Eingangslösung handeln. Auch die Hauseingänge
Abb. 11. Eines der obligatorischen indonesischen
Straßenportale an der Durchzugstraße nach Brastagi, als
"Tor der Region" den Eintritt
in das Gebiet der Karo-Batak
markierend, gestaltet als
Collage charakteristischer
Elemente der indigenen
traditionellen Architektur.
14
Transition
Veränderung von Haustypen
Architekturtraditionen sind lebendiger
Ausdruck von Kulturen und reagieren,
im steten Wandel begriffen, auf gesellschatliche und technologische Veränderungen. Prägungen von traditionellen Bautypen ändern sich demnach
umso schneller, je kurzlebiger ihre
Einzelobjekte sind. Die in feucht-tropischen Klimazonen errichteten Holzskelettbauten erreichen eine Bestandsdauer von höchstens ein bis zwei Generationen und werden nur unter der
Voraussetzung von gleich bleibenden
Abb. 12. Einigermaßen
moderne Verkaufsbude im
Stadtzentrum von Brastagi
mit aufgesetzten Dachelementen der traditionellen
Karo-Batak-Architektur.
Verhältnissen des sozialen Umfelds in
gleicher Art wieder errichtet; sukzessive Veränderungen der Gesellschatsstruktur bewirken dagegen eine fortlaufende Entwicklung der indigenen
Bautypen. Der massive Impact "westlicher" Kultur europäisch-amerikanischer Prägung, der einen radikalen
Bruch in den indigenen Kulturen der
sogenannten Dritten Welt bewirkte,
übersteigt jedoch die Erneuerungskrat und Entwicklungsfähigkeit tradierter Baukulturen bei Weitem.
betroffen. Durch den Ersatz der Großfamilie durch die Kleinfamilie31 haben
die Einraum-Wohnhäuser der KaroBatak mit Innenräumen, die mehrere hundert Quadratmeter Grundfläche besitzen, ihre Funktion verloren. Nur noch sporadisch genutzt,
sind sie einem rapiden Verfall ausgesetzt, weil der Arbeitsaufwand für die
im tropischen Klima nötigen periodischen Sanierungsarbeiten nicht mehr
gerechtfertigt erscheint, zudem es auch
an Materialressourcen mangelt, da auf
Sumatra der größte Teil des ursprüngliVom Bruch mit gesellschatlichen Tra- chen Bestandes an wertvollem Bauholz
ditionen ist die indigene Architektur aus Profitgier gerodet und ins Ausland
der Karo-Batak in besonderer Weise verkaut wurde.
Die indigene Baukultur
der Toba-Batak besitzt
in dieser Hinsicht eine
wesentlich
günstigere
Ausgangslage. Die relativ kleinen Häuser lassen sich dem Wohnraumbedarf von Kleinfamilien anpassen und
können von diesen auch
besser instand gehalten
werden. So haben sich
in den Kerngebieten des
Toba-Landes, vor allem
auf der Halbinsel Samosir im Toba-See, traditionelle Bauformen in
ungewöhnlich
großer
Zahl erhalten. Hier existieren noch gut erhaltene Ensembles, auch
wenn die ursprüngliche funktionale Struktur von Wohnhäusern
und vis-a-vis stehenden
Speicherbauten
nicht
Abb. 13. Modernes Verwaltungsgebäude, errichtet als
hypertrophes Modell eines
traditionellen Wohnhauses
der Toba-Batak (Tarutung).
15
mehr besteht: Nachdem aufgrund der
heute üblichen kollektiven Versorgung
die traditionellen familieneigenen
Sopos (Speicherbauten) ihre Funktion
verloren hatten, wurden sie in Rumahs
(Wohnhäuser)
umfunktioniert,32
indem man das aus einer Arbeitsplattform bestehende Mittelgeschoss mit
einer Bretterwand ummantelte und
den Eingang an die Bedürfnisse eines
Wohnbaus anpasste.33 Im Erscheinungsbild der Siedlungsstruktur ergaben sich dadurch keine grundlegenden
Veränderungen, da die Bautypen des
Rumah und des Sopo in ihren formalen Charakteristika viele Übereinstimmungen aufweisen.
Batak zeigt sich also sehr deutlich
der Stellenwert der Variabilität in den
Möglichkeiten funktionaler Nutzung
für eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Architekturtraditionen.
Einschneidende gesellschatliche Veränderungen führen nicht zwingend
zu Bruch und Neubeginn einer Baukultur; in solchen Situationen hängt
deren Weiterbestehen von mehreren
unterschiedlichen Voraussetzungen
ab: Einerseits müssen die tradierten
Bautypen ihre Entwicklungsfähigkeit
beweisen, in funktionaler und konstruktiver Hinsicht die Veränderungen von Gesellschat und Technologie
zu bewältigen, andererseits muss aber
auch in der Gesellschat eine allgeEine einschneidende Veränderung im meine Akzeptanz kultureller Tradition
Erscheinungsbild der Toba-Siedlungen und Identität verankert sein.
wurde allerdings durch die – immerhin positiv zu wertende – sukzessive Identität
Befriedung des Landes verursacht. Die
in den früheren kriegerischen Zeiten Trotz des massiven Impacts westlicher
angelegten und mit dichten Bambu- Kultur spielen im täglichen Leben der
shecken bepflanzten Erdwälle, welche Batak gesellschatliche Traditionen eine
die Dörfer als sicherer Schutz gegen nicht unbedeutende Rolle; auch heute
Angriffe feindlicher Stämme umgaben, noch wird das Sozialverhalten vom
bestehen heute nur noch in Rudimen- Adat geregelt, dem ungeschriebenen
ten. Das traditionelle Erschließungs- Gewohnheitsrecht, welchem im tradikonzept der Dörfer – ausschließlich in tionellen Siedlungsverband ot höhere
deren Längsrichtung34 – wurde durch Bedeutung zugemessen wird als dem
das Abtragen der Siedlungsumwallun- staatlich kodifizierten Gesetz. Damit
gen aufgebrochen; die Stringenz der ist kulturelle Identität auch heute noch
klassisch-linearen Längsentwicklung ein hema, das sich auf verschiedenen
ist durch die heute ot üblichen Dorf- Ebenen zeigt.
zugänge an den der Straße zugewandten Langseiten nicht mehr in vollem Die Stellung der Architektur in diesem
Umfang erlebbar.
Zusammenhang ist höchst aufschlussreich: Die traditionellen Bautypen der
Im Vergleich der traditionellen Haus- verschiedenen ethnischen Gruppen
typen der Toba-Batak und der Karo- verkörpern deren kulturelle Zugehörigkeit und sind Symbol regionaler
Identität: So tragen die für Indonesien
typischen, auf den Durchzugsstraßen
errichteten riesigen Torbauten, welche
Provinz- und Bezirksgrenzen markieren, auf ihren Flankenpfeilern Modelle
traditioneller Haustypen mit deren
charakteristischen Dachformen (Abb.
11); Denkmäler und Grabstätten werden an mehr oder weniger passenden
Stellen mit Applikationen charakterisAbb. 14. Hemmungsloser
tischer Bauteile und Baudetails traditiRegionalismus scheut auch
oneller Architektur geschmückt; Vernicht vor der Vereinnahmung
kaufsbuden, Restaurants, Tankstellen,
der unvermeidlichen indoneBusstationen und sogar Müllcontainer
sischen Befreiungsdenkmäler
markieren ihre regionale Zugehörigkeit
zurück: Die martialische
mit aufgesetzten Dächern traditioneller
Siegessäule von Brastagi
Wohnhäuser und Speicherbauten (Abb.
wächst aus einem betonierten
12); Verwaltungsbauten der Regierung
Karo-Batak-Wohnhausmodell.
16
Abb. 15. In der Toba-Region
werden die Grabmonumente
von Wohnhausmodellen
in traditioneller Bauform
geziert. Manchmal findet sich
eine ganze Gruppe davon auf
einer Gruft (Grabstätte bei
Pangururan).
und öffentlicher Einrichtungen werden
als überdimensionierte Modelle traditioneller Wohnhäuser errichtet (Abb.
13); und auch die in ihrer unfassbaren
Hässlichkeit unübertrebaren obligatorischen Befreiungsdenkmäler zeigen
ihre Zugehörigkeit zum entsprechenden Distrikt unmissverständlich durch
applizierte Details traditioneller lokaler
Bauformen (Abb. 14).
Abb. 16. "Die Pyramide", eine
Grabstätte in Form eines
kolossalen steingemauerten
Kegels mit einem vorgelagerten halbierten Toba-Wohnhaus als Eingang (Samosir).
Balustraden, welche wie die Balkonbrüstungen an den Frontseiten der
Wohnhäuser ausgebildet sind; Modelle
traditioneller Wohnhäuser krönen die
Grabplatten, und manchmal tragen die
Grabbauten Teile ganzer Siedlungsmodelle (Abb. 15).
Bisweilen führt die Sucht nach kultureller Identität in der architektonischen Expression bis an die äußersten
Grenzen des Zumutbaren, wie etwa
bei dem als "Die Pyramide" bekannten Grabdenkmal auf Samosir, das sich
als riesenhater steingemauerter Kegel
präsentiert, dem an der Frontseite ein
halbiertes Toba-Wohnhaus vorgesetzt
ist (Abb. 16).
Die Klassiker unter den Bautypen, die
ihre kulturelle Identifikation mit der
zugehörigen ethnischen Gruppe durch
Applizieren baulicher Charakteristika
lokaler Architekturtraditionen zu vermitteln suchen, sind im Batak-Land
zweifellos die Grabstätten. Die unzähligen hier allenthalben anzutreffenden
Grüte sind von den ortstypischen tra- Derartige Höhepunkte jenseitigen
ditionellen Dachformen bekrönt; Stu- Architekturverständnisses
werden
fenpyramiden werden angelegt mit auf Sumatra manchmal noch übertroffen von den Ausgeburten lokaler christlicher Sakralbaukunst.
Im hartnäckigen Bestreben der Kirche, sich den
Batak anzubiedern, die
noch vor einem Jahrhundert ihre kannibalischen Traditionen durch
das Verzehren von Missionaren gepflegt hatten,
entstehen beispiellose
kompositorische Synkretismen des vom obligaten
Stahlbetonskelettbau-geprägten anonymen indonesischen
Kirchentyps mit regionaltypischen Architekturformen. Die prestigeträchtigsten Elemente
des Standard-Sakralbautyps werden ohne Rücksicht auf konzeptionelle
17
Abb. 17. Mit dem Modell
eines halbierten traditionellen Toba-Wohnhauses
als Eingang erhält die in der
obligatorischer Stahlbetonskelettkonstruktion errichtete
indonesische Kirche den
ersehnten regionalen Touch.
Zusammenhänge durch Bauteile
lokaler Architekturtradition ersetzt:
Ebenso, wie anstatt eines Turmdaches hin und wieder das Modell eines
Wohnhauses aufgesetzt wird, findet
manchmal auch ein halbiertes traditionelles Wohnhaus als Kircheneingang seinen Platz (Abb. 17). Das endgültige Aufgehen in den Traditionen
der indigenen Baukultur erreicht die
christliche Sakralarchitektur schließlich mit Bauten, deren Charakteristik
vollständig vom Wohnbautyp kopiert
wurde, wie etwa bei der katholischen
Kirche von Pangururan (Samosir),
die zwar das zigfache Volumen eines
klassischen Toba-Wohnhauses aufweist, dennoch bis ins Detail sogar
dessen Eingangssituation nachbildet, auch wenn deshalb eine ergän-
zende behindertengerechte Rampe
angefügt werden musste, wodurch
das ursprünglich wohl angestrebte
Erscheinungsbild dann doch etwas
beeinträchtigt wird (Abb. 18).
In allen diesen Beispielen zeigt sich ein
verzweifeltes Streben nach regionaler
Zugehörigkeit, nach kultureller Identität, die im Zeitalter des global-uniformen Architekturschaffens die letzten
Stadien des Auflösungsprozesses zu
erreichen droht. Kultur – und dazu zählt
selbstverständlich auch die Architektur
– entwickelt sich aus einem bestimmten Umfeld von regionalen Umweltbedingungen und den Errungenschaften der indigenen Gesellschat. Importierte Kultur, entstanden und entwickelt
in einem anderen Umfeld, verliert ihre
Relevanz — vor allem,
wenn sie sich als weltweite Standardisierung
vor dem Hintergrund
wirtschatlicher Profitmaximierung erklärt.
Die globale Standardisierung der gebauten
Umwelt führt nicht nur
zum Verlust der kulturellen Vielfalt, sondern verhindert auch eine Weiterentwicklung lebendiger
Architektur. Ein derartiger Verlust der Vielfalt
von Architekturtraditionen wäre aber gleichbedeutend mit dem Verlust
aller kulturellen Identität:
Ein Szenario, in dem der
Niedergang der Baukul-
Abb. 18. Die katholische
Kirche von Pangururan (Samosir), errichtet als monströses
Modell eines traditionellen
Wohnhauses der Toba-Batak,
allerdings ausgestattet mit
allem Komfort westlicher
Zivilisation.
18
Anmerkungen:
Möglicherweise aufgrund dieses
vermeintlichen alten Anspruchs,
1 Der südostasiatische
sicherlich aber wegen ihrer
Archipel, auch als "Malaiischer
streng muslimischen GlaubensArchipel" bezeichnet, umfasst
haltung setzen sie sich bewusst
die zwischen dem Indischen und von den anderen indonesischen
Pazifischen Ozean gelegenen
Ethnien ab, die eine wesentlich
Großen und Kleinen Sundatolerantere Religionspolitik verInseln, Borneo, Sulawesi, die
folgen, wie dies insbesondere in
Molukken, die Philippinen und der Provinz Nordsumatra durch
Neuguinea, sowie viele weitere den großen Bevölkerungsanteil
kleine Inseln.
von Christen deutlich wird.
2 Nach offizieller Zählung
besteht die Republik Indonesien
aus 13.677 Inseln; ständig besiedelt sind allerdings weniger
als tausend davon (Quelle: Bill
Dalton: Indonesien-Handbuch.
Bremen 1985. S. 7).
3 Sumatra, die westlichste
der Sunda-Inseln, ist mit einer
Fläche von mehr als 425.000
km² die sechstgrößte Insel der
Welt und wird derzeit von etwa
46 Mill. Menschen bewohnt
(Quelle: City population.Population statistics. http://www.
citypopulation.de/IndonesiaCU.html).
7 Die Anlage von Siedlungen
und Städten in küstennahen
tief gelegenen Gebieten, wie
sie vor allem seit der Zeit des
europäischen Kolonialismus in
der Umgebung von Seehäfen
entstanden, war in traditionellen Baukulturen Indonesiens im
Allgemeinen nicht üblich. Die
Nachteile des Ignorierens dieser
Tradition zeigten sich dann auch
beim großen Tsunami im Jahre
2004, welcher die Küstensiedlungen in Aceh austilgte.
8 Üblicherweise werden die
Batak in eine Nord- und eine
Südgruppe eingeteilt, die sich
durch ihre Dialekte unterschei4 Der Ausdruck "wohlden. Zur Nordgruppe zählen die
temperiert" entspricht hier
Pakpak-, Dairi- und Karo-Batak,
der subjektiven Einstellung
zur Südgruppe die Mandailing-,
eines Bewohners gemäßigter
Angkola und Toba-Batak. Die
Klimazonen; ein im Tiefland
Simalungun-Batak nehmen
lebender Indonesier würde
eine Mittelstellung ein, wie
Temperaturen unterhalb von
sich dies auch deutlich in
etwa 25°C als unangenehm
Konstruktion und Erscheinung
kühl empfinden und ernstliche der traditionellen Architektur
Gesundheitsschäden befürchten. ausdrückt. (Zusammenfassende
Kurzdarstellungen über die Ba5 Die ethnischen Gruppen
tak: Achim Sibeth u.a.: Mit den
der Batak siedeln in den hoch
Ahnen leben. Batak. Menschen
gelegenen Regionen um den
in Indonesien. Stuttgart 1990.
Toba-See in Nordsumatra
Christoph Müller: Architekturtra(Provinz Sumatera Utara). Das
dition. Traditioneller Wohn- und
Kerngebiet der Minangkabau
Siedlungsbau in der Provinz
befindet sich im Hochland West- Nordsumatra. Wien TU Diss.
2005. Kap. 3.2. Stöhr 1976. Wie
sumatras (Provinz Sumatera
Anm. 6. S. 59f.
Barat).
6 Die Acehnesen (Achinesen,
Atjeher, Atschinesen; s. dazu:
Waldemar Stöhr (Hg.): Lexikon
der Völker und Kulturen. 3 Bde.
Braunschweig 1976. Bd. 1. S.
41 f.) waren bis gegen Ende
des 17. Jhds. das mächtigste
Volk auf Sumatra gewesen.
9 Der Artikel beschränkt sich
im Wesentlichen auf die Typen
der Wohnhäuser (Rumah) von
Karo-Batak und Toba-Batak, da
ein Einbeziehen anderer Bautypen den Rahmen des Beitrags
sprengen würde. Dennoch soll
hier angemerkt werden, dass
19
die Bautypen der Speicher
(Sopo) in ihrer architektonischen
Wertigkeit eine beinahe ebenso
große Bedeutung besitzen wie
die Rumah.
10 Indonesien ist eine der
durch Erdbeben am höchsten
gefährdeten Regionen der Welt.
11 Auf diesem Konzept der
Dreiteilung baut sowohl der
hinduistische als auch der
buddhistische Kultbau auf. In
Indonesien haben diese beiden
Religionen die Errichtung
zahlreicher bedeutender Sakralanlagen hinterlassen, bevor
die Islamisierung – in manchen
Gebieten auch die Christianisierung – die ursprünglichen
Religionen verdrängte.
12 Der Raum zwischen den
Pfählen des Unterbaus wird vor
allem bei den Wohnhäusern
der Toba-Batak für die Haltung
von Schweinen und Hühnern
genutzt. Die horizontalen
Aussteifungshölzer der
Pfahlbaukonstruktion dienen
dabei gleichzeitig als Gatter für
die Tiere.
13 Durch ein Eingraben der
Pfähle ergäben sich zwar
prinzipiell bedeutende Vorteile
für das statische System,
es entstünden jedoch noch
wesentlich gravierendere
Nachteile wegen des rasch
fortschreitenden Verrottens der
Steher, die im tropischen Klima
Sumatras durch das Ansaugen
von Bodenfeuchtigkeit binnen
kurzer Zeit verfaulen würden.
14 Neben den Schnürungsmustern kommen bisweilen
auch aufgemalte Ornamente
vor (wobei Rankengebilde sehr
beliebt sind) und manchmal
sogar szenische Darstellungen.
Oft lässt sich dabei jedoch
feststellen, dass derartiger
Dekor unter kolonialem
Einfluss entstanden ist (für die
Ornamentik in der Architektur
der Batak siehe: Andrianus G.
Sitepu: Ragam hias (ornamen)
tradisional Karo. seri: A. Kaban-
jahe 1980. Herlan Panggabean
(Hg.): Ornamen (ragam hias)
rumah adat Batak Toba. Medan
1997/1998. Samaria Ginting /
Andrianus G. Sitepu: Ragam hias
(ornamen) rumah adat Batak
Karo. Medan 1994/1995.
einer "Durchbiegung" des Firstes
zu sprechen; tatsächlich ist das
Hochziehen des Firstes an den
Giebelseiten ausschlaggebend,
wodurch der Prestigefaktor
der hoch empor ragenden
Giebelfronten eine beträchtliche
Steigerung erfährt. (Zu den
15 Verschiedene traditionelle
verschiedenen Arten von
Riten beziehen sich auf die
gebogenen Dachfirsten und
Vorstellung, dass der Dachraum ihrer Entwicklung in Indonesien
von den Ahnen bewohnt
siehe: Gaudenz Domenig:
wäre. Als Hinweise seien hier
Tektonik im primitiven Dachbau.
Zürich 1980.).
der im Dachraum befindliche
Opferplatz für die Stammeltern
18 In diesem Zusammenhang
bei den Toba-Batak erwähnt,
mag die Bedeutung des
oder der von einem Medium
in Trance vollführte Ritualtanz Wasserbüffels als Symbol für
Reichtum und soziales Prestige
bei den Karo-Batak, bei dem
in Indonesien erwähnenswert
durch das Berühren eines
sein. Gilt in anderen Regionen
Dachbalkens der Kontakt zu
des insularen Südostasien – beiden Geistern der verehrten
spielsweise bei den Toraja auf
Verstorbenen aufgenommen
Sulawesi – die Zurschaustellung
wird (Sibeth 1990. Wie Anm.
8. S. 49. Roxana Waterson: The einer möglichst großen Anzahl
Living House. An Anthropology von Wasserbüffelhörnern an
der Hausfront als Statussymbol
of Architecture in South-East
(Waterson 1990. Wie Anm. 15.
Asia. Oxford 1990. S. 227).
S. 140, 141), so bildet bei den
16 In den religiösen Vorstellun- Karo-Batak ein Wasserbüffelkopf
gen des von Indien beeinflussden prestigeträchtigen höchsten
ten Kulturraums symbolisiert
Punkt des Hauses über der
der mythologische Berg Meru
Giebelspitze.
das Zentrum des Universums
und die Achse der Welt,
19 Die Ausrichtung der Häuser
gegliedert in die Unterwelt mit ergibt sich einerseits aus der
den Höhlen der dämonischen
Anlage der Lüftungsöffnungen
"alten Götter", die mittlere
in den Giebelflächen des
Welt mit dem Lebensraum von Dachbereichs zur vorherrschenMenschen, Tieren und Pflanzen, den Windrichtung, also auf
sowie die überirdische Welt mit einer klimatechnischen Lösung,
den Sphären der himmlischen
andererseits auf symbolischWesen und Götterpaläste. (Zur
mythologischen Vorgaben.
Mythologie des Berges Meru
existieren zahlreiche Beschrei20 Zu den charakteristischen
bungen und Interpretationen;
Giebelbalkonen der Tobasiehe dazu beispielsweise:
Wohnhäuser vgl. Gaudenz
John Snelling: Buddhismus. Ein Domenig: "Consequences of
Handbuch für den westlichen
functional change. Granaries,
Leser. München 1991 (1London
granary-dwellings, and houses
1987). S. 52 ff).
of the Toba Batak". In: Reimar
Schefold / Gaudenz Domenig /
17 Durchbiegungen des
Peter Nas: Indonesian houses.
Firstes sind auch für andere
Tradition and transformation in
Baukulturen in Südostasien
vernacular architecture. Leiden
und Ozeanien charakteristisch,
2003. S. 81 ff.
beispielsweise für die Toraja auf
Sulawesi oder Baukulturen auf
21 Zur Raumaufteilung bei den
Neuguinea. Die gestalterischen Wohnhäusern der Toba- und
Intentionen betreffend ist es
Karo-Batak siehe Müller 2005
allerdings nicht ganz richtig, von (vgl. Anm. 8). Kap. 8.1.
20
22 Die Wohnhäuser der
Karo-Batak besitzen annähernd
quadratischen Grundriss und
entsprechen damit nicht dem
für größer dimensionierte
Holzskelettbauten angewandten
Langhaus-System, wie es
in anderen Bautraditionen
Südostasiens öfters auftritt; in
einem derartigen Fall hätte ein
einfaches Tragsystem additiv
in Längsrichtung angeordnet
werden können.
23 Siehe dazu: Sibeth 1990 (vgl.
Anm. 8). S. 56.
24 Entsprechend der kleineren
Dimensionen des Toba-Hauses
und der entsprechend geringeren Bewohnerzahl befindet sich
hier nur eine einzige Feuerstelle
anstelle von mehreren wie im
Wohnhaus der Karo-Batak.
25 Diese heute obligatorischen
Küchenanbauten an den
Rückseiten der traditionellen
Wohnhäuser der Toba-Batak
weisen sich durch ihre unbedarften Bauformen (einfaches
Satteldach – oder seltener
abgewalmtes Dach – mit
geradem First und simple Wandund Giebelverbretterung) als
Fremdkörper im architektonischen Gesamtkonzept aus,
auch wenn sie bei den jüngeren
Gebäuden gleichzeitig mit dem
Hauptbau errichtet werden.
26 Die Artikulation als "Hauptfassade" wird in vielen anderen
Baukulturen vor allem durch die
Positionierung des – in vielen
Fällen aufwändig gestalteten
und optisch durch Umrahmungen und flankierende Elemente
vergrößerten – Einganges an
der Frontseite erreicht.
27 Sumatra wurde 1825 von
den Niederländern in Besitz
genommen; als erstes Gebiet
im Batak-Land wurde 1835
Mandailing unterworfen.
28 Es soll hier erwähnt werden,
dass vereinzelt und sehr selten
auch aus Stein gehauene
Eingangstreppen auftreten, die
aber möglicherweise ebenfalls
Applikationen aus jüngerer
Zeit sind, wie etwa in Huta
Siallagan bei Ambarita (Samosir), wo die weithin bekannten
Steinskulpturen des Dorfplatzes
erst aus den 1930-er Jahren
stammen (Sibeth 1990 (vgl.
Anm. 8). S. 44).
29 Nias gehört ebenso wie das
Gebiet der Batak zur indonesischen Provinz Sumatera Utara.
Selbstverständlich hat die Insel
Nias durch ihre isolierte Lage
(120 km von der Küste Sumatras
entfernt) eine eigenständige
– und übrigens hoch interessante
– Entwicklung erfahren; in den
architektonischen Konzepten der
Baukunst von Nord-, Mittel- und
Südnias sind allerdings gewisse
Parallelen mit der indigenen Architektur der Hauptinsel Sumatra
vorhanden (zur Architektur von
Nias s. beispielsweise: Jerome
A. Feldmann: The architecture
of Nias, Indonesia with special
reference to Bawomataluo village.
Ph. D. Columbia University 1977.
Alain Viaro: Urbanisme et architecture traditionnels du sud de l'île de
Nias (Etablissements Humains et
Environnement Socio-culturel,
issue 21). 1980. Achmad Bagoes
Poerwono Wiryomartono:
Cosmological and spatiotemporal
meanings of a traditional dwelling
in South Nias, Indonesia. Aachen
Techn. Diss. RWTH 1989.
30 Die Positionierung dieser
Eingänge an einer der kurzen
Rundseiten der traditionellen
Häuser ist im Vergleich mit
der generellen Situierung des
Eingangs an den Langseiten
von Ovalhäusern völlig
unüblich und deutet auf eine
nachträgliche Veränderung
des Eingangskonzepts hin,
also auf das Hinzufügen eines
Eingangs mit prominenterem
Erscheinungsbild.
21
31 Es muss hier allerdings
angemerkt werden, dass die
Personenzahl im Haushalt einer
indonesischen Kleinfamilie doch
immer noch um Einiges höher
liegt als jene einer europäischen
Kleinfamilie.
32 Für die Umfunktionierung
von Sopos zu Rumahs siehe
Domenig 2003 (vgl. Anm. 20). S.
61 ff.
33 Die Erschließung der traditionellen Sopos erfolgte über
einen gekerbten Baumstamm
durch eine in den Dachraum
führende kleine Öffnung und ist
in dieser Art für einen Wohnbau
unbrauchbar.
34 Ursprünglich befanden sich
die Zugänge durch die Umwallung der Toba-Siedlungen nur
an deren Schmalseiten.
22
Karl R. Kegler
(Köln/Aachen)
Teil 1: Das Eigene und das Fremde
Zerbrochene Spiegel
Das "exotische Europa" und die Bauten der Nawabs von Oudh
Zwischen 1780 und 1856 entstanden in der nordindischen Stadt Lucknow
mehrere große Baukomplexe, die von den indisch-islamischen Herrschern
der Stadt in europäisch-klassizistischen Formen gestaltet wurden. Nach
dem indischen Aufstand, der in den Jahren 1857 und 1858 gegen die britische Herrschaft in Indien losbrach, wurden diese Bauten zum Thema einer
scharfen Polemik. Die britische Architekturkritik sah in der freien und nach
akademischen Maßstäben fehlerhaften Übernahme klassizistischer Formen durch die Herrscher von Lucknow einen Beweis für den Niedergang
der indigenen indischen Kultur und interpretierte sie als Rechtfertigung
für die britische Herrschaft über Indien.
Der erste Abschnitt – "Das Eigene und das Fremde" – betrachtet zunächst
die westliche Rezeption der europäisch-klassizistischen Bauten Lucknows,
die über Jahrzehnte durch ein Negativurteil bestimmt war, das sich aus
der politischen Interpretation des indischen Aufstands erklärt. Der zweite
Abschnitt – "Kopie und Synthese" – geht auf die Suche nach den Zusammenhängen für die positive Europarezeption in Lucknow und für die negative Kritik dieser Bauten in Europa. Es erweist sich, dass die Wahrnehmung
europäischer Stilformen und das Verständnis von Architekturkopien bei
der Übernahme klassizistischer Motive durch die Baumeister von Lucknow ein deutlich anderes war als das exakte und moralisch überhöhte Verständnis von Stilformen in Europa nach 1850.
http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-12079
Januar 2008
#1 "FremdSehen"
S. 23-41
schwachen und entarteten Dynastie?
Ich muß gestehen, daß ich mir immer
Im März 1858 erreichte William wieder am liebsten die Augen gerieben
Howard Russell als Korrespondent der hätte."2 (Abb.1)
Londoner Times die Stadt Lucknow im
Norden Indiens, um als Kriegsbericht- Russells Bericht steht nicht allein.
erstatter über den Feldzug der Armee Auch der Schweizer Kaufmann Ruutz
der East India Company gegen die Rees, der Lucknow im Jahr zuvor von
ehemalige Hauptstadt und Residenz der Residenz der britischen Statthalter
der Könige von Oudh zu berichten.1 überblicken konnte, zeichnet ein ähnDie Armee schlug ihr Hauptquartier liches Bild:
südlich der feindlichen Befestigungen
im Landsitz Dilkusha auf. Vom Dach "Auf der Statthalterschatsterrasse hatdieses schlossartigen Gebäudes ver- ten wir das ganze reizende Panorama
schate sich Russell einen ersten Über- der Stadt vor uns liegen. Die vergoldeten
blick über die Stadt.
Minarets, die reichen Kuppeln, die glänzenden Moscheen und Paläste, die Rei"Wenn ich heute daran denke, kommt hen regelmäßiger und dicht angefüllter
es mir vor wie ein Tagtraum, wie eine Häuser, waren unterbrochen und abgeFata Morgana aus Palästen, Minaret- löst von Gärten, Parkanlagen und von
ten, azurblauen und goldenen Kuppeln, Bäumen, die inmitten der Stadt und die
Kolonnaden, langen, wunderschönen Ufer entlang zerstreut umherstanden."3
Fassaden aus Pfeilern und Säulen und (Abb.2)
flachen Dächern – eine Märchenstadt,
die sich aus einem friedlichen Meer Beide Berichte lassen das Bild eines
üppigster Vegetation erhebt. So weit der reichen, malerischen und märchenBlick reicht, nichts als [dieses] Meer, haten Orients entstehen. Es sind Bilund mittendrin schimmernde Mina- der aus der Distanz, Bilder, in denen
rette, goldene Dächer, die in der Sonne fremdartige Bauten, nicht Menschen,
glitzern, sternengleich funkelnde Türme die Hauptrolle einnehmen. Ein Bild
und Goldkugeln. Man sieht nichts Schä- von Indien ohne Inder.
biges oder Armseliges. Eine Stadt, größer
und prachtvoller als Paris, scheint vor Die Geschichte Lucknows in den Jahren
uns zu liegen. Ist dies hier Oudh? Ist dies 1857 und 1858 ist weniger idyllisch als
die Hauptstadt einer halbbarbarischen die Zitate von Russell und Rees ahnen
Rasse, errichtet von einer ruchlosen, lassen. Lucknow war zu dieser Zeit
einer der Brennpunkte
des indischen Aufstandes, der weite Teile Nordindiens erfasste und
die britische Herrschat
auf dem Subkontinent
grundlegend gefährdete.
Im Norden Indiens tobte
ein Kolonialkrieg. 1856
war Wajid Ali Shah, der
letzte der Könige von
Oudh, welche die Provinz
offiziell als "Nawabs" (als
Stellvertreter) der Mogulkaiser in Delhi regierten,
von den Briten wegen
"schlechter Verwaltung"
abgesetzt und sein Staat
von der East India Company (EIC) annektiert
worden. Dieses Vorgehen war eine von mehreren Ursachen für die
Erhebung, die im Mai
1857 unter den indischen
Teil 1: Das Eigene und das Fremde
Abb. 1. Blick aus der
Martinière auf Lucknow.
Das schlossartige Gebäude
der Martinière befindet sich
wenig weiter nördlich vom
Landschloss Dilkusha, wo
William Russell seine ersten
Beobachtungen notierte. Die
wiedergegebene Aussicht
ist mehr oder minder ein
Phantasiebild. Die große
Kuppel am rechten Bildrand
soll möglicherweise die Shah
Najaf Imambara darstellen,
hat aber wenig Ähnlichkeit
mit Gebäude (vgl. hier).
Undatierter Stich (ca. 1858),
Quelle möglicherweise The
Illustrated London News.
24
Abb. 2. Stich aus der Illustrated Times vom 23. Januar
1858. Auch dieses Bild ist
eine freie Interpretation der
Stadt. Die beiden Minarette
am rechten Bildrand sollen
möglicherweise die Asafi
Moschee darstellen, die zum
Komplex der Bara Imambara
gehört (vgl. Abb. 8). Bei einem
Blick von der Residenz nach
Westen müssten sie allerdings
auf der linken Bildseite liegen.
Truppen der EIC als Meuterei ausbrach
und sich schnell zu einem allgemeinen antibritischen Aufstand in Nordindien ausweitete.4 Mit den meuternden
Truppen vereinigten sich Gefolgsleute
des ehemaligen Herrscherhauses und
breite Kreise der Bevölkerung.
Diese Ereignisse bilden den historischen Rahmen für ein eigentümliches
Stück Architekturgeschichtsschreibung:
in der nordindischen Stadt begegneten
die Europäer einer Architektur, die seit
Jahrzehnten von europäischen Formen beeinflusst war; ihre Autraggeber
waren indische Herrscher, die aus einer
spezifischen Konstellation von Grün-
den Bauten in europäischem Stil errichten ließen und Elemente der europäischen Architektur nach ihren Bedürfnissen abgewandelt hatten. Nach dem
Sieg der Briten erfuhr diese europäischindische Architektur ein Schicksal, das
dem der Aufständischen ähnlich war:
die britische Architekturkritik fällte ein
stilkritisches Vernichtungsurteil, das
bis heute Betrachtung und Wertung
dieser historischen Architektur beeinflusst. Diese Wertung der Architektur
Lucknows ist eine harte und negative
Reaktion auf die Übernahme europäischer Architekturformen in einem
außereuropäischen Kulturkreis. Die
Interpretation der "eigenen" europäischen Stilformen durch
eine indische Dynastie erschien – nach dem
indischen Aufstand – wie
eine Herausforderung.
Die europäischen Beobachter reagierten mit
einer fundamentalen Kritik, die die kulturelle Distanz zu der Gesellschat,
welche die europäischen
Vorbilder übernommen
hatte, nicht allein wiederherstellte, sondern noch
vergrößerte.
Diese Negativwertung der
Architektur von Lucknow
kann nicht losgelöst von
den Ereignissen der Jahre
1857 und 1858 betrachtet werden, die mit einem
Schlag die Schauplätze
der Kämpfe und die Bauten von Lucknow einem
europäischen Publikum
Abb. 3. Oudh im Jahr 1848,
umgeben vom Territorium
der EIC. Bearbeitete Karte
aus: Charles Joppen: Historical
Atlas of India. London 1907.
25
bekannt machten, das wie gebannt auf
die Ereignisse in Indien blickte. Das
militärische Vorgehen der Briten gegen
die indischen Insurgenten, das mit einer
Woge europäischer Überlegenheitsgefühle einherging, erzeugte den Kontext
für die spätere Rezeption der Architektur Lucknows. Die Bauwerke der
Stadt wurden in der Folge nicht mehr
als Schöpfungen eines orientalischen
Hofes gesehen, der sich Formen der
westlichen Tradition zu eigen gemacht
hatte, sondern als Zeichen für den Niedergang einer überlebten Kultur gedeutet. Die vermeintliche Dekadenz der
Herrscher von Oudh, welche die Briten
in ihren "entarteten" Bauten bestätigt
sahen, wurde zu einem nachträglichen
Argument für die Annexion des Staates.
Diese besondere Rezeptionsgeschichte
spiegelt ein Umfeld von Gewalt und
Konfrontation, das durch die Kämpfe
von 1858 gegeben war und in mehrfacher Weise eine Eskalation kolonialer
Machtausübung darstellt; es kann bei
der Betrachtung der hier zu besprechenden Bauten daher nicht ausgeblendet werden. Die britische Reaktion, die
unmittelbar nach dem militärischen
Sieg in einem Strafgericht über Leben
und Tod von Beteiligten oder auch nur
Verdächtigen entschied, verlängerte sich
Jahre nach den Ereignissen zu einem
Urteil über Wert und Unwert der architektonischen Schöpfungen Lucknows,
das zwar weniger blutig war, aber von
einem ähnlichen Gefühl europäischer
Überlegenheit5 getragen wurde.
Eine Auseinandersetzung mit den Bauten von Lucknow darf aber auch nicht
die eigenen Voraussetzungen übersehen, aus denen vor 1856 in Lucknow
eine bemerkenswerte indisch-europäische Stilsynthese entstanden war. Die
zwei Teile dieser Studie beschreiben
deshalb eine doppelte Spiegelung. In
einer ersten Phase rezipierten die Fürsten von Oudh vor den Ereignissen des
indischen Aufstandes europäische Stilformen und verwendeten sie mit spezifischen Anpassungen für ihre Bauten. In
einer zweiten Phase wurde dieses Spiegelbild europäischer Kultur von europäischen Beobachtern wie durch einen
verfremdenden Zerrspiegel wahrgenommen, der durch die Interpretation
des indischen Aufstandes deformiert
und eingefärbt war. Dieses Zerrbild hat
bis in die zweite Hälte des 20. Jahrhunderts die Wahrnehmung der Architek26
tur von Lucknow dominiert. Es ist ein
Grund dafür, dass die "europäisch"klassizistischen Bauten der Nawabs
von Oudh über Jahrzehnte hinweg zerstört und vernachlässigt worden sind.
– Heute bleiben wenige Reste und Ruinen: zerbrochene Spiegel.
Lucknow und das Selbstbild der
Briten in Indien
Hätte man um 1900 einen britischen
Kolonialbeamten oder Offizier gebeten, die Orte in Indien zu benennen,
die von besonderer symbolischer
Bedeutung für die britische Herrschat
seien, so hätte Lucknow ohne Zweifel
einen der ersten Plätze eingenommen.
Diese besondere Bedeutung Lucknows
für das Selbstverständnis des Kolonialregimes erklärt sich aus den militärischen Ereignissen während des indischen Aufstandes und ihrer politischen
Ausdeutung. Während zu Beginn der
Erhebung 1857 Delhi bald in die Hand
der Aufständischen fiel und die Stützpunkte der Briten in ganz Nordindien
in großer Zahl eingenommen wurden,
hielt die britische Residenz in Lucknow, verteidigt durch 1500 britische
Soldaten, loyale indische Unterstützer und bewaffnete Zivilisten,6 über
fünf Monate von Anfang Juli bis Ende
November 1857 einer Belagerung
durch einige Zehntausend indischer
Kämpfer stand. Ein Versuch der Briten, den Ring um die Residenz im September 1857 aufzusprengen, scheiterte.
Von außen zur Befreiung der Belagerten herbeigeeilte Truppeneinheiten
mussten sich nach starken Verlusten
selbst in die Residenz zurückziehen
und wurden nun ebenfalls belagert.
Als sich im November schließlich eine
weitere britische Armee den Weg nach
Lucknow freikämpte, entwichen die
Belagerten nachts unbemerkt aus der
Residenz zu den Truppen am Stadtrand, welche sich darauhin wieder
zurückzogen.
Im März 1858 kehrten die britischen
Truppen verstärkt durch Kontingente
der verbündeten Sikhs und Nepalesen
wieder zurück. Nun standen 58.000
Soldaten unter britischem Kommando
gegen 36.000 indische Kämpfer.7 Die
Stadt wurde erneut zum Schlachtfeld
und diesmal siegten die Briten; auf beiden Seiten wurde erbittert und brutal
gekämpt. Eine neuere indische Studie
Abb. 4. "The British Lion's
Vengeance on the Bengal
Tiger" Stich aus Punch, or the
London Charivari 22. August
1857. Die Zeichnung drückt
die Stimmung in Großbritannien nach Ausbruch des
indischen Aufstandes aus. Vgl.
Anm. 9.
schätzt, dass während der Gefechte um
Lucknow 1857 und 1858 etwa 20.000
indische Kämpfer getötet wurden; es
gab keine Gefangenen.8
feld für die Quartiere der Garnison zu
schaffen, die die Paläste der ehemaligen Könige, aber auch die großen
Moscheen der Stadt besetzte.11
Nach dem militärischen Sieg gegen
die Insurgenten demonstrierten die
Briten ihren Herrschatsanspruch
(Abb.4) mit exemplarischen Strafen
gegen wirkliche und imaginierte Gegner.9 Das Ausmaß dieser Reaktion
wird durch die Tatsache deutlich, dass
die siegreichen Truppeneinheiten
"teilweise die Männer ganzer Dörfer
summarisch exekutierten, weil ihnen
Unterstützung der Rebellen nachgewiesen oder unterstellt wurde."10 (Abb.5)
Die britische Vergeltung richtete sich
auch gegen Bauten und Stadtstrukturen. Große Teile der am dichtesten
bebauten Viertel Lucknows wurden
systematisch abgerissen, nachdem die
Briten die Kontrolle wiedergewonnen hatten, um ein Vor- und Schuss-
Für ganz Indien hatte die Niederschlagung des Aufstandes schließlich weitreichende politische Auswirkungen.
1858 wurde das Regime der EIC durch
die direkte britische Herrschat ersetzt;
Indien avancierte zur britischen Kronkolonie. 1876 wurde Königin Victoria
als Kaiserin von Indien proklamiert,
eine bewusste Inszenierung, welche
die britische Kolonialherrschat als
Fortführung der Mogul-Dynastie legitimieren sollte.
Abb. 5. "Outlying pickets
of the Highland Brigade".
Illustration aus: William Forbes-Mitchell: Reminiscences
of the Great Mutiny 1857-59.
Wie Anm. 16. Das Bild, das
ohne weiteren Kommentar
einen "Außenposten" des 93.
Highland-Regiments zeigt,
illustriert die Beiläufigkeit
drakonischer Strafaktionen
gegen wirkliche Insurgenten
oder Verdächtige.
27
Im Kontext dieser historischen Begebenheiten erhielten die Ereignisse in
Lucknow beinahe unmittelbar eine
geradezu paradigmatische Bedeutung
für das Selbstverständnis der Briten
in Indien. Im militärischen Sieg über
Abb. 6. Seite aus The Illustrated London News vom 29. April
1859. Das obere Bild zeigt
die Einfassung des Sikander
Bagh, wo schwere Kämpfe
stattfanden. Das untere Bild
zeigt das beschädigte Bailey
Guard Gate der Statthalterschaft. Beide Darstellungen
wurden nach Photographien
Felice Beatos gestochen.
die zahlenmäßige Übermacht der
revoltierenden Inder sahen die Briten
ihre zivilisatorische wie charakterliche Überlegenheit als Kolonialherren
bestätigt. Die traumatische und verlustreiche Belagerung, der erfolgreiche Widerstand und schließlich die
Wiedereroberung von Lucknow avancierten zu einem zentralen Bestandteil
der kolonialen Erinnerungskultur. Die
Kämpfe in Indien erregten dem damaligen imperialistischen Geist entsprechend aber auch die Gemüter in Europa. Neben vielen anderen berichteten
Karl Marx und Friedrich Engels über
die Ereignisse.12 Illustrierte Zeitschriften wie die Illustrated Times die Illustrated London News informierten mit
Stichen, die teils auf Skizzen, teils auf
photographischen Aufnahmen, teils
auf Erfindung basierten, über jedes
Detail (Abb.6). Das Interesse, das den
Kämpfen in Lucknow in Europa entgegengebracht wurde, führte zudem
dazu, dass unmittelbar nach den Ereignissen 1858 photographische Aufnahmen der zerstörten Stadt und der Bauten Lucknows entstanden. Noch im
April 1858 reiste Felice Beato, ein Pionier der Photoberichterstattung, nach
Lucknow und dokumentierte die teilweise zerstörte Stadt in Aufnahmen,13
die nur wenig später in London ausgestellt wurden.14 Weitere Photographen
folgten. Diese Photographien stellen
28
heute eine erstrangige
baugeschichtliche Quelle
dar. Sie sind umso wertvoller, da das dicht
bebaute Stadtzentrum
rund um die Residenz
und die von den Briten später als Garnison
genutzten Palastbauten
in der Folge der Aufstandes eingeebnet wurde –
eine Maßnahme die gleichermaßen dem militärischen Sicherheitsbedürfnis der Kolonialherren
wie der Abstrafung der
an der Rebellion beteiligten Bevölkerung diente.15
Das Interesse der Öffentlichkeit manifestierte sich
in gleicher Weise in der
Nachfrage nach autobiographischen Berichten,
die teils unmittelbar auf
die Ereignisse von 1857
folgten, teils noch Jahrzehnte später veröffentlicht wurden.16
Allein der zitierte Bericht des Schweizers Ruutz Rees erlebte 1858 drei englischsprachige Auflagen und wurde
noch im selben Jahr als Selbsterlebtes
während der Belagerung von Lucknow
ins Deutsche übertragen. In Lucknow,
dem Schauplatz der Kämpfe, wurden
die zerschossenen Bauten der Residenz
bewusst nicht wieder aufgebaut, sondern als Denkmal der Belagerung als
Ruine belassen. Reiseführer zu diesen
Stätten schilderten die einzelnen Phasen der Belagerung und den britischen
Sieg immer wieder in allen Einzelheiten. Die Ruinen der Residenz sind bis
heute eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Stadt.17
Auch andere Schauplätze der Kämpfe
von 1857/58 wurden zunächst primär
als Denkmäler britischer Tapferkeit
verstanden. Im Gegensatz zur späteren
stilistischen Architekturkritik an den
Bauten der Nawabs von Oudh legten
die literarischen Berichte von Augenzeugen der Belagerung den Schwerpunkt auf das erlittene Leid, auf Entbehrungen, Entschlossenheit und Heldenmut der eingeschlossenen Briten;
sie sagten wenig über die Architektur
Stadt, noch weniger über die Belagerer oder die friedlichen Bewohner. Die
Chronisten konzentrierten sich auf sich
selbst. George Harris A Lady's Diary of
the Siege of Lucknow würdigte etwa die
indischen Gegner oder die umgebende
Stadt an keiner Stelle einer genaueren
Beschreibung. Gleiches gilt für den
autobiographischen Bericht der Julia
Selina Inglis, die als Frau eines britischen Offiziers die Belagerung in der
Residenz miterlebte. Nur ein einziges
Mal berichtet die Chronistin unscharf
von der Expedition einer britischen
Abteilung, die sich vor der Belagerung
Eingang in die "beautiful gardens of the
Kaisar Bagh" der entmachteten Herrscher erzwang, "probably the first Europeans who had ever done so"18. Martin
Richard Gubbins, der als Finanzbevollmächtigter des britischen Residenten (Sir Henry Lawrence) die Verhältnisse in der Stadt und in der Provinz
genau kannte, gab über die Architektur der Stadt in seinem umfangreichen
Bericht in einer einzigen Passage nicht
mehr als ein allgemeines, aber positives Urteil: "the city of Lucknow is beyond doubt very beautiful and surpasses
every city in India that I have seen."19
Abb. 7. "General View of
Lucknow". Stich aus der
Illustrated Times 02.01.1858.
Das beherrschende Gebäude
in der Mitte ist das Rumi
Darwaza (KonstantinopelTor). Rechts davon die Türme
der Asafi Moschee, die zum
Komplex der Bara Imambara
gehört. Am linken Bildrand
ist die mittelalterliche
Steinbrücke über den Gomti
zu erkennen. Daneben die
Mosche in der Festung Macchi
Bawan. Im Vordergrund Teile
der Parkanlage des Daulat
Khana Palastkomplexes.
Die Liste lässt sich ergänzen: Edward
Hilton, der als 17-jähriger die Belagerung der Residenz erlebte, berichtete
etwa von der Plünderung eines Hauses der Königsfamilie. Dessen europäische Architektur erschien ihm dabei so
selbstverständlich, dass er nicht auf sie
einging.20 Auch William Forbes-Mitchell, als Soldat beteiligt an der Einnahme des Königspalastes, schildert
zwar die Plünderung und Zerstörung
der Anlage, ihre europäischen Architekturformen sind ihm aber keinen
einzigen Hinweis wert.21
vom Orient so wenig entsprach, dass
sie sie nicht eigens hervorhoben, ist
bemerkenswert. Das Eigene in der
fremden Kultur wurde in der Situation der unmittelbaren Gefahr nicht
wahrgenommen, das Fremde umso
stärker herausgestrichen. Wie die zeitgleichen Stiche in europäischen illustrierten Zeitungen, welche, sofern sie
nicht nach photographischen Vorlagen
gearbeitet waren, die Ansichten von
Lucknow zu orientalischen Phantasiestädten verfremdeten (Abb. 1, 2, 10),
hoben die Augenzeugen der Ereignisse
den orientalischen, nicht den europäischen Charakter der Stadt hervor.
Anders ist die Wahrnehmung Howard
William Russells. Der Korrespondent
der Times, der für seine kritischen
Berichte von den Kriegsschauplätzen
des 19. Jahrhunderts bekannt wurde,
ging mehrfach auf die Bauten Lucknows ein und zog aus ihnen seine eigenen Schlüsse. Der Zweifel an der Darstellung der Könige von Oudh als dekadenter und barbarischer Dynastie, den
Russell angesichts der eingangs zitierten märchenhaten "Vision" der Stadt
empfand, spricht für ein kritisches
und nachdenkliches Urteil. Russells
Darstellungen folgen einem erzählerischen Kompositionsprinzip, das er als
erfahrener Berichterstatter mehrfach
einsetzte: aufmerksame Schilderungen
von Städten, Schauplätzen und beobachteten Details sind Bilder der Ruhe,
die durch die Darstellung eines grausigen Kriegsgeschehens gebrochen
werden. Am Ende dieser Architekturbeschreibungen steht häufig ein Bild
von Gewalt, das durch den Gegensatz
umso intensiver hervorscheint.
Dass diesen Zeugen der Belagerung
die europäisch beeinflusste Architektur von Lucknow entweder so selbst- Als der Berichterstatter der Times zehn
verständlich erschien oder ihrem Bild Tage nach seiner Ankunt in Lucknow
29
die Einnahme des Kaisarbagh-Palastes durch britische Truppen begleitete,
nahm er inmitten der Kamphandlungen ein keineswegs orientalisches, sondern dezidiert europäisches Gesicht
der Stadt wahr: das Bild gepflegter
Gärten, ausgestattet mit Laternen und
klassischen Statuen inmitten italienisch anmutender Bauten:
[…] "wir erreichten alle, atemlos
und lachend, den schützenden Torbogen, hinter dem sich ein weiterer
Hof befand, voller Statuen, Orangenbäume und Büsche, umgeben von italienisch anmutenden Palazzi […]
Man stelle sich einen Hof vor, groß wie
Temple Gardens, umgeben von verschiedenen Palästen oder jedenfalls reich
dekorierten Bauwerken mit Wandgemälden auf den blinden Fenstern und
mit grünen Jalousien und Rolläden über
den doppelt angeordneten Maueröffnungen. Im eigentlichen Hof sieht man
Statuen, Laternenpfähle, Springbrunnen, Orangengärtchen, Wasserleitungen und Pavillons mit metallisch schimmernden Kuppeldächern. […] Unter
den Orangenbäumen liegen sterbende
Sepoys. Die weißen Statuen sind rot von
Blut. An einer lächelnden Venus lehnt,
schwer keuchend und langsam verblutend, ein britischer Soldat." […]22
"Jeder der Höfe wirkt wie Ölgemälde
aus der Hand von Lewis23 oder David
Roberts.24 Alles ist voller Staub, und
Explosionen sind häufig. Wenn man
die Tuilerien, den Louvre, Versailles, Scutari,25 den Winterpalast mit
einer Entourage kleinasiatischer Hütten26 und einem Lustgarten im Rang
von Kew Gardens vermischen würde,
könnte dies in etwa eine Vorstellung des
Kaisarbagh-Palastes und der Gärten im
Innern vermitteln. Das Ganze ist offensichtlich italienisch; nur sind die HinduStatuen, welche italienische Vorbilder
nachahmen, abscheulich, lächerlich
und absurd. […] In der Nordwestecke
in einem dieser Höfe sind die Batterien
unserer Mörser in voller Aktion."27
Lucknow und die Nawabs von
Oudh
Lucknow ist eine der jüngsten Königsstädte in der an historischen Metropolen reichen Flussebene zwischen Ganges und Yamuna. Die Stadt liegt an einer
Biegung des Gomti, einem Nebenfluss
30
des Ganges, der gut dreihundert Kilometer weiter östlich in den großen
Strom einmündet. 1775 wird Lucknow Hauptstadt der Provinz Oudh als
Asaf ud Daula (reg. 1775-1798) seine
Residenz von Faizabad dorthin verlagert. Lucknow ist zu diesem Zeitpunkt
bereits ein Wirtschats- und Kulturzentrum, dessen Bevölkerungsmehrheit (damals wie heute) aus Hindus
besteht. Die Geschichte Lucknows als
Hauptstadt eines de facto unabhängigen Königreichs beschränkt sich somit
auf die gut achtzig Jahre zwischen 1775
und 1856. Während dieser relativ kurzen Zeitspanne realisierten die Nawabs
von Oudh das gewaltige Bauprogramm, das die europäische Architekturkritik nach Annexion des Staates zu
einer scharfen Kritik herausforderte.
Die Dynastie der Nawabs von Oudh
geht auf Saadat Khan (reg. 1722-1739),
einen persischen Immigranten am Hof
der Moguln zurück, der Anfang des
18. Jahrhunderts in hohe Ämter aufsteigt und die Schwäche der Zentralregierung in Delhi dazu nutzt, die erbliche Herrschat seiner Familie in der
von ihm 1722 übernommenen Provinz
zu begründen28. Oudh avanciert während des Zerfalls des Mogul-Staates zu
einer bedeutenden Macht in Nordindien. In der direkten Konfrontation
gegen die EIC scheitert eine Koalition
unter der Führung des Nawabs von
Oudh allerdings 1764 in der Schlacht
von Baksar. Nach der Niederlage findet Nawab Shuja ud Daula (reg. 17541775) gleichwohl zu einem politischen
Ausgleich mit der EIC und es gelingt
ihm sogar, seine Provinz im Bündnis
mit den Briten auf Kosten seiner nördlichen und westlichen Nachbarn zu
vergrößern. Unter der Herrschat seines Nachfolgers Asaf ud Daula (reg.
1775-1797) erfolgt immer deutlicher
die politische Neuorientierung der
Provinz Oudh von Delhi, dem früheren staatlichen und kulturellen Zentrum, hin zu Kalkutta, dem Zentrum
der britischen Herrschat in Indien.29
Auch direkte politische Eingriffe der
Briten sind spürbar. 1798 erzwingt die
EIC den Rückzug des designierten,
aber den Engländern feindlich gegenüberstehenden hronerben Vazier Ali
und ersetzt ihn durch den anglophilen Saadat Ali Khan (reg. 1798-1814).30
In der Folge nötigen die Briten den
neuen Herrscher 1801, die Hälte sei-
Abb. 8. Plan von Lucknow
mit den im Text erwähnten
Bauten. Kartengrundlage
entnommen aus: Frederick
Sleigh Roberts: Forty-one
Years in India. From Subaltern
To Commander-In-Chief.
London 1914. S. 198.
nes Territoriums an die EIC abzutreten.31 Als militärische Größe scheidet
Oudh damit endgültig aus. Die Provinz wird ein Garantiestaat unter britischem Schutz ohne außenpolitische
Ambitionen. Die EIC ist es auch, welche 1818 Nawab Ghazi ud Din Haider
(reg. 1818-1827) dazu drängt, sich zum
unabhängigen König zu erklären, um
die (nur noch formale) Unterordnung
der Provinz Oudh unter die Moguln
in Delhi zu hintertreiben. "Dazu fand
mit britischer Unterstützung eine höchst
eklektische Inthronisation statt, bei der
der nawab-wazir als küntiger padshah europäische und indische Herrschatssymbole vermengte."32 Auf Herrscherportraits posiert der König von
Oudh mit Krone und Hermelinmantel
über einem safranfarbenen indischen
Gewand.
Trotz der kontinuierlichen Schwächung des Staates durch die Einflussnahmen der ostindischen Kompanie
und ihres Statthalters in Lucknow33
avanciert die Hauptstadt des Königreiches Oudh nach 1800 zum bedeutendsten Zentrum islamischer Dichtung und
Hokultur in Nordindien. Diese kultu31
relle Blüte wird durch eine Reihe großer und ehrgeiziger Bauprojekte begleitet. Die höfische Prachtentfaltung kompensiert gewissermaßen den von den
Briten diktierten Mangel an politischen
Entfaltungsmöglichkeiten.
Mit der Verlagerung der Residenz
nach Lucknow entstehen so zwischen
1775 und 1852 vier Palastkomplexe,
die jeweils unterschiedlichen Konzeptionen folgen. Die erste dieser Palastanlagen wird ab 1775 im bestehenden mittelalterlichen Fort "Macchi
Bawan" errichtet, das eine steinerne
Brücke über den Gomti absichert. Asaf
ud Daula (reg. 1775-1797) gibt diese
Festungsresidenz zugunsten eines
neuen, nördlich gelegenen Residenzkomplexes auf, der eine unregelmäßige Komposition aus freistehenden
Landhäusern und Pavillons im europäischen Stil darstellt, die um Gärten
und Wasserbecken gruppiert sind. Zur
Gestaltung der Bauten dieses sogenannten
"Daulat-Khana"-Komplexes (vgl. Abb.8) nimmt Asaf ud Daula
die Dienste europäischer Fachleute in
Anspruch. Einer von mehreren Beratern ist der Ingenieur und zwischen-
Regierungszeit
Übersicht über die Regierungszeiten der Nawabs
von Oudh und bedeutende
Bauprojekte in Lucknow.
im Text erwähnte Bauten in Lucknow
im "islamischen" Stil
im "europäischen" Stil
Shuja ud Daula
(1754-1775)
–
Macchi Bawan Palast
Asaf ud Daula
(1775-1797)
Große (Asafi) Imambara
Asafi Moschee
Rumi Darwaza
Daulat Khana-Komplex
Begum Kothi
Vazier Ali a
(1797-1798)
–
–
Saadat Ali Khan
(1798-1814)
Lal Baradari b
Bara Chattar Manzil b
Dilkusha
Musa Bagh (Barowen)
Moti Mahal
Khurshid Manzil
Ghazi ud Din Haidar Saadat Ali Khan - Mausoleum
(1814-1827)
Khurshid Zadi - Mausoleum
Shah Nadjaf - Mausoleum
Chota Chattar Manzil b
Nasir ud Din Haidar
(1827-1837)
–
Chaurukhi Kothi b
[auch: Darshan Bilas]
Gulistam-i-Iram b
Roshan-ud-Daula-Kothi
[auch: Kaisar Pasind]
Muhammad Ali
Shah
(1837-1842)
Husseinabad Imambara
Sat Khande ("sieben Stufen")
Ahmad Ali Shah
(1837-1842)
–
–
Wajid Ali Shah
(1847-1856)
Kaisarbagh Imambara
Kaisarbagh (1848-1852)
Sikander Bagh
Moti Mahal (Torhaus)
a von den Briten abgesetzt
b Teil des Chattar Manzil-Komplex
zeitliche Hofarchitekt Antoine Polier,
ein Franzose, der auch im Dienst der
EIC stand.34 Eine weitere wichtige
Gestalt für die Vermittlung europäischer Architekturformen in Oudh ist
Claude Martin (1735-1800).35 Als Soldat der französischen Armee in Indien
wechselt Martin 1760 in den Dienst
der EIC und gelangt über Jahrzehnte
als Soldat, Handelsagent der Nawabs
sowie über Grundstücks-, Kredit- und
Handelsgeschäte zu großemReichtum.
In Lucknow errichtet Martin für sich
in einem eigenwilligen barock-eklektischem Stil das prächtig ausgestattete
Stadtpalais Farhad Baksh (vgl. Abb. 15,
25) sowie im Süden vor der Stadt die
schlossartige Residenz La Martinière
(auch: Constantia).36
entsteht eine zweite Stadt von Hofund Palastanlagen inmitten weitläufiger Gärten und Haine. Saadat Ali Khan
(reg. 1798-1814) errichtet nach Kauf
von Martins Stadtpalais Farhad Baksh
unmittelbar angrenzend einen terrassierten Palast (Bara Chattar Manzil).
Die Anlage wird von seinen Nachfolgern zu einem Baukomplex aus mehreren großen Gebäuden ergänzt, die um
Wasserbassins in einem zentralen Garten gruppiert sind (Teil 2, Abb. 17, 18).
Von diesem "Chattar Manzil" genannten Komplex führt eine breite Straße,
die sogenannte Hazratganj, nach
Süden zum Landsitz Dilkusha. Entlang
dieser Straße, die bei Festen, Inthronisationsfeiern oder bei bedeutenden
Besuchen zu zeremoniellen Prozessionen des Hofes genutzt wird, entstehen
weitere repräsentative Häuser für den
Herrscher, seine Frauen, die königliche Familie und die Würdenträger des
Hofes.
Während die Residenzbauten und –
gärten von Daulat Khana noch in Nähe
zur dichtbebauten "ungesunden"37 Altstadt erbaut werden, konzentrieren die
Nawabs nach 1800 ihre Bautätigkeit auf
ein offenes Gebiet, das im Osten an das Der letzte der Residenzkomplexe, der
eng bebaute Zentrum angrenzt. Hier zwischen 1848-1852 fertiggestellte
32
Kaisarbagh, folgt wieder einer völlig
anderen Konzeption. Ein riesiger, als
Lustgarten genutzter Innenhof von 200
zu 400 Metern wird durch eine einheitliche zweigeschossige Randbebauung
gefasst, in welcher der Hofstaat, Diener
und vor allem die zahlreichen Frauen
des Herrschers untergebracht sind
(Teil 2, Abb. 26). Im Zentrum des Gartenhofes befindet sich eine große Halle
(Kaisarbagh Imambara). Auf drei Seiten, im Westen, Osten und Norden, ist
der zentrale Hof nochmals von kleineren, architektonisch ähnlicher Weise
ausgestalteten Höfen umgeben, die
heute verloren sind. Diese kleineren
Abb. 9. Blick vom Landhaus
Höfe binden zwei beim Bau des KaisDilkusha nach Westen auf
arbagh schon bestehende palastartige
Lucknow. Wasserfarbenbild
Bauten ein: im Westen das schlossarvon Ezekial Barton, um
tige Gebäude der Roshan-ud-Daula1800-1820. In der grünen
Kothi38 (auch: "Kaisar Pasind" u.ä.), das
Auenlandschaft zwischen
als Residenz für eine bevorzugte Frau
Stadt und Dilkusha bauten
des Nawabs diente (Teil 2, Abb. 20-22);
die Nawabs nach 1800 eine
im Osten die sogenannte "Chaulakkhi
Folge von Residenzen und
Palästen im europäischen Stil. Kothie", in welcher weitere hochranDie Beischrift lautet: "View of gige Damen des Hofes untergebracht
waren.
the modern (European-built)
city of Lucknow taken from the
Park of the Vizier’s new Palace Die genannten Bauten wurden wie
die übrige Stadt aus Ziegelmauerwerk
of Castle Cool [=Dilkusha]".
© British Library, Asia, Pacific errichtet, das verputzt und mit Zierformen aus hochwertigem Stuck ornaand Africa Collections.
33
mentiert und farbig gefasst wurde.
Sandstein oder Marmor, welche in
Delhi und Agra als Baumaterialien
für die Bauten der Moguln verwendet
wurden, waren in Lucknow nicht verfügbar. Doch insbesondere ihre stilistische Besonderheit unterscheidet die
Bauten von Lucknow von den älteren
Herrscherarchitekturen in Delhi und
Agra. Während die Moscheen, Grabbauten, Imambaras39 oder die Hallen
für das traditionelle hronzeremoniell (Baradari), welche die Nawabs in
Lucknow errichten, durchweg einem
Stil folgen, der die Architektursprache der Moguln fortentwickelt,40 sind
die Bauten der königlichen Residenzen
fast durchweg in einem Stil errichtet,
der sich an englischen und europäischen Vorbildern orientiert.
Die Deutung des Eigenen im
Fremden
Es sind diese europäisch beeinflussten Architekturformen, die nach
der Annexion Oudhs Anlass für
eine scharfe Polemik europäischer
Betrachter darstellen. Banmali Tandam,41 aber vor allem Rosie Llewellyn-Jones in ihrer grundlegenden
Studie von 198542 haben die Zeug-
Abb. 10. Ansicht von Lucknow
aus Ballou's Pictorial Drawing
Room Companion 30.1. 1858.
Das Bild wirkt wie eine
Phantasieansicht und betont
den orientalischen Charakter.
Die auf dem Steilhang
thronenden Moschee hat
gleichwohl Ähnlichkeit mit
einer späteren Aufnahme von
Felice Beato, auf der auch ein
ähnlicher Bootstyp, allerdings
ohne den chinesischen Zierrat,
zu sehen ist. Möglicherweise
hatte der Künstler eine ältere
Darstellung vorliegen, die er
dann frei interpretierte und
erweiterte.
nisse dieser Architekturrezeption
akribisch zusammengestellt. Doch
auch vor dem indischen Aufstand von
1857/58 gibt es eine Reihe von europäischen Zeugnissen zur Architektur
Lucknows. In ihnen wiederkehrende
hemen sind die Enge und fehlende
Hygiene der orientalischen Stadt,
die Armut der Bevölkerung und ihr
Gegensatz zur Prachtentfaltung des
regierenden Nawabs.43 Gleichwohl ist
festzustellen, dass vor 1858 nicht nur
negative Urteile zu fassen sind. Der
Ausbau der Stadt im europäischen
Stil und vor allem die neue breite
Magistrale, die von Süden ins Zentrum führte, werden durchaus positiv gewürdigt.44 Eine farbige Darstellung des Künstlers Ezekial Barton um
1810 illustriert diese positive Wahrnehmung. Sie zeigt in der Ansicht
"of the modern (European-built) city"
den Blick auf den noch nicht fertiggestellten Chattar Manzil Komplex
(Abb.9). Die zitierte Beischrit setzt
die Übernahme europäischer Bauformen, die in eine parkähnliche Landschat eingebettet sind, mit Modernität gleich. Eine vergleichbar positive Wahrnehmung spiegelt sich noch
im Januar 1858, als Ballou's Pictorial
Drawing-Room Companion45 anlässlich der glücklichen Evakuierung der
britischen Residenz eine kursorische
Stadtbeschreibung druckt, die offenbar auf lexikalisches Wissen oder frühere Reisebeschreibungen zurückgeht. Obwohl der anonyme Redakteur
einen "want of taste" bei der Innen34
ausstattung konstatiert, hebt der Verfasser Lucknows europäische Bauten
eindeutig positiv von der orientalischen Altstadt ab:
"the traveller is struck by the broad
streets, handsome houses built in European style, and splendid mosques with
beautiful ornamented minarets and
cupolas of gilt copper. It has, upon the
whole, the appearance of an European
city." (Abb.10)
Vier Jahre später schlägt der britische
Architekturhistoriker und Indienkenner James Fergusson dann einen
grundsätzlich anderen Ton an. In seiner History of the Modern Styles in
Architecture formuliert Fergusson
1862 ein ästhetisches Vernichtungsurteil über die europäisch beeinflussten
Bauten Lucknows. Politische Konstitution und künstlerischer Ausdruck sind
für Fergusson zwei Seiten der selben
Medaille. Entsprechend vermengen
und verstärken sich in Fergussons Einschätzung architekturkritische, politische und rassistische Einschätzungen. Ein, so Fergussons Darstellung,
lebensuntüchtiger, korrupter und verschwendungssüchtiger Staat von Gnaden der Engländer, eine Kultur, welche
im verständnislosen Kopieren westlicher Vorbilder die eigenen Architekturtraditionen aufgibt, ohne das formale Regelwerk klassizistischer Architektur, die Fergusson primär als regelhaten Einsatz der Säulenordnungen
versteht, begreifen zu können, kann
nur architektonische Missgeburten
schaffen. Die damit unterstellte künstlerische Impotenz dient Fergusson zu
einer nachträglichen Rechtfertigung
der britischen Annexion:
"he kingdom of Oude was one of our
next creations. From the importance of
their relative position its sovereigns were
from the earliest date protected by us,
which means that they were relieved, if
not from all the cares, at least from all
the responsibilities of government; and
with the indolence natural to the Indian
character, and the temptations incident
to an Eastern Court, let to spend in
debauchery and corruption the enormous ravenous placed at their disposal. he result might easily be foreseen.
hings went on from bad to worse, till
the nuisance became intolerable, and
was summarily put to an end […]."46
"Of course no native of India can well
understand either the origin or motive
of the various parts of our Orders –
why the entablature should be divided
in architrave, frieze and cornice – why
the pillars should be a certain numAbb. 11. Fergusson griff zur
ber of diameters in height, and so on.
Illustration seiner Kritik auf
Fotos von Felice Beato zurück, It is, in fact, like a man trying to copy
an inscription in a language he does
die 1858 nach Eroberung
Lucknows entstanden. Beatos not understand and of which he does
not even know the alphabet. With the
Vorlage und der Stich aus
most correct eye and the greatest pains
Fergussons Buch zeigen hier
die durch die Kämpfe beschä- he cannot do it accurately. In India,
besides this ignorance of grammar of
digte Begum Kothi; vor dem
the art, the natives cannot help feeling
Haus sind britische Soldaten
that […] brick pillars ought to be thizu sehen. Der Kontext der
cker than the Italian orders generally
britisch-indischen Konfrontation bleibt so indirekt auch are, and that wooden architravs are the
worst possible construction in a climate
in Fergussons Illustrationen
where wood decays so rapidly, even if
ablesbar. Links Felice Beatos
Photographie, rechts Stich aus spared by the white ants. he conseFergusson 1873 (vgl. Anm. 46) quence is, that, between this ignorance
of the principles of Classic Art on the
S. 481, Abb. 276.
35
one hand, and his knowledge of what
is suited to his wants and his climate
on the other, he makes a sad jumble
of the Orders. But fashion supplies the
Indian with those incentives to copying
which we derive from association and
education; and in the vain attempt to
imitate his superiors, he has abandoned his own beautiful art to produce
the strange jumble of vulgarity and
bad taste we find in Lucknow and elsewhere."47
Fergussons Einschätzung stellt nun
nicht allein deshalb einen entscheidenden Markstein in der Rezeption
der europäischen Bauten der Nawabs
dar, da sie in scharfer Form eine Verbindung politischer und ethnisch-kultureller Gründe für die vermeintliche
Unfähigkeit indigener Baumeister,
klassisch-europäische Bauten korrekt
nachzuempfinden, produziert. Mit
Fergussons Statement verlagert sich
die Negativeinschätzung der kritisierten Architekturen zugleich von der
subjektiv berichtenden Ebene europäischer Reiseschritsteller oder Journalisten auf die Ebene professioneller Architekturkritik. Als Nestor der
Architekturgeschichte Indiens, der
im Jahr 1876 eine monumentale History of Indian and Eastern Architecture48 vorlegte, Autor einer umfassenden vierbändigen History of Architecture und vieler weiterer Schriten zur
Geschichte der Architektur gehört
Fergusson zu den einflussreichsten
Architekturhistorikern des 19. Jahrhunderts.49 Sein weitreichender Einfluss auf die Beschätigung mit der
indischen Architekturgeschichte mag
daran ermessen werden, dass der
Architekturhistoriker Jan Pieper noch
im Jahr 1977 seine Dissertation dem
Andenken Fergussons widmete.50
Fergussons Einschätzung wird leitbildgebend für die weitere Betrachtung.
1891 stellt Alois Anton Führer, der
deutschstämmige Direktor des Provinzmuseums in Lucknow, den vermeintlich dekadenten Stil der königlichen Bauten in einer ganz analogen
Weise dar:
"Lakhnâû, viewed from a distance, and
not too closely scrutinized, is one of the
most beautiful and picturesque cities of
India. […] But nowhere can we see more
markedly the influence of a depraved
oriental court and its politics upon art
and architecture than in Lakhnâû."51
Die Großbauten der Nawabs, die stilistisch der islamisch-nordindischen
Architekturform folgen, beurteilt Führer hingegen weniger streng. Auch
wenn sie, so Führer, an die Vorbilder
eines reinen Mogul-Stils in Delhi und
Agra nicht heranreichen können, würdigt der deutschstämmige Gelehrte die
Gebetshäuser und Mausoleen als Bauten "[which] though detestable in detail,
are still grand in outline."52
"he great Īmambârâ cannot, it is true,
compare with the pure examples of
Moghal architecture which adorn Âgrâ
and Delhî; but taken along with the
adjoining masjid53, the Husainâbâd
Imâmbârâ, and the Rûmî Darwâza, it
forms a group of buildings whose dimensions and picturesque splendour render
it to the most imposing in India."54
Es sind die indischen Bauten im klassizistischen Gewand, auf die sich Führers Kritik konzentriert.
"he remaining buildings of a later
period, whose style was avowedly and
openly copied from debased European
models, are unfit to be spoken of in the
same chapter as the earlier buildings.
All the mongrel vulgarities which were
applied in Vauxhall, Rosherville, and
the Surrey Gardens, took refuge in the
Qaisar Bâgh and Chhatar Manzil when
expelled from thence, as, for instance,
Corinthian pilasters under Muslim
domes, false venetian blinds, imitation
marbles, pea-green mermaids sprawling
over a blue sky above a yellow entablature, etc."55
elle Gutachten des "Archeological Survey of India" dar, das Führer für die
Nordwest-Provinzen und Oudh formulierte. Die vorgenommene Klassifizierung stute die europäische beeinflussten Bauten der Nawabs von Oudh
als Monumente ein, "which, from their
advanced stage of decay or comparative
unimportance, it is impossible or unnecessary to preserve."56 Kurz: als Bauten
ohne Denkmalwert. Mehr noch, nach
Führers Einschätzung sind die europäisch beeinflussten Bauten der späteren
Nawabs Nasir ud Din Haidar (18271837) und Wajid Ali Shah (1847-1856)
"the most debased examples of architecture to be found in India". Die stilistisch-politische Wertung der Architektur der Nawabs gewinnt im Gutachten des Archeological Survey eine quasi
rechtlich-offizielle Verankerung.
Dass in diese Einschätzung die eigene
Geschichtsdeutung miteinfließt, wird
deutlich, wenn Führer demgegenüber
die britische Residenz, Schauplatz der
Belagerung von 1857, als Denkmal von
höchster Wichtigkeit in der Kategorie
Ia klassifiziert: als ein Bauwerk also
"in respect of which [the] Government
must undertake the cost of all measures of conservation".57 Was den eigentlichen baugeschichtlichen Denkmalwert dieser Bauten ausmacht, die von
den Königen von Oudh für die Engländer in indischer Bautechnik und in
europäischen Formen errichtet wurden58 (also in genau der gleichen Weise
und in einem ähnlichen Stil wie die
kritisierten Bauten der königlichen
Hohaltung), expliziert Führer nicht,
sondern appelliert an ein allgemeines
Vorverständnis: "It is, however, far too
famous a place and too generally known
to require a detailed description."59
In späteren Veröffentlichungen – Reiseführern, Lexikas und wissenschatlichen Arbeiten – wird die von Fergusson und Führer vorgegebene Einschätzung zur communis opinio. Der Topos
der aus der Distanz beeindruckenden,
von Nahem aber billig und enttäuschend wirkenden Architekturstaffage wird immer wieder reproduziert.
Die französische Grande Encyclopédie
beschreibt die Stadt im Jahr 1886 in
folgender Weise:
Führers Einschätzung ist mehr als ein "De loin, elle parait féerique; mais,
Geschmacksurteil. Es stellt das offizi- malgré la beauté des monuments et
36
les larges rues percées par les Anglais,
l'interieur est malpropre et beaucoup
d'édifices sont de placages de médiocre
valeur esthétique."60
1890 liest man in der vierten Auflage
von Meyers Konversationslexikon:
"L.[akhnau] gewährt aus der Ferne
einen überraschenden Anblick, nahe
gesehen erscheinen Pracht und Glanz
aber zumeist als elendes Stückwerk
und Tünche."61
Noch 1959 betont Chambers's Encyclopaedia:
"he taste of the Nawabs was as degraded as their morals and administration,
most of their buildings serving merely to
exhibit the final debasement of the magnificent Mogul tradition;"62
Spricht aus dem letzten Zitat – wie
bei Fergusson – eine politisch beeinflusste Sichtweise, die im angeblichen
geschmacklichen Unvermögen der
Könige von Oudh den Niedergang
eines Staates diagnostiziert und damit
dessen Okkupation durch die britische
Kolonialmacht indirekt rechtfertigt,
verdeutlicht ein 1911 erschienener Reiseführer einen anderen Angriffspunkt:
Kritik, sondern auf die Verwendung
unedler Materialien, wo der Betrachter aus der Distanz Gold und Marmor
vermutet hatte. In ähnlicher Weise
bemerkt Henry George Keene im
Jahr 1896 "it is not so much the design
as the material that is so disappointing and so pregnant with premature
decay."64 Diese Enttäuschung korrespondiert mit einem märchenhat
überhöhten Bild des Orients, das die
exquisiten Marmor- und pietra-duraArbeiten des Taj Mahal ungeachtet
der unterschiedlichen lokalen Traditionen und Bauweisen zum alleinigen
Maßstab für alle indische Baukunst
erhob. Eine amerikanische Reisende,
die in den 1870er Jahren Lucknow
beschrieb, äußerte sich in entsprechender Weise enttäuscht, dass ein
Gartenpavillon aus dem Kaisarbagh
mit farbiger Glasschmelze und nicht
mit echten Karneolen, Achaten und
Smaragden (!) mosaiziert war:
"here are many things in Lucknow
that will not bear too close scrutinity.
he mosaic of this little pavilion where
we rest, is made of painted bits of gloss
instead of real cornelians, agates and
emeralds."65
Der Nachklang dieser kritischen Topoi
setzt sich bis in jüngste Arbeiten fort.
"he city, which extends for several Der US-amerikanische Architekturmiles along the river bank, seemed one historiker Giles Henry Tillotson stellt
mass of majestic buildings of dazzling 1989 fest:
whiteness, crowned with domes of burnished gold, white scores of minars, "In the hands of Lucknow's architects,
many of them very high, lent to the classical architecture became not a gramscene that very grace for which they are mar but a box of novelties with which
so famous. he whole picture was like a to trick out a building. hey picked up
dream of fairy land. […] A nearer view its forms without comprehending their
of these buildings; however, destroys all intrinsic significance or historical devethe illusion. he 'lamp of truth' burnt lopment."66
but, dimly, for the architects of Lucknow.You find on examination, that the Ebenso gewinnt die 2001 publizierte,
white color of the buildings, which pre- sonst kritische und reflektierte Arbeit
sented in the sunlight the effect of the von Banmali Tandam, die erstmals ein
purest marble, is simply white wash. umfassendes Inventar der Bauten der
he material of the buildings themsel- Nawabs von Oudh zusammengestellt
ves is stuccoed brick, and your taste is hat, einen pejorativen Unterton, wenn
shocked by the discovery that the gil- sich der Autor der Übernahme euroded domes, of perfect shape and appa- päischer Architekturmotive zuwenrently massive construction, which so det. Eine Vielzahl klassischer Formuch attracted your admirations, are men, "pillaged from European patternmere shells of wood, in many places books", und "nameless oddments from
rotten."63
the treasury of English and Continental architecture too countless to enuDas missbilligende Urteil gründet merate", seien, so Tandam, von den
sich hier nicht auf eine stilistische indigenen Architekten allzu bereit37
willig aber ohne tieferes Verständnis übernommen worden – "all these
were sedulously to be aped [!]"67. Die
damit indirekt formulierte Kritik, die
ganz mit der einhundert Jahre früheren Anschauung Fergussons übereinstimmt, verkürzt sich mit den Worten
Tillotsons auf den Vorwurf:
"he Lucknow architects aimed to copy
classical forms faithfully and got them
wrong […] their parody of classicism
was unintentional."68
Tillotson benennt mit dieser hese
zugleich eine zentrale Schwachstelle
seiner Argumentation: Um in der
Nachfolge von Fergusson ein Negativurteil in der Weise eines "gewollt und
nicht gekonnt" zu formulieren, ist den
Baumeistern von Lucknow die Absicht
Anmerkungen
1 Lucknow, Hauptstadt der
Provinz Oudh, liegt am Ufer
des Gomti, eines Nebenflusses
des Ganges (vgl. Abb.3). Die
Schreibweisen für "Lucknow"
und "Oudh" variieren; in der
deutschsprachigen Literatur
finden sich häufig auch die
Schreibweisen "Lakhnau"
und "Awadh". Dass hier die
eingebürgerte englische
Schreibweise verwendet wird,
hat den pragmatischen Grund,
dass der Großteil der Literatur
und wichtige Archive auf Englisch erschlossen sind. Dies gilt
insbesondere für die Recherche
im Internet. Lucknow ist heute
Hauptstadt des indischen
Bundesstaates Uttar Pradesh.
zu unterstellen, europäische Vorbilder
genau kopieren zu wollen. Ist diese Voraussetzung aber überhaupt zutreffend?
– Über die Intentionen der indischen
Baumeister ist bei Tillotsen wenig zu
erfahren. Quellen, die die hese einer
bewussten Nachahmung europäischer
Vorbilder erhärten, werden nicht vorgelegt. Die europäischen Bauten Lucknows werden weder von Fergusson
noch von Tillotson im Detail analysiert, noch die vermeintlichen Vorbilder aufgewiesen. Die zentralen Fragen, was, wie und mit welcher Absicht
kopiert wurde, bleiben damit unbeantwortet. Kurz: die diskriminierende
Wertung berut sich letztlich allein auf
ein stilkritisches Urteil, das Nutzungskontexte und Rezeptionsbedingungen
der europäisierenden Architekturformen in Lucknow außer Acht lässt.
4 Die eigentlichen Gründe
für den Aufstand verkennend
oder verschleiernd prägten die
britischen Kolonialherren den
Begriff "Indian mutinity"; sie
reduzierten damit eine von
weiten Teilen der Bevölkerung
getragene Erhebung auf die
Befehlsverweigerung ihrer
indischen Kolonialtruppen. Zum
neueren Forschungsstand zusammenfassend Michael Mann:
Geschichte Indiens. Vom 18. bis
zum 21. Jahrhundert. Paderborn
u.a. 2005. S. 100-104.
7 Archeological Survey of
India: The Residency, Lucknow.
Janpath, New Delhi 2003. S. 68.
8 Ebd. S. 75.
9 Nachdem im Juli 1857
300 europäische Frauen und
Kinder in der Stadt Cawnpore
von Aufständischen ermordet
worden waren, fühlten sich
die britischen Truppen nicht
mehr an die Regeln zivilisierter
Kriegsführung gebunden.
Die Brutalität des britischen
Vorgehens schildert Michael
Edwardes, der moderne Her5 Mike Davis beschreibt
ausgeber von Russells indischen
als mittelbare Folgen dieses
Reiseberichten in deutlichen
Überlegenheitsgefühls die verWorten: "the English threw
heerenden Hungerkatastrophen, aside the mask of civilization
die – mitverursacht und verstärkt and engaged in a war of such
durch die britische Kolonialpolitik ferocity that a reasonable parallel
– nach dem indischen Aufstand can be seen in our time with
2 Howard William Russell:
Oudh und andere weite Gebiete the Nazi Occupation of Europe
Meine sieben Kriege. Die
Indiens wiederholt heimsuchten. and, in the past, with the hell of
ersten Reportagen von den
Mike Davis: Die Geburt der Dritten the Thirty Years War." Michael
Schlachtfeldern des neunzehnten Welt. Hungerkatastrophen und
Edwardes: "The Mutinity and
Jahrhunderts. [gekürzte
Massenvernichtung im imperiaits consequences." In: Russell
deutsche Übersetzung]
listischen Zeitalter. Berlin 2004
1970. S. xiii-xxvii, hier S. xiv.
Frankfurt a.M. 2000. S. 162. Der (1London 2001; Late Victorian
Den menschenverachtenden
vollständige englische Text in:
Holocuausts). S. 35-68.
exemplarischen Strafen der
Ders.: My Indian Mutinity Diary.
Briten begegnet Howard Russel
Reprint ed. v. Michael Edwardes. 6 Unter diesen Zivilisten
mit deutlicher Kritik: "Alle diese
London 1970. S. 57-58.
befand sich der Schweizer
grausamen und unchristlichen
Ruutz Rees, von das obige
Foltermethoden in Indien
3 L.E. Ruutz Rees: Selbsterleb- Zitat stammt. In der Residenz
(beispielsweise Mohamedaner
tes während der Belagerung von befanden sich zudem etwa 500 in Schweinehäute einzunähen
Lucknow. Leipzig 1858. S. 207.
europäische Frauen und Kinder. und vor ihrer Hinrichtung mit
38
Schweinefett einzuschmieren
und ihre Leichen zu verbrennen,
oder Hindus zu zwingen, sich
zu verunreinigen) sind äußerst
schändlich und fallen letzten
Endes auf uns zurück. Es sind
Torturen von Geist und Seele,
auf die zurückzugreifen wir
kein Recht haben und die wir in
Europa auch nicht zu praktizieren
wagen." Russell 2000 (vgl.
Anm.2). S. 183. Der englische
Text Russell 1970. S. 161-162.
15 Oldenburg 1984 (vgl. Anm.
11). 31-42.
16 By a Staff Officer [Thomas
Fourness Wilson]: A diary recording the daily events during the
siege of the European residency,
from 31st May to 25th Sept.,
1857. London 1858 (Nachdruck:
London 2007). Adelaide Case:
Day by Day at Lucknow: A
Journal of the Siege of Lucknow.
London 1858 (Nachdruck:
Adamant Media 2005). Martin
10 Mann 2005 (vgl. Anm. 4).
Richard Gubbins: An Account of
S. 102.
the Mutinies in Oudh, and of the
Siege of the Lucknow Residency.
11 Veena Talwar Oldenburg.
London 1858. George Harris:
The Making of Colonial Lucknow. A Lady's diary of the siege of
1856-1877. Princeton 1984. In: Lucknow: written for the perusal
The Lucknow Omnibus. S. 36-37. of friends at home. London 1858
(Nachdruck: Aldershot 1997).
12 Karl Marx. "Der Aufstand in L. E. Ruutz Rees: A Personal
Indien". New-York Daily Tribune Narrative of the Siege of Lucknow
Nr. 5170, 14. November 1857.
: from its commencement to
In: Karl Marx/ Friedrich Engels: its relief by Sir Colin Campbell.
Werke. Bd. 12. Berlin (Ost)
London 1858. Julia Selina
1961. S. 308-313. Friedrich
Inglis: The siege of Lucknow:
Engels: "Der Aufstand in Indien". a diary. Leipzig 1892. William
New-York Daily Tribune Nr. 5443, Forbes-Mitchell: Reminiscences
1. Oktober 1858.
of the Great Mutiny 1857-59
In: ebd. S. 574-578.
- Including the Relief, Siege, and
Capture of Lucknow, and the
13 Auf die Fotokampagne
Campaigns in Rohilcund and
Beatos geht makaberer Weise die Oude. London, New York 1893
erste bekannte Aufnahme von
(Nachdruck: Delhi 1989). Die
Kriegstoten in der Geschichte der autobiographischen Berichte zu
Photographie zurück (Frances
den Geschehnissen in Lucknow
Fralin: The Indelible Image.
waren dabei nur ein Teil der litePhotographs of War. 1846 to the
rarischen Produktion im Umfeld
Present. New York, Washington
des indischen Aufstandes. P.J.O.
1985, 34 und Abb. 7, 8). In einer Taylor (Hg.): A Companion to the
Zeit, in der die Darstellung von
"Indian Mutinity" of 1857. Delhi
Gefallenen noch ein photogra1996 listet für das Jahr 1857
phisches Tabu war (es gibt keine fünfzehn und für das Jahr 1958
einzige Aufnahme von Toten
einundfünfzig veröffentlichte
des Krimkrieges), illustrieren die Memoiren auf; nach: David HarAufnahmen Beatos die Veränris: "Topography and Memory."
derung moralischer Normen in
Wie Anm. 14. Dort Anm. 4.
einem Kolonialkrieg, in welchem
die Gegner der Europäer nicht
17 Der aus den Ereignissen von
mehr als gleichwertig betrachtet 1857/58 abgeleitete Herrwurden.
schaftsanspruch manifestierte
sich bis zur Unabhängigkeit
14 David Harris: "Topography
Indiens im Jahr 1947 in einem
and Memory: Felice Beato's Pho- symbolischen Detail: während
tographs of India, 1858-1859.". überall im Empire der Union Jack
In: Vidya Pahejia (Hg.): India
bei Sonnenuntergang eingeholt
through the Lens. Photography
wurde, blieb in Erinnerung an
1840-1911. München, New York die heroische Verteidigung der
2006. S.119.
Residenz die Fahne über Lucknow
39
auch nachts aufgezogen, um
zu illustrieren, dass nichts die
britische Präsenz von diesem Ort
vertreiben könne. Rosie Llewellyn-Jones: Engaging Scoundrels.
True Tales of Old Lucknow. Oxford
2000. S. 152.
18 Inglis: The siege of Lucknow
(vgl. Anm. 16). S. 53.
19 Gubbins: An Account of the
Mutinies in Oudh (vgl. Anm. 16).
S. 392.
20 Edward H. Hilton: The
Tourists' Guide to Lucknow.
Lucknow 61907. S. 108-109.
21 William Forbes-Mitchell:
The Relief of Lucknow. Reprint:
London 1962. S. 132-141.
22 Russell 2000 (vgl. Anm.2).
S. 172-173. Der englische Text
Russell 1970. S. 100-101.
23 Gemeint ist wahrscheinlich
der Genremaler John Frederick
Lewis (1805-1876). Lewis war
bekannt für seine orientalischen
Bildthemen.
24 David Roberts (1796-1864).
Roberts malte orientalische,
antike und zeitgenössische
Stadtansichten im romantischen Stil.
25 Altertümliche Bezeichnung
für den asiatischen Teil von
Istanbul.
26 Wörtlich: "hovels worthy of
Gallipoli".
27 Meine Übersetzung. Der
englische Text in: Russell 1970
(vgl. Anm.2) S. 104.
28 Hierzu die hervorragende
Darstellung von Richard B.
Barnett: North India Between
Empires. Awadh, the Mughals
and the British 1720-1801.
Berkeley u.a. 1980. S. 23-41.
29 Ebd. S. 96-163.
30 Ebd. S. 233-236. Saadat Ali
Khan war der Bruder Asaf ud
Daulas.
31 Die Abtretung des Territoriums (jener Gebiete, die Shuja
ud Daula für Oudh gewonnen
hatte); erfolgte im Jahr 1801 als
Kompensation für Truppen der
EIC, die Oudh aus Steuermitteln
zu unterhalten hatte.
die alleinige weltliche Führung
der islamischen Gemeinde zu.
Hussein wird jedoch im Jahr
680 in der Schlacht von Kerbala
besiegt und getötet, womit
die Kontinuität der weltlichen
Herrscher unterbrochen wurde.
Wörtlich bedeutet Imambara
"Haus des Imam".
europäischen Architekturformen
Oudhs. Ebd. S. 604-605.
49 Hanno-Walter Kruft:
Geschichte der Architekturtheorie. München 2004 (11985). S.
383-385.
50 Jan Pieper: Die angloindische Station oder die
40 Vgl. Hermann Goetz: "The Ge- Kolonisierung des Götterberges.
nesis of Indo-Muslim Civilization Hindustadtkultur und Kolonial32 Mann 2005 (vgl. Anm. 4). S. – Some Archeological Notes." In: stadtwesen im 19. Jahrhundert
76.
Ars Islamica 1 (1934). S. 46-50. als Konfrontation östlicher und
Goetz fasst diese Entwicklung
westlicher Geisteswelten. Bonn
33 Der Statthalter ("resident") im späten 18. und frühen 19.
1977.
der EIC in Lucknow agierte in
Jahrhundert, die er als "real
einer Rolle zwischen Botschafter Indian" kennzeichnet, in der
51 A.[lois Anton] Führer: The
und Gouverneur. Als zweite
Monumental Antiquities and Infolgenden Weise zusammen
Gewalt neben dem König und
(S. 50): […] cupolas become
scriptions, in the North-Western
als Befehlshaber der britischen gigantic lotus buds, capitals and Provinces and Oudh. Described
Truppen hatte er in etwa die
consoles are turned into flowers, and Arranged. Allahabad 1891.
Rolle, die Pontius Pilatus in Rom lintels into friezes adorned with
Nachdruck: Delhi 1970. S. 265 f.
neben König Herodes ausfüllte. leaves, the forms of furniture
and other objects are broken up
52 Ebd. S. 266.
34 Polier war zuvor als
into shapeless masses of floral
Festungsbaumeister in der EIC
ornament, even men themselves 53 masjid = Moschee.
tätig. Rosie Llewellyn-Jones:
become unrecognizable through
A Fatal Friendship. The Nawabs, excess of finery, jewels and make 54 Führer 1891 (vgl. Anm. 51).
the British and the City of
up."
S. 266.
Lucknow. Oxford 1985. S. 160161. In: The Lucknow Omnibus.
41 Banmali Tandam: The
55 Ebd. S. 267
Oxford 2001.
Architecture of Lucknow and
its Dependencies 1722-1856.
56 Ebd. S. I.
35 Zu Martin: Rosie Llewellyn- A Descriptive inventory and an
Jones: A Very Ingenious Man:
Analysis of Nawabi Types. Delhi 57 Ebd.
Claude Martin in Early Colonial
2001. S. 187-192.
India. New Delhi 1992.
58 Llewellyn-Jones 1985 (vgl.
Anm. 37). S. 114. Zu den von
42 Llewellyn-Jones 1985 (vgl.
36 Vgl. die Photographie dieser Anm.37.) Insbes. S. 226-242.
Europäern genutzten Bauten in
Anlage von Felice Beato: http://
Lucknow cf. auch: Sten Nilsson:
www.flickr.com/photo_zoom.
European Architecture in India
43 Ebd. S. 227.
gne?id=660736&context=set1750-1850. London 1968. S.
16897&size=l
111-115 (Residency), 130-132
44 Ebd. S. 185.
(La Martinère). 59 Führer 1891
37 Llewellyn-Jones 1985 (vgl.
45 Die Zeitschrift stellt ein
(vgl. Anm. 51) S. 267.
Anm. 34). S. 182.
amerikanisches Pendent zur
60 La Grande Encyclopédie.
Illustrated London News dar.
38 Der Name geht auf den
Inventaire raisonné des sciences,
Erbauer Roshan ud Daula
46 James Fergusson: History of des lettres et des arts. Bd. 22.
zurück, der das Gebäude als
the Modern Styles of Architecture. Paris 1886. S. 739.
Wesir des Nawab errichtete.
London 1862. Hier zitiert nach
61 Meyers Konversationsder zweiten Auflage London
39 Imambaras sind Hallen,
Lexikon. Eine Enzyklopädie des
1873. S. 479.
die dem Andenken des Imam
allgemeinen Wissens. Vierte
Hussein gewidmet sind.
47 Ebd. S. 481f.
Auflage. Bd. 10. Berlin, Leipzig
Hussein, der dritte Imam, ist
1890.
nach schiitischer Vorstellung
48 James Fergusson: History of
der einzig legitime Nachfolger
Indian and Eastern Architecture. 62 Chambers's Encyclopaedia.
aus der Familie des Propheten
London 1876. Auch dort äußert New Edition. Vol. VIII. London
Muhammad. Damit stand ihm
sich Fergusson negativ zu den
1959. S. 716.
40
63 M.[irza] A.[mir] Beg: The
Guide to Lucknow, Containing
Popular Places and Buildings
Worthy of a Visit. Lucknow
6
1911 (11891). Nachdruck:
New Delhi, Madras 2000. S.
6-7. Beg schreibt die zitierte
Darstellung von Lucknow
einem "intelligent American
writer, who visited it in 1856"
zu (ebd.), diese Quelle ist nicht
identifiziert.
Abbildungsnachweis:
Abb. 1-7, 10, 11b: Sammlung
des Autors.
Abb. 9: British Library, Asia,
Pacific and Africa Collections.
http://www.collectbritain.
64 Henry George Keene: Keene's
handbook for visitors: Allhabad,
Cawnpore and Lucknow ; to
which is added a chapter on
Benares. Calcutta ²1896. S. 59.
65 Julia A. Stone: Illustrated India Its Princes and People. Upper
Central and Farther India, Up
the Ganges and Down the Indus.
Hartford 1877. Nachdruck: New
Delhi, Madras 2003. S. 293.
co.uk/collections/svadesh/textintro.cfm
Abb. 11a: Fotoalbum Dr. T.
Goldie-Scot of Craigmuie,
Moniave, Surgeon 79th Cameron
Highlanders (Fotoalbum mit
Aufnahmen von Felice Beato
41
66 G.[iles]H.[enry] R.[upert]
Tillotson: The Tradition of
Indian Architecture. Continuity,
Controversy and Change since
1850. New Haven, London 1989.
S. 12.
67 Tandam 2001 (vgl. Anm. 41).
S. 211.
68 Tillotson 1989 (vgl. Anm.
66). S. 17.
1858).
http://www.flickr.com/photos/
djgold/sets/16897/
42
Fedor Roth
(Aachen)
Zeichnungen hinduistischer
Baukunst in Indien
Fedor Roth stellt einen Ausschnitt aus seinen Architekturzeichnungen
hinduistischer Baukunst vor. Das Medium der Zeichnung dient ihm in der
impressionistischen Freude an Strukturen, Licht und Schatten als autonome Annäherung an das Schöne in der Architektur jenseits einer rationalen Durchdringung und Einordnung der gezeichneten Objekte.
http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-11974
Januar 2008
#1 "FremdSehen"
S. 43-50
Anmerkungen zu meinen
Zeichnungen hinduistischer
Baukunst in Indien
Die abgebildeten Skizzen sind meinen
Reiseskizzenbüchern entnommen und
zeigen einige der berühmtesten hinduistischen Baudenkmäler. Die hinduistische Baukunst und ihr zeichnerisches
Studium waren Anlass zu insgesamt
sieben Indienreisen, die ich in den vergangenen Jahren unternommen habe.
Mein Interesse an dieser Architektur
richtet sich auf das visuelle Erlebnis von
Komplexität und Monumentalität und
begleitet eine parallel zu meinen Reisen betriebene umfängliche Arbeit an
einem Zyklus von Architekturfantasien,
der sich die Erschaffung einer neuen
und persönlichen Formenwelt zum Ziel
gesetzt hat. Die indische Baukunst ist für
mich so etwas wie ein kongeniales Studienobjekt, in dem ich die unmittelbare
und nichtkognitive Erfahrung dessen
suche, was ich als das Seherlebnis architektonischer Schönheit allgemeingültig zu begreifen versuche und zugleich
bewundere: Eine höchst komplexe und
zugleich harmonisch geordnete Formwelt im Spiel des Lichtes. Dabei richtet sich mein Blick nicht auf die sogenannten architektonischen Eigenschaften oder Merkmale dieser Bauwerke,
also weder auf Funktion und Konstruktion noch die spezifische Symbolik der
indischen Götterwelt, sondern auf eine
Struktur im Sinne des schönen "visuellen Gesamtklangs“ der Formen. Ich
bin fasziniert von dem harmonischen
Gesamtbild dieser in sich höchst vielfältigen Formenwelt. Kunsthistoriker der
Vergangenheit, insbesondere Wölflin,
haben dieses Phänomen als Stil zu definieren versucht.
fizierender Blick, versucht jene visuellen Bedingungen zu erkunden, die in
uns beim Anblick eines Haufen von
Steinen plötzlich das Gefühl des Architekturschönen erwecken. Fernab von
ideologieträchtigen kunst- und kulturhistorischen Be-trachtungsweisen
suche ich mit der Zeichnung eine Art
Extrakt dieses Schönheitserlebnisses
zu gewinnen, um die darin gewonne
Erkenntnis schließlich in meinen eigenen Erfindungen zur schöpferischen
Anwendung bringen zu können.
Darin unterstützt mich der "weiche“
und reduktive Blick meiner impressionistisch-fleckenhaten Darstellung, die
über eine gewisse Verflüssigung und
Verallge-meinerung des Gesehenen
durch Abstraktion von der allzu konkreten Symbolik zu einer Wahrnehmung im Sinne eines 'interesselosen
Wohlgefallens’ an der 'reinen’ Formenvielfalt gelangen möchte. Zugleich verschat mir die malerische Sehweise bei
der Betrachtung meiner Skizzen ein
Feld gedanklicher Möglichkeiten, eine
Verbindung aus Realem und Vorstellbarem, das mir als Projektionsfläche
der Assoziation eigener Formgedanken dienen kann, mitunter sogar zur
Vorstufe eigener Formerfindung wird.
Der konträren Position dieser Art
von Architekturbetrachtung zu den
gegenwärtig vorherrschenden akademischen Bedeutungskategorien und
der durch sie konditionierten Wahrnehmungsweise bin ich mir bewusst.
Das zeichnerische Studium der hinduistischen Baukunst dient der Erforschung meiner puren "Augenlust“
in der ideologie- und symbolfreien
Betrachtung des Architekturschönen.
Zugleich suche ich darin die Befreiung von den zunehmend als Ballast
Das Zeichnen, insbesondere mein als empfundenen Traditionen der archimalerisch-impressionistisch zu klassi- tektonischen Moderne.
44
Palitana:
Tempelkomplex
(Shatrunjaya).
Bleistift auf Papier,
ca. 18 x 24 cm, 2004.
45
Khajuraho:
Devi Jagadambi-Tempel.
Bleistift auf Papier,
ca. 31 x 25 cm, 2003.
46
Jaisalmer:
Chhatris Bada Bagh.
Bleistift auf Papier,
ca. 24 x 14 cm, 2001.
47
Madurai:
Tortürme des Minakshi-Sundareshvara-Tempels.
Bleistift auf Papier,
ca. 33 x 26 cm, 2005.
48
Chidambaram:
Nataraja-Tempel.
Bleistift auf Papier,
ca. 30 x 21 cm, 2006.
49
Osiyan:
Mahavira-Tempel.
Bleistift auf Papier,
ca. 36 x 32 cm, 2001.
50
Karl R. Kegler
(Aachen/Köln)
Teil 2: Kopie und Synthese
Zerbrochene Spiegel
Das "exotische Europa" und die Bauten der Nawabs von Oudh
http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-12080
Januar 2008
#1 "FremdSehen"
S. 51-77
europäisch beeinflussten Architektur
Lucknows lassen sich nur noch aus
Will man der Übernahme europäischer den Kontexten ihrer Bauten erschlieFormen in der Architektur der Nawabs ßen.
von Oudh gerecht werden, ist es notwendig, das bei ihrer Entstehung wirk- Der Blick auf die Übernahme europäsam werdende Verständnis von Kopie ischer Architekturformen in Lucknow
und Nachahmung aus der Perspek- darf zudem nicht ausblenden, dass im
tive der indischen Erbauer, nicht aber Bauprogramm der Nawabs wiederholt
aus jener der europäischen Betrachter auch Kopien islamischer Vorbilder
und Kritiker abzuleiten. Um den kri- zu finden sind. Die aus Persien stamtisierten Bauten von Lucknow gerecht mende Herrscherfamilie von Oudh
zu werden, sind sie zunächst aus ihren gehörte der schiitischen Richtung des
eigenen
Entstehungsbedingungen Islam an und kultivierte entsprechend
und Intentionen heraus zu begreifen. eine besondere Verbindung zum irakiMit Tillotson (der sich selbst nicht an schen Kerbala, das in der Grabmoschee
diesen Grundsatz hält) ist zu konsta- des als Märtyrer verehrten Imam Hustieren: "Considered as dogs, most cats sein die wichtigste Gedenkstätte der
are regrettable deficient; but rational Schiiten besitzt. Mehrfach finden sich
people, when considering cats, invoke in Lucknow architektonische Kopien,
feline not canine criteria, however much bzw. Abbreviaturen dieses Baus, die
they love dogs."1 Da sich architektoni- durch ihre signifikanten, dem Original
sche Äußerungen als kulturelle Schöp- entlehnten Doppelkuppeln erkennbar
fungen im Gegensatz zu Gattungen sind.3 Auch der in Lucknow häufig
des Tierreiches aber nicht an erblich anzutreffende Bautyp der Imambara
bestimmte Eigenschaten halten müs- dient den schiitischen Passionsrituasen, stehen auch weitere Interpreta- len in Andenken an Imam Hussein. In
tionsspielräume offen als jene einer gleicher Weise lassen sich Bauten nen"artreinen" oder "arteigenen" Betrach- nen, die auf andere Stätten der islatungsweise, die Tillotson mit seinem mischen Welt verweisen. So soll der
biologischen Vergleich nahelegt. "It is gewaltige Torbau des Rumi Darwaza
very unfair to judge of a foreign country nahe der monumentalen Moschee und
by the standard of one's own", schrieb der Bara Imambara, die Asaf ud Daula
der indische Historiker Poorno Chun- ab 1784 errichten ließ, die Kopie eines
der Mookherji schon im Jahr 1883, Stadttores von Konstantinopel vorstel"and to criticise Lucknow architecture len.4 Auch in der Bara Imambara finby the rules of Palladian Art, shows the den sich Anspielungen, die über Luckpartial and defective knowledge of the now hinaus weisen. Die große freitracritic. It betrays narrow-mindedness, gende Halle der Bara Imambara wird
nothing else."2
"persische Halle" genannt. Im Westen
und im Osten schließt an die langEine Interpretation der Bauten Luck- gestreckte Haupthalle je ein Zentralnows muss sich also zunächst an den raum an. Aufgrund der DeckendeIntentionen ihrer Schöpfer orientie- koration wird der westliche als "indiren. Aussagen der Erbauer der euro- sche", der östliche als "chinesische"
päischen Architekturen Lucknows (!) Halle bezeichnet.5 Auch wenn es
wird man in der Literatur allerdings sich bei diesen Bezügen um spätere
vergebens suchen; sie wurden von Zuschreibungen handeln kann, wird
einer Architekturgeschichte, die im in ihnen das Bestreben deutlich, die
19. Jahrhundert nach europäischen Gesamtheit der (muslimischen) Welt,
Maßstäben geschrieben wurde, nicht im Komplex der großen Moschee Asaf
berücksichtigt. Der modernen Bau- ud Daulas und seiner Bara Imamgeschichte, deren Paradigmen sich bara zu repräsentieren. Ebenso sind in
gegenüber dem Kolonialzeitalter späteren islamischen Baukomplexen
grundlegend gewandelt haben, fehlen Architekturzitate anzutreffen. In der
für die Aufarbeitung dieser Zusam- Husseinabad Imambara, die Nawab
menhänge heute dagegen wichtige Muhammad Ali Shah während seiner
Quellen, da die Archive der Könige kurzen Regierungszeit (1837-1842)
von Oudh bei der Plünderung ihrer errichten ließ, findet sich als Grabbau
Residenzen verloren gegangen sind. für seine Tochter etwa eine verkleiDie Intentionen der Baumeister der nerte Kopie des Taj Mahal.6
Teil 2: Kopie und Synthese
52
Diese Praxis von Architekturkopie ist
bei der Betrachtung der europäisch
beeinflussten Bauten Lucknows im
Hinterkopf zu behalten. Vor und während der Übernahme europäischer
Formen wurden für die Bauten der
Stadt in gleicher Weise islamische oder
indo-islamische Vorbilder kopiert bzw.
adaptiert. Die Kultur des Zitierens und
Adaptierens architektonischer Vorbildern gab den Königen von Oudh und
ihren Beratern die Möglichkeit, je nach
Zweck der geplanten Bauten ein geeignetes Modell entweder aus der europäischen oder der islamischen Tradition
auszuwählen – ein Phänomen, das sich
mit dem zeitgleichen Aukommen der
Neostile in Europa vergleichen lässt.
Islamische Sakralbauten werden in
Lucknow durchgehend in indisch-islamischen Stilformen errichtet, die Residenzen der Königsfamilie und Funktionsbauten in einem klassizistisch-europäischen Stil. Auch dieses Phänomen
lässt sich mit den Stilentscheidungen
für sakrale oder profane Bauaufgaben
im Europa des 19. Jahrhunderts vergleichen. Dass der damit zu konstatierende, bewusste Umgang mit Architekturvorbildern und –kopien ein besseres
Verständnis der europäischen Bauten
Lucknows eröffnet, verdeutlicht eine
Analyse ausgewählter Bauten.
Dilkusha
Ein exemplarisches und vergleichsweise frühes Beispiel für die Übernahme europäischer Formen stellt
der Landsitz Dilkusha im Südosten
Lucknows dar (Abb. 13, 14). Er gehört
zudem zu den wenigen Bauten der
Nawabs, der durch eine moderne Studie ausführlicher bearbeitet ist.7 Dilkusha wird für Nawab Saadat Ali Khan
um 1800 nach dem Vorbild eines englischen Herrensitzes errichtet.
Die Herrschat Saadat Ali Khans zeichnet sich durch ein besonderes Interesse
an Kultur und Lebensstil Europas aus.8
Das große Interesse des neuen Herrschers an europäischer Kultur hat viel
mit seiner Biographie zu tun. Vor seiner (auf britische Intervention erfolgten) hronfolge hatte Saadat Ali Khan
in Benares eine europäische Erziehung erhalten und kannte aus eigener Anschauung die breiten europäischen Straßenzüge und Architekturen
im zeitgenössischen Kalkutta.9 Diese
53
Erfahrungen werden zum Vorbild
für die eigenen Bauprojekte. Saadat
Ali Khan lässt vom neuen Stadtpalast
Chattar Manzil eine breite Straße zu
seinem Landhaus Dilkusha anlegen,
die das städtebauliche Rückgrat für
die Entwicklung einer ganzen Abfolge
von Residenzen in diesem Bereich darstellt.
Als Architekt für den Entwurf Dilkushas agiert ein Europäer: Major
Gore Ouseley, Offizier und Beamter
im Dienst der EIC. Ouseley ist nicht
allein ein 'Gentleman', der sich wie
andere zu seiner Zeit der Architektur
als Amateur widmet, er ist zudem Orientalist mit hervorragenden Kenntnissen der persischen und indischen Kultur.10 Dem regierenden Nawab Saadat
Ali Khan ist Ouseley, der bis 1802 auch
als Statthalter der EIC in Lucknow fungiert, als dessen Adjutant und durch
eine persönliche Freundschat11 verbunden. Dilkusha wird so im Zusammenkommen von Bauherr wie Architekt zu einem Projekt zweier interkulturell gebildeter Persönlichkeiten.
Das Ergebnis dieser Konstellation
ist nach außen hin keine originäre
architektonische Schöpfung. Ouseley
wählte für seinen Autraggeber einen
bereits existierenden Entwurf, der für
Dilkusha kopiert und angepasst wurde.
Vorlage des ausgeführten Baus ist der
Landsitz Seaton Delaval in Northumberland, den der Architekt John Vanbrugh 1717-1729 errichtet hatte (Abb.
12).12 Ouseley kannte diesen Entwurf
über Colin Cambells 1725 erschienenes Werk Vitrivius Britannicus, einer
Zusammenstellung von britischen
Architekturprojekten der neopalladianischen Tradition. Die Wahl ausgerechnet dieses, um 1800 bereits drei
Generationen zurückliegenden Vorbildes, das nicht mehr der jüngsten
Architekturmode in Europa entsprach,
ist bemerkenswert. Für den anglophilen Nawab und den in orientalischer
Kultur gebildeten Amateurarchitekten
dürte die Attraktivität des Vorbildes
darin bestanden haben, dass Seaton
Delaval in europäischem Gewand
Elemente aufwies, die ihnen auch aus
der islamisch-indischen Architektur bekannt waren: zentral orientierter Grundriss, überhöhte Mitte, axiale
Wegeführung, polygonale Ecktürme –
Elemente also, die entfernt an die Mau-
Abb. 12. Südfassade des
Landsitzes Seaton Delaval
in Northumberland. Das
Original nach dem Entwurf
von Sir John Vanbrugh wurde
zwischen 1722 und 1724
errichtet. Abbildung aus
Colen Campbells Vitruvius
Britannicus Bd. 3. London
1725. Tafel 21. Campbells
weitverbreitetes Musterbuch
dürfte auch Gore Ouseley,
dem Architekt der Dilkusha,
bekannt gewesen sein.
soleen der Moguln erinnern und auch
in Lucknow in verschiedenen Spielarten verwandt wurden. Ouseley veränderte seinen Entwurf gegenüber dem
Vorbild allerdings, indem er aus dem
Gebäude, das in Vanbrughs Entwurf in
der Achse einer Dreiflügelanlage stand,
ein von allen vier Seiten zugängliches
freistehendes Gebäude gestaltete und
zwei freistehende Bauten hinzufügte,
die als Stallungen dienten. Die dem
Hof abgewandte Gartenfassade von
Seaton Delaval mit einer von vier Säulen gebildeten Portikus wurde in Dilkusha zum Haupteingang.13 Eine Darstellung (Abb. 13), die um 1815 angefertigt wurde, zeigt "he Nawab Vizier's
country retreat at Dilkusha within a
deer park" als Bau, der sehr nah an das
englische Vorbild angelehnt ist.
Abb. 13. Landhaus und Wildpark Dilkusha. Wasserfarbenbild von Seeta Ram 1814/15.
Aus: Views by Seeta Ram from
Cawnpore to Mohumdy Vol. IV.
British Library, Asia, Pacific
and Africa Collections. Es ist
nicht ganz eindeutig, ob der
Künstler eine Idealansicht
dargestellt hat. Die Nebengebäude (um 90° gedreht) sind
auf jeden Fall idealisiert. ©
British Library, Asia, Pacific
and Africa Collections.
54
Die innere Organisation des europäischen Vorbildes konnte hingegen nicht
in gleicher Weise übernommen werden. In der Haus- und Palastarchitektur
des islamischen Indien sind die Gemächer der Frauen, die "Zenana", Räume,
die von keinem Fremden eingesehen
oder betreten werden dürfen. Sie sind
in der traditionellen Baukunst um
einen abgeschlossenen Hof organisiert,
eine Bauform, die im Modell des freistehenden Landhauses nicht integriert
werden konnte. Die Frauengemächer
wurden in Dilkusha daher in den ersten
Stock verlegt. Als Ersatz für den fehlenden Innenhof diente wahrscheinlich
die Dachterrasse. Das Erdgeschoss war
einer Audienzhalle, einem Festsaal, der
Unterbringung von Gästen und dem
Nawab vorbehalten, es stellt den öffent-
Abb. 14. Felice Beato,
"Dilkusha Kothi". 1858. Abzug
aus dem Fotoalbum von Dr.
Goldie-Scot of Craigmuie,
79th Cameron Highlanders.
lichen Teil des Hauses dar. Der Nawab,
seine Frauen, Gäste und Dienerschat
betraten den Bau jeweils durch einen
anderen der vier Eingänge.14
Damit erhielt Dilkusha trotz der Übernahme des englisch-barocken Vorbilds
eine deutlich andere Nutzungsstruktur, die auf die Bedürfnisse eines orientalischen Hofes angepasst wurde.
Zudem stellt Dilkusha die Kopie des
europäischen Vorbildes in indischer
Bautechnik dar. Als Gentleman-Architekt war Ouseley zwar mit der Kenntnis europäischer Vorbilder ausgezeichnet, den Bau errichteten aber indische
Handwerker nach seinen Angaben in
der traditionellen Bauweise der Region
als Mauerwerksbau, der mit Stuck und
Keramikelementen entsprechend der
Vorlage verziert wurde.
Schließlich unterlief auch das Konzept
des "Landhauses" eine Umdeutung. Im
England des 18. Jahrhunderts dienten
Landhäuser der gentry als Residenz
auf ihren Gütern fern von London.
Dilkusha war dagegen als Landsitz der
Nawabs nur zwei Meilen vom Stadtpalast entfernt. Es diente als Garten- und
Jagdhaus, zum Empfang von Gästen
oder für gelegentliche Ausflüge – als
Ergänzung und Bereicherung eines
abwechslungsreichen Hoflebens, nicht
zum Leben auf einem Landgut fern der
Stadt.
Photographien, die unmittelbar nach
den Ereignissen von 1858 aufgenom55
men wurden,15 dokumentieren, dass in
Dilkusha das über die Stiche des Vitrivius Britannicus bekannte Vorbild
mit großer Genauigkeit übernommen
wurde (Abb. 14). Davon, dass Proportionen von Bauteilen oder Säulen
durch die verwandte Technik des stuckierten Mauerwerksbaus verändert
wurden, wie Fergusson behauptet,
kann in diesem Beispiel keineswegs
die Rede sein. Gegenüber der genannten Illustration von 1815 sind auf den
Photographien von 1858 allerdings
einige signifikante Unterschiede festzustellen: der überhöhte zentrale Bauteil wird nun mit einer flachen Terrasse, nicht durch einen dreieckigen
Giebel mit Satteldach abgeschlossen;
die achteckigen Ecktürme sind um ein
Geschoss erhöht und mit Zeltdächern
bekrönt, welche als stilisierte Blätterhaube ausgebildet sind; die Öffnungen
im zweiten Stockwerk, die teils den
Austritt auf die Terrassen ermöglichen,
sind nicht durch Rundbögen, sondern
durch Fächerbögen gefasst. Diese Elemente lassen sich als "Indisierung"
des Gebäudes deuten.16 Ihre Datierung hängt letztlich aber davon ab, ob
es sich bei der genannten Illustration
von 1815 um eine Idealansicht oder
um eine Darstellung handelt, die einen
realen Zustand wiedergibt. Handelt es
sich um eine Idealansicht, könnten die
indisierenden Elemente bereits beim
Bau des Landhauses von Gore Ouseley
hinzugefügt worden sein. Ist dies nicht
der Fall, muss es sich um nachträgliche Änderungen handeln. Unabhän-
Abb. 15. Die Fassaden der
Chaurukhi Kothi (Darshan
Bilas) zitieren die Schauseiten
von drei prominenten Bauten
in Lucknow. Großes Foto:
Chaurukhi Kothi. Photopostkarte nach einer Aufnahme
von Samuel Bourne um 1865.
Rechts oben: Felice Beato,
"Dilkusha Kothi". 1858 (wie
Abb. 14). Rechts unten:
Felice Beato, "Landseitige
Fassade des Musa Bagh".
1858 (Abbildung gespiegelt,
um besseren Vergleich zu
ermöglichen). Abzug aus dem
Fotoalbum von Dr. Goldie-Scot
of Craigmuie, 79th Cameron
Highlanders.
gig davon aber, welche dieser Alternativen zutrit, stellt die Ergänzung der
beschriebenen Elemente eine bewusste
Entscheidung dar, die entweder von
Ouseley und seinem Bauherrn oder
von späteren Nutzern getroffen wurde.
Da die Kopie des Vorbildes sonst exakt
erfolgte, resultieren die genannten
indisierenden Elemente gewiss nicht
aus Unvermögen bei der Nachahmung
der Vorlage, wie Fergusson behauptet.
Hybride Fassaden
Handelt es sich bei den Elementen, die
bei Dikusha im Vergleich zu Seaton
Delaval hinzugefügt wurden, um spätere Änderungen, müssen diese bis
Mitte der 1830er Jahre erfolgt sein.
Interessanter Weise findet sich die
Hauptfassade der Dilkusha mit den
erwähnten Zusätzen nämlich als Kopie
an einem zweiten Gebäude in Lucknow,
das als Bestandteil des Chattar Manzil Komplexes bis 1837 entstanden ist.
Dieses Gebäude, die sogenannte Chaurukhi Kothi (auch: Darshan Bilas),
wurde während der Regierungszeit
Nasir ud Din Haidars (reg. 1827-1837)
erbaut. Die Gestaltung der Chaurukhi
Kothi (wörtlich: Haus der vier Gesichter) gehört zu den eigentümlichsten
Architekturbeispielen in Lucknow
und gibt einen wichtigen Einblick in
das Verständnis, mit dem die Nawabs
und ihre Baumeister architektonische
Vorbilder verarbeiteten. In den Fassaden der Chaurukhi Kothi sind die
Schauseiten dreier europäischer Häu56
ser in Lucknow zitiert. Die Fassadenkopien sind zwar nicht exakt, aber als
solche deutlich erkennbar (Abb.15).
Die Westfront der Chaurukhi Kothi ist
eine Kopie der Hauptfassade der Dilkusha, die Ostseite kopiert die dem Fluss
zugewandte Fassade von Claude Martins Stadthaus Farhad Baksh, die beiden Längsseiten sind Kopien eines weiteren Gebäudes aus der Zeit Saadat Ali
Khans, des sogenannten Musa Bagh
im Westen der Stadt.17 In der additiven Verwendung dieser Architekturzitate offenbart sich ein sehr spezifischer
Umgang mit Architekturkopien. Das
Erbe lokaler, europäisch inspirierter
Bauten wird als Material für eine freie,
aber absichtsvolle Neukombinationen
genutzt. Und die Bezüge greifen noch
weiter: am Ausgangs- wie am Endpunkt der Straße, die für die zeremoniellen Staatsprozessionen der Nawabs
genutzt wurde, begegnet dem Betrachter dieselbe Fassade; am Endpunkt die
Hauptfassade der Dilkusha, am Ausgangspunkt ihre Kopie. Die Inszenierung von Original und Kopie erzeugt
eine städtebauliche Korrespondenz.
Derartige spiegelbildliche Architekturen (sogenannte "jawab" – wörtl. "Antwort") sind ein Grundthema der islamischen Baukunst Indiens. Allerdings
ist in diesem Beispiel die räumliche
Distanz zwischen dem Original und
der "antwortenden" Fassadenkopie so
groß, dass ihre Korrespondenz nicht in
einer direkten Blickbeziehung erkannt
werden kann, sondern erst beim
Durchwandern der Hauptstraße Haz-
Abb. 16. Städtebauliche
Bezüge der Fassadenkopien
der Chaurukhi Kothi im
Chattar Manzil Palast.
Kartengrundlage entnommen
aus: Frederick Sleigh Roberts:
Forty-one Years in India. From
Subaltern To Commander-InChief. London 1914. S. 198.
ratganj offenbar wird – es handelt sich
um einen abgewandelten Gebrauch des
Grundprinzips in einem städtebaulichen Maßstab. In der Chaurukhi Kothi
findet sich ebenso die Fassadenkopie
des Landhauses Musa Bagh auf der
Dikusha entgegengesetzten westlichen
Seite der Stadt. Das dritte Fassadenmotiv, das in der Chaurukhi Kothi zitiert
wird, greit mit der Fassade des Farhad
Baksh schließlich ein Gebäude auf, das
im Zentrum der Stadt liegt: Zentrum
(Farhad Baksh), östlicher (Dilkusha)
und westlicher Endpunkt (Musa Bagh)
der "Palastgeographie" Lucknows finden sich in einem Gebäude vereint
(Abb. 16).
Das Spiel mit Fassaden und mit der
Kombination von Architekturelementen bedient sich allerdings nicht
allein aus dem Baukasten europäischer Vorbilder, es bezieht auch Elemente der indischen Tradition mit ein.
Ein britischer Reisender, der 1828 das
neue im Süden angelegte Stadtviertel
beschreibt, erwähnt einen dort angelegten Bazar "with a loty gateway at
each extremity, which presents a Grecian front on one side and a Moorish
57
one on the other."18 Diese bisher nicht
identifizierten Torbauten inszenierten bewusst die doppelte Architekturtradition der Stadt durch eine europäisch-klassizistische und eine "indische" Fassade. Ein ähnlich bewusster
Einsatz der beiden Architekturtraditionen findet sich noch an einem weiteren, weitaus bedeutenderen Gebäude:
dem größeren Chattar Manzil Palast
(Bara Chattar Manzil). Die dem Fluss
zugewandte Schauseite folgt in Fensterformen, stuckierten Blattgirlanden,
Ziergiebeln, Halbsäulen und Pilastern
einem Klassizismus, wie er in Europa
in der zweiten Hälte des 18. Jahrhunderts Mode wurde (Abb. 17).19 Dagegen ist die dem Innenhof zugewandte
Seite in indisch-islamischen Formen
gestaltet. Die bodentiefen Fenster werden von Fächerbögen gefasst, wie sie
typisch für die späte Mogularchitektur
sind. Europäische Formen erscheinen
wiederum in den klassizistischen Pavillons, die als Dachaubauten zusammen
mit Chatris20 der indischen Tradition
das Gebäude bekrönen (Abb. 18). Aus
der Kuppel des höchsten und zentralen Chatri wuchs eine stilisierte Krone,
über der ein sonnenbekrönter Schirm
Abb. 17 & 18. Der Chattar
Manzil- Palast nach den
britischen Abbrucharbeiten,
die das gesamte Umfeld
einebneten. Die Schauseite
zum Gomti ist in klassizistisch-europäischen Formen
gestaltet. Die (ehemalige)
Hofseite – schwerer zu
erkennen da teils durch
das klassizistische Gebäude
Farhad Baksh im Vordergrund
verdeckt– ist mit Fächerbögen
indisch-islamischer Tradition
gestaltet. Oben: Foto v. John
Burke 1860er Jahre, unten:
Aufnahme von Samuel Bourne
1864. © British Library, Asia,
Pacific and Africa Collections.
angebracht war. Dieses symbolische
Zeichen wurde namensgebend: Chattar Manzil bedeutet "Schirm-Palast".21
Der Schirm ist ein Königszeichen, das
symbolisch auch über dem hron des
Nawab angebracht war.22
Auch hier ist es schwer vorstellbar,
dass das "Unvermögen" der Architekten oder ein missverstehendes Kopieren zu der völlig ungleichen Behandlung der Fassaden geführt haben sollte.
Im Gegenteil, sie ergänzen sich zu
einer zeichenhaten politischen Aussage: Unter dem Herrschatszeichen
des Nawab vereinen sich eine indische
und eine europäische Fassade zum
beeindruckenden
Staatsgebäude.23
Der Palast Saadat Ali Khans ist das
gebaute Manifest eines anglophilen
indischen Herrschers, der in der europäischen wie in der indischen Tradition zuhause war und seine neue Resi-
58
denz mit Formen aus beiden Überlieferungen gestaltete.24
Indische und europäische Dekorationssysteme sind im Chattar Manzil Palast
schließlich auf einen Bau appliziert der
in seiner Typologie und Kubatur deutlich keiner europäischen Vorlage folgt
(Abb.19). Die gestaffelte Kubatur des
"scheibenartigen" Gebäudes erinnert
eher an Bauten wie den "Palast der
Winde" in Jaipur.25 Auffällig ist weiter,
dass die indisch-islamischen Formen
an der privaten Hofseite des Gebäudes
ihren Platz finden, die klassizistischen
Architekturformen hingegen auf der
Schauseite, die über den Fluss Gomti
hinweg auf Fernwirkung angelegt war.
Die klassizistischen Stilelemente wirken wie ein repräsentatives Gewand,
während sich das "private" Hofleben
des Nawab inmitten von Hobeamten, Dichtern und einem umfangreichen Harem nach traditionellen Mus-
Abb. 19. "Chattur Manzil,
Lucknow, on the Gomtee.
(from a Photograph)" – Kupferstich aus der Illustrated
Times, 17. April 1858. Das Bild
zeigt die schmale abgestaffelte Kubatur des Palastes.
tern abspielte. Dieses hema setzte sich
auch im ehemals gegenüberliegenden
kleineren Chattar Manzil Palast (Chota
Chattar Manzil) fort, der nach Süden
eine klassizistische Schaufassade bot,
zur Hofseite nach Norden aber in traditionellen indisch-islamischen Architekturmotiven gestaltet war.26
Die unterschiedliche Behandlung von
Fassaden desselben Gebäudes ist ein
Grundmotiv, das in den Architekturen
von Lucknow auch in weiteren Spielarten Anwendung gefunden hat. Ein Beispiel, das ungleiche Schauseiten nicht
durch die Gegenüberstellung von europäischen und indischen Stilformen,
sondern über einen formalen Gegensatz entwickelt, stellt die Roshan-udDaula-Kothi dar, die als Haus des Premierministers von Nawab Nasir ud Din
Haidar (reg. 1827-1837) entstand und
später in den Kaisarbagh Komplex integriert wurde (Abb. 20, 21). Der Baugedanke dieses Hauses, das im Kern noch
besteht, aber stark verändert wurde, ist
heute nur noch anhand historischer
Photographien zu rekonstruieren. Die
Nordfassade des palastartigen Hauses
war konsequent in einer abgestaffelten
rechtwinkligen Kubatur entwickelt, die
von Säulen, Halbsäulen und Pilastern
der Kompositordnung gegliedert war.
59
Demgegenüber war die Südseite polygonal gebrochen und die Ecken waren
durch schwarz-weiß-gestreite Pilaster
betont, welche die polygonale Formgebung nochmals optisch hervorhoben.
Diese gegensätzlichen Kompositionsprinzipien der Nord- und Südseite wurden in einer eigentümlichen Dachlandschat einander gegenübergestellt, die
die kompositorische Absicht überdeutlich machte: eine durchgeschnittene
Metallkuppel bekrönte die polygonale
Südseite, ein rechtwinkliger schmaler
Aufsatz mit einem dreieckigen Tempelgiebel die Nordseite (Abb.22). Beide
Strukturen standen wie heaterstaffagen auf der obersten Ebene Rücken
an Rücken.27 Nicht stilistische Einheit
oder Einfachheit, sondern effektvolle,
überraschende Vielfalt war das Ziel der
Komposition.
Die Gesamtwirkung wurde noch
durch weitere Elemente bereichert.
Auf der Ost- und Westseite standen niedrigere quadratische Türme,
bekrönt von gerippten Halbkuppeln. Die Fassade zwischen den Türmen füllte eine zweigeschossige Säulenfassade aus. Auf der NordostEcke befand sich schließlich für die
Bedürfnisse des Hausbesitzers eine
nach Mekka ausgerichtete Privatmo-
Abb. 20 & 21. Vorder- und
Rückseite der Roshan-udDaula-Kothi. Oben: undatierte
Postkarte (nach 1870), The
Phototype Company Bombay.
Unten: undatierte Postkarte
(ca. 1860). Die beiden Aufnahmen zeigen die zunehmende
Veränderung des Gebäudes. In
der früheren, unteren Ansicht
sind noch Dachaufbauten zu
erkennen, die in der oberen
Aufnahme fehlen.
schee in indo-islamischen Formen als
vorgeblendete Kleinarchitektur. Aus
Gründen der Symmetrie wurde diese
Miniaturmoschee auch an der Nordwestecke wiederholt, diente dort aber
nicht als Gebetsraum.28 Die Gesamtheit der Elemente ergab eine dichte
Vielfalt von architektonischen Ehrenzeichen, die in der Überlagerung der
Elemente aus jeder Perspektive eine
andere Wirkung entfaltete, in der
Gesamtanlage aber strikt den Regeln
axialer Symmetrie folgte.
60
Chinoiserien
Eines der interessantesten und überraschendsten Elemente in der Übernahme europäischer Vorbilder in
Lucknow stellen Chinoiserien dar. Den
frühesten Hinweis auf dieses Stilelement gibt eine Bleistitzeichnung des
Künstlers und Offiziers Robert Smith,
der zwischen 1814 und 1830 mehrere
Ansichten von Lucknow anfertigte.
Die Zeichnung zeigt das von Saadat
Ali Khan errichtete Landhaus Musa
Abb. 22. Dachlandschaft der
Roshan-ud-Daula-Kothi. Aufnahme von Robert and Harriet
Tytler aus dem Jahr 1858. Eine
Notiz zu dieser Aufnahme
erklärt: "The Palace, about six
storeys high, the dome on the
left purposely cut in two, has
the royal arms engraved in
gold on it". Die Kuppel wurde
also absichtsvoll halbiert,
um einen Theater-Effekt zu
erzielen. © British Library,
Asia, Pacific and Africa
Collections.
Bagh (auch: Baronne). Das Haus steht
wie ein Torgebäude in der Stirnseite
der Umfassungsmauer des Gartens;
die achteckigen Ecktürme der Gartenmauer sind mit chinesischen Pavillons
bekrönt (Abb.23). Eine vierzig Jahre
spätere Panoramaaufnahme des zerstörten Stadtzentrums, die Felice Beato
vom Minarett der Asafi Moschee aufnahm, dokumentiert im Jahr 1858 ganz
ähnliche, chinesisch anmutende Eckpavillons an einer großen Hofanlage
südlich der Husseinabad Imambara.29
Gegenüber befindet sich noch heute das
eigentümliche viergeschossige Fragment eines unfertigen Stufenturmes
aus der Regierungszeit Muhammad
Ali Shahs (1837-1842). Der Name dieses Bauwerks – "Sat Khande" = "sieben
Stufen" – deutet darauf hin, dass die
ausgeführten achteckigen Geschosse,
die sich über einem quadratischen
Abb. 23. Bleistiftzeichnung
der dem Fluss Gomti zugewandten Front des Musa Bagh
(Baronne) von Captain Robert
Smith, November 1814. Smith
war von 1815-1833 Militäringenieur im Dienst der EIC.
Zu seinen Aufgaben gehörte
unter anderem die Reparatur
des Kutub Minar und der in
Delhi. © British Library, Asia,
Pacific and Africa Collections.
61
Sockel erheben, ursprünglich zu einer
Art siebenstufiger Pagode ergänzt werden sollten.30
Chinoiserien sind im Kontext der
Übernahme europäischer Architekturvorbilder nur auf den ersten Blick
verblüffend, denn Chinoiserien gehören im 18. und 19. Jhd. zum festen
Inventar europäischer Gartenkunst;31
sie dürten also auch in den Sammlungen und Nachrichten enthalten gewesen sein, aus denen die Nawabs ihre
Kenntnisse europäischer Architektur bezogen. Die Übernahme dieses
Motivs verdeutlicht zugleich, welche
Kontexte Asaf ud Daula und seinen
Nachfolgern an europäischen Vorbildern besonders attraktiv erschienen. Beispiele westlicher Gartenkunst
mussten sich den an europäischer
Architektur interessierten Herrschern
Abb. 24 & 25. Torhaus des
Sikander Bagh. Das obere Bild
zeigt die Stadtseite. Postkarte
nach einer Aufnahme Murray
& Co. Lucknow. Das untere
Bild zeigt die Gartenansicht.
Aufnahme eines unbekannten
Photographen aus den 1870er
Jahren. © British Library, Asia,
Pacific and Africa Collections.
geradezu aufdrängen, denn ein wichtiger Teil des Hoflebens in Oudh fand
der islamisch-indischen Tradition folgend in Gärten statt. Entsprechend
umfassten die Residenzen weitläufige Gartenanlagen. Während sich die
europäische Gartenarchitektur aber
im späteren 18. Jahrhundert mehr und
mehr zu weitläufigen Landschatsgärten entwickelte, blieb in Lucknow
das Modell des eingehegten formalen
Paradiesgartens persisch-islamischer
Tradition der bestimmende Typ.32 Das
freistehende Landhaus Dilkusha mit
seinem umgebenden "Landschatsgarten" (vgl. Abb.13) erweist sich
insofern als Ausnahme. Der häufigste
Gartentyp war der von einer Mauer
eingefasste geometrische Garten. Der
Vorteil dieser Anlagen, die häufig für
die Damen der königlichen Fami62
lie oder die Favoritinnen der Nawabs
erbaut wurden, bestand darin, dass sie
für ihre weiblichen Nutzer ein hohes
Maß an Abschottung gewährleisteten.
Die Gärten entfalteten sich in diesen Anlagen rings um ein Haus nach
europäischem Vorbild, waren aber
selbst wiederum durch eine Mauer
eingehegt, so dass es nicht zu unerwünschten Begegnungen oder Einblicken kommen konnte, eine Synthese
zwischen freistehendem Landhaus
und ummauertem Hof. Den Zugang
zu diesen Gärten kontrollierten aufwendig gestaltete Torhäuser.
Diese Torhäuser sind ein eigener Bautyp, der in Lucknow in vielen Spielarten anzutreffen ist. In einigen Toranlagen, die während der Regierungszeit des letzten Nawab Wajid Ali Shah
Abb. 26. Blick in den zentralen
Gartenhof des Kaisarbagh.
Aufnahme von John Edward
Saché aus den 1870er Jahren.
Das weiße Gebäude in der
Mitte ist die Kaisarbagh
Imambara bzw. Baradari.
Dahinter ist die sogenannte
"Lanka" zu erkennen. ©
British Library, Asia, Pacific
and Africa Collections.
errichtet werden, sind europäische,
indische und Chinoiserie-Elemente
nicht mehr als unterschiedliche Fassaden oder Bauteile einander gegenübergestellt, sondern in einer einzigen Fassade zu einer Collage von Stilformen
vereint. Diese Kompositionen stellen
die letzte Phase in der Verarbeitung
europäischer Stilelemente dar. Während zuvor allein die Namen europäischer Architekten für Bauten mit europäischen Formen begegnen, ist für
diese späteren Bauten erstmals auch
die Autorschat indischer Baumeister
überliefert.33 Ein signifikantes Beispiel
für diesen eklektischen Umgang ist
das dreistöckige Torhaus des Sikander
Bagh (Abb.24, 25). Auch hier bieten,
der ungleichen Behandlung von Fassaden folgend, die Innen- und Außenseite sehr verschiedene Eindrücke.
Während auf der Straßenansicht eher
die klassizistisch-europäischen Formen hervortreten, verbinden sich auf
der Gartenseite klassizistisch-europäische, indische und – in der Dachgestaltung – Chinoiserie-Motive. Über
klassizistischen Fenstern mit dreieckigen Giebeln schwingen elegante
indische Erker aus den quadratische
Ecktürmen, die von chinesisch ausschweifenden Ziegeldächern bekrönt
sind. Der sich durch diese Mischung
von Stilformen einstellende Eindruck
einer märchenhaten "Weltarchitektur" dürte genau das Ziel der Erbauer
gewesen sein. Der Garten wird zur
Metapher für das Paradies, in welchem
63
die Schönheiten der Welt in kostbaren
Pflanzen und der ganzen Fülle architektonischer Formen versammelt ist.
Der Kaisarbagh
Diese Kombination von klassizistischen und orientalischen Elementen ist
auch für Teile des Kaisarbagh charakteristisch (Abb. 25, 27, 28). Wie die eingangs wiedergegebenen Stimmen verdeutlicht haben, ist es zugleich gerade
dieser Bau, der nach 1858 die europäische Kritik zu besonderer Schärfe herausforderte. In europäischen Reiseführern um 1900 gilt der Bau des letzten
Königs von Oudh schlicht als "the largest, grandiest and most debased of all
Lucknow palaces".34 Selbst P. C Mookherji, der engagierte Verteidiger der
Nawabs gegen die europäische Kritik, tadelte den "debased style" und die
"Anglomania" der Könige von Oudh
und fokussierte seine Kritik auf dieses
Ensemble:
"Wajid Ali Shah, who fell still deeper
into the bad style, produced the Kaisarbagh, a range of palaces having a mixture of all possible kinds of style, without
judgment shown as to its symmetry, or
skill displayed as to the arrangement of
its minor parts."35
Eine Betrachtung dieser Palastanlage
darf allerdings weder die Typologie,
noch die städtebauliche Struktur dieses Komplexes außer Acht lassen, der
Abb. 27. Weinumrankte
Pergola im großen Hof des
Kaisar Bagh. Das Gebäude
mit den acht flankierenden
Türmchen ist die sogenannte
"Lanka", ein Empfangs- und
Tribünengebäude. Im
Hintergrund rechts erkennt
man die Dachlandschaft der
Roshan-ud-Daula-Kothi in
einem angrenzenden Hof.
Aufnahme von Baker & Burke
aus den 1860er Jahren. ©
British Library, Asia, Pacific
and Africa Collections.
eine beispiellose Synthese indisch-orientalischer und westlicher Traditionen
leistet. Die Gruppierung von Bauten
um Innenhöfe ist ein Grundthema der
indisch-islamischen Palastarchitektur,
die Ausdehnung des Kaisarbagh, dessen zentraler Hof "Jilau Khana" eine
Größe von 200 zu 400 Metern hatte,
sprengt jedoch den üblichen Maßstab
von Palastarchitektur und überführt
die Anlage in eine städtebauliche Größenordnung. Der zentrale Garten war
durch eine durchgehend zweigeschossige Rahmenbebauung im europäischen Stil gefasst, die durchaus an viktorianische Reihenhäuser oder Londoner Squares erinnern können – auch
dies eine eigenständige Lösung ohne
Vergleich in Indien. In der Randbebauung waren die Damen des königlichen Serail untergebracht, sofern der
König ihnen nicht eigene Residenzen
an anderer Stelle gebaut hatte. Jede
der Damen verfügte über ein Haus mit
mehreren Zimmern und Dienern. Um
jede Eintönigkeit zu vermeiden, waren
die langen Fronten durch rechteckige
oder polygonale Erker gegliedert, die
bei aller Abwechslung eine strenge
Symmetrie einhielten. Klassizistische
Fassaden und Portiken wechselten sich
mit Arkaturen ab. Auch die Breite der
Fensterachsen variierte rhythmisch.
Auffallend ist zuletzt die Bedeutung,
die die Übernahme europäischer Formen für den privaten Bereich des Herrschers darstellt. Während im Chattar
Manzil Palast einer europäisch-klassizistischen Schaufassade ein in indischislamischen Formen gestalteter Innen64
bereich gegenüberstand, wurden nun
für den Wohnbereich der Zenana europäische Formen verwendet (Abb. 26).
Im riesigen Innenhof befanden Kleinarchitekturen, die den Zerstreuungen
eines abwechslungsreichen Hoflebens
gewidmet waren: Pavillons im indischen und klassizistischen Stil, Vogelhäuser und Volieren. Zwei im Nordteil
des Gartens T-förmig aufeinanderzulaufende Wasserbecken wurden von
Marmorpavillons und einer geschwungenen Brücke überspannt. Im südlichen Teil des Gartens stand eine eigentümliche Mischung aus Aussichtsplattform und Empfangsgebäuden, die
sogenannte "Lanka", die von acht polygonalen Türmen flankiert wurde. In
der Achse dieses Baus, den man eher
auf einer der Weltausstellungen des 19.
Jahrhunderts vermuten würde, führte
eine Pyramide von elf Stufen zu einem
Marmorpavillon. Über den Pavillon
wiederum führte eine Bogenbrücke
hinweg, der die beiden flankierenden
Empfangsgebäude in europäischen
Formen miteinander verband (Abb.27).
Rechts und links von diesem Gebäude
befanden sich erhöhte quadratische
Plattformen, die auf jeder Seite von
einer Säulenpergola der Kompositordnung gefasst waren. Achteckige Pavillons bildeten die Ecken dieser heaterarchitekturen. Schattenspendende
Bungalows dienten Tanz- und Musikvorführungen. Der Garten war streng
achsensymmetrisch. Jedes Gebäude auf
der Ostseite hatte sein Spiegelbild auf
der Westseite des Gartens, so auch eine
Abb. 28. Feuerwerk im Garten
des Stadtpalais Farhad Baksh.
Wasserfarbenbild von Seeta
Ram 1814/15. Aus: Views by
Seeta Ram from Cawnpore
to Mohumdy Vol. IV. Für das
Hofleben in der Jilau Khana
des Kaisarbagh darf man
sich einen entsprechenden
Aufwand vorstellen. © British
Library, Asia, Pacific and Africa
Collections.
nach Mekka ausgerichtete Miniaturmoschee, die ihr nur formales Pendant
auf der gegenüberliegenden Seite des
Gartens hatte. Im Zentrum des Gartens
befand sich ein großes weißes Gebäude
in indisch-islamischen Formen, das
sowohl als Imambara,36 wie als Audienzhalle als (Baradari) für das hronzeremoniell genutzt wurde.37
Die Aufzählung der Kleinarchitekturen
und der ursprünglichen Ausstattung
lässt keinen Zweifel an der Bestimmung des Komplexes: der Kaisarbagh
war ein Lustgarten, der den Rahmen
für Hofzeremoniell, Feste, verfeinerte
Darbietungen und Vergnügungen darstellte. Diese "Freizeitwelt", die sich
um den Nawab als Hauptperson entfaltete, wurde durch weitere Attraktionen in anderen Bereichen des Kaisarbagh ergänzt. So befand sich östlich der
Jilau Khana ein "Chini Bagh" genannter Hof, der mit chinesischen Keramiken verziert war. Ein weiterer Hof,
Hazrat Bagh, barg ein Haus, dessen
Dach und Wände mit dünnem Silberblech verkleidet waren.38 Verschiedene
Architekturstile, wertvolle Materialien
oder andere Besonderheiten konstituierten so eine eigene Topographie, die
auf fremde und eigene Traditionen verwies und in gewisser Weise die gesamte
Welt in Architekturminiaturen repräsentierte.39
65
Dabei ist es wichtig zu betonen, dass
die beschriebenen Architekturen
allein den Rahmen für eine aufwendige Hohaltung darstellten. Deren
Umfang wird deutlich, wenn man sich
vergegenwärtigt, dass der abgesetzte
König, der in seinem Exil in Kalkutta
von den Engländern als Abfindung
eine Rente erhielt, die deutlich geringer war als seine Einkünte in Lucknow, nach Sharar 40.000 Personen in
seiner Hohaltung beschätigte und –
neben anderen Attraktionen – 25.000
Vögel unterhielt, die in Aviarien und
in Tausenden Messingkäfigen gehalten
wurden. 300 Bedienstete kümmerten
sich allein um die Tauben des exilierten Königs. Daneben gab es exotische
Tiere wie Giraffen, Tiger und andere
Raubtiere, die in besonderen Gehegen
gehalten wurden.40 Den Aufwand in
Lucknow, wo Wajid Ali Shah wesentlich größere Ressourcen zur Verfügung
standen, muss man sich entsprechend
größer denken. Nach Rosie LlewellynJones wurden 1856 für das Futter der
königlichen Menagerie in Lucknow
allein 1.000 Rupien pro Tag ausgegeben.41 Dabei galt das hauptsächliche
Interesse Wajid Alis nicht einmal exotischen Vögeln und Tieren, sondern
Musik und Gesang,42 für die er weit
größere Mittel zur Verfügung stellte.
Noch größere Aufwendungen muss
man sich für die nächtlichen Illumi-
Abb. 29. Ansicht von einem
der Lakhi-Tore, die den
Zugang zum zentralen Hof
(Jilau Khana) des Kaisarbagh
darstellen. Die Aufnahme von
Felice Beato aus dem Frühjahr
1858 zeigt die Hofseite
des Tores. Abzug aus dem
Fotoalbum von Dr. Goldie-Scot
of Craigmuie, 79th Cameron
Highlanders.
nationen und Feuerwerke bei Festta- Auf dieser Seite wurde der zweigegen denken, für die Oudh besonders schossige Torbau durch ein auskragerühmt wurde (Abb.28).43
gendes gerades Gesims abgeschlossen,
über dem sich eine reiche DachlandDen Eingang in diese "Märchenstadt" schat aus Zinnen, Laternen und Figudes Kaisarbagh bildeten zwei einan- ren erhob. Auf der Hofseite hatte dieder gegenüberliegende, aufwendig ses Gesims eine geschwungene Form
gestaltete Torhäuser. Indische, euro- in der Gestalt eines Schulterbogens
päische und weitere Stilelemente tre- – eine Formfindung ohne Vorläufer in
ten in ihrer Gestaltung nebeneinan- der indisch-islamischen Baukunst; sie
der, es überwiegen allerdings ein- verweist vielmehr auf orientalisierende
deutig indische Motive. Die hybride Bogenmotive, wie sie in europäischen
Architektur dieser Torbauten unter- Chinoiserien des 18. Jahrhunderts
scheidet sich damit deutlich von der anzutreffen waren.45 Das auskragende
Rahmenbebauung des zentralen Gar- Gesims ruhte wiederum auf Konsotenhofes, die zwar klassizistische For- len, die teils als Elefantenköpfe teils
men in indischer Umsetzung über- als Meerfrauen (vgl. Abb. 33) gearbeinimmt, aber nicht wie die Torbauten tet waren und an die figürlichen KonStilelemente unterschiedlicher Archi- solen hinduistischer Tempel erinnern.
tekturtraditionen kombiniert. Wie Auch dieses Motiv findet sich sonst an
beim Sikander Bagh hat die Architek- keiner Stelle an den Bauten Lucknows.
tur der sogenannten "Lakhi-Tore"44, Bekrönt wurde die Struktur durch vier
die in die Jilau Khana führten, eine Ecktürme, die auf der Außenseite ein
zeichenhate Bedeutung. Und auch sie indisch-islamisches, auf der Hofseite
boten von Hof- und von Außenseite ein mehr europäisch-klassizistisches
deutlich unterschiedliche Ansichten. Stilkleid trugen. Die zentrale Torhalle
Auf der Hofseite (Abb.29) wurde in überwölbte eine offene Rippenkuppel
der Weise eines Triumphbogenmo- aus zwei sich kreuzenden Bögen. Dietivs ein hoher Bogen von zwei klei- ses Element ist ebenfalls ein Architekneren flankiert. Von den drei Durch- turzitat und ist Claude Martins Resigängen führte allerdings nur der mitt- denz La Martinière entlehnt, einem
lere nach außen, die beiden anderen europäischen Gebäude in Lucknow,
in Nebenräume. In der Außenansicht das um 1800 entstand.46
wies der Torbau hingegen nur einen
einzigen großen Bogen auf; an die Neben diesen Elementen aus unterStelle der Seitentore traten vorsprin- schiedlichen Stiltraditionen fanden
gende Risalite.
auf den Torbauten Dekorationen ihren
66
Platz, die direkt in ihrer zeichenhaften Sinnbedeutung zu lesen waren
(vgl. Abb. 29). In den Zwickeln rechts
und links der fächerförmigen Bögen
waren stilisierte Fische angebracht,
die als eine Art Wappentier regelmäßig auf den Toranlagen der Nawabs
von Oudh anzutreffen sind.47 Begleitet wurde diese Darstellung durch ein
dahinterliegendes Königswappen aus
Krone, Schild und Schwertern, das
Seejungfrauen als heraldische Schildhalter flankierten. Diese Fabelgestalten
erschienen nicht allein an dieser Stelle;
sie waren auch auf den schmiedeeisernen Gittern, auf Baldachinen über den
aus der Fassade heraustretenden Balkonen und (auf der Außenseite) auf dem
Sockel des Torbogens zu erkennen.
Weitere Seejungfrauen mit gedrehten
Fischschwänzen stützten an den vier
Fußpunkten der offenen Rippenkuppel überdimensionale Königskronen.
Auch die Ecktürme waren mit stilisierten Kronen überhöht, über welchen
sich stilisierte Schirme erhoben, die in
Sonnensymbole ausliefen. Die Safranfarbe, in der die Torgebäude gestrichen
waren,48 kann ebenfalls als Hinweis
auf den König verstanden werden, der
unter seinem Krönungsornat ein safranfarbenes Gewand trug. Die Dichte
an heraldischen und zeichenhaten
Königssymbolen in dieser Architektur
veranschaulichte überdeutlich, dass
durch das Tor der Privatbereich des
Königs betreten wurde.
Die Attraktivität des im Kaisarbagh
verwandten Formenrepertoires dürte
für Wajid Ali Shah und seine Vorgänger
nicht allein in der Möglichkeit bestanden haben, über die Adaption europäischer Vorbilder Modernität und Nähe
zu den politisch immer deutlicher
dominierenden Briten auszudrücken.
Die europäisch beeinflussten Residenzen der Nawabs stellten zugleich eine
neutrale Folie für ein Hofleben dar,
das in der Mischgesellschat von Moslems und Hindus in Lucknow keineswegs mehr primär islamisch geprägt
war.49 Jenseits der großen Moscheen
und Imambaras, die im indisch-islamischen Stil für die schiitischen Riten
geschaffen wurden, zelebrierte insbesondere der letzte regierende Fürst
in seinen europäisch-geprägten Residenzbauten ein synkretistisches Hofleben. Berichte über Feste und Aufführungen des Hofes, nach denen sich
67
Wajid Ali Schah in einem safranfarbenen Gewand und mit Asche eingerieben als Yogi verehren ließ oder inmitten von Hofdamen als Krishna autrat50
– beides für einen muslimischen Herrscher höchst ungewöhnliche Schaustellungen – verdeutlichen die höfischtolerante Lebensart einer hinduistisch-muslimischen Mischkultur. Die
Erinnerungen einer Hofdame, die William Knighton 1864 herausgab, geben
eine höchst anschauliche Vorstellung
von diesen Inszenierungen, die den
gesamten Palastkomplex über mehrere
Tage als Bühne einbezogen.51 Gleichwohl blieb im Zentrum des Lustgartens in der strahlend weißen Imambara die schiitisch-islamische Identität
des Herrschers immer präsent.52 Die
Übernahme europäischer Architekturelemente erweist sich in diesem Kontext nicht als stümperhates Kopieren,
sondern als komplexer, beziehungsreicher und spielerischer Umgang mit
unterschiedlichen Architekturtraditionen, die nicht zur Repräsentation,
sondern als baulicher Rahmen für die
Lustbarkeiten des höfischen Gartenlebens Verwendung fanden.
Der Kontext der europäischen
Kritik
Wenn Alois Führer im Dienst des
Archeological Survey of India 1891 die
Architekturelemente des Kaisarbagh
als "mongrel vulgarities which were
applied in Vauxhall, Rosherville, and
the Surrey Gardens"53 verurteilte, traf
er in gewisser Weise durchaus eine der
Intentionen dieses Komplexes. Vauxhall, Rosherville und Surrey Gardens
sind frühe Beispiele einer Unterhaltungsindustrie, die ein fürstlich-aristokratisches Freizeitideal einem bürgerlichen Massenpublikum erschlossen.
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts gehörten diese Anlagen, welche inmitten
von sorgfältig gepflegten Anpflanzungen Musikvorführungen, Feuerwerke,
exotische Pavillons und spektakuläre
Vorführungen präsentierten, zu den
beliebtesten Ausflugszielen Londons.
Zum Zeitpunkt, zu dem Führer seine
abwertende Kritik verfasste, waren
sie allerdings schon überwiegend
Geschichte und durch andere Formen
der Massenunterhaltung abgelöst worden.54 Statt aber das Modell fürstlicher
Lustgärten und ihrer orientalisierenden Architekturen als Parallele zu den
Bauten von Oudh zu begreifen, verurteilte Führer sowohl das eine wie das
andere. Dabei zeigte der Gutachter
des Archeological Survey außerdem
ein bemerkenswertes Maß an Ignoranz, wenn er "Corinthian pilasters
under Muslim domes, false venetian
blinds, imitation marbles, pea-green
mermaids" als abschreckende Details
zitierte. Denn in Lucknow wurde, wie
Banmali Tandam 2001 konstatiert, an
keiner Stelle die korinthische Säulenordnung verwendet.55 Die erhaltenen
oder auf Photographien dokumentierten Beispiele zeigen allenfalls Säulen der Kompositordnung. Führers
Befund ist schon in der Beschreibung
ungenau! Und offenbar hielt Führer
auch die Seejungfrauen, die als heraldisches Element das Königswappen
von Oudh begleiteten, für eine knallbunte aber inhaltsleere Spielerei. Für
eine treffendere Einschätzung hätte
der deutschstämmige Gutachter nur
Löwe und Einhorn als Schildhalter des
englischen Königswappens in ihrer
heraldischen Farbigkeit als Parallele
heranziehen müssen.56
Die Einschätzungen Führers und damit
des Archeological Survey of India
waren Ausdruck eines akademisch
engen Gebrauchs bauhistorischer Stilbegriffe, die für transkulturelle Phänomene, Einflüsse und Parallelen keinen
Raum ließen. Es ist ein Stilbegriff, wie
er insbesondere für James Fergusson
charakteristisch war, der in seiner History of Indian and Eastern Architecture
eine Systematik von elf "indo-sarazenischen" Stilen entwickelte, die er aus den
baulichen Traditionen von Regionen
und islamischen Herrscherdynastien
destillierte.57 Jede dieser Stiltraditionen
habe, so Fergusson, ihren Niedergang
erlebt, sobald sich die zuvor "reinen"
Formen mit anderen Elementen vermengten.58 Die wesentlichen Impulse
habe die indische Architektur über die
Vermittlung Persiens, so Fergusson,
ohnehin aus dem Westen erhalten.
Die exzeptionellen Marmorarbeiten
des Taj Mahal waren nach seiner Meinung gar das Werk italienischer Abenteurer, welche die pietra-dura-Technik aus dem Florenz der Renaissance
in das Indien der Moguln exportiert
hätten,59 eine Vorstellung, die verdeutlicht, dass Fergusson kein übermäßiges
Zutrauen zum handwerklichen und
gestalterischen Können der indischen
68
Baumeister besaß. – So grundlegend
Fergussons Pionierstudie 1876 für ein
Verständnis der indischen Architektur
in Europa gewesen sein mag, für Phänomene wie die Übernahme europäischer Formen durch die Inder selbst
ließ sie keinen Raum. Fergusson entwarf ein heroisiertes Bild von Indien,
das die militärisch aggressiven Mogulkaiser und ihre Bauten idealisierte, der
"effeminierten" Hokultur der Nawabs
aber mit Unverständnis gegenüberstand und in der Übernahme europäischer Formen nur Verfallserscheinungen ausmachte. Die Bauten Oudhs galten Fergusson als wertloser "bastard"Stil. Ebensowenig Raum ließ Fergussons Systematik indischer Baukunst
für einen Stilpluralismus, wie er sich zu
seiner Zeit im Aukommen der Neugotik und anderer Neo-Stile in Europa
gerade konstituierte.
In Fergussons Urteil floss dabei eine
Grundhaltung ein, die der Verbindung
unterschiedlicher Architekturtraditionen – auch in Europa – grundsätzlich
ablehnend gegenüberstand und die
baulichen Leistungen einer Epoche
eng mit einem Gesamturteil über das
jeweilige Volk verknüpte. "he Prussians [..] are not a churchbuilding race",
konnte man etwa in Fergussons History of the Modern Syles in Architecture über die "preußische Rasse" lesen
(eine Redeweise, die Völker oder gar
Staaten mit Rassen gleichsetzte, war
im 19. Jahrhundert allgemein verbreitet), bevor der Autor in Länge auf die
aus seiner Sicht bestehenden Defizite
von Schinkels Friedrichswerderscher
Kirche und der (erst nach Schinkels
Tod ausgeführten) Nikolaikirche in
Potsdam einging.60 Rastrellis SmolnyKloster bei St. Petersburg, das traditionelle russische und französische
Barockelemente vereint, galt Fergusson eben deshalb als Missgeburt – "if
their ornamentation is characteristic of Russian civilization of that day,
'tant pis pour elle!' It would be difficult to find in Europe anything as bad
as this."61 Ähnlich kritisch bewertete
Fergusson das Werk John Vanbrughs,
der in Seaton Delaval die Vorlage
für das Landhaus Dilkusha geliefert
hatte. Vanbrughs Hauptwerk Blenheim Palace fertigte er als übergroße
Missgeburt ab, "the palace looks as if it
had been designed by some Brobdingnagian62 architect for the residence of
Abb. 30. Folge von Torbögen
aus George Wightwicks The
Palace of Architecture 1840.
Wightwicks Traktat sollte die
Korrespondenzen zwischen
den unterschiedlichen
Stilen verdeutlichten, die
er in didaktischer Absicht
hintereinander anordnete.
Abb. aus Wightwick S. 113,
151, 167, 171, 178.
their little Gulliver." "He [Vanbrugh]
was much less successful in his smaller
designs, such as Seaton Delaval […]".63
Auch andere Beispiele aus Campbells
Kompilation Vitruvius Britannicus,
die einen prägenden Einfluss auf die
Wahrnehmung europäischer Vorbilder in Oudh ausübte, betrachtete Fergusson als wenig überzeugend, "they
all have missed the effect intended to be
produced, and not one of them can now
be looked upon as an entirely satisfactory specimen of Architectural Art."64
Es wundert wenig, wenn Fergusson
bei dieser Grundeinstellung auch die
Bauten, die inspiriert durch die kritisierten Vorbilder in Lucknow entstanden, nicht sonderlich schätzte.
Fergussons mit rassistischen Aspekten
unterfüttertes Ideal rigoroser Stilreinheit war zwei Generationen zuvor, als
die Rezeption europäischer Architektur
in Lucknow einsetzte, noch keineswegs
die allgemein akzeptierte Vorstellung.
John Nash inszenierte den 1822 fertiggestellten Royal Pavilion des Prinzregenten und späteren Königs George IV. in
Brighton etwa als phantastische Kombination orientalischer Stilelemente. Von
Außen gestaltet wie ein indisches Mär69
chenschloss vereinten die Innenräume
muslimische, indische und chinesische
Dekorationen. Auf der Westseite ordnete Nash Spitzbogenfenster aus einer
Mischung neugotischer und orientalischer Stilelemente unter den nachempfundenen indischen Kuppeln und
Chartis an. Nashs Royal Pavilion ist so
Beispiel einer zwar nicht allzu verbreiteten, aber doch in mehreren Beispielen
fassbaren Indienmode um 1820.65 Auch
in der literarischen Avantgarde avancierten orientalische Motive zu einem
hema. William Beckford66 und Edgar
Allan Poe,67 später Joris-Karl Huysmans68 oder Oskar Wilde69 imaginierten in ihren Erzählungen eklektische
Interieurs, die mit erlesenen orientalischen Arbeiten ausgestattet waren. Der
Umkreis des Architekten John Soane
spekulierte um die gleiche Zeit über
die Genese der Weltarchitektur und die
Entwicklung der Stilformen.70 George
Wightwick, einer der Schüler Soanes,
präsentierte 1840 in seinem Werk he
Palace of Architecture: A Romance of
Art and History71 einen fiktiven Garten,
der die Baustile aller Zeiten und Räume
als Kleinarchitekturen versammelte
und nach einem didaktischen Konzept anordnete. he Palace of Architec-
Abb. 31. Europäische und indische Phantasiearchitekturen.
Beide Torhäuser vereinigen
europäische und orientalische
Stilelemente. Links: "The
Palace Gate" aus George
Wightwicks Architekturtraktat
The Palace of Architecture
1840. S. 7. Rechts: Torhaus
des Moti Mahal. Photographie
von Felice Beato 1958. Abzug
aus dem Fotoalbum von Dr.
Goldie-Scot of Craigmuie,
79th Cameron Highlanders.
ture zeichnete eine ideale Stilgeschichte,
die vom hinduistischen Indien über die
Antike, das christliche Mittelalter, die
Baustile des Orients und des islamischen Indiens zur italienischen Gothik
und dem Stil Palladios führte und letztendlich in einer "Anglo-Italian Villa" als
Mittelpunkt des Gartens mündete. Der
Übergang zwischen den Abschnitten
des imaginären Gartens, die je einzelnen
Baustilen gewidmet sind, bildeten Torhäuser als programmatische Verkörperungen der jeweiligen Architekturstile,
die zugleich veranschaulichten, dass die
dargestellten Kulturen die gleichen elementaren Bauaufgaben in unterschiedlicher Weise gemeistert hatten (Abb.30).
Auch sah Wightwick durchaus Verbindungslinien zwischen diesen Stilsystemen, so zwischen dem christlichen und
dem islamischen "Spitzbogenstil" in
seinen verschiedenen Spielarten. Dass
dieses imaginierte Architekturmuseum
seinen Ort in einem Garten fand, ist
kein Zufall. Der Schüler Soanes setzte
sich in die Tradition anspielungsreicher
Gärten, die in Kleinarchitekturen unterschiedliche Zeiten und Räume zitierten,
eine Praxis, die in den Landschatsgärten Englands in Pavillons, künstlichen
Ruinen oder architectural follies gerade
einen Höhepunkt erlebte. Als Haupteingang dieses Gartens Weltarchitektur entwarf Wightwick ein Eingangstor,
das collagenartig alle Architekturstile in
sich vereint (Abb.31).
Vergleicht man diese Fiktion Wightwicks mit den phantastischen Torhäusern Wajid Ali Shahs sind durchaus Parallelen zu konstatieren; doch
war es in Lucknow selbstredend nicht
das exotische, sondern das europäische Element, das diesen Bauten ihre
70
märchenhate Verfremdung verlieh;
es tritt im Torhaus des Sikander Bagh
ebenso entgegen wie in den europäisch wirkenden Türmen über der Toranlage, die zum Landhaus Moti Mahal
führte. Während sich George IV. als
Prinzregent von Nash im Royal Pavillion einen gebauten Traum von Indien
errichten ließ, realisierten die Nawabs
von Oudh europäische Scheinwelten, indem sie sich – neben anderem
– turm- und zinnenbewährte Landhäuser im Stil romantischer Ritterburgen mit Wassergraben und Zugbrücke
bauen ließen, so wie etwa das Landhaus
Khurshid Manzil, das während der
Regierungszeit Saadat Alis Shahs entstand und später der gerade aktuellen
romantischen Mittelaltermode Europas folgend zu einer zinnenbewehrten
Burg umgebaut wurde (Abb.32).72
Die teils gelehrten, teils spielerischen
Spekulationen über Ursprung und
Entfaltung der Architekturstile, die
im Geist der Romantik von der Überzeugung ausgingen, dass Kulturen in
ihrer Verschiedenartigkeit gleichwertig sind, finden in der zweiten Hälte
des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund eines kolonial ausgreifenden
Europa ihr Ende. Baugeschichte, wie
sie Fergusson betreibt, ist zugleich
Ausdruck eines neuen Typus von Wissenschat, der weniger spekulativ, sondern sammelnd, ordnend und klassifizierend vorgeht und Baustile an ihren
vermeintlich "besten" und "reinsten" Beispielen bewertet. Dahinter
stand ein Entwicklungskonzept von
Bau- und Stilentwicklung, das in den
Begriffen Evolution und Bastardisierung durchaus eine Nähe zur Biologie
und Rassenlehre signalisiert. Unhin-
Abb. 32. Khurshid Munzil.
Das Landhaus wirkt wie ein
befestigter europäischer
Herrensitz. Im Vordergrund
sind die Erdbefestigungen
der Insurgenten zu erkennen,
die im März 1858 von einer
britisch-indischen Armee
gestürmt wurden. Aufnahme
von Felice Beato 1858. Abzug
aus dem Fotoalbum von Dr.
Goldie-Scot of Craigmuie,
79th Cameron Highlanders.
terfragte Voraussetzung im zugrundegelegten Evolutionsmodell war dabei,
dass die Bau- und Stilentwicklung der
europäischen Völker denen außereuropäischer Kulturen weit überlegen
sei. Von dem selbst zugeschriebenen
Platz an der Spitze einer zivilisatorischen Fortschrittspyramide musterten die imperialistischen Nationen
mit dem ihnen eigenen Sendungsbewusstsein die baulichen und kulturellen Schöpfungen anderer Erdteile,
die nun zum Objekt ihres Zugriffs
wurden.73 Der indische Aufstand, in
dessen Folge die privatwirtschatlich organisierte ostindische Kompanie in eine direkte Kolonialherrschat
überführt wurde, stellt hier einen entscheidenden Wendepunkt dar. Es ist
ein bezeichnendes Zusammentreffen,
dass zwei Jahre nach der Eroberung
Lucknows ein weiteres Beispiel asiatisch-europäischer Stilsynthese, der
ältere Sommerpalast bei Peking mit
seinen auf Vermittlung der Jesuiten
errichteten Bauten im Stil eines europäisch-chinesischen Rokoko, 1860
von einer britisch-französischen Strafexpedition geplündert und niedergebrannt wurde.74
Einher geht die veränderte Sichtweise
auf die Architekturgeschichte in der
zweiten Hälte des 19. Jahrhunderts
mit einem christlich-moralisierenden Sendungsbewusstsein, wie es vor
allem John Ruskin in he Seven Lamps
of Architecture (1849) propagierte.
Ruskins sieben Leuchten – sieben Prinzipien – der Baukunst lesen sich eher
wie ein christlicher Tugendkatalog: der
Wert eines Bauwerks drückt sich nach
71
Ruskin in Opferbereitschat, Wahrheit, Stärke, Schönheit, Leben, Erinnerung und Gehorsam aus. "Unwahre"
Elemente wie vorgeblendete Säulen
ohne konstruktive Funktion oder vorgetäuschte Materialien galten Ruskin
unabhängig von lokalen Bautraditionen oder verfügbaren Materialien
als "architektonische Lügen", die sich
gegen das Prinzip der Wahrheit versündigten.75 Ausgehend von diesen
Prinzipien mussten die verputzten Ziegelbauten Lucknows, deren feiner, mit
Perlmutt angereicherter Stuck Marmor
imitierte, oder die mit nur dünnen Blechen überzogenen Kuppeln nicht allein
als stilistisch bedenklich, sondern auch
als moralisch verwerflich erscheinen,
zumal ein sittenstrenger viktorianischer Betrachter wenig Verständnis für
die Prachtentfaltung und das Haremswesen der Könige von Oudh aufzubringen wusste.
Vom Grundsatz der Stilreinheit her
gewertet, schien wiederum eine Vermengung von Stilelementen, wie sie in
Lucknow praktiziert wurde, ein ebensolches Unding wie eine Kreuzung
von Hunden und Katzen, um Tillotsons irreführenden biologistischen
Vergleich noch einmal aufzugreifen.
Doch auch die Übertragung eines
Baustils auf eine andere Kultur wurde
vor der Überlegung fragwürdig, dass
Bauformen der reine Ausdruck eines
Volks- bzw. Rassecharakters seien. Die
Übernahme europäischer Baustile für
oder durch Inder, wie sie in der ersten
Hälte des 19. Jahrhunderts noch gängige Praxis war, konnte aus dieser Perspektive keine Option mehr sein.
Abb. 33 & 34. Zustand der
Lakhi Tore des Kaisarbagh im
Jahr 2005. Aufnahmen mit
freundlicher Genehmigung
von Professor Bret Wallach ©.
Ende
Diese Überlegungen waren schließlich auch für die Frage bedeutsam, in
welchem Stil die nach dem Aufstand
von 1857/58 gefestigte britische Herrschat in Indien ihren baulichen Ausdruck finden sollte. Nach 1876, der
Proklamation von Königin Victoria als
Kaiserin von Indien, wurde die überwiegende Zahl öffentlicher Großbauten der Kronkolonie in einem indischsarazenischen Stil errichtet, der die
britische Herrschat als Nachfolge der
Mogulherrschat inszenierte. Diese
Entwicklung war mittelbar ein Ergebnis der Architekturdiskussion in der
Folge des indischen Aufstandes. Die
anglo-indische Führungselite von
Offizieren und Verwaltungsbeamten
72
errichtete ihre kolonialen Großbauten bis in die späten 1920er Jahre in
einem Stil, von dem sie glaubte, dass
er geeignet war, die Masse der indischen Bevölkerung zugleich anzusprechen und zu beeindrucken, da er an
indische Sehgewohnheiten und Traditionen anknüpte.76 Mehr oder minder explizit wetteiferten diese Anlagen
dabei auch mit den Monumenten der
Moguln. Für die eigenen Wohnbauten,
Kirchen und Stadtviertel, die ohnehin
in von den indischen Städten räumlich getrennten cantonments entstanden,77 hielten die Kolonialherren hingegen in Sorge um ihre britische Identität entschlossen an europäischen
Formen fest. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich schließlich unter
dem Einfluss von Lutyens Entwürfen
für den neuen Regierungssitz in NeuDelhi eine neue, bewusst vollzogene
Synthese aus klassischen, indisch-islamischen und hinduistischen Formelementen im Formgefühl eines imperialen Art Deko.78
Auch in Lucknow dokumentieren die
Bauten, die nach der Niederschlagung
des Aufstandes entstanden, diese programmatische Entscheidung zugunsten eines indisch-islamischen Stils bis
um 1930 der Einfluss der von Lutyens
vollzogenen Synthese auch hier spürbar
wurde.79 Den "europäischen" Bauten
der Nawabs wurde hingegen mit weniger Respekt begegnet, selbst wenn sie
teils zum Sitz der neuen Eliten der Stadt
avancierten. Ein Teil der königlichen
Residenzen diente der britischen Garnison und Verwaltung. Der Bara Chattar Manzil Palast wurde etwa zum Sitz
des United Service Club, die Lal Baradari zum Sitz des Provinzmuseums.
Der große Hof des Kaisarbagh-Palastes wurde durch Straßen geöffnet, der
nordliche Flügel abgebrochen und die
verbleibende Randbebauung aufgeteilt,
um als Stadtresidenzen für eine neue
Schicht landbesitzender Grundherren
(Taluqars) zu dienen.80 Die britischen
Kolonialherren formten die herrschatliche Anlage damit nach einem MusAnmerkungen:
ter um, das der englischen Gentry aus
dem Mutterland wohlvertraut war: die
Stadtresidenz als Reihenhaus. Der Lustgarten des letzten Nawab wurde umgedeutet zu einem städtischen Square.
Abrisse und jahrzehntelange Vernachlässigung haben seitdem die von der
europäischen Architekturkritik verurteilten Bauten weitgehend zerstört;
das Verbliebene ist bedroht von Verfall.81 (Abb.34) Das Spiegelbild europäischer Baukunst, welches die Nawabs
von Oudh in einer einzigartigen Synthese mit der eigenen Tradition erstehen ließen, ist in einer Folge beabsichtigter oder gedankenloser Zerstörungen weitgehend verloren gegangen, ein
Prozess, für den die von William Russel geschilderte Plünderung der königlichen Bauten 1858 nur den Autakt
bildete:
Welches Bild der Zerstörung bietet
sich dem Auge, als wir die große Eingangshalle betreten. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß der Marmorboden zwei, drei Zoll hoch bedeckt
ist mit Fragmenten zerbrochener Spiegel und Kandelaber, die einmal an der
Decke hingen. Und noch immer sind die
Männer dabei, alles kurz und klein zu
schlagen.82
Anwer Abbas: Wailing Beauty. The the Eastern Roman Empire) but
Perishing Art of Nawabi Lucknow. the Roman Empire as well, and
1 G.[iles]H.[enry] R.[upert]
Lucknow 2002.
that the Rumi Darwaza is the
Tillotson: The Tradition of
equivalent of a Roman triumphal
Indian Architecture. Continuity, 4 Es handelt sich dabei um eine arch." Peter Chelkowski:
Controversy and Change since
"fiktive" Kopie. Ein vergleichbarer "Monumental Grief: The Bara
1850. New Haven, London
Bau in Konstantinopel ist nicht
Imambara." In: Rosie Llewellyn1989. S. 14.
bekannt. Hinweise auf den Bezug Jones: Lucknow. City of Illusion.
zu Konstantinopel/ Istanbul
München, Berlin, New York 2006.
2 P[oorno] C[hunder]
finden sich in der Literatur
S. 101-133. Hier: S. 108.
Mookherji: Pictorial Lucknow.
häufiger, aber ohne belastbare
5 Chelkowski: "Monumental
Lucknow 1883. Reprint: New
Quellenangabe; so etwa in
Delhi 2003. S. 211.
Grief." Wie Anm. 4. S. 111, 127.
älteren Reiseführern: Beg 1911
M.[irza] A.[mir] Beg: The Guide
3 Der entsprechende Bautyp
6 Dieses Architekturzitat aus
to Lucknow, Containing Popular
heißt in Lucknow in Anlehnung
dem indo-islamischen Bereich
Places and Buildings Worthy of
an das irakische Vorbild "Karbala". a Visit. Lucknow 61911 (11891).
ist als Beispiel umso wichtiger,
Nachdruck: New Delhi, Madras
Hierzu Neeta Das: "Lucknow's
da es sich beim Architekten der
2000. S. 73-74. Etiam: Yogesh
Imambaras and Karbalas." In:
Husseinabad Imambara, Ahmed
Praveen: Lucknow Monuments.
Rosie Llewellyn-Jones (Hg.):
Ali Khan (Chota Miyan), um
Lucknow then and now. Mumbai: Lucknow 1989. S. 45-46. Peter
den selben Baumeister handelt,
2003. S. 90-102. Eine Reihe von
der später für Wajid Ali Shah
Chelkowski deutet den Namen
10 kleineren unmittelbar vom
den Kaisarbagh errichtete; vgl.
des monumentalen Tores als
Verfall bedrohten "Karbalas"
Mookherji 1883 (vgl. Anm. 2). S.
Hinweis auf Byzanz: "I believe
und Imambaras in Lucknow
that 'Rum' here indicates not only 183. Ahmed Ali Khan verwenlistet Saiyed Abbas auf. Saiyed
Byzantium (Rum in Arabic means dete also, wie im Abschnitt über
73
den Kaisarbagh zu zeigen sein
wird, eine ähnliche Methode
architektonischen Zitierens in
seinen profanen wie in seinen
sakralen Bauten.
Dilkusha dagegen als "very
un-Indian". Rosie LlewellynJones: A Fatal Friendship. The
Nawabs, the British and the City
of Lucknow. Oxford 1985. S. 43.
Ich möchte dem widersprechen.
7 Neeta Das: Indian
Ich kenne keine vergleichbaren
Architecture: Problems in the
Beispiele für die OrnamenInterpretation of 18th and 19th
tierung eines Turmhelmes als
Century Architecture – A Study of Blätterlaube. Dagegen ist dieses
Dilkusha Palace Lucknow. Delhi Blätterornament in Lucknow
1998.
mehrfach in der Gestaltung von
Kuppeln oder etwa im Abschluss
8 Saadat Ali ist allerdings nicht der Minarette der Asafi Moschee
der erste Nawab, der Bauten im zu fassen.
Stil des europäischen Klassizismus errichten lässt; auch sein
17 Auf diesen Befund hat
Vorgänger Asaf ud Daula hatte
zuerst Rosie Llewellyn-Jones
mehrere europäische Häuser im hingewiesen. Llewellyn-Jones
Palastkomplex Daulat Khana
1985 (vgl. Anm. 16.) S. 152-153.
von europäischen Ingenieuren
Etiam: Sophie Gordon: "The
errichten lassen. Saadat Ali Khan Royal Palaces". In: Llewellynverlegt den Schwerpunkt seiner Jones (Hg.) 2003 (vgl. Anm. 4).
Bautätigkeit demgegenüber
S. 30-87. Hier: S. 42-43.
nach Süden.
18 Walter Hamilton: The
9 Das 1998 (vgl Anm. 7). S. 19. East-India Gazetteer containing
descriptions of Hindostan.
10 1809 wird Ouseley als
London 1828. II S. 131. Zitiert
Botschafter an den Hof des
nach Llewellyn-Jones 1985 (vgl.
Shahs von Persien berufen, 1823 Anm. 16). S. 185.
ist er Gründungsmitglied der
Asiatic Society in London.
19 "Zopfstil" in Deutschland,
"Louis Seize" in Frankreich oder
11 Das 1998 (vgl Anm. 7). S. 24. "Late Georgian" in England.
12 Bilder des heutigen
Zustandes von Seaton
Delaval: hier. http://www.
flickr.com/photos/howick/
sets/72157601786763759/
13 Im Wasserfarbenbild von
Seeta Ram hat der Künstler die
Nebengebäude gegenüber ihrer
tatsächlichen Lage allerdings
um 90° gedreht. Insofern ist
nicht ganz auszuschließen, dass
es sich um eine Idealansicht
handelt.
14 Das 1998 (vgl. Anm. 7).
S. 46-48.
15 Dilkusha war im März 1858
Hauptquartier der von Colin
Campbell geführten britischen
Armee.
16 Rosie Llewellyn-Jones
betrachtet die Turmhelme der
20 Chatris sind freistehende
oder als Dachaufsatz dienende
Pavillons.
21 Banmali Tandam: The
Architecture of Lucknow and
its Dependencies 1722-1856.
A Descriptive inventory and an
Analysis of Nawabi Types. Delhi
2001. S. 89.
22 Vgl. J.P. Losty: "Painting at
Lucknow." In: Llewellyn-Jones
(Hg.) 2003 (vgl. Anm. 3). S. 131,
132.
23 Dieser auffallende Befund
wurde bei der Deutung des
Gebäudes in der bisherigen
Literatur offenbar übersehen.
24 Auch eine weitere Anspielung ist denkbar: die europäische Fassade des Chota Chattar
Manzil weist nach Norden zum
74
Herkunft der europäischen
Formen, die indische nach
Süden. Dies mag ein gelehrtes
Architekturspiel mit den
verwendeten Architekturstilen
und ihrer Herkunft andeuten.
25 Hintergedanke bei Wahl
dieser Form war möglicherweise
die Absicht, den Frauen des
Nawabs (ähnlich wie in Jaipur)
einen Ausblick auf die Schiffsprozessionen und Feuerwerke
zu gestatten, die sich am und
auf dem Fluss Gomti abspielten.
Diese Schiffsumzüge waren
elaborierte und prunkvolle
Inszenierungen. Die Nawabs
besaßen zu diesem Zweck ein
eigenes Staatsschiff in Form
eines Fisches, der als eine Art
Wappentier auch regelmäßig
auf Toranlagen in Lucknow anzutreffen ist. Dieses Staatsschiff
ist zusammen mit der halb
versenkten königlichen Yacht
auch auf einem Photo von Felice
Beato dokumentiert. Cf. Clark
Worswick, Ainslie Embree (Hg.):
The Last Empire. Photography in
British India 1855-1911. New
York 1990. S. 63. Auch Mookherji
berichtet von Umzügen mit
"fancy boats" während des
hinduistischen Festes Basant.
Mookherji 1883 (vgl. Anm. 2).
S. 158.In kleinerem Umfang
gehörten Schiffsfahrten auf
dem Gomti aber auch schlicht
zu den üblichen Vergnügungen
des Hoflebens. Eine Zeichnung
von Robert Smith aus dem Jahr
1832 etwa zeigt eine Reihe von
Schiffen, die von einer Barke mit
Musikanten und Tänzerinnen
begleitet werden. LlewellynJones (Hg.) 2006 (vgl. Anm. 4).
S. 38-39.
26 Tandam 2001 (vgl. Anm. 21).
S. 90.
27 In der Tat erinnert der Bau
entfernt an zeitgenössische
europäische Opernhäuser,
obwohl er eine ganz andere
Funktion hatte.
28 Vgl. Waqarul H. Siddiqi:
Lucknow, the Historic City. New
Delhi 2000. S. 72.
29 Vgl. die Panoramaaufnahmen Beatos in: Llewellyn-Jones
(Hg.) 2006 (vgl. Anm. 4). Abb.
48 (Teil 1 und 2) S. 92-93, Abb.
71 S. 136-137. Das Gebäude,
das in der Substanz heute noch
existiert, ist namentlich nicht
identifiziert.
30 Sharar spricht von einem
Gebäude "similar to Babylon's
minaret or floating garden", gibt
aber keine Gründe für diese
Interpretation. Da das Motiv des
Babelturms in der islamischen
Kunst unbekannt ist, dürfte der
Turm, wenn Sharars Deutung
zutreffen sollte, ebenfalls
von europäischen Vorbildern
inspiriert sein. Abdul Halim
Sharar: Lucknow. The Last Phase
of an Oriental Culture. London
1975 (Originalausgabe 11920).
S. 59. In: The Lucknow Omnibus.
Den Zustand des Turmes um
1870 zeigt eine Aufnahme
von Edward Saché: hier. Den
heutigen Zustand zeigt eine
Aufnahme aus dem Jahr 2005.
Im angrenzenden Daulat Khana
Palast befand sich zudem
noch ein weiteres, schlankes,
sechsgeschossiges Gebäude;
Rosie Llewellyn-Jones vermutet
darin eine Pagode, die durch
eine literarische Quelle belegt
ist. Llewellyn-Jones 1985 (vgl.
Anm. 16). S. 181.
31 Hierzu etwa die vielfältigen
Beispiele in: Eleanor DeLorme:
Garden Pavillions and the 18th
Century French Court. 1996.
32 Die Fülle von Anlagen, welche die Silbe "bagh" – "bagh"
bedeutet "Garten" – in ihrem
Namen tragen, illustriert die
Dominanz dieses Bautyps:
Wichtige Anlagen sind der Musa
Bagh, Badschah Bag, Charbagh,
Sikandar Bagh, Alambagh,
Kaisarbagh. Auch Moti Mahal
war ein Garten dieses Typs. 33
Vgl. Anm. 72.
34 Beg 1911 (vgl. Anm. 4). S.
65. Fast wortgleich: Edward
H. Hilton: The Tourists' Guide
to Lucknow. Lucknow 61907.
S. 174.
35 Mookherji 1883 (vgl.
Anm. 2). S. 205.
36 Gordon 2006 (vgl. Anm. 17).
S. 60.
37 Siddiqi 2001 (vgl. Anm.
28). S. 84. Die Literatur spricht
diesen Bau meist als Baradari
an. So auch Tandam 2001(vgl.
Anm. 21). S. 116.
38 Sharar 1920 (vgl. Anm. 30).
S. 64.
(ein lakh) aufgewendet, daher
der Name. 100.000 Rupien
entsprachen 10.000 £ Stirling.
45 Vgl. etwa den Entwurf für
einen chinesischen Pavillon von
Michel-Bartélémy Hazon um
1770. DeLorme 1998 (vgl. Anm.
31). S. 153.
46 Vgl.: hier. http://www.flickr.
com/photo_zoom.gne?id=6607
36&context=set-16897&size=l
47 Vgl. Anm. 25.
39 Den besten Überblick über die
architektonische Gestalt der Jilau
Khana bietet eine sechsteilige
Panoramaaufnahme von Felice
Beato, die unmittelbar nach dem
Ende der Kämpfe 1858 entstand.
Auf dieser Aufnahme erkennt
man neben den erwähnten
Kleinarchitekturen auch zwei
Holzgerüste: es sind Galgen für
die Hinrichtung der indischen
Insurgenten. Im Norden des
Hofes dokumentiert die Photographie zwei geplünderte und
verwüstete Gebäude, in denen
der Nawab eine Sammlung von
europäischem Kunsthandwerk
und Möbeln untergebracht hatte.
Das Panorama ist reproduziert in:
Llewellyn-Jones (Hg.) 2003 (vgl.
Anm. 4). S. 64-69.
48 Praveen 1989 (vgl. Anm. 4).
S. 181.
40 Ebd. S. 73.
49 Barnett berichtet, dass 1780
am Hof von den 12 Favoriten
aus dem direkten Umkreis Asaf
ud Daulas nur noch ein einziger
aus einer muslimischen Familie
stammte: "This shows how
far Asaf had removed himself
from Islamic high culture and
the religious establishment, as
well as how easily he related to
ordinary soldiers even though
they were almost all Hindus."
Richard B. Barnett: North
India Between Empires. Awadh,
the Mughals and the British
1720-1801. Berkeley u.a. 1980.
S. 177. Dieser Prozess hatte sich
bei seinem Nachfolger Wajid Ali
Shah offenbar fortgesetzt.
41 Rosie Llwellyn-Jones:
"Reflections from Lucknow on
the Great Uprising of 1857".
http://www.usiofindia.org/article_Oct_Dec05_10.htm.
Abruf: Oktober 2007. Zum
Vergleich: ein Maurermeister
verdiente in Lucknow 0,25
Rupien am Tag. Llewellyn-Jones
1985 (vgl. Anm. 16) S. 51.
50 Sharar 1920 (vgl. Anm.30).
S. 64-65, 74. Etiam: Praveen:
Lucknow Monuments. Wie
Anm. 4. S. 180-181. Praveens
Darstellung ist mit Vorbehalten
zu betrachten, sie ist erzählend,
anekdotisch und nennt keine
Quellen. Sie bietet aber mehrfach
Hinweise, die sonst nicht in der
Literatur zu finden sind.
42 "dancers and singers became
the pillars of the state and
favourites of the realm". Sharar
1920 (vgl. Anm. 30). S. 63.
51 William Knighton: Elihu
Jan's Story or The Private Life
of an Eastern Queen. (11864)
In: Ders.: The Private Life of an
Eastern King. Together with Elihu
Jan's Story or The Private Life of
an Eastern Queen. London u.a.
1921. C. 14. S. 306-311.
43 Mookherji 1883 (vgl. Anm.
2). S. 159, 165.
44 Tandam 2001 (vgl. Anm.
21). S. 131. Für den Bau der
Tore wurden 100.000 Rupien
75
52 Sharar berichtet, dass Wajid
ud Daula seine religiösen Pflich-
58 Unausgesprochen mag
sich in dieser Sichtweise die
Angst des Europäers vor einem
Verschwinden in der zahlenmäßig erdrückenden Mehrheit der
indigenen indischen Bevölkerung ausdrücken.
73 Die Überlegenheit der
europäischen Architektur
steht bereits in Wightwicks
Gartenphantasie und anderen
Darstellungen zu Beginn des
19. Jhds. fest, in denen die
zeitgenössische Architektur
Europas End- und Höhepunkt
59 Fergusson ebd. S. 588.
der Entwicklung bezeichnet.
Diese theoretische Konzeption
60 James Fergusson: History of verbindet sich im Zeitalter
53 A.[lois Anton] Führer: The
the Modern Styles of Architecture. des Imperialismus mit der
Monumental Antiquities and In- London 1862. Hier zitiert nach
direkten Herrschaft über andere
scriptions, in the North-Western der zweiten Auflage London
Regionen der Welt.
Provinces and Oudh. Described
1873. S. 402-403.
and Arranged. Allahabad
74 Zur Zerstörung des
1891. Nachdruck: Delhi 1970.
Sommerpalastes und zu den
61 Ebd. S. 437 f.
S. 265 f. Russell fühlte sich
erhaltenen Photodokumenten:
in Unterschied dazu beim
Régine Thiriez: Barbarian Lens:
62 Brobdingnag – Land der
Kaisarbagh an Temple Gardens, Riesen in Swifts Gullivers Reisen. Western Photographers of the
das distinguierte Juristenviertel
Qianlong Emperors European
Londons, erinnert. Vgl Howard
63 Fergusson 1873 (vgl. Anm.
Palaces. Amsterdam 1998.
William Russell: Meine sieben
59). S. 315-316.
Kriege. Die ersten Reportagen
75 Hierzu Hanno-Walter Kruft:
von den Schlachtfeldern des
Geschichte der Architekturtheo64 Ebd. 329.
neunzehnten Jahrhunderts.
rie. München 2004 (11985). S.
[gekürzte deutsche Überset380-383.
65 Roderich Fuëß: "Eine
zung] Frankfurt a.M. 2000. S.
Anmerkung zum Royal Pavilion
76 Hierzu die hervorragende
172-173. Der englische Text in: in Brighton." In: Daidalos 19
Studie: Metcalf 1989 (vgl. Anm.
Ders.: My Indian Mutinity Diary. (1986). S. 74-80. Etiam: Jan
57). S. 55-90.
Reprint ed. v. Michael Edwardes. Pieper: "Sezincote. Ein ostLondon 1970. S. 100-101.
westlicher Divan". In: Daidalos
77 Cf. Jan Pieper: Die
19 (1986). 54-73.
54 Vauxhall Gardens schlossen
anglo-indische Station oder die
endgültig im Jahr 1859, Surrey 66 Vathek. Conte arabe.
Kolonisierung des Götterberges.
Gardens 1862. Rosherville
Hindustadtkultur und KolonialLausanne 11786. Englische
Gardens schlossen hingegen
Erstausgabe: Anonym [William stadtwesen im 19. Jahrhundert
erst 1910. Hierzu auch: Walter
als Konfrontation östlicher und
Beckford]: The history of the
Sidney Scott: Green retreats;
westlicher Geisteswelten. Bonn
Caliph Vathek. London 1786.
the story of Vauxhall Gardens,
1977.
1661– 1859. London 1955.
67 Tales of the Grotesque and
Arabesque. 1Philadelphia 1840. 78 Tillotson 1989 (vgl. Anm. 1).
55 Tandam 2001 (vgl. Anm. 21).
S. 56-59, 117-126. Metcalf 1989
S. 213.
(vgl. Anm. 57). S. .219-239
68 À rebours. 1Paris 1884.
ten sehr ernst nahm, aber auch
die toleranten Aspekte seiner
Religion zu genießen wusste.
Zur Sanktionierung seiner vielen
Kontakte mit Hofdamen und
Dienerinnen schloss er "Ehen
auf Zeit", was, so Sharar, nach
schiitischer Auffassung möglich
ist. Sharar 1920 (vgl. Anm. 30).
S. 71.
56 Die Bedeutung dieser
Figuren scheint auch Tandam
entgangen zu sein, wenn er sie
als "work of a shocking vitality"
klassifiziert, nicht aber ihre
Funktion als heraldische Zeichen
anführt. Ebd. S. 214.
57 James Fergusson: History of
Indian and Eastern Architecture.
London 1876. S. 490-492, 497.
Hierzu Thomas R. Metcalf:
An Imperial Vision. Indian's
Architecture and Britain's Raj.
Berkeley, Los Angeles 1989. S.
37-38.
79 Christopher W. London:
"Building on Past Traditions:
The Victorian, Edwardian, and
Modernist Architecture of
70 Brian Lukacher: Joseph
Gandy. An Architectural Visionary Lucknow." In: Llewellyn-Jones
(Hg.) 2003 (vgl. Anm. 3). S.
in Geogian England. New York
2006. S. 168-197.
77-89.
69 The Picture of Dorian Gray.
London 1891.
1
71 George Wightwick: The
Palace of Architecture: A
Romance of Art and History.
London 1840.
72 Llewellyn-Jones 1985 (vgl.
Anm. 16). S. 152-153.
76
80 Die Förderung dieser
Taluqars war ein politischer
Schachzug, der die frühere
Hofelite der Könige von Oudh
durch eine landbesitzende
Klasse ersetzte, die den Briten
für ihren Aufstieg zu Dank
verpflichtet war. Veena Talwar
Oldenburg. The Making of
Colonial Lucknow. 1856-1877.
Princeton 1984. In: The Lucknow
Omnibus. S. 221-224.
81 Einen Überblick über den
82 Russell 2000 (vgl. Anm.53).
Verfall bedrohter Bauten
S. 170.
versucht: Abbas: Wailing Beauty.
Wie Anm. 3.
Abbildungsnachweis:
co.uk/collections/svadesh/textintro.cfm
http://www.flickr.com/photos/
djgold/sets/16897/
Abb. 14, 29, 31b, 32: Fotoalbum
Dr. T. Goldie-Scot of Craigmuie,
Moniave, Surgeon 79th Cameron
Highlanders (Fotoalbum mit
Aufnahmen von Felice Beato
1858).
Abb. 33, 34: Bret Wallach.
http://www.greatmirror.
com/index.cfm?countryid=563
&chapterid=1133&picturesize
=medium
Abb. 12, 15, 16, 19-21, 24, 30,
31a: Sammlung des Autors.
Abb. 13, 17, 18, 22, 23, 25-28:
British Library, Asia, Pacific and
Africa Collections.
http://www.collectbritain.
77
78
Manfred Speidel
(Aachen)
Träume vom Anderen
Japanische Architektur mit europäischen Augen gesehen – Einige Aspekte zur
Rezeption zwischen 1900 und 1950.
Die traditionelle japanische Architektur mit ihrer Leere und Sachlichkeit wurde zwischen
1930 und 1950 zu einem Referenzmodell für die Moderne. Doch die Wahrnehmung der
gestalterischen Qualitäten der japanischen Baukunst in Europa erfolgte spät. Manfred
Speidel untersucht in seinem Beitrag die Schritte und die Motive für die Wahrnehmung
der Architektur Japans in Deutschland – ein Prozess der bis heute vom "Überraschtsein"
erzählt, in Asien grundlegende Ziele der Moderne wiederzufinden.
http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-11983
Januar 2008
#1 "FremdSehen"
S. 79-96
Abb. 1. Kenzo Tange. Sporthalle für die olympischen
Spiele in Tokyo, 1964. Foto
Speidel.
Als ich im April 1966 ausgestattet mit
einem Jahresstipendium – also unbesorgt – nach Japan flog, war ich recht
unvorbereitet. Ich hatte nach dem
Architekturstudium in Stuttgart einen
Lehrautrag an der Hochschule für
Gestaltung in Ulm, der alle Zeit beanspruchte. Einen Sprachkurs hätte ich
eventuell in Tübingen machen können, das hatte ich aber nicht getan.
verbinden wusste. (Abb. 1) Die faszinierenden Kurven alt-japanischer
Tempeldächer schienen mit neuem
Sinngehalt in der Gegenwart wiedergeboren, Tradition sich in Moderne
mit Hilfe neuer Konstruktionen verwandelt zu haben. Das galt ebenso für
Tanges Golklub Gebäude. Das schien
uns genial. Tange erhielt bereits 1963
den Ehrendoktor unserer Fakultät.
Architektonisch war für mich und
meine Kommilitonen damals – außer
den USA – vor allem Japan interessant. Hatten uns doch, z.B. die
Olympischen Spiele 1964 mit zwei
Sporthallen des Architekten Kenzo
Tange ein architektonisches Kunstwerk beschert, das mühelos eine riesige Seilkonstruktion für ein Dach
mit einer Stahlbetonskulptur für die
Tribünen, also "leichtes Zelt" und
"schwere Mauer" zu einer Einheit zu
Durch Publikationen des deutschen
Architekten Günter Nitschke wurde
uns – ebenfalls 1963 – die bereits 1960,
anlässlich eines Design-Weltkongresses in Tokyo gegründete Gruppe der
Metabolisten vorgestellt, insbesondere
Kiyonori Kikutake, der utopische Technologien zum Bau künstlicher Inseln
mit japanischer Philosophie eines
zyklischen Wandels verband (Abb. 2).
Sein 1958 gebautes, erweiterbares Skyhouse in Tokyo verband beides japani-
Abb. 2. Kiyonori Kikutake.
Marine City, Unabara.
Entwurfsskizze, 1960.
80
Abb. 3. Kunio Maekawa.
Konzerthalle in Ueno, Tokyo,
1961. Foto Speidel
sche Raumstruktur und austauschbare genes und ebenes Dach überdeckt
Raumelemente.
und fasst unter sich Raumlandschat
zusammen, eine bewegte Topographie,
Auch Kenzo Tange schloss sich die- die das große Foyer auch heute noch
ser Gruppe an. Tange, Kiyonori Kiku- zu einem Raumerlebnis werden lässt.
take und schließlich Kunio Maekawa,
der in Deutschland als Architekt des Das waren meine Träume von Japan,
Japanischen Kulturinstitutes in Köln die ich allerdings rasch gesehen hatte.
bekannt wurde, – Maekawa schuf mit
der 1961 vollendeten Konzerthalle in Auf meiner ersten Rundreise im SomTokyos Ueno Park eine Japanisierung mer 1966, die eigentlich der Moderne
der Ästhetik Le Corbusiers, der ja auch galt, entfaltete sich aber, zu meiner Übereiner unserer Heroen war (Abb. 3). Ein raschung vor meinen Augen eine zweite
großes, an den Rändern aufgeschwun- architektonische Welt. Ich entdeckte für
mich die alt-japanische
Architektur. Mich faszinierten die Holzbauten
mit ihrem weitausladenden, schattenspendenden
Dach, dem weitgespannten, sichtbaren Holzskelett, das die Schlankheit
einer Stahlkonstruktion
hatte. Ich war erstaunt
über die Einfachheit des
Katsura-Palastes, der drei
Abb. 4. Erhöhte Sitznische
hintereinander
gestaf(Shoin) im Neuen Shoin, Villa
felten Wohnbauten im
Katsura, Kyoto, um 1660. Foto
sogen. Shoin-Stil, der so
aus Zayuho, 1926.
gar nichts palastartiges
an sich hatte, über die
schlichte Schönheit seiner beweglichen, leicht
wegnehmbaren Schiebewände, papierbespannt
auf feingliedrigem Gitterwerk für einen völlig zu
öffnenden Raum, der in
geschlossenem Zustand
Abb. 5. Wohnbauten,
von innen wie eine zauMittleres und Neues Shoin der
berhate Laterne wirkt.
Villa Katsura, Kyoto, 17. JahrWie überrascht war ich
hundert. Foto Speidel.
– damals durte man die
81
Bauten auch innen sehen – über die
freie Übereck-Komposition aus Flächen, Linien und Körpern der Regalnische – ein Raum im Raum – im Neuen
Shoin, der mich spontan an die Kompositionsmanifeste der holländischen
De Stijl Bewegung von 1917 erinnerte.
Und so etwas aus dem 17. Jahrhundert,
dem europäischen Barock-Zeitalter?
Ein solcher Bau hat keine vorgesetzte
Fassade; das Äußere ist unmittelbar
Funktion für das Innere. (Abb. 4)
In den sichtbar gefügten Bauteilen
zeigte sich, selbst bei dem billigsten
Haus, wie meiner Unterkunt oder
ganz beliebigen Bauten der Umgebung, eine Sicherheit der Proportionen
und eine Feinheit in den Details, die
auf den unmittelbaren Gebrauch und
die menschlichen Maße bezug nahmen. Dazu kam die Standardisierung
durch die Tatami-Fußboden-Matten,
welche die Bemühungen der modernen Architektur um Rationalisierung
zu erfüllen schienen, ohne deren Kälte
mit modernen Materialien wie Glas,
Eisen oder Beton auszustrahlen. Das
wurde rasch mein "richtiges" Japan.
Und das zwang mich länger als ein Jahr
zu bleiben. (Abb. 5)
Hätte ich die in den 50er Jahren zahlreich erschienenen Bücher über die
japanische Architektur studiert1, oder
wäre an der Stuttgarter Fakultät eine
Lehrkrat in der Baugeschichte gewesen, die, wie Frau Eleanor von Erdberg2 an der RWTH Aachen, regelmäßig eine Vorlesung über das japanische
Wohnhaus hielt, in dem die Villa Katsura das wichtigste Beispiel war, dann
hätte sich vor meiner Reise vielleicht
bereits die Überzeugung durchgesetzt,
dass die japanische traditionelle Architektur mit den Augen der westlichen
Moderne gesehen eine ihr ebenbürtige, ihre Ästhetik jedoch um 3 Jahrhunderte vorwegnehmende, künstlerische Leistung darstelle.
Ise und Katsura
Für uns ist heute klar,
dass die japanischen IseSchreine und die Katsura-Villa zum kulturellen
Welterbe gehören müssen, zu dem man ruhig
auch noch die NikkoMausoleen, die Schreinanlagen der Shogune des
17.Jahrhunderts hinzufügen möchte, deren "tatsächlich" barocke Pracht
einer Herrschatsarchitektur in krassem Gegensatz zu den anderen beiden steht und doch in
dem herrlichen, dunklen
Zedernwald wie ein der
Natur untergeordnetes,
orientalisches Juwel aufleuchtet. (Abb. 6)
Abb. 6. Tempeltor Yomeimon, Nikko Tosho-gu, Mitte
17. Jahrhundert. Foto Speidel.
Von diesen drei großen
Anlagen war seit dem
Ende des 19. Jahrhunderts nur Nikko immer
wieder in Büchern und
Reiseberichten
abgebildet worden. Die IseSchreine konnten oder
durten nicht fotografiert
werden. Die vielleicht
erste Abbildung findet
Abb. 7. Bildseite aus: Otto
Kümmel, Japanische Baukunst
V., in: Wasmuths Lexikon der
Baukunst, Berlin 1931. oben:
Schatzhaus Shosoin, 756,
Nara. Mitte: Ise Schreine,
unten: Ho-o-do (Phoenixhalle) Uji, 1053.
82
man in Wasmuths Lexikon der Baukunst von 1931, im Beitrag "Japanische
Baukunst". Sie zeigt das Problem, die
Bauten von Ise zu fotografieren. Wegen
der hohen Zaunwand sieht man von
den Bauten lediglich die Firste; man
kann nur von einem erhöhten Standpunkt aus die Anlage übersehen, und
das sieht wie eine Ansammlung von
verfallenden Urhütten in einem Freilichtmuseum aus und gibt keineswegs,
wie Bruno Taut es 1935 charakterisieren wollte, den Eindruck einer lebendigen, nicht ruinenhaten Akropolis
Japans. (Abb. 7)
Zum ersten Mal konnten 1953, nach
dem Neubau, der alle 20 Jahre erfolgt,
Fotos aus der Lut und aus der Nähe,
der neugeborenen Bauwerke vor der
Einweihung gemacht werden. Das
ist dem Parthenon schon ebenbürtiger. Ich möchte daran erinnern,
dass ja nach dem Krieg der Tenno
vermenschlicht und damit auch das
vormalige Staatsheiligtum Ise – ausnahmsweise zur Dokumentation –
zugänglich wurde.
In dem ausführlichen Beitrag in Wasmuths Lexikon der Baukunst, 1931,
zeigt Otto Kümmel, die Autorität für
Ostasiatische Kunst im Deutschland
der Zwanziger Jahre, die Prachtbauten von Tempeln und Fürstenresidenzen, und er beschreibt sogar kurz
die Villa Katsura als ein gutes Beispiel
für das aus dem "schlichten Teestil"
entwickelten japanischen Hause,
aber von den 24 Abbildungen und
zahlreichen Zeichnungen zeigt keine
die Anlage. Auch sonst ist sie nirgends erwähnt. Selbst Kümmel stellte
noch 1929 an die künstlerische Spitze
der aus dem "Teestil" entwickelten
Wohnhauskultur die Abtswohnung
des Samboin und erwähnt Katsura
gar nicht. (Die erste Fotomappe, die
auch Bilder der Katsura Villa enthält,
erscheint in Japan 1926). So konnte
Bruno Taut, der berühmte Architekt
Berliner Siedlungen, der im März
1933 vor den Nazis floh, als er in
Japan ankam, die Villa nicht kennen,
obgleich er japanische Architektur
von Bildern her kannte. Der Besuch
der Villa Katsura am zweiten Tag seines Aufenthaltes, am 4. Mai, wurde
– wohl sehr zur Überraschung seiner Gastgeber, die sich diesen Besuch
als Geschenk ausgedacht hatten – zu
seinem Erweckungserlebnis. Er war
ja von einer Gruppe der modernen
Architekten aus Kyoto eingeladen
worden und sollte ihnen für die Entwicklung der modernen Architektur
Ratschläge geben, und nun entdeckte
er die alt-japanische Baukunst der
Villa selbst als bereits moderne. Der
stichwortartige Eintrag ins Tagebuch
vom ersten Besuch der Villa, gibt die
Überraschung wieder:
"Reine nackte Architektur. Ergreifend –
unschuldig – wie Kind. Erfüllung heutiger Sehnsucht…"
und als Resümee:
"Feinste Differenzierung
des künstlerischen Genusses: "alles" nur im Wandel, Ruhen mit Bescheidung. Schönheit für das
Auge : Auge = Transformator ins Spirituelle. So
Japan Augenschönheit."
Taut konnte sein Katsura
Erlebnis, auch sein Staunen über die Ise Schreine,
die zyklisch neu errichteten Bauten aus dem Ende
des 6. Jahrhunderts, erst
1935 in einem Aufsatz
"Neues Bauen in Japan"
in der französischen
Zeitschrit l’architecture
d’aujourd’hui europäischen Lesern mitteilen.
Abb. 8. Tetsuro Yoshida, Das
japanische Wohnhaus, Berlin
1935, Schutzumschlag.
83
Seine ausführliche Würdigung von
Katsura-Palast und Garten war aber
nur auf französisch zu lesen und wurde
von deutschen Architekten nicht wahrgenommen. Die Bilderauswahl war
spärlich auf Übereckaufnahmen an
den drei Shoin-Bauten beschränkt und
gab keinen Gesamteindruck.
Im gleichen Jahr 1935 erschien jedoch
in deutscher Sprache das Buch des
Architekten Tetsuro Yoshida, Das
japanische Wohnhaus, bei Wasmuth
in Berlin. (Abb. 8) Es ist die erste systematische und anschauliche Gesamtdarstellung des Hauses und seiner
Geschichte mit Details und vielen fotografischen Innenaufnahmen; dazu mit
mehr als 20 Abbildungen der Katsura
Anlage, der Bauten im Zusammenhang mit ihren Gärten. Für Taut war
es eine Enttäuschung, dass nicht er die
ausführliche Darstellung von Katsura
als erster in Deutschland publizieren
konnte, die er in seinem Buch Das
japanische Haus und sein Leben, ebenfalls 1935 und im Kontakt mit Yoshida
vorbereitete. Sein Buch war erst 1937
gedruckt worden und musste, als von
einem, der in Deutschland verfemt
war – in englischer Sprache erscheinen unter dem Titel Houses and People
of Japan. Sein deutscher Text wurde
erst 1997 durch unsere Publikation
bekannt.
Yoshida schrieb sein Buch sozusagen
auf Bestellung der modernen Berliner
Architekten, die er bei seinem Aufenthalt vom September 1931 bis Juni
1932 traf. Ihn "erstaunte ihr Interesse
am japanischen Wohnungsbau". Und er
schreibt im Vorwort weiter:
Abb. 9. Ho-o-den, japanischer
Pavillon auf der Weltausstellung in Chicago 1893, aus:
Kevin Nute, Frank Lloyd Wright
and Japan, London 1993,
Abb.3.6. S.52.
84
"Das japanische Wohnhaus bietet gerade
in künstlerischer Hinsicht außerordentlich viel und liefert auch für eine Lösung
der Wohnungsprobleme in der ganzen
Welt wichtiges Material."
Der "Kaiserliche Katsura-Palast in
Kyoto", war für ihn "der Höhepunkt
japanischer Wohnkultur." Das war
inzwischen in Japan, nicht zuletzt
durch Tauts Bücher, die er in japanischer Übersetzung publizieren konnte,
vielen klar geworden. Aber Taut warnte
vor einfachen Übertragungen in andere
Kulturen, wie Yoshida es zu propagieren schien. Das Echo der Modernen
auf Yohidas Buch ist uns nicht bekannt.
1935, im 3. Jahr der Nazi-Herrschat,
hatten sie offenbar Anderes zu tun, als
sich mit japanischer Architektur auseinanderzusetzen. Gleichwohl erhielt
das Buch eine Würdigung mit einem
Textauszug in der Zeitschrit Deutsche
Bauzeitung.
Die auf kulturpolitische Gleichschaltung gestimmte Architekturpresse,
wusste bei der Buchbesprechung allerdings nichts von einer 1931 noch
gesuchten Parallele zur Moderne und
lobte das Buch statt dessen als Vorbild
im Sinne der Pflege von Tradition:
"Ein Buch, auf das wir gewartet haben.
Es ist ein Zeichen dafür, dass das Schlagwort von der internationalen Architektur seine Wirkung in der Welt verliert,
dass auch in Japan die zurückgedrängte
völkische Baukunst, die ohne feste Verwurzelung in der Überlieferung nicht
denkbar ist, alten Boden neu gewinnt.
In vorzüglicher Darstellung läßt das
Buch erkennen, wie der japanische
Abb. 10. Weltausstellung Paris
1900. Ausstellungspalast
des Königreichs Siam, im
Hintergrund fünfgeschossige
Pagode des japanischen
Ausstellungspavillons, aus:
Die Pariser Weltausstellung in
Wort und Bild, 1900. S.176.
Architekt den künstlerischen Ausdruck
der Geistesart seines Volkes mit Forderungen der heutigen Lebensform zu vereinen weiß."3
Man kann sagen, dass keiner der deutschen, ja auch europäischen Architekten oder Kunsthistoriker, die über
Japan schreiben, bis zum Erscheinen
von Yoshidas Buch 1935 oder von
Tauts 1937, das japanische Wohnhaus
oder gar die japanische Architektur
als besondere kulturelle Leistung von
Weltbedeutung angesehen hat, mit
Ausnahme ihrer holzbautechnischen
Kunstfertigkeit. Es bedurte dazu einer
tatsächlichen Begegnung mit ihr und
eines Wandels in der Anschauung von
Architektur, und das war erst nach dem
2. Weltkrieg möglich.
Die große Ausnahme war Frank Lloyd
Wright, in den USA, der bereits zum
Ende des 19. Jahrhunderts die strukturelle, offene Bauweise des japanischen Hauses in die Entwürfe seiner
Präriehäuser übertragen konnte, ohne
– japonistisch – Bauformen zu kopieren. Er hatte jedoch in Chicago, seit
der Weltausstellung 1893, ein vorbildliches Beispiel japanischer Architektur vor Augen, den sogen. Ho-o-den,
einen dreiteiligen Pavillon in der Form
dreier Adelswohnhäuser im Stil des 11.,
des 15. und des 17.Jahrhunderts. Der
Pavillon stand dort bis 1946.4 (Abb. 9)
Die Wahrnehmung japanischer
Baukunst in Europa
Für die Europäer war auf der Pariser Weltausstellung 1900 der Pavillon
85
Japans, ein zweigeschossiger Bau mit
"Glockenform-Fenstern", weit weniger eindrucksvoll. Und noch weniger,
wenn man die zwar höhere, aber überaus gleichmäßig geschichtete Pagode
Japans neben dem viel exotischeren
Turmaubau über dem (thailändischen) Pavillon des Königreiches Siam
sieht. (Abb. 10)
Ich möchte vermuten, dass der erste
deutsche Architekt, der 1886 nach
Japan für die Planung des Parlamentsgebäudes in Tokyo eingeladen wurde,
der Berliner Wilhelm Böckmann
(1832-1902), und zunächst einen aufwendigen Barockpalast entwarf, für
seinen "japanisierenden" 2. Entwurf
von 1888 eher einen solchen, an Südostasien erinnernden Turmaubau für
repräsentativ hielt5 (natürlich nicht
den sehr viel späteren der Weltausstellung), und nicht eine aufwendige und
doch wenig Effekt machende Übereinanderschichtung gleichartiger Dächer
wie an der Nagoya-Burg. Böckmann
kritisierte in seinem nach der Reise
privat publizierten Tagebuch von 1886
den Aufwand und die Verschwendung
an Material bei den alten japanischen
Monumentalbauten. Er beschrieb auch
die japanischen Wohnhäuser, die ihm
lächerlich leicht gebaut erschienen und
weder gegen Erdbeben noch gegen
Stürme gefeit waren. Er charakterisierte sie als Holzbuden, die bei einem
Erdbeben wohl kaum jemanden totschlagen könnten, aber wie Zunder
brennen würden. Andererseits seien
die Häuser innen so sauber, dass " wir
von den Dielen essen können. Es kommt
das von der schönen Sitte, nie das Haus
Abb. 11. Wohnraum von
Hermann Muthesius in Tokyo,
um 1887, aus: Yuko Ikeda
(Hrsg.), Vom Sofakissen zum
Städtebau, Symposium, Kyoto
2002. S.71.
mit Schuhwerk zu betreten. Dafür gehen
wir dann auf drei Zoll dicken Matten
wie auf einem Moosteppich."6 Sein Fazit
war: das japanische Haus hat schöne
Merkmale, aber es ist ein exotisches
Objekt und für uns nicht von besonderem Interesse.
Sein Mitarbeiter, Hermann Muthesius (1861-1927), der von 1887-1890,
vier Jahre lang zur Planung des Justizministeriums und des Justizpalastes in Tokyo weilte, und der später,
1907, zu den beredten Mitbegründern
des Deutschen Werkbundes gehörte,
schwieg öffentlich völlig zur japanischen Architektur. In einem Brief an
seinen Bruder Karl vom 24. April 1889
stellt er lediglich die Leere des japanischen Raumes als das Erstaunliche
heraus: "Das japanische Zimmer ist
tathsächlich leer… Das Ideal des japanischen Zimmers ist absolute 'Leere'."
Muss man daraus schließen, dass sie
ihn erschreckte, ihm zumindest aber
unbehaglich war? Das Haus, in dem
er wohnte, war mit Teppichen, Möbeln
und Vorhängen "wohnlich" gemacht
worden und die Bildnische des Tokonoma war
mit Ziergegenständen
vollgestellt.7 (Abb. 11)
Es waren schließlich
Nicht-Architekten, die
die japanischen Wohnhäuser darstellenswert
fanden: 1886 veröffentlichte der amerikanische Zoologe Edward
Morse Japanese Homes
and heir Surroundings,
ein Buch, das allerdings
nicht in deutsche Architektenkreise
gelangte,
von Muthesius aber gelesen wurde. In Deutschland war es der Berliner
Eisenbahningenieur Franz Baltzer, der
als Berater der japanischen Regierung 5 Jahre
lang, von 1898 an, in
Japan weilte und seine in
der Freizeit angefertigten bautechnischen Stu-
Abb. 12. F. Baltzer, Das
japanische Haus, 1903,
Bucheinband.
86
dien unter dem Titel Das japanischen die berühmt gewordene Studie zu BauWohnhaus bei Ernst & Sohn in Berlin und Lebensreform in England seit der
1903 herausbrachte.8 (Abb. 12)
"Arts and Crats"-Bewegung in der
zweiten Hälte des 19. Jahrhunderts.
Baltzer war der Meinung, das Haus Zwar ist ihm, nach mehr als 10 Jahren
verdiene sehr wohl, anders als gemein- "Japan [… immer noch] in vieler Beziehin angenommen, "das Interesse unse- hung das Land, das sich einem zu träurer Architekten." "Es lohnt der Mühe, die menden Paradiese am innigsten nähert."
japanische Bauweise näher kennenzu- Aber im Vergleich zu den Errungenlernen." In allen Einzelheiten beschreibt schaten der englischen Architektur
er die standardisierten und beweg- bleibt er distanziert: "Die japanische
lichen Bauteile, ihre Zierformen vor Auffassung des Angenehmen, Bequeallem, die Raumteilung und die äußere men und selbst Zuträglichen kann nicht
Erscheinung der Wohnhäuser für die mit unserem Maße gemessen werden."
verschiedenen sozialen Schichten. Allerdings lobt er im Konjunktiv:
Obgleich seine Schrit als großformatiges Buch mit Grundrissen, Schnitten "Wenn wir jetzt auf Beschränkung der
und einigen Fototafeln erschien, und Ausstattung mit beweglichem Hausrat
damit als Vorläufer von Yoshidas Buch ausgehen und dem Zimmer mehr Eindreißig Jahre später gesehen werden heit und Ruhe zu geben trachten, so ist
muss, scheint es von Architekten kaum das japanische Zimmer in seiner stolzen
wahrgenommen worden zu sein.9 Viel- Leerheit geradezu ein Ideal",12
leicht war es zu wenig anschaulich. Es
brachte keine Innenaufnahmen. Aber und er hat damit seinen Schrecken
für den Kunsthistoriker Otto Kümmel vor der Leere des japanischen Raumes
war es noch immer die einzige zuver- in einen küntigen Reformvorschlag
lässige Quelle, um in Wasmuths Lexi- umgemünzt, der ihn noch nicht völlig
kon der Baukunst, 1931, den bereits überzeugt, vor allem nicht, wenn man
erwähnten ausführlichen Artikel über seine eigene, vollgestellte Londoner
die japanische Architektur schreiben Wohnung betrachtet, in der die wenizu können.10
gen japanischen Gegenstände untergehen. Seine später gebauten Villen in
Baltzer und übereinstimmend Küm- Berlin bleiben an England orientierte
mel stellen fest: Obgleich die Japa- Reformarchitektur.
ner "unübertroffene Meister der Zimmermannsarbeit" sind, ist das Zim- Nachdem Japans Kunstgewerbe und
merwerk mit "schweren konstrukti- seine grafischen Künste im letzten
ven Mängeln" behatet, wie fehlender Viertel des 19. Jahrhunderts mit einer
Dreiecksverband, Holzverschwendung Überschwemmung Europas an Netoder übermäßige Schwächung der suke, den figürlich geschnitzten HalProfile an den hoch beanspruchten teknöpfen für Kordeln, den Tsubas,
Knotenpunkten. "Die verwickelten den verzierten Schwertstichblättern,
und künstlichen Verbindungen wür- oder den Ukiyoe-Farbholzschnitten
den mit Nägeln und Schrauben verein- der europäischen Malerei und dem
facht werden," schreibt Baltzer, dann Jugendstil-Kunstgewerbe mit kurviaber bewundert er wieder die große gen wie geometrisch ornamentalen
Genauigkeit und Geschicklichkeit des Mustern neue Impulse gab und zur
Handwerks. "Das Gewerbe steht auf Mode geworden war, konnten reformbesonders hoher Stufe, wie vielleicht in bewusste Architekten den Japonismus
keinem anderen Land der Erde."11 Wir nicht mehr ertragen. Erst recht blieb
sehen die ambivalente Bewertung der Japans Baukunst fremd. Von Europa
japanischen Architektur.
aus gesehen lag sie zudem jenseits von
"Orient" und China – auch in ihren
Durch Baltzers Buch fühlte sich nun Ausdrucksformen. Adolf Loos (1870Hermann Muthesius 1903 endlich auf- 1933), der für die Moderne so wichgefordert, sein Wissen um die japa- tig Wiener Architekt, schrieb mit Ironische Baukunst in einer ausführ- nie unter dem Titel Kunstgewerbliche
lichen Buchbesprechung zu zeigen. Rundschau 1898:
Inzwischen hatte er als Kulturattaché
in England ein großes dreibändiges "Der Osten bildete das große Reservoir,
Werk, Das englische Haus, vollendet, aus dem immer neuer Samen in das
87
Abb. 13. Tschillambaram,
Shiwa-Teich, aus Bruno Taut,
Die Stadtkrone, 1919, Abb. 41.
Abendland strömte. […] Im Mittelalter
brauchte man allerdings nur bis Spanien
zu reisen, um eine neue Formenwelt
zu entdecken, die Meister der Renaissance mußten bis Persien und Indien,
das Rokoko nach China gehen, während uns buchstäblich nur noch Japan
übrig blieb. Nun aber ist es Schluß.
Was ist nun japanisch? Japanisch ist in
erster Linie das Aufgeben der Symmetrie. In zweiter Linie kommt die Entkörperlichung der darzustellenden Gegenstände dazu. Die Japaner stellen Blumen dar, aber es sind gepreßte Blumen.
Sie stellen Menschen dar, aber es sind
gepreßte Menschen. Das ist ein Stilisieren, wie geschaffen dazu, die Fläche zu
dekorieren und dabei doch naturalistisch bleiben zu können."13
Traumland Indien
Wenn von Amerika aus, wie bei Frank
Lloyd Wright, der Traum von Asien in
Richtung "Westen" bereits in Japan als
dem nächsten asiatischen Land ankam,
so war doch für Europa der gesuchte
"Osten" eine lange Reise, vorbei an vielen Hochkulturen des Orient. Musste
dem Europäer der arabische, türkische und persische Orient nicht verwandter, der indische sogar noch über
alles stehend erscheinen, nicht zuletzt,
wenn man bedenkt, dass Badgadbahn
und vielfältige Kolonialbeziehungen
den Zugang nach dort viel einfacher
machten als den nach Japan? In der Tat
scheint um 1915 Japan aus dem Blick
der Architekten verschwunden zu sein;
an seine Stelle sind wieder Indien und
Indochina getreten, die die Phantasie beflügelten und berauschten und
88
Projektionsfläche für ihre Sehnsüchte
nach dem Ausdruck überströmenden
Lebens waren. Als einen Zeugen darf
ich den Kunsthistoriker und Architekturkritiker Adolf Behne (1885-1948)
aufrufen, der jahrelang Bruno Taut
und die moderne Bewegung in Europa
geistig und kritisch begleitete.
1915 war er für einige Zeit Herausgeber der Vortrags- und Lichtbilderreihe
des Zentralbildungsausschusses der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und schrieb selber 4 Vorträge.
Zwei betrachteten asiatische Kunst.
In dem Vortrag Die Kunst Chinas
und Japans charakterisiert er die dortige Architektur als eine Baukunst
der Horizontale, als eine des Daches,
das auf Pfeilern ruht und dazwischen
mehr oder weniger geschlossen wird.
Chinesische Baukunst ist eine Landschatsbaukunst, so Behne. "An dem,
was wir architektonische Formen nennen, ist seine Baukunst arm; aber sie
ist unendlich reich an klugen und
erfinderischen Kombinationen in die
Weite." Das ist gut gesehen, aber auch
ein abgeschwächtes Lob. Und das gilt
ebenso für die japanische Architektur,
die er gar nicht weiter betrachtet.
Beiden, China wie Japan, fehlt, was wir
an der Baukunst genießen: "eine in die
Wolken gehende Höhe eines Turmes.
Wer etwa nach Art unserer gotischen
Kathedralen eine kühn zum Himmel
steigende Architektur erwartet, sieht
sich schwer enttäuscht."
Enttäuscht werden wir nicht, wenn
wir die Kunst Indiens betrachten. In
Abb. 14. Bruno Taut, Die
Stadtkrone, 1917, erschienen
Jena 1919, Abb.49. S. 74,
Vogelperspektive mit
Kristallturm.
dem Vortrag Die Kunst Indiens und
des Islam, ebenfalls 1915, beginnt er
zu schwärmen: "Kein anderes Land der
Erde gilt uns so sehr als ein Land der
Wunder wie Indien. Das indische Denken gehört zum tiefsten und fesselndsten
Denken der Erde." Es weckt im Europäer ein selbstverständliches Echo, so
Behne, im Gegensatz zu China und
Japan, so dürfen wir ergänzen. Keine
andere Kunst ist der indischen verwandter als die gotische des 12. bis
14. Jahrhunderts. Indische Baukunst
dient lediglich der Verherrlichung der
Götter, ist Tempelbau, sie kennt keine
Begriffe, wie die europäische seit den
Griechen. Die große Idee der Seelenwanderung – die Idee, dass der Lebensstrom alles durchfließt – beschwingt
unendlich den Künstler und beflügelt
zutiefst seine Phantasie. (Abb. 13)
Abb. 15. Wohnzimmer eines
japanischen Hauses, um 1920,
aus: Wasmuths Monatshefte
für Baukunst, 6(1921-22). S.
249 ff.
89
Bruno Taut und Japan
Wir brauchen uns daher nicht verwundern, dass Bruno Taut 1917 sein erstes
großes theoretisches und konzeptionelles Werk, Die Stadtkrone, mit den Kulturbauten in ihrer Mitte wie einen indischen Tempelbezirk aubaut, gekrönt
von einem farbig gläsernen Turm,
wie ein kristallener, lichtdurchfluteter
Turmtempel (Abb. 14). Indische Tempel, ihre Arkadenhöfe und aufragenden Torbauten regen ihn zu Kristallphantasien in den Bergen an, für sein
1918 gezeichnetes Werk Alpine Architektur. Und noch aus der Indienbegeisterung entsteht 1920 der Glasbaukasten
Dandanah, he Fairy Palace, der Jung
und Alt zum Spielen mit farbigem Glas
unter dem Bild eines indischen Märchenpalastes bewegen soll.
Abb. 16. Oku-Shinden,
Hauptempfangsraum im
Tempel Sambo-in, Kyoto,
1598, in: Bruno Taut, Die neue
Wohnung, 1924, Abb. 19.
S. 29.
Japan tritt für Taut erst wieder ins
Blickfeld als er über eine radikale
Reform der bürgerlichen, mit Nippes
vollgestopten Wohnung nachdenkt
und seinen Blick von der Monumentalbaukunst wieder auf den alltäglichen Innenraum lenkt. Das ist Ende
des Jahres 1923. Der Indieneuphorie
ist er bereits 1920 überdrüssig geworden, als alles Indische zu einer Mode
zu werden begann.14
Im Frühjahr 1922 erschien, wie aus
heiterem Himmel, unvermittelt eine
Serie von Fotos eines in traditioneller Weise neu gebauten japanischen
Hauses in der prominenten Zeitschrit
Wasmuths Monatshete für Baukunst. 15
(Abb. 15) Es wirkte viel moderner und
ungezwungener als die im selben Het
abgebildeten, ins Groteske gesteigerten, expressionistischen "Wohnkunstwerke" des Architekten Walter Würzbach.16 Der Herausgeber Ernst Wasmuth vermerkte nur kurz:
"Im Zusammenhang mit dem vorher
gezeigten dürte die völlig fremde, dabei
großartige Raumbehandlung besonders
interessieren. Die Wirkung jener Innenräume liegt in ganz anderer Sphäre wie
die der vorher gezeigten, ein Vergleich
voller Anregungen für europäische
Architekten."
Er machte keine Angaben zu dem
Haus und gab keine Erläuterung. Ein
Jahr später, im März 1923, gab der
Journalist Hans Schiebelhuth zu den
japanischen Fotos eine enthusiastische
Beschreibung in der Zeitschrit Qualität.17 Ich zitiere nur einige Sätze:
90
"Die Wohnung […] ist ein lutiges und
lustiges Ineinander, ein beweglicher und
bequem handhablicher Gesamtorganismus. [… Das Zimmer] ist nicht angefüllt […]. Es ist Zimmer an sich […], es
ist der reine Raum […], es ist mit Großartigkeit nur auf das Räumliche gestellt
[…], es ist der lauterste Ausdruck einer
Lebenshaltung, die immer welthat und
weise, doch durchaus unasketisch ist,
[…] durch ihre ausgesprochene Qualität
imstande, immer vorbildlich zu sein."
Diese Publikationen mögen auch
Bruno Taut wieder auf die japanische
Fährte gesetzt haben und er stellt nun
für sein Buch Die neue Wohnung im
Herbst 1923 den japanischen Raum
neben mittelalterliche europäische
Beispiele.
Taut verwendet jedoch nicht die Fotos
aus der Wasmuth Zeitschrit, sondern
wählt eines aus dem aufwendigen,1910
für eine Londoner Japan Ausstellung
vom japanischen Innenministerium
herausgegebenen Bildwerk Japanese
Temples and heir Treasures. Es ist der
Innenraum des Oku-Shinden des Sanboin Tempels, mit einem fein proportionierten Fachwerk und äußerst eleganten Schmuckregal. (Abb. 16) Taut will
mit dem Beispiel jedoch keinen neuen
Japonismus anregen. Er sieht vielmehr
einen ästhetisch sinnfälligen Zusammenhang zwischen der Leere des Raumes, den gedämpten Farben seiner
Baumaterialien und den leuchtend farbigen Sitzkissen, sowie den farbigen
Seidenstoffen der (Frauen-) Kimonos,
die es ermöglichen, die Menschen in
harmonischem Zusammenklang mit
dem Raum zu erleben. Statt nun den
Tatamiraum zu empfehlen, folgert er
für sich: "So würde für uns aus dem
japanischen Vorbild analog zu schließen
sein, dass zu unserer vorwiegend unfarbigen Kleidung farbige Wände gehören."
Taut will nicht, dass man Japan, sei es
auch noch so anregend, kopiert, sondern aus der Logik der fremden Kultur die Konsequenzen für die Raumvorstellungen in der eigenen, europäischen Kultur zieht.
Er war überzeugt, dass durch das Ausräumen der überfüllten Wohnung
eine Befreiung des Menschen und
eine Hinführung zu einem wesentlichen Sein möglich wäre. Nur insofern
könnte Japan Vorbild sein. Für Nachteile, wie die offensichtliche Anfälligkeit und Kurzlebigkeit des japanischen Holzhauses, suchte er dann eine
Erklärung in der Lebenseinstellung des
Japaners: "Nach der taoistischen Philosophie bleibt das Wohnhaus nichts weiter als eine Hütte für vorübergehenden
Aufenthalt, worunter das Leben zu verstehen ist …", behauptet er.
Diesen Satz hat er wohl in Kakuzo
Okakuras Buch vom Tee gefunden18.
(Abb. 17) Er scheint das Buch, das
1919 zum ersten Mal im Inselverlag
erschien, genauer studiert zu haben,
Abb. 17. Kakuzo Okakura, Das
Buch vom Tee, Inselbücherei
Nr. 274, Leipzig, seit 1919.
91
denn in einem Vortrag vom Februar
192319 mit dem Titel "Vom gegenwärtigen Geist der Architektur", zitierte
er daraus, allerdings wiederum nur,
um seine eigene Entwurfsanschauung
zu rechtfertigen, die je nach Aufgabe
andere, durchaus uneinheitliche und
gebrochene Formen bevorzugte. Er
zitierte folgende Sätze:
"Der dynamische Charakter der taoistischen und zennistischen Philosophie
legte das Hauptgewicht auf den Prozeß, durch den die Vollkommenheit
erreicht werden sollte, und nicht auf
die Vollkommenheit selbst. Das wahrhat Schöne ließ sich nur von dem entdecken, der denkend das Unvollendete
vollendete."
Das ist nach Okakura die Essenz der
Philosophie des Tees und des Zen, und
auch die Beschwörung der Gegenwärtigkeit im Titel Tauts deutet auf ein
zennistisches Verständnis. Wiederum
geht es Taut nicht um stilistische Vorbilder. Zudem hatte Okakuras Büchlein gar keine Abbildungen.
Das japanische Haus als Modell
der Moderne
Ende der zwanziger Jahre, als die
Moderne sich auch in Japan entwickelt hatte, wird das traditionelle
japanische
Wohnhaus tatsächlich
zum Bundesgenossen
der modernen Architektur erklärt und zwar von
Vertretern der japanischen Modernen selbst,
die sich 1927 zu einem
Internationalen Architektenbund zusammengeschlossen hatten. Seit
1929 gaben sie eine
Zeitschrit in Esperanto
und Japanisch heraus, Arkitekto Internacia, und tauschten sie
mit der deutschen Zeitschrit Moderne Bauformen aus, so dass nun ab
und zu neue japanische
Architektur dort veröffentlich wurde. Der erste
gezeigte Bau war übrigens von Taut kommentiert worden. Das war
im Februar 1930.20
Abb. 18. Motono Seigo,
Umzeichnung der beiden
Teehäuser Kasa-tei und
Shigure-tei in Kyoto, aus:
Moderne Bauformen, 30
(1931), H.5. S. 237.
Ein Artikel von Motono Seigo erschien
in Moderne Bauformen 1931, mit dem
Titel: "Ein Wohnhaus des Kobori Enshu,
Kioto, Anfang des 17. Jahrhunderts".
Die Fotos von Wohnraum und Gastzimmer in Enshus Tempel sehen in der Tat
in ihrer strikten Rechtwinkligkeit ohne
jedes Dekor vollkommen modern aus.
Um die Nähe der Modernen auch zum
traditionellen, asymmetrisch gebauten japanischen Teehaus zu beweisen,
zeichnete Seigo noch zwei Ansichten
der Teehäuser Kasa-tei und Shigure-tei
aus dem 18.Jahrhundert um. (Abb. 18)
Er gab ihnen ein flaches Dach, entfernte
das sichtbare Holzskelett und erhielt so,
wie der Herausgeber in der Bildunterschrit bemerkte: "ein Haus von allgemeiner Gültigkeit… zeigt europäische
Übereinstimmung."21 Allerdings kennen
wir keinen Kommentar dazu von deutschen Architekten. Es war diese japanische Architektengruppe, die Bruno Taut
Abb. 19. Tetsuro Yoshida,
Wohnhaus Baba, Tokyo, 1928,
Schlafzimmer, aus Yoshida,
Das japanische Wohnhaus,
1935, Abb.79. S. 75.
92
1933 nach Japan einlud, und denen er
auf der Reise die Botschat zukommen
ließ, die moderne Architektur habe ja in
der traditionellen japanischen ein gutes
Vorbild, aus dem sich eine neue Baukunst entwickeln ließe. Noch kannte er
sie erst aus einigen Fotos.
In der Tat war das Wohnhaus, das Tetsuro Yoshida dann in seinem Buch Das
japanische Wohnhaus, 1935 als modernes vorführte, der eigene Entwurf für
das Haus Baba in Tokyo, und das er
vielleicht 1931 bei seinem Besuch in
Deutschland in Vorträgen auch zeigen
konnte, ein Beispiel des traditionell
handwerklich gebauten Hauses, das in
seiner radikalen Rechtwinkligkeit vollkommen modern aussah. (Abb. 19)
Aber es blieb der Nachkriegsmoderne
vorbehalten, noch einmal die "stolze
Leere" der japanischen Architektur
Abb. 20. Steingarten des
Tempels Ryoanji, Kyoto, 2.
Hälfte 15. Jahrhundert, Foto
Speidel.
mit den ganz anderen Voraussetzungen des Reisens und Dokumentierens
selbst neu zu entdecken. Ich gebe zum
Abschluss nur ein Beispiel.
Während in den zwanziger Jahren
deutsche Architekten aus finanziellen
Gründen nicht bis Japan reisen konnten, besuchten viele junge japanische
Architekten, wie auch Yoshida, Europa
und insbesondere Berlin oder das Bauhaus in Weimar und Dessau. Aber ihr
Interesse galt der modernen Architektur, zuverlässige Kunde von Japans Baukunst brachten sie kaum mit, vielleicht
ein paar Fotos.22 So ist es nicht zu verwundern, dass Walter Gropius, als er im
Frühsommer 1954 zum ersten Mal von
den USA aus, in die er 1937 emigriert
war, für drei Monate Japan bereisen
konnte, euphorische Briefe schrieb, und
nun, mit 71 Jahren, japanische Bauten
in seine Architekturbetrachtungen einzubeziehen begann. Mochte Gropius
in den zwanziger Jahren auch Interesse an japanischer Architektur gehabt
haben, gesprochen hatte er nicht darüber. Der Funke einer wirklichen Begeisterung konnte erst bei der Begegnung
mit ihr selbst überspringen; in den 20er
Jahren war da höchstens ein glimmender Docht zu spüren gewesen. An den
bedeutendsten Pionier der modernen
Architektur, Le Corbusier (1887-1965),
in Paris schickte er nun von Kyoto aus
eine Fotopostkarte mit dem Bild des
Ryoanji Steingartens (Abb. 20):
93
"Lieber Corbu, alles wofür wir gekämpt
haben, hat seine Parallelen in der altjapanischen Kultur. Dieser Stein-Garten von Zen Mönchen im 13. Jahrhundert – Steine und gerechter weißer Kies
– könnte von Arp oder Brancusi sein
– ein erhebender Ort des Friedens. Du
wärst so erregt wie ich in diesem 2000
Jahre alten Raum von kultureller Weisheit! Das japanische Haus ist das beste
und modernste, das ich kenne und wirklich vorfabriziert…" 23
Die wenigen Zeilen drücken eine große
Überraschung und eine unerwartete Offenbarung aus. Obgleich Gropius sich mit Büchern wohl gut auf die
Reise vorbereitet hatte, schreibt er, als
hätte er den Steingarten oder die Häuser vorher nicht gekannt. Der Eindruck
des Ryoanji Gartens aus dem frühen
16. Jahrhundert und der Katsura Villa,
die zwischen 1617 und 1663 erbaut
wurde, erschienen ihm so unglaublich
modern, dass ihm nur der Vergleich
mit den besten Künstlern abstrakter Plastik seiner Zeit, Hans Arp oder
Constantin Brancusi, in den Sinn kam.
"Alles, wofür wir gekämpt haben" –
Vorfabrikation, Standardisierung und
Einfachheit –, entdeckte er in Japan
als lange Tradition und als lebendige
Gegenwart. Japan bestätigte ihm nun
sozusagen die Universalität des eigenen
Bestrebens. Mit dem Erleben der japanischen Architektur sah er seine Ziele
und die seiner viel kritisierten Mitstrei-
Abb. 21. Walter Gropius, Kenzo
Tange, Yasuhiro Ishimoto,
Katsura, Tradition and Creation
in Japanese Architecture, New
Haven 1960, Umschlag.
ter wie durch ein unerwartetes Wunder
seit langem erfüllt und damit tatsächlich verwirklichbar. Umgekehrt konnte
er, einer der Protagonisten der europäischen Moderne, Japans alte Architektur jetzt, 1954, (wie Bruno Taut ja
auch bereits 1933, aber unbeachtet)
als äußerst modern ansehen; auch im
Gegensatz zu vielen japanischen Architekten für die sie nach dem Krieg Feudalarchitektur mit unzeitgemäßen Baumaterialien und Bautechniken war.24
Gropius ehrliches Überraschtsein
zeigt andererseits, dass er sich vor seiner Reise japanische Architektur nur
ungenau vorstellen konnte. Man darf
wohl seinen Äußerungen glauben,
dass deren zurückhaltende, ästhetische
Kultur, die trotz Vordringen moderner, westlicher Zivilisation weitgehend
noch lebendig war, ihm ein solch großes Rätsel aufgab, dass er nach einem
geistigen Hintergrund glaubte suchen
zu müssen:
"Ich fragte meine Freunde im International House of Japan [wo er 1954 in
Tokyo logierte] um Hilfe, und sie führten mich in die fesselnden Schriten
von Dr. Suzuki ein, insbesondere seine
Interpretation des Zen Buddhismus.
Als wir dann die großen Kulturorte in
Kyoto und Nara besuchten, teilten wir,
meine Frau und ich, unsere Zeit ein
zwischen Besichtigungen am Tage und
das Studium von Dr. Suzukis Buch über
94
den Einfluß des Zen auf das japanische
Leben in der Nacht, eine strapazierende
Lebensweise für Reisende, aber höchst
lohnend, denn Schritt für Schritt fanden die Phänomene vor unseren Augen
ihren Platz."25
Das Buch, das Gropius auf seiner
Japanreise studierte, war Suzuki Daisetsus Zen and Japanese Culture.
Suzuki wiederum lobte bei einem
Besuch in Gropius’ Haus bei Boston
1959, dieses zeige Übereinstimmung
mit den Grundsätzen des Zen.26 Interessant ist, dass zum Ende der 50er
Jahre der Vergleich mit Japan zu einem
Ritterschlag oder gar einer Erhebung
in den kulturellen Adelstand wurde,
so hoch stand nun die Wertschätzung
der japanischen Kultur und des japanischen Wohnhauses. Eine umfassende
Verbindung mit der Philosophie des
Zen, die dazu gehörte, verstand Daisetsu Suzuki ausführlicher und eindringlicher darzulegen, als das Okakura Kakuzo mit seinem bescheidenen
Buch vom Tee vermochte.
Walter Gropius, und leider nicht Bruno
Taut, der sich sehr darum bemüht
hatte, aber bereits 1938 in seinem
zweiten Exil in der Türkei verstarb, hat
einen großen Teil zu der umfassenden und bis heute andauernden Entdeckung Japans durch die Moderne
beigetragen. Im ersten Katsura Buch
in englischer Sprache schrieb er einen
Abb. 22. Pavillon zur
Veranstaltung von DichterWettbewerben, Korakuen,
Okayama, 18. Jahrhundert.
Foto Speidel.
langen Aufsatz über japanische Architektur. (Abb. 21) Die Fotos von Bau
und Garten suggerieren moderne, abstrakte Kompositionen. Auch Kenzo
Tange bekannte sich mit seinem Werk
zur Katsura Tradition, fast ganz so wie
Bruno Taut es schon 1934 den japanischen Architekten vergeblich empfohlen hatte.
Nachwort
Ich darf zum Abschluss gestehen, dass
auch für mich die Entdeckungen in
Japan noch nicht zu Ende sind. Warum
hatte mich vor erst zwei Jahren der
Pavillon für die Gedicht-Wettbewerbe
mit kleinen Sake-Schiffchen auf fließenden Wasser im Kôrakuen in Okayama aus dem 18. Jahrhundert noch
so begeistert? (Abb. 22) Ich glaube,
er verkörpert den noch immerwährenden Traum, den die japanische
Architektur zu erfüllen scheint: das
Haus des Menschen soll keine harte
Mauerschale, keine gebaute Höhle
sein, sondern ein leichter und völlig zu öffnender Organismus. Man
ist dort geschützt durch ein Dach in
einer bescheidenen, aber nicht dominierenden räumlichen Ordnung, die
doch eine Freiheit verspricht, sobald
man sie verlässt oder mit den Augen
die lichtdurchdrungene Pflanzenwelt draußen beschaut. Manche der
Träume, die man irgendwo verborgen
in sich trägt, entstehen wohl erst an
dem fremden Ort, an dem man seinen
ersten, ganz anderen Traum in Erfüllung gegangen sah.
Anmerkungen
historikerin und Spezialistin für
ostasiatische Kunst. Professorin
1 Sutemi Horiguchi und Yuian der RWTH Aachen von
chiro Kojiro: Architectural Beauty 1951-1968, danach Professorin
in Japan. Tokyo 1955; Tetsuro
an der Universität Bonn. Erdberg
Yoshida: Japanische Architektur, verfasste unter anderem das
Berlin 1952; Das japanische
Buch: Grundsätze des Wohnens
Wohnhaus (2. Auflage), Berlin
im westlichen und östlichen
1954; Der japanische Garten,
Raum: Baustil und Bautechnik in
Berlin 1957.
Amerika und Japan. Köln 1964.
2 Eleanor von Erdberg
(1907-2002) deutsche Kunst-
3 Deutsche Bauzeitung, 1935,
H. 23. S. 461 f.
95
4 Kevin Nute: Frank Lloyd
Wright and Japan. London 1993.
S.48 – 72.
5 Michiko Meid: Europäische und
nordamerikanische Architektur in
Japan. Köln 1977. S. 22 ff.
6 Wilhelm Boeckmann: Reise
nach Japan. Berlin 1886. S.
126, 78, 129. Die Planungen
umfassten Parlament, Oberster
Gerichtshof, Justizministerium,
Polizeipräsidium und Marineministerium und die dazugehörende Stadtplanung. Gebaut
wurde schließlich ein provisorisches Parlamentsgebäude, das
bald abbrannte, das Justizministerium, das vereinfacht erhalten
ist, und der Gerichtshof, der um
1970 einem Neubau weichen
musste.
japanischen Architektur eine
mögliche Quelle. Allerdings
findet man bei Baltzer wenig
anschauliche Abbildungen
dazu.
21 "Ein Wohnhaus des KoboriEnshu, Kioto Anfang 17.Jahrh.".
In: Moderne Bauformen 30
(1931) H.5. S. 236-237.
22 Eine Ausnahme mag
Tetsuro Yoshida gewesen sein,
der 1928 auch ein großes
11 Anm. 22. S. 13 und 14.
Wohnhaus in traditioneller
Bauweise für einen reichen
12 Hermann Muthesius. "Das ja- Bauherrn errichtete und dies in
7 Unbeeindruckt von der
panische Haus": In: Zentralblatt äußerst reduzierten Bauformen
japanischen Architektur baute er der Bauverwaltung 1903, Nr. 49, durchführte, also "modern" und
für die evangelische Gemeinde 20. Juni 1903. S.306-307.
traditionell zu bauen wusste.
in Tokyo 1889 eine neugotische
Es wird berichtet, Gropius habe
Kirche, die beim Erdbeben
13 Adolf Opel (Hrsg.): Adolf
Bunzo Yamaguchi (1902-1978),
1923 zerstört wurde. Siehe:
Loos, Ins Leere gesprochen,
der 1931-32 in Europa reiste
Vom Sofakissen zum Städtebau. 1897-1900. Wien 1981. S.38.
und ab Mitte 1931 für ein halbes
Hermann Muthesius und der
Jahr in seinem Büro gearbeitet
Deutsche Werkbund. Ausstellung 14 Bruno Taut: "Glaserzeugung hatte, gebeten Fotos von
und Katalog, National Museum und Glasbau". In: Die Qualität, 1, Teehäusern mitzubringen, die
of Modern Art, Kyoto, 2002. S.
H. 1/2, April/Mai 1920. S. 11.
wohl auch ausgestellt wurden,
54 – 58 und 68-71.
aber das waren nur einzelne
15 Wasmuths Monatshefte für
Proben, die eine Erwartung nur
8 Franz Adolf Wilhelm Baltzer: Baukunst 6 (1921/22). S. 249 ff. unzureichend befriedigten.
Das japanische Haus, Eine
Es ist nicht klar, ob es sich bei
bautechnische Studie. Berlin
den Abbildungen von mehreren 23 "Dear Corbu, all what we
1903. Es ist mit 72 Seiten und 9 Gäste- bzw. Hauptwohnräumen have been fighting for has its
Tafeln ein umfangreiches Buch um verschiedene Häuser
parallel in old Japanese culture.
voller bautechnischer Details in oder gar um ein aufwendig
This rock garden of Zen-monks
Text und Zeichnungen. Baltzer
gestaltetes japanisches Hotel
in the 13. century – stones and
war eigenen Angaben im Buch handelte. Jedenfalls gab es
raked white pebbles – an elating
zur Folge königl. preußischer
nach dem Ersten Weltkrieg,
spot of peace. You would be as
Eisenbahn- Bau- und
an dem Japan nicht beteiligt
excited as I am in this 2000 year
Betriebsinspektor, der bei dem war, ein reiches Klientel, das
old space of cultural wisdom! The
Bau der Berliner S-Bahn mitsich den Neubau traditioneller
Japanese house is the best and
gewirkt hatte. In Tokyo war er
Wohnhäuser leistete.
most modern I know of and truly
Beirat im kaiserlich Japanischen
prefabricated. Hoping you are
Verkehrsministerium. Baltzer
16 Ebd. S. 234.
well. Greetings to you and Mme
veröffentlichte einen weiteren
yours Gropius." Francesco Dal Co
Band zur Architektur Japans:
17 Hans Schiebelhuth:
entdeckte diese Postkarte vom
Die Architektur der Kultbauten
"Japanische Innenräume". In: Die Juni 1954 im Archive Fondation
Japans, Berlin 1907.
Qualität 3 (1922/23). S. 70–73.
Le Corbusier in Paris und
publizierte sie im Buch Katsura,
9 Ob Mies van der Rohe
18 S. Kakuzo Okakura
Imperial Villa des Electa Verlages
es während seiner Zeit als
(1862-1913): Das Buch vom Tee. in Mailand, 2005. S. 386-389.
Angestellter bei Bruno Paul in Englisch 1906, deutsch 1919
Berlin konsultiert hat, weiß
als Inseltaschenbuch Nr. 274
24 S. Reginald R. Isaacs: Walter
man nicht. Woher er sonst
erschienen.
Gropius, Der Mensch und sein
die Anregung gehabt haben
Werk, Berlin 1984. S. 1011-1022
könnte die Wandgliederung
19 Bruno Taut: "Vom gegenwärder Halle im Haus Riehl, 1907, tigen Geist der Architektur", als
25 Contribution by Walter
als feingliedriges Quadratmus- Vortrag gehalten in Düsseldorf,
Gropius for the book to be
ter unter einem durchgehenKöln, Rotterdam und Amsterdam given to Dr. Suzuki on his 90th
den Friesprofil auszuführen,
im Frühjahr 1923. In: Hellweg,
birthday (1959), Typoscript,
das in seinen Proportionen so 3(1923), H.28. S. 487-489.
Bauhaus Archiv Berlin
sehr japanischen Shoji-Schiebewänden ähnelt, ist völlig
20 Moderne Bauformen 29
26 Isaacs, Anm.24. S. 862. Karin
unklar. Auch Franz Schulze
(1930), H.2. S. 67, im Anschluss Kirsch: Die neue Wohnung und
vermutet in: Mies van der
an Tauts Artikel "Rußlands
das alte Japan. Stuttgart 1994.
Rohe, Berlin 1986. S. 34 in der architektonische Situation".
S. 155.
10 Anm.4. S. 273-290.
96
Thomas Knüvener
(Köln)
Ästhetik der Deponie
Der Umgang mit Abfällen ist durch Paradoxien bestimmt: Das urbane
Leben erzeugt in unvorstellbarem Ausmaß Abfall, doch Deponien sind selten willkommen; noch seltener werden sie als wichtige Bestandteile der
modernen Infrastruktur wahrgenommen und gestaltet. Obwohl Deponien mittlerweile technologisch hochkomplexe Anlagen sind, werden sie
im Bewusstsein der Mehrheit ausgeblendet. Dieser Zustand erfordert ein
neues Sehen, das die Möglichkeiten von Deponien als Landschaftsbaustellen nutzt, um sie als Infrastrukturprojekten mit erkennbarer Bedeutung zu gestalten.
http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-12028
Januar 2008
#1 "FremdSehen"
S. 97-103
Wenn der Besucher von Osten kommend eine der Rheinbrücken überquert, liegt ihm Köln zu Füssen. Die
Brücken heben den Ankommenden
hoch über den Rhein und inszenieren
die Einfahrt und den Blick. Die Identität
einer Stadt besteht für viele in solchen
bedeutungsvollen und sinnstitenden
Monumenten. Jeder weiß, nicht alle
Momente sind derart beeindruckend
und erinnerungswert wie die Rheinquerung, - im Gegenteil. Sowohl der
Bahnreisende auf der HohenzollernBrücke wie auch der Autofahrer auf der
Zoobrücke haben eine lange Anfahrt
hinter sich. Vorbei an Industriegebieten, Zufahrtsrampen der Schnellstrassen und Autobahnen. Infrastruktur
ist in vielen Bereichen prägend für die
Wahrnehmung von Stadt. Hinzu kommen Einrichtungen, die gezielt abseits
angelegt worden sind, so etwa die Zentraldeponie Leppe.
Die Infrastruktur, welche die Stadt
funktionieren lässt, bedeckt größere
Flächen als jede geschichtsträchtige Altstadt. Selten ist sie jedoch in ähnlicher
Weise Bedeutungsträger. Nur Brücken
sind Ausnahmen von dieser Regel, da
sie durch ihre metaphorische Dimension schnell im allgemeinen Gedächtnis
zu Bedeutungsträgern avancieren, als
Höchstleistungen der Ingenieurskunst
gelten und "zur Architektur werden".
Im Allgemeinen aber ist es nicht häufig, dass Infrastrukturbauwerke in solch
positiver Weise als identitätsstitend
wahrgenommen oder dass sie über
ihre Funktionalität hinaus als wertvoll empfunden werden. Die Mehrzahl
der infrastrukturellen Bauwerke bleibt
unbestimmt und ungestaltet.
98
Besonders gilt dies für das gesamte
Entsorgungssystem einer Stadt. Das
urbane Leben erzeugt in unvorstellbarem Ausmaß Abfall. Das System der
Abfallentsorgung ist komplex und hybrid: Vom einzelnen Funktionsgegenstand, den Abfallcontainern über die
Abfallfahrzeuge zu den Bauwerken der
Umschlagsstationen bis hin zur großflächig landschatlichen Organisation
der Deponieanlagen. Fortschreitend
rückt dabei der Abfall vom Erzeuger
aus der Stadt in die Peripherie, wo er
endgelagert wird. Selten kennt der
individuelle Konsument die Lage dieser Einrichtungen, geschweige, dass er
je dort gewesen ist und sie erlebt hat.
Wenn die Gesellschat für die Infrastruktur des Abfalls "Wissen, Technik
und Geld"1 investiert, werden insofern ot Chancen vergeben, denn die
spezifisch entwickelten Lösungen und
Produkte der Abfallwirtschat haben
durchaus große gestalterische Potentiale. Um diese Potentiale aufzuzeigen,
wird hier beispielhat die Deponie als
der räumliche Teil des Abfall-Systems
untersucht.
Geschichte
Auch ein "scheinbar ahistorisches Phänomen"2 wie der Abfall hat Entwicklungen im gesellschatlichen Verständnis
erfahren und eine eigene Geschichte.
Recycling und Wiederverwendung sind
keine neuen Entwicklungen, sondern
waren eine Selbstverständlichkeit bis
zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Der Anteil des wiederverwendeten Materials war vergleichsweise hoch
– Rohstoffe waren ein teures Gut und
nahmen ein hohen Kostenanteil in der
Produktion ein. Arbeitskrat war billig.
Dies machte es lohnend, Gebrauchsgegenstände immer wieder zu reparieren.
Hausmüll wiederum bestand zu großen Teilen aus organischen Abfällen
wie Speiseresten und Küchenabfällen;
diese konnten verfüttert oder als Dünger eingesetzt werden. Der Rest wurde
auf dem Grundstück in der häuslichen Senkgrube entsorgt. Anders sah
es dann in den aukommenden Großstädten des 19. Jahrhunderts aus: Die
Subsistenzwirtschat mit eigenem Vieh
oder Anbauflächen wurde durch immer
dichtere Bebauung nicht mehr möglich,
so dass Müllberge und Fäkalien ein dauerhates Problem darstellten. Die unzureichende Entsorgung der Abfälle wurde
zu einer gesundheitlichen Bedrohung,
da die Zusammenhänge von Abfall und
verschiedenen Krankheiten nicht verstanden wurden und es wiederholt zum
Ausbruch von Seuchen kam.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts
erkannten Wissenschatler schließlich
die Bedeutung der Hygiene. Darauf
folgte der Ausbau geordneter Kanalisationen und der Aubau einer Abfallentsorgung. Anfänglich noch schwer
durchsetzbar, war eine städtisch organisierte Müllabfuhr schon bald nicht
mehr aus dem Alltagsleben weg zu denken. Es musste allerdings auf dem eigenen Dorf- oder Stadtgebiet entsorgt
werden: Niemand akzeptierte fremden Abfall auf seinem eigenen Territorium. Jede Gemeinde hatte ihre eigene
Müllkippe, meist offen gelassene und
zur Verfüllung freigegebene Abgrabungen. Jedoch waren viele der Deponien
ungesichert, so dass Schadstoffe durch
Sickerwasser in das Grundwasser gelan99
gen konnten. Hinzu kamen die Gerüche
und Abfall, den der Wind in die Umgebung trieb. Insbesondere für die Großstädte mit geringerer Fläche wurde die
Deponierung auf dem eigenen Stadtgebiet ein Problem. Schon früh wurde die
Möglichkeit der Abfallverbrennung in
Erwägung gezogen und erste Abfallverbrennungsanlagen wurden konzipiert.
Mit dem aukommenden Umweltbewusstsein in den 1970er Jahren kommt
es zu einem Anschauungswandel: Das
Gefährdungspotential der unzureichend gesicherten Abfallkippen wird
erkannt. Kommunen und Kreise reagieren durch gemeinsam geführte Zentraldeponien. Sie werden an Orten errichtet, welche nach geologischen Untersuchungen als geeignet eingestut werden,
d.h. insbesondere wasserundurchlässige Bodenschichten aufweisen, die das
Grundwasser schützen. Mit der Verwissenschatlichung der Planung geht die
Technisierung der Abfalldeponierung
einher. Deponietechnik konstruiert
künstliche Abdichtungen, Sickerwasseraubereitung, Gasaubereitung und
–verstromung; das Verhalten der Deponiemasse nach Einbringen und Setzungen wird erforscht. Die neueste Veränderung, ausgelöst durch die Novellierung des Bundesimmissionsschutzgesetzes 2005 und dem dort erlassenen
Deponierungsverbot für organischen
Abfall, ist die Vergärung oder die Verbrennung dieser Abfälle; letzteres um
Strom zu erzeugen und um das Volumen des zu deponierenden Materials
zu verringern. Jedoch ist diese scheinbar elegante Lösung auch nicht ohne
Tücken: Ot muss brennbares Material
zugegeben werden, um wirkungsvoll
zu verbrennen, zum anderen gelangt wird anhand einer Vielzahl von Paraein Teil des Abfalls durch die Verbren- metern überwacht: Senkung, Dichte,
nungsgase in die Atmosphäre.
Wasserstand. Alle Materialien, die verbaut werden, sowie sämtliche Stoffe, die
Die geschichtliche Entwicklung zeigt, aus der Deponie entweichen, werden
wie die Gesellschat mit Abfall umgeht aufgezeichnet und kontrolliert. All dies
und das Verhältnis zur Umwelt bewer- ähnelt einer riesenhaten Laboranordtet. Darüber hinaus spiegeln sich in der nung, die den biologischen AbbauproArt und Weise der Abfallbewältigung zess anschiebt und in Gang hält.
die technischen Möglichkeiten der Zeit.
Deponien sind selten willkommen. "Im
Technologie
Bewusstsein der Menschen sind Deponien 'Unorte'."4 Zugänglich sind sie nur
Dieser kurze Abriss der Geschichte für die Betriebsanghörigen, ganz abgedes Abfalls und der Abfallentsorgung sehen davon, dass sich selten jemand
zeigt, dass es eine Entwicklung zu zen- freiwillig in diesen Tabuzonen bewegt.
tral organisierten Institutionen und zu Zäune schirmen den Betriebsbereich
speziellen Anlagen gibt. Die Zentral- und die Flächen, die von Setzungen
deponie ist eine infrastrukturelle Ein- betroffen sind, ab. Ein Ring aus Buschrichtung, die Resultat einer aufwendi- werk bildet einen Emissionsschutz und
gen und umfangreichen Forschung ist.3 beschränkt den Einblick. Schon beim
Alle wesentlichen technischen Aspekte Einrichten der Deponie wird die Nachfließen ein: Bodenkunde und Geologie sorge geplant, die Natur soll zurückbei den vorbereitenden Arbeiten und kehren und die Landschat soll nach
der Suche nach dem passenden Stand- Jahrzehnten wieder unberührt ausseort, Materialforschung für adäquate hen. Aktuell wird es zu vielen SchlieDichtungstechnologien und –metho- ßungen kommen, denn die Gesetzesden, Verfahrenstechnik bei Sicker- änderung von 2005 beendet die Depowasseraubereitung und Deponie- nierung von organischen Abfällen. Hier
gasentnahme und –verwertung sowie tritt schließlich eine neue Herausfordeverschiedene Disziplinen im Bereich rung auf: Nicht die technische NachMaschinenbau für die Konstruktion sorge ist Neuland, diese wird ähnlich
von Sortier- und Sammelanlagen, effizient sein wie das bisherige System
Aubereitung und natürlich auch den der Abfallwirtschat, vielmehr steht die
gesamten Fahrzeugpark vom Müllfahr- Frage nach dem Erscheinungsbild einer
zeug bis zur Spezialmaschine auf der stillgelegten Deponie im Raum. Die
Anlage selbst. Auch der Deponiekörper technische und rechtliche Entwicklung
100
zwingt dazu, Deponien aus einer neuen sen Widerspruch, wenn nicht aufzulösen, so zumindest bewusst zu machen:
Perspektive zu betrachten.
Ästhetik
Die technischen Mittel zur Betreibung einer Deponie sind ausgereit.
Eine ganze Branche ist darauf spezialisiert, mit den Überresten des täglichen Lebens umzugehen. Es gibt
eine Vielzahl besonderer Materialien
und entsprechende Techniken, den
Abfall einzubauen und über lange
Zeit zu sichern. Eine neue Typologie
der Deponie hat sich entwickelt, eine
Art der Anlage, die eine hybride Form
zwischen Landschat und Bauwerk
einnimmt. Es ist an der Zeit, nicht ausschließlich über den ordnungsgemäßen Einbau, sondern gleichzeitig über
die Gestaltung der Deponie nachzudenken. Es geht nicht mehr nur um
die technische Bewältigung einer Aufgabe, sondern im gleichen Maß um
gestalterisches Vorgehen und um die
Erzeugung von Bedeutung im Sinne
von Relevanz und Wert.
Wie Hermann Prigann bei seinen Ausführungen zum "Museum der verlorenen Wünsche" schreibt, haben die
Menschen Befürchtungen, mit Orten,
auf denen Abfällen lagern, umzugehen. Abfälle sind nicht nur lästige
Überbleibsel, sondern häufig übelriechend und unhygienisch. Wegwerfen
ist ein "Distanzieren" von Dingen, die
unangenehm oder schlimmeres sind.
Andererseits produziert jeder Abfall
und jeder ist dadurch an dem Entstehen dieser Orte der Entsorgung und
Lagerung beteiligt. Es geht darum, die101
"Die Frage heute und in der Zukunt ist:
Wie können wir nicht nur eine Mitverantwortlichkeit an der Müllentstehung
beim Einzelnen erreichen, sondern wie
können wir statt der Verdrängung der
"Altlasten" sogar ein Interesse an den
im Inneren einer Deponie ablaufenden
Prozessen wecken?"5
Hier gibt es eine grundsätzliche Strategie: Diese Orte müssen zugänglich werden. Meist liegen Deponien abseits und
abgegrenzt hinter hohen Zäunen, abgepflanzt durch Sicht- und Staubschutzbewuchs und sind aus betrieblichen
Gründen unbetretbar. Das kann sich
ändern und die gesamte Fläche oder
Teilbereiche können unter bestimmten
Umständen "veröffentlicht" werden.
Dieses Vorgehen bietet sich beim der
laufenden Deponierung an. Außerdem
können Strategien entwickelt werden,
wie die verbleibenden betrieblichen
Prozesse ablaufen können, auch wenn
die Öffentlichkeit Zugang zum Gelände
hat. Es besteht die Verantwortung,
Deponien als Einrichtungen der öffentlichen Hand bzw. mit öffentlichem Auftrag zurück ins öffentliche Leben zu
führen. Dies ist nicht nur im unmittelbaren Wortsinn zu verstehen; es meint
ebenso eine Transparenz der ablaufenden Vorgänge, das Bemühen um eine
Kommunikation zwischen Spezialisten und Laien. Viele technische Prozesse der Abfalldeponierung sind aufgrund ihrer Komplexität für den Laien
nicht mehr verständlich, zumal viele
Abläufe unsichtbar sind: Die Deponie
erscheint von außen vor allem als ein
großer Hügel, der nicht einsehbar ist.
Daher ist es in besonderer Weise notwendig, Funktionsabläufe und -prinzipien verständlich aufzubereiten, eine
Erfahrung des Ortes zu ermöglichen
und Verständnis zu schaffen.
"Seit Ciceros Vergleich zwischen der
Pflege der menschlichen Seele und dem
Ackerbau dient die Arbeit an der organisch wachsenden Natur als ein Vorbild
und Muster, anhand dessen sich die
Menschen klar zu machen versuchen,
wie sie mit sich selbst und der Welt
umgehen wollen."6
Panoramablick über die Umgebung
möglich wird. Form und Bedeutung aus
neuen Stoffen und neuen Technologien
zu entwickeln, ist das große Potential.
Es kann eine neue Ästhetik der Materialien entstehen, welche die extrem dauerhaten und widerständigen Produkte
nutzt, die beim Bau von Deponien eingesetzt werden. Kunststobahnen, die
zur Abdichtung und Abdeckung verwendet werden, sind das prägende
Material der Deponie – wenn sie nicht
unter dem Mantel der rekultivierenden
Begrünung verschwinden. Sie können
gezielt als Gegensatz zur naturnahen
Umgebung eingesetzt werden und so
eindeutige Hinweise auf den Ort liefern. Daneben sollte eine Strategie der
Informationen über die Abfalldeponie
und das sich dahinter verbergende System geboten werden, ein didaktisches
Gestaltungskonzept. Ein Informationspavillon an einer besonderen Position
in der Landschat mit gutem Ausblick
kann gleichzeitig ein Ziel oder eine Station für Wanderungen sein, er kann
Service-Einrichtungen beinhalten und
über den Ort und seinen Hintergrund
informieren. Eine andere Möglichkeit,
die sich in dieser besonderen künstlichen Landschat anbietet, ist, das vorhandene Netz von Klein- und Kleinststandpunkten auf der Deponie als
"Datenträger" zu verwenden und über
viele Einzelpunkte informieren. All
diese Maßnahmen können dazu führen,
über ein besseres Verständnis des Ortes
eine größere Akzeptanz zu erzeugen.
Neben der Transparenz der technischen
Abläufe und der öffentlichen Zugänglichkeit des Geländes kommt der
Gestaltung der Deponie neue Bedeutung zu. Über die Nutzung der Flächen,
die "zurückgegeben" werden, wird im
Einzelnen entschieden, gesichert sein
sollte aber ihre bewusste Gestaltung.
Deponien sind Landschatsbaustellen
großen Ausmaßes und dies ist gestalterisch zu nutzen. Beispielsweise können Erdformationen von besonderer
Prägnanz geschaffen werden, die ihren
Reiz darin haben, dass sie gerade nicht
natürlich entstanden sind und sich von
der Umgebung unterscheiden. Baumaschinen können statt sante Hügel zu
modellieren etwa Kanten und "Kristallfacetten" planieren, die gleichzeitig optimal bestimmten funktionalen Bedürfnissen von Ausrichtung und Neigung
entsprechen. Auch die Topografie kann
bewusst in extremer Weise aufgebaut Deponien können sich von einem reiwerden, beispielsweise durch kegelför- nen Infrastrukturprojekt zu Bauwerken
mige Hochpunkte, von denen aus ein mit Bedeutung wandeln. In diesem Sinn
sollten sich Deponien
– wie Brücken – zu einer
Gestaltungsaufgabe wandeln, um von einer rein
funktionalen Einrichtung
zum Bedeutungsträger zu
werden. Es ist die große
Chance, beim Bau von
Deponien und bei der
Nachsorge das Potential
dieser "Landschats-Bauwerke" zu erkennen und
zu nutzen, ihre Wertschätzung und Attraktivität in der Öffentlichkeit
zu fördern und gleichzeitig neue Nutzungen in
die bestehenden Standort
zu implantieren.
102
Anmerkungen:
Baltimore, London 2004. S.
80-81.
1 Ulrike Schnappinger: "Bauen
für die Abfallwirtschaft". In:
4 Hermann Prigann: Das
Bauwelt 1995 H. 1-2. S. 36.
"Museum der verlorenen
Wünsche". In: Heike Strelow
2 Susanne Köstering, Renate
(Hg.): Ökologische Ästhetik
Rüb: "Müll in historischer
– Theorie und Praxis künstleriPerspektive – Beispiel Berlin".
scher Umweltgestaltung. Basel,
In: Bauwelt 1995 H. 1-2. S. 24.
Berlin, Boston 2004. S. 166.
3 Mira Engler: Designing
America’s Waste Landscape.
5 Hermann Prigann: Das "Museum der verlorenen Wünsche".
103
2000. http://www.deponiestief.
de/deponie/prigann/prigann1.
htm (23.01.2006).
6 Johannes Bilstein, Matthias
Winzen: "Park - Zucht und
Wildwuchs in der Kunst". In:
Johannes Bilstein, Matthias
Winzen (Hrsg.): Park - Zucht
und Wildwuchs in der Kunst.
Nürnberg, 2005. S. 8.
104
Arne Scheuermann
(Bern)
RailCity oder Hauptbahnhof?
Eine designtheoretische Interpretation von Transportströmen und
Einkaufserlebnissen im Hauptbahnhof Bern
In der neueren Designtheorie wird zur Zeit – auch in Bezug auf die Rhetorik – vermehrt der Aspekt der Wirkungsintention diskutiert; in Abgrenzung zur Analyse von 'Bedeutung' stehen in diesem Modell Produktion
und Analyse in einem wirkungsgeleiteten Verhältnis. Ausgehend von der
These, dass sich die beabsichtigten Nutzungen eines Gebäudes anhand
des in und an ihm wirkenden Designs beschreiben lassen, wird am Beispiel
des Berner Hauptbahnhofs ("SBB RailCity Bern") gezeigt, wie sich dessen
'design for shopping' zum 'design for transport' verhält. Die Architektur
des Bahnhofs wird in diesem Setting weniger als 'gebauter Raum' verstanden als vielmehr als Träger und Auslöser von Informationsumgebungen,
Blick- und Gangführungen, Stimmungsinszenierungen und Reizen – mit
dem Ziel, Reisende und potentielle Konsument in ihrer jeweiligen Erlebniskette zu führen: ein Blick auf die Architektur eines Bahnhofs aus der
Perspektive der Designtheorie.
http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-12018
Januar 2008
#1 "FremdSehen"
S. 105-111
Anfahrt
James Bond erreicht Bern mit dem
Auto: Sein silberner Aston Martin
passiert den Bärengraben von Osten
her und "schnürt" über die Nydeggbrücke hinauf in die malerische Altstadt. Er hält an der Heiliggeistkirche,
um genau zu sein: vor der grünen
Sandsteinfassade des Hotels Schweizerhof, das in der Filmhandlung eine
Kanzlei zu beherbergen vorgibt. Auch
andere Berner Schauplätze im BondAbenteuer On Her Majesty's Secret
Service von 1969 sind nicht das, was
sie zu sein vorgeben: Das als Piz Gloria berühmt gewordene, hoch in den
Alpen gelegene Hauptquartier von
Bonds Widerpart Blofeld beispielsweise war ein zum Zeitpunkt der
Dreharbeiten noch ein im Bau befindliches Ausflugsrestaurant; die Filmproduktion übernahm kurzerhand
die Kosten der gesamten Innenausbauten in permanenter Bauweise und
durte daher den Drehort exklusiv
als Höhle des Bösen nutzen. Die pittoreske Kirche, das großbürgerliche
Geschätshaus, die futuristische Zentrale des Bösen: Wie für die Auswahl
von Filmlocations üblich, richtet sich
also auch in diesem Film das 'Casting
der Orte' nach ihrer Wirkung, nicht
nach ihrer eigentlichen Nutzung. So
kommt auch der großen Baustelle
gegenüber vom Hotel eine besondere
Bedeutung zu: Sie dynamisiert und
urbanisiert die Beschaulichkeit der
Stadt (angezeigt durch den Barockturm der Heiliggeistkirche) und verleiht der Recherche im Schweizerhof Tempo: Die für Bond wichtigen
Unterlagen sind an einem Baukran
befestigt und werden ihm schließlich
in einer spektakulären Aktion quer
über die Strasse gereicht. Was hier
gebaut wird, verrät der Film nicht: …
es ist der Berner Hauptbahnhof.
Modell
So wie sich die Auswahl eines Drehorts an seiner Wirkung orientiert,
tun dies auch andere Designentscheidungen in anderen Bereichen der
Gestaltung: Die Wahl einer Farbe,
einer Typografie, eines Leitsystems,
eines Interface usw. lässt sich im
gestalterischen Prozess grundsätzlich
als Entscheidung für eine Wirkungsdimension verstehen. Designer1 tref106
fen diese Entscheidung vor dem
Hintergrund erprobter Anwendungen und ihres internalisierten Wissens darüber. Die Rezeption, Analyse
und Produktion fremder und eigener
Designartefakte sind in diesem Vorgang über eine Schleife verbunden,
die sich mit dem Modell wirkungsgeleiteter Kommunikation in der Rhetorik gut veranschaulichen lässt:2
Designer wenden Regeln an, die sich
in einem Artefakt manifestieren, das
dann ohne weiteres Eingreifen seiner
Schöpfer auf die Adressaten wirkt.
Hier ist es wichtig, zu verstehen, dass
und wie der Designer lediglich die
Wirkungsabsicht im Artefakt manifestieren kann: Ob und wie dieses dann
auf die Adressaten wirkt, hängt davon
ab, wie gelungen die Auswahl der
Techniken und Mittel ist, die diese
Wirkung erzeugen soll. In Umkehrung – also in der Analyse – kann
ein Adressat die durch das Artefakt
generierten Wirkungen an sich selbst
und anderen beobachten, zu Vermutungen über die Wirkungsfunktionen
der angewandten Mittel kommen und
schließlich zu Vermutungen über die
dieser Wirkung vorgelagerte mögliche (nicht empirische!) Intention der
Designer. In diesem – in der klassischen Rhetorik gut erprobten – Lernverhältnis kommt es zur 'Weitergabe'
von Designregeln, indem die Analyse wiederum die eigene Produktion beeinflusst: Designer schreiben
voneinander ab – was funktioniert,
wird imitiert. Innovation wird in diesem Rahmen zu einer konstruktiven
Abweichung, die den Regelkreislauf
lebendig hält und eine iterative Entwicklung der Regeln ermöglicht.
Und mehr noch: heorie (Analyse)
und Praxis (Produktion) sind in diesem Modell untrennbar aufeinander
bezogen: Rhetores lernen ihr Handwerk durch die Analyse fremder und
das Halten eigener Reden, Designer lernen ihr Handwerk durch die
Analyse fremder und die Produktion
eigener Designartefakte. In diesem
Modell 'löst' Design keine Probleme,
sondern trägt in einem polyvalenten Wirkungsgemisch zur Verschiebung des Problemkontexts bei. Oder
wie der Designer Matt Ward in einer
Diskussion zur Forschung im Design
einmal sinngemäß bemerkte: "Design
gibt manchmal Antworten, ohne das
Problem zu lösen." 3
Abb. 1. Der Berner
Hauptbahnhof. Aufnahme
numstead (www.flickr.com).
Methode
Im vorgestellten Modell kommt der
Beschreibung des Objekts als Methode
eine besondere Bedeutung bei. Die
Analyse der Designwirkungen und
ihres Zusammenspiels führt hierbei
zu einer Interpretation am Objekt und
schließlich zu einer hypothesengeleiteten Hermeneutik der beabsichtigten
Wirkung. Diese Interpretation erfolgt
vor dem Hintergrund eigener Designtätigkeit und nutzt daher die eigenen
Erfahrungen als Deutungsfolie. Man
könnte sagen: Das implizite Wissen
aus dem Designprozess manifestiert
sich in der expliziten Interpretation
des fremden Artefakts.
Reisen: Design for Transport
Der Berner Hauptbahnhof ist das
'Nadelöhr der Schweiz'. Er verfügt
über 13 Gleise (neben den im Untergeschoss beherbergten vier Gleisen des
RBS-Kopbahnhofs),4 die im Hauptgebäude durch eine bogenförmige unterirdische Passage und am Westende der
Gleise seit 2004 durch eine oberhalb
der Gleise verlaufende Passage mit
dem Namen 'Welle' miteinander verbunden sind, deren Perrondächer auf
Brettschichtholzträgern sich wie eine
107
Welle aus der oberhalb der Gleise liegenden Schanzenstrasse hinabschwingen. Die SBB Verkaufsstelle, allfällige
Informationstafeln und der Auslandsschalter der SBB liegen am Eingang
zur Unterführung. Wer sich heute
den Gleisaufgängen nähert, muss sich
also entweder in einer geschlossenen
Unterführung nah der zentralen Infrastruktur bogenförmig bewegen oder
fern der Infrastruktur auf einer lichten Geraden. Neben seiner Bedeutung
als Umsteigebahnhof dient der Berner
Hauptbahnhof vor allem Pendlern.5
Dieser Umstand führt zu einem klaren Autrag an das Gebäudedesign: Es
soll die Ströme der Reisenden effektiv
leiten und möglichst reibungslos auch
zu Stosszeiten den Ablauf aller Transportkanäle gewährleisten. Der Neubau
von 1966-1974 (noch ohne die 'Welle')
galt hierfür rasch als zu eng, zu dunkel
und zu wenig auf die Bedürfnisse des
Reisens zugeschnitten. Im Jahr 1999
wurde deshalb mit der Umbauplanung
des Bahnhofs zu seiner jetzigen Form
begonnen – im Mittelpunkt standen
dabei die Erneuerung des Empfangsgebäudes und die bereits oben erwähnte
'Welle'. Die zentrale Eingangssituation wurde in eine Halle umgewandelt, deren Ausmaß (60 m Länge, 14
m Breite, 17 m Höhe) nahezu ohne
sekundäre Tragelemente auskommt.
Die Dachverglasung ist ebenso wie die
dreiseitig umlaufende Glashülle am
Gebäude und die Innenhaut aus Glas
mehrschichtig aufgebaut, wobei acht
verschiedene Glastypen zum Einsatz
kamen – es lässt sich also vermuten,
dass der Kommunikation des Entwurfs
Attribute wie Transparenz und Leichtigkeit beigegeben waren; in der Hauszeitung der SBB wird der Neubau dementsprechend als "lutig, sicher, friedlich" beschrieben. 6
Kauferleben: Design for Shopping
Neben der Neugestaltung der Laufwege und dem vermehrten Einsatz von
Glas und Licht als Gestaltungselementen zeichnet sich der Umbau nun durch
eine Teilnutzung des Bahnhofs als Mall
aus. Rund 50 Geschätsmieter versprechen "Shoppen auf die Moderne Art:
Von morgens früh bis abends spät, 365
Tage im Jahr, hell, sauber, freundlich." 7
Die Engführung in der Marketingsprache der SBB (das Reisen "lutig, sicher,
friedlich", das Einkaufen "hell, sauber,
freundlich") verweist bereits auf die
in eine Richtung intendierte Gesamtwirkung des Konzepts. Im Mai 2003
wurde der SBB Bahnhof eingeweiht.
Und wenn das Programmhet zum
"Bahnhofsfest" auch noch vom "Bahnhof " spricht, wurde in der SBB-eigenen
Hauszeitschrit via bereits folgerichtig unter dem Markennamen des (im
Folgenden an allen schweizer Großbahnhöfen) verwirklichten Konzepts
berichtet: RailCity.
Die Selbstinterpretation der SBB vereint demnach die Wirkungsdimensionen von 'Reisen' und 'Einkaufen' zu
einem geschlossenen Ganzen. Diese
Interpretation widerspricht der klassischen, an Reiseorten vorherrschenden
Trennung beider Sphären, wie wir sie
sowohl an herkömmlichen Bahnhofsmodellen als auch an Flughäfen vorfinden, in denen das Einkaufen entweder
dem Reisezweck selbst dient oder aber
entlang unvermeidbarer Reisewege
stattfindet: Der typische 'Blumenladen
und Kiosk' kleinerer Regionalbahnhöfe
wird beispielsweise im Hauptbahnhof
Köln zu einer Kombination aus Reisebedarfanbietern in den orthogonal zu
den Gleisen gelegenen Unterführungsteilen und einer quer dazu verlaufenden Restaurantlandschat – die Ein108
kaufswelt im Flughafen wiederum ist
an Sicherheits- und Duty-Free-Zonen
orientiert und folgt somit der Erlebniskette des Reisens. Die Entscheidung
aber, ob die Dramaturgie des Einkaufs
in die Dramaturgie des Reisens eingebettet ist oder nicht, beeinflusst alle
weiteren Designentscheidungen.
Möglicher Konflikt in der Nutzung
und daraus resultierende
Designfrage
Kurt Blum, Architekt im 'Atelier 5'
und Gestalter des Umbaus gibt anlässlich der Eröffnung zu Protokoll:
"Gute Architektur lenkt die Menschen
automatisch an den richtigen Ort."8
Gemeint scheint: der richtige Ort im
Reiseerleben. Die Selbsterfahrung
im Berner Bahnhof zeigt die deutliche Priorisierung der Wegführung für
Reisende. Die zügige Einweisung auf
die Transportwege in der Haupthalle
führt nicht zwangsweise an einem
Ladengeschät vorbei, und auch der
Weg über die 'Welle' führt direkt auf
die Gleise. Die Kennzahlen der Nutzung unterstreichen diese Beobachtung: Täglich 10.000 Passanten stehen
rund 140.000 Reisende im Zugverkehr
gegenüber.9 Dies führt zu einer interessanten Designaufgabe: Wie können
Reisende auf die Einkaufsmöglichkeiten im Gebäude hingewiesen werden,
ohne den Ablauf der Zu- und Abgänge
der Passagierströme zu stören? Die
Mischung im Nutzungsprofil der rund
50 Geschätsmieter zeigt deutlich, dass
zwischen Lauf- und Reisekundschat
und gezielt zum Einkauf angereisten
Nutzern getrennt wird: Je höher das
Geschät im Gebäude untergebracht
ist, desto mehr ist es an langfristiger
Nutzung und Kundenbindung orientiert; einem Kiosk und einem Blumengeschät im Erdgeschoss beispielsweise
sind eine Reinigung und ein Schuhgeschät im ersten Stock zuzuordnen. Der
Nutzungsplan zwingt Reisende also
nicht in das Obergeschoss. Die beiden hochfrequent genutzten Geschäte
im ersten Stock (die Apotheke und die
Filiale einer Supermarktkette) sind
zudem entlang der Ein- und Ausgänge
gelegen und führen nicht zu den anderen Ladenlokalen; die Aufgänge führen
in der Richtungslogik der Eingangshalle zurück, also von den Gleisen und
von den Ausgängen weg. Die Ladenbeschritungen schließlich sind plan
Abb. 2. Die „Welle” ist als
Passage auf die zügige der
Erschließung der Bahnsteige
angelegt. Die eingesetzten Informationstafeln entsprechen
den Standards der SBB und
sind bewusst zurückhaltend.
Aufnahme kusito (www.flickr.
com).
über den Schaufenstern angebracht,
was der verkaufsoptimierenden Blickführung üblicher Malls zuwider läut.
Es entsteht also der Eindruck, dass sich
das Verkaufserleben dem Reiseerleben
unterordnet und Fragestellungen der
Orientierung und des gesamthaten
Erscheinungsbildung Priorität eingeräumt wurde. Diese Interpretation verdichtet sich, wenn man die im Untergeschoss beherbergten Ladengeschäte
und Foodanbieter in der Nebenpassage
'Christoffelunterführung' (in Verantwortung der Stadt Bern, nicht der SBB)
beobachtet, die dem Corporate Design
der im Stadt- und Galeriegeschoss der
RailCity untergebrachten Geschäte
nicht folgen. Während in der RailCity
Ladentypografien, Farben, Gestaltung der Schaufensterrahmen und alle
sekundären Beschritungen am Corporate Design der SBB orientiert sind
und dezent wirken, buhlen die Imbisse
und Geschäte in der 'Christoffelunterführung' in einem bunten Durcheinander um Kundschat. Die Logik dieser Gestaltungsstrategien folgt merkantilen Interessen und Erfolgsmustern, was zur Frage führt, ob und gegebenenfalls wie die einzelnen Mieter im
ersten Stockwerk der RailCity die Nutzung ihres Stockwerks im Rahmen der
bestehenden Architektur und Corporate Design-Vorgaben optimieren.
109
Interpretation einiger
Designapplikationen als
Lösungsansätze für diesen
Konflikt
Die hese dieses Beitrags ist, dass
sich einige Designentscheidungen im
Gebäude als implizite oder explizite Versuche deuten lassen, die augenscheinlich eher niederfrequente Nutzung des
ersten Stockwerks zu erhöhen. Diese
Designentscheidungen schließlich nehmen Einfluss auf die in der Architektur
wirksamen Mittel. Als explizite (und
erkennbar gesteuerte) Maßnahme beispielsweise ist die gezielte Bespielung
der oberen Etage als Raum für kulturelle Anlässe zu werten: So finden regelmäßig kleinere Konzerte statt, zuweilen
auf einer den Zugängen abgewandten
Bühne, die nur über das Abschreiten
der gesamten Ladenpassage zu erreichen ist. Das Niveau der angemieteten
Veranstaltungen ist relativ hoch und
reicht von Klassik- und Jazzkonzerten bis zu Lesungen. Sampling-Aktionen oder PR-Events hingegen finden
im Untergeschoss statt, was darauf hindeutet, dass die Kultur-Ereignisse nicht
(nur) als Marketingevent der RailCityMarke zu deuten sind, sondern (auch)
dem Umleiten der Passantenströme dienen. Ebenfalls explizit sind die Durchführung von Sondermärkten und Ver-
Abb. 3. Einheitliches Design
im Empfangsgebäude des
Berner Hauptbahnhofs.
Die Einkaufspassage im
ersten Stockwerk ist ganz der
Verkehrsfunktion untergeordnet und fällt nicht durch
ausgeprägte Werbebotschaften auf. Aufnahme robw1882
(www.flickr.com).
kaufsaktionen einiger nicht selbst in
der RailCity untergebrachter Unternehmen zu deuten, wie beispielsweise der
Sonderverkauf eines in Bahnhofsnähe
beheimateten Velogeschäts. Implizit
hingegen ist die Wirkungsdimension
zweier einander gegenüber auf Erdgeschossebene angebrachten BewegtbildDisplays. Sie führen den Blick der im
Untergeschoss am Meetingpoint wartenden oder die unterirdischen Zugänge
nutzenden Reisenden automatisch auf
das erste Stockwerk. Gleiches gilt für die
mittig dem Eingang gegenüberliegende
Tafel, die die Abfahrtszeiten, Gleise und
Zielorte der Züge anzeigt; auch sie lenkt
den Blick der Reisenden auf die obere
Shoppingetage. Eine andere wichtige
Designentscheidung beeinflusst die
Wahrnehmung der Gesamtarchitektur
des Gebäudes von außen: Ein oberhalb
des zentralen Eingangs gelegener JeansShop wirbt in seinem Fenster mit einem
groß dimensionierten Schritzug, der
auf zwei in wechselnden Pastellfarben
beleuchteten Leuchtkästen angebracht
ist. Der Schritzug dieses Geschäts
folgt nicht den Vorgaben im Innern
der RailCity; er ist sogar größer als die
Auszeichnung des Gebäudes als Hauptbahnhof und er wird dank seiner Illumination zum zentralen Absender zum
Bahnhofsplatz hin. Zwei Wirkungsdimensionen stehen sich hier gegenüber.
Die Präsenz des eher nicht als Premiummarke zu bewertenden Unterneh110
mens verdrängt – oberflächlich gesehen
– die klare Botschat der SBB als Betreiberin des Shoppingcenters im Bahnhof,
weist jedoch plakativ auf die im Inneren gelegenen Verkaufsaktivitäten hin.
Diese Interpretation wird durch die
Beobachtung gestützt, dass das JeansGeschät ebenfalls (am Verlauf der Rolltreppen orientiert) am 'Ende' des ersten
Stockwerks liegt.
Wenn man diese Designmaßnahmen
beschreibt, fällt auf, dass sie jeweils
unmittelbare oder vermittelte Auswirkungen auf die Wirkungsdimension
der Architektur haben. Die Konzertveranstaltngen verwandeln die Lichtsituation der Halle, da der Klangraum durch
schwere Vorhänge entstehen muss, die
das vom Bahnhofsplatz eintretende
Licht schlucken. Die Werbedisplays
senden farbiges Licht und führen den
Blick von den zentralen Wegführungen der Reisenden zur Seite und nach
oben. Die Sonderverkäufe der nicht in
der RailCity vertretenen Unternehmen
bespielen Freiflächen, die ursprünglich
der Weitläufigkeit der Galerieetage dienen. Das Logo des Jeansgeschäts verändert nahezu kontraproduktiv die
Außenwirkung des Gebäudes durch
seine visuelle Präsenz. Die 'Aufgabe',
das eher wenig genutzte Galeriegeschoss attraktiver zu machen wird also
auch auf Kosten der Architektur wirkungsintentional beantwortet.
Schluss
Der Berner Hauptbahnhof zeigt, wie
das in der Architektur artikulierte Ziel,
Reisende optimal zu führen, in Konflikt mit anderen Nutzungsmodellen
(Erlebniskette des Einkaufens) geraten kann. In der Architektur des Berner Hauptbahnhofs dominiert das
'Reisen' das 'Shoppen'. Nachträgliche
Designapplikationen (wie der Nutzungsplan, neu angebrachte Displays,
verkaufsfördernde Events usw.) greifen
Anmerkungen:
in dieses Verhältnis ein und verändern
damit auch die Wirkung der Architektur. Die Priorisierung des Reiseaspekts
im Bahnhof ergibt Sinn, offen bleibt
jedoch, ob und wie ohne Verlust des
architektonischen Konzeptes bereits
im Entwurf eine bessere Lösung dieses
Konfliktes hätte gefunden werden können. Die Beobachtung der Ausweich-,
Gegen- und Hilfsstrategien kontextualisieren somit die architektonischen
Wirkungen noch einmal neu – als
manifestierte Designentscheidungen.
3 Matt Ward (Goldsmith
College, London) am 19. April
2007 im 'Hyperwerk' der FHNW,
Basel.
1 Mit der männlichen Form
ist ausdrücklich die weibliche
Form mitbezeichnet. Auf
Wunsch der Redaktion wird
auf eine inklusive Schreibweise
zugunsten einer leichteren
Lesbarkeit verzichtet.
4 RBS: Regionalverkehr Bern
Solothurn.
unterführung abgeschlossen
sein. Die wesentlichen Bedingungen im Bahnhofsinnern
werden voraussichtlich jedoch
auch dann noch wie beschrieben
vorzufinden sein.
6 [SBB] via 5/2003. S. 29.
2 Vgl. hierzu auch: Gesche
Joost und Arne Scheuermann:
"Design as Rhetoric. Basic
Principles of Design Research".
In: Swiss Design Network:
Drawing New Territories. Zürich
2006. S. 153-166, hier:155-161.
5 Während der Niederschrift
dieses Textes wurde mit dem
großflächigen Umbau des
Bahnhofvorplatzes begonnen
– dies verändert die derzeitige
Wegsituation zum und vom
Bahnhof erheblich. 2008 soll
die Neugestaltung sowohl des
Platzes als auch der Christoffel-
111
7 Mietervereinigung Bahnhof
Bern: Lebendig und vielseitig.
Bern o. J. S. 7.
8 [SBB] via 5/2003. S. 29.
9 [SBB]: Portrait RailCity Bern,
o. J. , o.P. [S. 2].
112
Mirko Baum
(Aachen)
Straße am Ende der Welt.
Der deutsch-tschechische Architekt und Hochschullehrer Mirko Baum
beschreibt seinen Weg zur Architektur und die bestimmenden Einflüsse,
die ihn auf diesem Weg prägten: die kultivierte Sachlichkeit von Konstruktionen und Materialien … und die Perspektive der tschechischen Moderne.
Der Text ist das Schlußkapitel des gerade erschienenen Buches "Ulice na
konci světa – Straße am Ende der Welt" (verlegt von Karel Kerlický, bei
AVU/Kant, Prag 2007, ISBN: 978-80-86970-51-6).
http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-12000
Januar 2008
#1 "FremdSehen"
S. 113-119
Am Anfang der Wahrnehmung meiner Welt lag die genaue Lokalisierung
ihres Endes. Es war in Mladá Boleslav,
am Ende einer Sackgasse, die vom Rathaus hin auf den Rand eines nahezu
senkrecht abfallenden Abhangs führte.
Natürlich wusste ich, dass dort unten
die Iser fließt, doch an jenem Tag war
alles ganz anders.
schule vor allem deswegen, weil dort
in der Eingangshalle ein Strahltriebwerk der Me 2624 zu sehen war, was in
einer Zeit, in der der Propellerantrieb
noch dominierte, ein nicht alltägliches Erlebnis war. Von dem Gebäude
selbst bekam ich keineswegs den Eindruck, dass ein Haus ausgerechnet so
aussehen müsste.
Das Tal war vollständig in eine Wolke
dichten Nebels gehüllt, auf dessen
feuchtem und schweigend drohendem
Hintergrund ein gusseisernes Geländer zu sehen war, mit dem die Strasse
plötzlich und ohne Umschweife
endete. Über Geländer zu klettern
war damals mein tägliches Brot. Dennoch, hier wurde mir irgendwie klar,
dass über dieses Geländer zu klettern bedeutete, jenen sprichwörtlichen "point of no return" zu überschreiten – eine Grenze, deren Verletzung keine Rückkehr mehr gestattet.
Ich erinnere mich, damals in Begleitung meiner Mutter gewesen zu sein.
Meine seltsame Erkenntnis habe ich
aber nicht preisgegeben, sondern zog
den exklusiven Genuss eines Gefühls
vor, von dem ich erst ein halbes Jahrhundert später gelesen habe, dass es
von einem englischen Denker des 18.
Jahrhunderts, Edmund Burke,1 als
"delightful horror" benannt wurde –
das Gefühl einer angenehmen Furcht,
deren Anziehungskrat dem Bewusstsein der Labilität eigener Sicherheit
entspringt. Ich denke, dass ich damals
einem mächtigen Zauber verfiel, der
mich bis heute noch fesselt.
Geboren bin ich ein halbes Jahr vor
dem Ende des zweiten Weltkrieges,
der naturgemäß in meinem Säuglingshirn kaum Spuren hinterließ. Eine der
wenigen Erinnerungen, wenn auch nur
aus zweiter Hand, war eine flüchtige
Bemerkung meiner Eltern über einen
hungrigen und zerlumpten deutschen
Soldaten, der, nachdem der Krieg
schon längst vorbei war, in einer Nacht
an die Tür unseres Hauses klopte, um
einen Füller gegen Brot zu tauschen.
Aus Angst vor der Antwort habe ich
meine Eltern nie nach ihrem Verhalten gefragt, bis heute aber blieb diese
Episode für mich ein Synonym für die
Grauen des Krieges, ein Synonym für
Degradierung und Demütigung des
menschlichen Individuums.
Auch darüber hinaus war in Mladá
Boleslav einiges zu sehen. Neben der
Noblesse von Králíks Stadttheater2
waren es vor allem Krohas Bauten,3
die das ungeschulte Auge schockierten und die von der früheren Anwesenheit einer rätselhaten, außerirdischen Kultur zeugten. Hotel "Venec",
das Polyklinikum und vor allem die
Industriefachschule, über die sich
meine Mutter mit ihrem typisch weiblichen Pragmatismus äußerte (d. h.,
sie bedauerte jene Person, die in diesem labyrinthisch unübersichtlichen
Objekt die unzähligen Fenster putzen
musste), waren störende Fremdkörper in einer geordneten Welt, die noch
vorwiegend von der Bauroutine des
19. Jahrhunderts geprägt worden war.
Mich interessierte die Industriefach114
Eine willkommene Hinterlassenschat
des Krieges stellte dagegen ein Haufen
von Flugzeugsschrot dar, der hinter
den Hangars des Jungbunzlauer Flugplatzes lag, d. h. an dem Ort, wo ich
jede freie Minute verbracht habe. Piloten und Bodenpersonal nannten mich
"Ingenieur", wegen eines Schraubenziehers und einer Zange, die ich immer
bei mir trug, und tolerierten großzügig
meine Anwesenheit zu jeder Zeit und
an jedem Ort. Sowohl die Besatzungsmacht als auch die Armeen der Alliierten hatten dort eine unermessliche
Menge von Material hinterlassen, das
ohne jede Einschränkung zu meiner
Verfügung stand. Hohle, auf ein Minimum des Gewichts gebohrte Wellen aus edlen Stahllegierungen, Teile
aus Magnesium und Elektron, Kronenmuttern mit Drahtsicherung und
ebenso dünne wie unglaublich widerstandsfähige Bleche mit Kontrollstempeln in Deutsch, Englisch und Russisch stellten meine erste Bekanntschat mit der Welt des edlen Details
dar, das bis heute nur jenem Industriezweig eigen ist, in dem unerbittliche Genauigkeit und strengste Auslese
herrschen und in der ein Irrtum mit
dem Tode bestrat wird.
Abb. 1. Verwaltungs- und
Wohngebäude der Bauerngenossenschaftlichen
Molkerei in Cejeticky, Josef
Saal 1941 (Architektura CSR,
5/1946)
Vielleicht war der erste adäquate Eindruck aus dem Bereich der Architektur die Wohnung des Ehepaars Petera,
eine Dienstwohnung der Molkereifabrik in Cejeticky, die ein paar Schritte
vom Jungbunzlauer Bahnhof entfernt
war. Die 50er Jahre waren der Architektur aus der Zeit der ersten Republik nicht gerade freundlich gesonnen,5
hier aber, in der Abgelegenheit der
Provinz, überlebte ihre Noblesse in
einer noch unberührten Reinheit. Herr
Petera war das, was man damals "úredník" (Beamter) nannte. Immer perfekt
angezogen in Anzug und Krawatte, war
er so etwas wie ein Felsen in der Brandung der kommenden Barbarei. Mit
seiner Frau bewohnte er diese elegante
Wohnung, die glatt als Bühnenbild
in einem Vorkriegsfilm mit Oldrich
Novy6 hätte dienen können. Wir saßen
dort am schwarz lackierten Tisch auf
Stühlen aus Leder und verchromtem
Stahlrohr und tranken Tee aus hauchdünnem Jenaer Glas. Frau Petera, eine
elegante Dame mit leichtem, dunklem
Flaum unter der Nase, servierte Tee
und Gebäck, und während die Gesellschat auf die "Zustände" schimpte,
blieben meine Augen an einem Fenster aus vernickeltem Messing haten,
dass mit seinem perfekten Detail an
jene Eindrücke erinnerte, die ich sonst
nur von meinen Flugplatzstreifzügen
kannte. Mit einer ähnlichen Intensität
war ich vielleicht auch noch von Bata´s
Schuhkauhaus in der Jungbunzlauer
115
Innenstadt beeindruckt, das jedoch,
weil dort nicht die Peteras herrschten,
schon die ersten Zeichen des Rückzuges von seinem einstigen Ruhm zeigte.
Ein Kontrastprogramm zur klinisch
sauberen Ästhetik des Funktionalismus stellte die Wohnung von Frau von
Gednorozec dar, mit der meine Mutter
befreundet war. Diese imposante alte
Dame mit weit ausladendem Busen,
dessen schwer erkennbare Abgrenzung
sich in zahlreichen Doppelkinnen und
Bauchfalten verlor, Witwe eines österreich-ungarischen
Marineoffiziers,
wohnte im Zentrum der Stadt hinter
Samtvorhängen in der Finsternis einer
nie gelüteten Wohnung, die mit tropischen Pflanzen, Statuen, Ölgemälden,
Lorbeerkränzen und anderen Reliquien der damals schon unwirklichen
Welt überfüllt war. Die dunkle Halle
dieses Mausoleums bewachte grimmig,
von schweren Fahnen flankiert und mit
ewigem Licht zu Füssen, ein riesiger,
mit dem Kopf nickender Buddha. Frau
von Gednorozec, die von ihrer Umgebung spöttisch "die Gräfin" genannt
wurde, fütterte mich mit staubiger
Schokolade, die sowohl durch ihren
Geschmack als auch durch ihr Aussehen die Herkunt aus den materiellen
Ressourcen der längst untergegangenen Flotte Seiner Apostolischen Majestät ahnen ließ. Diese Insel des 19. Jahrhunderts war durchdrungen von der
Atmosphäre der schraffierten Welt der
Illustrationen der Jules-Verne-Romane,
es war in meinen Augen die Welt der
weiten Reisen, der Ballone, der Lutschiffe und der Unterseeboote, dieselbe
Welt, die ich später, in Bewegung versetzt, in den Filmen von Karel Zeman7
oder in Farben, jedoch immer mit derselben Stimmung von Melancholie und
stiller Einsamkeit, in den Bildern des
von mir über alles geschätzten Malers
Kamil Lhoták8 lieben lernte.
Der Weg von Mladá Boleslav nach
Prag, wo ich nach einem misslungenen
Versuch, an der Militärakademie des
Antonín Zápotocky in Brünn zum Stu-
dium des Flugzeugbaus zugelassen zu
werden, aus purer Not das Studium der
Architektur aufnahm, führte wieder an
einem Flugplatz vorbei. Der Flugplatz in
Kbely bestand damals großenteils (und
soweit ich weiß, besteht er noch heute)
aus einer Reihe von mit dunkler Holzschutzfarbe angestrichenen Flugzeugschuppen, die noch aus der Pionierzeit
der tschechischen Aviatik stammten. In
der Nähe der Hallen steht ein Leuchtturm von Otakar Novotny,9 der mir
zwar nie sonderlich gefiel, der aber mit
seinem futuristischen Reliefschmuck
und schon einfach durch sein bloßes
Dasein als Leuchtturm das Pathos jener
optimistischen Zeit ausstrahlt, die von der Eroberung des Lutmeeres
besessen war. Noch ein
wenig weiter befindet sich
Breberas Stahlbetonhangar,10 dessen genauso einzigartige wie bis heute zu
Unrecht wenig bekannte
Konstruktion schon auf
den ersten Blick meine
Neugierde weckte. Gleich
hinter dem Flugplatz
folgte die abschüssige
Serpentine nach Vysocany, mit dem von hier
wahrnehmbaren
Blick
auf Rauch und auf sonnenflimmernde Reflexe
der Fabrikdächer, ein
Blick auf das monotone
und schmuddelige Grau
der Welt des alltäglichen
Heldentums und der Vorstadtpoesie. Ich erinnere
mich, wie ich einen der
Professoren der Prager
Architekturfakultät schockierte, als ich ihm eröffnete, dass mir dieser Blick
auf die "goldene Stadt" am
besten gefalle.
Über die Prager Straßenbahn könnte man lange
schreiben - über die
geschliffenen Scheiben
in der Verglasung der
Türen, über den genial
einfachen Öffnungsmechanismus der Fenster,
über die Schrauben aus
vernickeltem Messing,
deren Linsenköpfe in den
speziell hierfür gefertig-
Abb. 2. Treppenhaus des
Kaufhauses Gellner in Mladá
Boleslav, Jirí Kroha 1924
(J. Císarovsky, Jirí Kroha a
meziválecná avantgarda, Prag
1967)
116
ten Unterlegscheiben gebettet waren,
über die edlen Hölzer, über Gusseisen
und Leder. Der einzige Versuch, dieses robuste Vehikel zu modernisieren,
man müsste ihn irgendwann mal am
Anfang der 30er Jahre unternommen
haben, endete in einem peinlichen
Fiasko. Der schüchtern stromlinienförmigen Formgebung, die im Hinblick auf das Betriebstempo mehr als
überflüssig war, verdankten die neueren Wagen den berühmten Namen
"Krassin", nach jenem russischen Eisbrecher, der im Jahre 1928 Dr. Behounek11 wie auch die übrigen Überlebenden der Nordpolexpedition Nobiles
von der Eisscholle gerettet hatte. Während der Fahrt auf die Straße springen,
konnte man aus beiden Ausführungen
– umsonst ohne, und für 10 Kronen
mit polizeilicher Assistenz. Selbstverständlichkeit, Einfachheit, kultivierte
Sachlichkeit und ästhetische Homogenität, die nicht nur diesem Verkehrsmittel, sondern allen Bauten des Schienenverkehrs des 19. Jahrhunderts zu
eigen waren, bedeuten für mich bis
heute – der Sympathie für die sog.
funktionalistische Moderne zum Trotz
– die wirkliche Inkarnation des modernen Geistes, des Geistes eines wirklichen und durch ästhetische Vorurteile
unverfälschten Funktionalismus.
Den Maler Kamil Lhoták habe ich
bereits erwähnt. Aus einem seinem
Oeuvre gewidmeten Kurzfilm mit dem
passenden Namen "Variationen auf die
Stille", blieb in meiner Erinnerung die
Metapher von der Seine, die im Pariser
Stadtraum eine durch die Stadt fließende
Landschat darstellt. Diese schöne Metapher ist auch auf die Moldau in Prag voll
anwendbar. Es reicht, von der Uferpromenade die Treppen auf die darunter
liegende Ebene der Regulation hinabzusteigen, und die Welt, in die der Lärm
der Stadt nur gedämpt eindringt, verändert sich völlig. Das liebenswürdige
Durcheinander, das hier herrscht, der
modrige Geruch des Flusses, der Flug
der Möwen und die rostigen Poller, die
vor langer Zeit optimistisch dem Festmachen der hypothetischen Wasserfahrzeuge galten, das alles lässt ahnen,
dass hinter diesem Fluss sich noch ein
größerer Fluss befindet, an dessen Ende
Hamburg und der weite Horizont der
Nordsee liegen. Die Brücken sind aus
dieser Perspektive nur in ihrer funktionellen Nacktheit sichtbar, als Träger des
117
Verkehrs und der Rohrleitungen. Aus
ihrem Inneren tropt rostiges Wasser
und ihre Details, bar jeder Repräsentationsattitüde, erzählen von der Mühe
und Arbeit längst verstorbener anonymer Konstrukteure.
Einmal suchte ich Schutz unter der
Svatopluk-Cech-Brücke, um ein Buch,
das ich mir in der Technischen Bibliothek ausgeliehen hatte, vor dem Regen
zu retten – Hans Techel, Der Bau von
Unterseebooten auf der Germaniawert,
Verlag des Vereines der deutschen Ingenieure, Berlin 1922. Der Inhalt des
schmalen Bandes im schwarzen, abgenutzten Einband hielt mich auf dem
unwirtlichen Platz sehr lange fest. Auf
den vergilbten Seiten, in der spröden
Typographie eines sachlichen Ingenieurhandbuches, sah man Zeichnungen
aus einer Zeit, in der aus dem Unterseepalast des melancholisch–misanthropischen Kapitäns Nemo längst eine hinterhältige Waffe geworden war. Dennoch - auch durch diese wenig aufmunternde Vorstellung hat das Buch in meinen Augen nichts von seiner Faszination
eingebüßt. Auf seinen Seiten wurde für
mich, wieder einmal nach einer langen
Zeit, die Welt meines Vaters, eines Konstrukteurs der Jungbunzlauer SkodaWerke, sichtbar. Schon als kleiner Junge
habe ich von ihm gelernt, wie man
Maßketten anlegt, wie man einen Bleistit schärt und wie man dessen Spitze
lange erhält – d. h., wie man beim Ziehen eines Striches den Stit langsam und
gleichmäßig dreht, um die Stitspitze
durch gleichmäßige Abnutzung möglichst lange betriebsbereit zu halten.
Die Kotierpfeile waren seine Spezialität.
Sie mussten scharf sein, sich tangential
an den Strich anlehnen und sich nach
hinten nur leicht öffnen, und zwar in
einer anmutigen Kurve, deren Verlauf
nur ihm bekannt war. Er zeichnete auf
schwerem Transparentpapier aus der
Zeit der Ersten Republik, das mit einer
dünnen Textileinlage verstärkt war. Die
im Ammoniak-Verfahren hergestellten Lichtkopien nannte er "Blaupausen", denn sie waren tatsächlich indigoblau mit einem weißen Strich, der dem
Ganzen eine zusätzliche Zartheit gab.
Bis heute bedauere ich, dass diese Art
der Vervielfältigung den moderneren
Methoden weichen musste, die sicher
praktischer und billiger sind, deren
ästhetisch-kontemplativer Inhalt aber
gleich Null ist. Fasziniert habe ich jedes
raum einer Dekade wirkendes Zentrum
des technologischen Determinismus
auf tschechischem Boden, gut bekannt.
Dennoch, aus der Distanz der Zeit
betrachtet, denke ich, dass ihre Bedeutung weniger im Prägen des einen oder
anderen Architekturstils lag, sondern in
der Realisierung einer sozialen Utopie,
die nur unter den vor der Wende des
Jahres 1989 herrschenden Bedingungen
Techels Buch, um dessen Rückgabe realisiert werden konnte.
mich die Technische Bibliothek eine
lange Zeit hat mahnen müssen, beein- Auf dem Motorrad Norton ES2, das
flusste nicht nur mich, sondern auch ich von dem Metzgermeister Cenek
eine Anzahl von Freunden in der Archi- Cerny in Kladno gekaut hatte, mit der
tektengruppe Skolka12 in Liberec. Die Zahnbürste in der einen und dem AusGeschichte von Skolka ist längst aus wandererpass in der anderen Tasche,
dem Abseits des erzwungenen Inko- habe ich nur widerwillig diese Utopie
gnito herausgetreten und ist heute als verlassen. Hier fängt aber eine ganz
aktives und zumindest für den Zeit- andere Geschichte an.
Mal jenem Wunder zugeschaut, mit
dem aus vier senkrechten Linien durch
Zugabe von sechs Kreissegmenten die
Ansicht einer Mutter wurde, oder wie
zwei Parallellinien durch die Zugabe
einer lang gezogenen S-Kurve plötzlich
eine zylindrische Form bekamen. Mein
Vater war ein Künstler, Gott sei Dank,
dass er davon nichts wusste.
Abb. 3. Bezirkspolyklinikum
in Mladá Boleslav, Jirí Kroha
1924 - 25 (J. Císarovsky,
Jirí Kroha a meziválecná
avantgarda, Prag 1967)
118
Anmerkungen:
1 Edmund Burke (1729
– 1797), englische Publizist
und Politiker, Begründer der
psychologischen Ästhetik, die
u. a. auch Kant und Lessing
beeinflusste.
2 Emil Králík (1880-1946),
tschechischer Architekt und
Professor an der TH Brünn.
3 Jirí Kroha (1893-1974),
tschechischer Architekt und
Professor an der TH Brünn.
4 Messerschmitt Me 262,
das erste in Serie gebaute
Düsenflugzeug der Welt.
5 In Wirklichkeit wurde das
Gebäude erst während des
Krieges im Jahre 1941 von dem
Architekten Josef Saal gebaut.
9 Otakar Novotny (1880-1959),
tschechischer Architekt, Gründungspräsident und Architekt des
Künstlerklubs "Mánes" in Prag.
6 Oldrich Novy (1894-1983),
tschechischer Filmschauspieler,
Frauenidol und Herzensbrecher.
10 Antonín Brebera (1892 – ?),
tschechischer Bauingenieur und
Fachbuchautor.
7 Karel Zeman (1910-1989),
durch mehrere technisch
ungewöhnliche Jules Verne
– Verfilmungen bekannter
tschechische Filmregisseur.
11 Frantisek Behounek
(1898-1973), tschechischer
Radiologe, 1928 Teilnehmer an
der Polarexpedition des Generals
Umberto Nobile.
8 Kamil Lhoták (1912-1990),
tschechischer Maler des
"metaphysischen Realismus",
Buchautor, Buchillustrator und
Sammler historischer Fahrzeuge.
12 Skolka SIAL, unter
Mitwirkung des Verfassers 1969
im nordböhmischen Liberec
(Reichenberg) gegründete
Architektenkommune.
119
120
Thema der nächsten Ausgabe:
Raubkopie
Das Zitieren stellt seit jeher eine grundlegende Methode des künstlerischen
Arbeitens dar. Es ist die Möglichkeit der
kritischen, persiflierenden oder einfach nur bewundernden Bezugnahme
auf zuvor Geschaffenes, auf den Schatz
unserer kulturellen Identität. Dies setzt
gleichwohl das Vorhandensein eines
allgemeingültigen Repertoires voraus,
da ein Zitat nur dann Sinn hat, wenn
es auch als solches erkennbar bleibt.
Dem Repertoire verpflichtet, war bis
zur Moderne so gut wie jede künstlerische Ausbildung geprägt durch das
Studium bekannter Vorbilder und das
Anfertigen tatsächlicher Kopien.
Mit der Entwicklung digitaler Medien
ist die beliebige Vervielfältigung jeg121
licher Form von Daten ohne einen
Qualitätsverlust möglich geworden.
Die Film- und Musikbranche benennt
die große Verbreitung von Raubkopien via Internet als immensen wirtschatlichen Schaden und stilisiert sie
zur Bedrohung der eigenen Branche
hoch. Dem stehen gleichzeitig ungeahnte technische Möglichkeiten in der
Produktion von Musik, Bildern etc.
gegenüber. Eine nahezu professionelle
Qualität ist mit mittelgroßem Aufwand auch im heimischen Wohnzimmer möglich, wodurch eine Unmenge
an Datenmaterial in verschiedensten Foren zur Verfügung steht. In der
unfassbaren Fülle von verheißungsvollen Bildern, Filmschnipseln, Klängen und technischen Möglichkeiten
stecken alle Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume unserer Gesellschat.
Zugleich beinhalten sie aber auch die
Beliebigkeit, Übersättigung und Überforderung in der Suche nach Erfüllung und Befriedigung, die ebenso Teil
unserer Welt ist. Wir werden hiermit
vor die Herausforderung gestellt, im
vorhandenen Chaos die Spreu vom
Weizen trennen zu müssen.
Eine Kernfrage, die sich auf dem Weg
aus der Orientierungslosigkeit stellt, ist
die nach der Bedeutung von Originalen und dem Wert der Originalität. In
der Kunst sind in der Auseinandersetzung mit dieser Frage ganze Lebenswerke entstanden. So z.B. in der PopArt, deren Werke stets die Frage der
Reproduzierbarkeit implizieren. Eine
Steigerung stellt die Appropriationskunst dar. Hier wird die abendländische Kunst gar der Originalitätssucht
bezichtigt, indem gemalte Verkleinerungen bekannter Werke produziert
und ausgestellt werden. Gestärkt wird
diese Position durch das Konsumverhalten unserer Gesellschat. Ausstellungen können in Form von Katalogen
nach Hause getragen werden und so
gut wie jedes bekanntere Opus findet
sich im Internet – sowohl als digitale
"Reproduktion" des Originals als auch
als verflachte Kopie.
Auch für die Architektur muss diese
Frage erörtert werden. Auf der einen
Seite gibt es einen spürbaren Zwang zur
Originalität im Sinne des ewig "Neuen".
Im Gegenzug wird vielerorts – aktuelle
Beispiele sind Dresden, Frankfurt und
Berlin – die mehr oder minder exakte
"Kopie" einer verlorenen Vergangenheit
als einzige Zukuntsvision empfunden.
Einerseits wird also die völlige Abkehr
vom Bekannten, d.h. die Auflösung des
Repertoires betrieben, andererseits entsteht in der Gegenreaktion die Sehnsucht nach dem "Althergebrachten",
dem "Bewährten". Es ist zu befürchten, dass beide Ansätze eine Sackgasse
darstellen, da wir das Fortschreiten der
kulturellen Entwicklung weder verleugnen noch stoppen können. Beide Tendenzen weisen die Schwäche auf, Originalität aus sich selbst heraus schaffen
zu wollen, die eine in der Verneinung
existierender Originale, die andere in
der Verneinung zeitgenössischer Entwicklung. Die Lösung scheint in einer
klaren Positionierung bezüglich unserer Identität im Sinne einer kulturellen Kontinuität zu liegen; die Formel
könnte heißen, dass Originalität nur in
der Auseinandersetzung mit Originalen entstehen kann.
Otmals begnügen wir uns mit Kopien,
seien es die geklauten CDs aus dem
Internet, das Remake eines berühmten Filmes oder die Revival-Band, die
gute alte Zeiten wieder aufleben lässt.
Es stellt sich nun die Frage, wie die
Bedeutung des Originals in Zukunt
verstanden wird. Hat uns die digitale
Welt von der Verpflichtung zum Original befreit? Welchen Einfluss haben die
virtuellen Welten auf unser Verständnis von Realität und wieviel Weltflucht
können wir uns erlauben? Welche Formen des Umgangs mit Originalen gelten und welche Erkenntnisse sind in
der Auseinandersetzung mit ihnen zu
gewinnen? Welches Repertoire liegt
unseren heutigen Bemühungen, Originelles zu schaffen, zu Grunde, und
stellt dieses Repertoire eine Verbindlichkeit dar? Wann ist ein Zitat eine
Kopie und wann eine Kopie eine Raubkopie, ein Plagiat?
archimaera möchte mit dieser Ausgabe den Versuch unternehmen, die
Begriffe Zitat, Kopie und Raubkopie
zu klären und ihre historischen Definitionen zu beleuchten. archimaera lädt
dazu ein, Position zu beziehen, wie
diese Begriffe heute und in Zukunt zu
verstehen sind.
Daniel Buggert
(Herausgeber des Heftes)
Redaktionsschluss für diese
Ausgabe: 31.05.2008
Einreichungen direkt unter "mitmachen" bei www.archimaera.de oder
per E-Mail an redaktion@archimaera.de
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www.archimaera.de – architektur.kultur.kontext.online
ISSN:1865-7001 • #1 • Januar 2008 • FremdSehen