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archimaera #1 "FremdSehen" – www.archimaera.de

FremdSehen archimaera versteht sich als Einladung zum "FremdSehen", d.h. als Anregung, neuartige Sichtweisen zuzulassen, zu verstehen und zu genießen. "FremdSehen" kann hierbei als Notwendigkeit und Methode für die Architekturbetrachtung verstanden werden. "FremdSehen" steht für Neugier auf Unbekanntes, Anderes, nie Gesehenes, für einen Blick nach außen. "FremdSehen" heißt aber auch, neue Methoden jenseits des eigenen Fachgebiets zu erproben, anzuwenden und davon zu berichten. FremdSehen" ist insofern ein Synonym für das Programm von archimaera, deshalb haben wir uns entschieden, das erste Heft diesem Thema zu widmen. Vom Wortsinn her zielt "FremdSehen" auf die Wahrnehmung, das Sehen. "FremdSehen" in diesem Sinne meint die Begegnung mit unbekannten Gebäuden, fremden Welten und anderen Kulturen, kurz: die Rezeption von Architekturkultur. Hierunter fällt auch die verfremdete und veränderte Wahrnehmung von Bekanntem durch Perspektivenwechsel und durch Veränderungen im Betrachter, am Objekt oder im Vorgang der Wahrnehmung. Dieser Definition des "FremdSehens" ist der größte Teil der Beiträge dieser Ausgabe gewidmet. Als erstes nimmt uns Erich Lehner mit auf eine Reise nach Sumatra, um uns eine Einführung in dortige Haustypologien zu geben und hieran die Bindung zwischen kultureller Identität und lokaler Bautradition zu verdeutlichen. Karl Kegler führt uns nach Indien, wo er in der Geschichte der Stadt Lucknow einen zerbrochenen Spiegel europäischer Architektur entdeckt hat. Indische Architektur zeigt uns auch Fedor Roth mit seinen Zeichnungen, die im Verlauf verschiedener Indienreisen entstanden sind. Einen letzten Blick in den fernen Osten ermöglicht uns Manfred Speidels Darstellung der klassischen japanischen Architektur in ihrer Bedeutung als Inspirationsquelle der klassischen Moderne und gewinnbringendes Betrachtungsobjekt in heutiger Zeit. "FremdSehen" im erweiterten Sinne meint auch, Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Als Beispiel hierfür weist Thomas Knüvener nach, dass selbst etwas Unangenehmes, ja Abstoßendes wie eine Mülldeponie die Chance in sich birgt, gestalterisch tätig zu werden und sich der Schrecken verbrauchter Flächen vom reinen Infrastrukturprojekt zur Landschafts- Baustelle wandeln kann. Mit Arne Scheuermann haben wir einen Kommunikationsdesigner eingeladen, ein Architekturobjekt seiner Wahl einer genauen Betrachtung zu unterziehen. In seiner Analyse des Berner Hauptbahnhofs wird deutlich, wie die Architektur als Rahmen konsumorientierter Erlebnisketten genutzt werden kann. Den Schlusspunkt des Heftes bildet ein Text von Mirko Baum aus seinem gerade erschienenen Buch Ulice na konci světa – Straße am Ende der Welt. Zur Architektur führen viele Wege und jeder erzählt seine eigene Geschichte. Genau dies vermittelt der Text von Mirko Baum und eben deshalb ist er ein wunderbarer Abschluss für die erste Ausgabe dieser Zeitschrift. Daniel Buggert, Karl R. Kegler [Herausgeber dieser Ausgabe] urn:nbn:de:0009-21-12748

FremdSehen archimaera #1 www.archimaera.de – architektur.kultur.kontext.online ISSN:1865-7001 Januar 2008 Willkommen Die Auseinandersetzung mit Architektur kennt viele Methoden und Ansätze, denen die existierende Publikationslandschat in jeweils spezifischen Fachzeitschriten Rechnung trägt. Ein Periodikum, das die unterschiedlichen Standpunkte mit dem Ziel der gegenseitigen Befruchtung vereint, existiert bisher weder im Bereich der konventionellen noch im Bereich der Neuen Medien. Wir, eine Gruppe junger Architekten, Kunst- und Architekturhistoriker, haben es uns zum Ziel gesetzt, diese Lücke zu schließen. Denn wir verstehen Architektur als übergreifendes Kulturphänomen, das es in seiner gesamten Spannweite zu erfassen gilt. Der Architekturdiskurs benötigt dringend ein Forum, in dem ein Austausch auf fächer- und methodenübergreifender Ebene stattfinden kann. Mit archimaera entsteht eine unabhängige Online-Zeitschrit für Architektur, die einen Blick über den Tellerrand der jeweiligen Disziplin ermöglicht, Schnittmengen aufzeigt und den Austausch zwischen Praxis, Geschichte, heorie und Reflexion fördert. Sie ist als Publikationsmöglichkeit für Künstler und Wissenschatler gedacht, die ihre Arbeit in einen inner- und interdisziplinären Diskurs einbetten wollen. Ziel ist es, dass entwerfende Architekten, Architekturtheoretiker, Architekturhistoriker und Architekturbegeisterte anderer Disziplinen nicht wie üblich an separaten Strippen ziehen, sondern ihre Fäden zu einem stabilen Netz verweben, das dem durchhängenden Architekturdiskurs neue Tragfähigkeit verleiht. 1 archimaera ist als ortsungebundenes, international erreichbares InternetMedium konzipiert, das die Vernetzung zwischen der jüngeren, an Architekturthemen interessierten Forschergeneration fördern soll. Die Mitglieder ihres Gründerteams rekrutieren sich aus verschiedenen euopäischen Universitäten, Architekturbüros und Forschungsinstituten und verstehen sich als Anknüpfungspunkt für ein europaweites Netzwerk, das sich der interdisziplinären und interkulturellen Annäherung an das Phänomen Architektur verschreibt. Wir laden ein, beim Aufspannen und Ausgestalten dieses Netzwerkes mitzuarbeiten. Zu diesem Zweck werden die ersten Ausgaben von archimaera thematische Knotenpunkte, Topoi oder Schlagworte für ein interdisziplinäres Brainstorming vorschlagen, um wissenschatliche Texte, Entwürfe, Zeichnungen und andere künstlerische Arbeiten als Ausdrucksmöglichkeiten eines kreativen, historischen und philosophischen Architekturdiskurses zusammen zu bringen. Für die Realisierung des Projektes haben wir große Hilfe von Seiten des Hochschulbibliothekenzentrums (HBZ) NRW erfahren. Hierfür möchten wir uns bei Herrn Dr. Horstmann, Frau Nötzelmann und Herrn Neumann herzlich bedanken. Ein ganz besonderer Dank gilt Herrn Dr. Reimer und Herrn Schirrwagen, die die technische Realisierung des OnlinePortals durchgeführt haben. Außerdem bedanken wir uns bei Herrn Prof. Pieper, der unserer Zeitschrit in seinem Lehrstuhl "Asyl" gewährt. 2 FremdSehen archimaera versteht sich als Einladung zum "FremdSehen", d.h. als Anregung, neuartige Sichtweisen zuzulassen, zu verstehen und zu genießen. "FremdSehen" kann hierbei als Notwendigkeit und Methode für die Architekturbetrachtung verstanden werden. "FremdSehen" steht für Neugier auf Unbekanntes, Anderes, nie Gesehenes, für einen Blick nach außen. "FremdSehen" heißt aber auch, neue Methoden jenseits des eigenen Fachgebiets zu erproben, anzuwenden und davon zu berichten. "FremdSehen" ist insofern ein Synonym für das Programm von archimaera, deshalb haben wir uns entschieden, das erste Het diesem hema zu widmen. Vom Wortsinn her zielt "FremdSehen" auf die Wahrnehmung, das Sehen. "FremdSehen" in diesem Sinne meint die Begegnung mit unbekannten Gebäuden, fremden Welten und anderen Kulturen, kurz: die Rezeption von Architekturkultur. Hierunter fällt auch die verfremdete und veränderte Wahrnehmung von Bekanntem durch Perspektivenwechsel und durch Veränderungen im Betrachter, am Objekt oder im Vorgang der Wahrnehmung. Dieser Definition des "FremdSehens" ist der größte Teil der Beiträge dieser Ausgabe gewidmet. Als erstes nimmt uns Erich Lehner mit auf eine Reise nach Sumatra, um uns eine Einführung in dortige Haustypologien zu geben und hieran die Bindung zwischen kultureller Identität und lokaler Bautradition zu verdeutlichen. Karl Kegler führt uns nach Indien, wo er in der Geschichte der Stadt Lucknow einen zerbrochenen Spiegel europäischer Architektur entdeckt hat. Indi3 sche Architektur zeigt uns auch Fedor Roth mit seinen Zeichnungen, die im Verlauf verschiedener Indienreisen entstanden sind. Einen letzten Blick in den fernen Osten ermöglicht uns Manfred Speidels Darstellung der klassischen japanischen Architektur in ihrer Bedeutung als Inspirationsquelle der klassischen Moderne und gewinnbringendes Betrachtungsobjekt in heutiger Zeit. "FremdSehen" im erweiterten Sinne meint auch, Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Als Beispiel hierfür weist homas Knüvener nach, dass selbst etwas Unangenehmes, ja Abstoßendes wie eine Mülldeponie die Chance in sich birgt, gestalterisch tätig zu werden und sich der Schrecken verbrauchter Flächen vom reinen Infrastrukturprojekt zur LandschatsBaustelle wandeln kann. Mit Arne Scheuermann haben wir einen Kommunikationsdesigner eingeladen, ein Architekturobjekt seiner Wahl einer genauen Betrachtung zu unterziehen. In seiner Analyse des Berner Hauptbahnhofs wird deutlich, wie die Architektur als Rahmen konsumorientierter Erlebnisketten genutzt werden kann. Den Schlusspunkt des Hetes bildet ein Text von Mirko Baum aus seinem gerade erschienenen Buch Ulice na konci světa – Straße am Ende der Welt. Zur Architektur führen viele Wege und jeder erzählt seine eigene Geschichte. Genau dies vermittelt der Text von Mirko Baum und eben deshalb ist er ein wunderbarer Abschluss für die erste Ausgabe dieser Zeitschrit. Daniel Buggert und Karl Kegler (Herausgeber des Heftes) 4 Inhalt 6 7 23 43 51 79 97 Impressum Erich Lehner (Wien) Architekturtradition und ethnische Identität Bautypen der Karo-Batak und Toba-Batak auf Sumatra Karl R. Kegler (Köln/Aachen) Zerbrochene Spiegel Teil 1: Das Eigene und das Fremde Das "exotische Europa" und die Bauten der Nawabs von Oudh Fedor Roth (Aachen) Zeichnungen hinduistischer Baukunst in Indien Karl R. Kegler (Köln/Aachen) Zerbrochene Spiegel Teil 2: Kopie und Synthese Das "exotische Europa" und die Bauten der Nawabs von Oudh Manfred Speidel (Aachen) Träume vom Anderen Japanische Architektur mit europäischen Augen gesehen – Einige Aspekte zur Rezeption zwischen 1900 und 1950. Thomas Knüvener (Köln) Ästhetik der Deponie Arne Scheuermann (Bern) 105 RailCity oder Hauptbahnhof? Eine designtheoretische Interpretation von Transportströmen und Einkaufserlebnissen im Hauptbahnhof Bern Mirko Baum (Aachen) 113 Straße am Ende der Welt. Thema des nächsten Heftes 121 Raubkopie 5 Impressum archimaera architektur. kultur. kontext. online ISSN:1865-7001 www.archimaera.de Herausgeber redaktion archimaera c/o Daniel Buggert Lehrstuhl für Baugeschichte RWTH Aachen Schinkelstraße 1 52056 Aachen Redaktion Relja Arnautovic, Daniel Buggert, Nadja Horsch, Karl R. Kegler, Joachim Müller, Anke Naujokat, Martino Stierli Herausgeber des Heftes FremdSehen Daniel Buggert, Karl R. Kegler Kontakt: redaktion [at] archimaera.de Grafik/ Layout Online: Karl R. Kegler Druckfassung (pdf): Daniel Buggert Technische Realisation Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen (hbz) Jülicher Straße 6 50674 Köln Telefon: 0221 / 40075-173 Telefax: 0221 / 40075-190 Copyright Das Urheberrecht aller in archimaera veröffentlichten Inhalte, sofern nicht durch andere urheberrechtliche Ansprüche geschützt, regelt die Digital Peer Publishing (DiPP) Lizenz. Jedermann darf die Inhalte unter den Bedingungen der DIPPLizens elektronisch übermitteln und zum Download bereitstellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar. Externe Links auf archimaera sind ausdrücklich erwünscht. Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. 6 Erich Lehner (Wien) Architekturtradition und ethnische Identität Bautypen der Karo-Batak und Toba-Batak auf Sumatra Sumatra ist die Heimat vielfältiger indigener Bautraditionen, deren Überleben wegen der schnellen Modernisierung des Landes gefährdet ist. Dem Verlust lebendiger Bautraditionen folgt ein Verlust von Vielfalt und kultureller Identität. Der Beitrag widmet sich zunächst der indigenen Baukultur der Karo- und Toba-Batak, zweier Ethnien im Norden Sumatras. Ein zweiter Abschnitt stellt ausgehend von den traditionellen Haustypen die Anpassungsstrategien –chancen dar, die sich aus den westlichen Einflüssen und den daraus resultierenden veränderten Familiengrößen ergeben. Die Anpassungsstrategien der Karo- und Toba-Batak illustrieren ein verzweifeltes Streben nach regionaler Zugehörigkeit und nach kultureller Identität im Zeitalter eines global-uniformen Architekturschaffens. http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-11994 Januar 2008 #1 "FremdSehen" S. 7-21 Einleitung Der südostasiatische Archipel1 ist weltweit eines der interessantesten Gebiete indigener Architekturtraditionen. Eine erstaunliche Vielfalt von Baukulturen höchster architektonischer Qualitäten widerspiegelt in hohem Grad kulturelle Identitäten. Die Vielfalt an unterschiedlichen Baukulturen ergibt sich allein schon aus den riesigen geographischen Dimensionen des südostasiatischen Archipels: So erstreckt sich etwa das Staatsgebiet der heutigen Republik Indonesien über eine Länge, die der Ausdehnung Europas von Portugal bis zum Ural entspricht, wobei allerdings das Gebiet von zahllosen Inseln unterschiedlicher Größe zergliedert ist2, deren Grad ihrer Isolierung voneinander die weitgehend eigenständige Entwicklung einzelner ethnischer Gruppen fördert. Eine Vielfalt eigenständiger Baukulturen entstand bisweilen auch innerhalb zusammenhängender Landgebiete; die interessanteste Region bildet in dieser Hinsicht die Insel Sumatra (Abb. 1). Sumatra3, die zweitgrößte Insel Indonesiens, liegt genau am Äquator, weist jedoch durch ihre starke Gliederung in Niederungen und Bergregionen unterschiedliche Klimazonen auf, die von einem unerträglich feucht-heißen Ambiente in den östlichen Sumpfgebieten bis hin zu wohltemperierten4 Abb. 1. Die Insel Sumatra, die den westlichen Teil des südostasiatischen Archipels bildet. Die in diesem Artikel behandelten Baukulturen der Batak befinden sich in der Provinz Nordsumatra (Sumatera Utara). 8 Zonen in den Bergregionen reichen. In diesen höher gelegenen Gebieten siedeln etwa die Batak und die Minangkabau,5 während die Acehnesen, eine Kulturgruppe, die eine entferntere Verwandtschat zu den anderen auf Sumatra ansässigen Ethnien aufweist,6 auch tiefer liegende Regionen bevölkern7. Traditionen indigener Baukulturen haben sich bei den verschiedenen Ethnien auf Sumatra in unterschiedlicher Intensität erhalten; am stärksten sind sie noch bei den Batak und Minangkabau lebendig, während von den traditionellen Bauten der Acehnesen lediglich vereinzelte Objekte verblieben, die zudem ot nur noch museale Funktion besitzen. Das Identitätsbewusstsein einzelner Ethnien spielt auf Sumatra eine wesentliche Rolle, wobei der Bezug auf Charakteristika traditioneller Baukulturen eine Schlüsselposition einnimmt. Besonders deutlich zeigt sich dies in einer Gegenüberstellung von ethnischen Gruppen der Batak,8 insbesondere jener der Toba-Batak und Karo-Batak, deren Kulturen sich im Hochland Nordsumatras in enger geographischer Nachbarschat entwickelten. Trotz dieser Nachbarschat und der ethnischen Verwandtschat entwickelten Toba- und Karo-Batak Siedlungsformen ganz unterschiedlichen Charakters, und auch ihre Bautypen weisen ganz unterschiedliche Merkmale auf. Dennoch zeigt sich bei nähe- Abb. 2. Drei charakteristische Bautypen der Karo-Batak, die in ihrem Aufbau von Unterbau, Wandzone und Dachbereich deutlich die Wertigkeit dieser drei Zonen zeigen; den höchsten Rang nimmt dabei die Dachzone ein. (Zeichnungen nach: Müller 2005) keit durch Pfahlbauweise und mächtige Überdachung als Schutz gegen hetige tropische Regengüsse); die konstruktive Bewältigung der Erdbebensicherheit10 (Vermeiden der direkten Übertragung dynamischer Kräte); und Wohnhaustypen9 schließlich die Symbolik von Unterwelt, irdischer und überirdischer Welt, Dreiteiliger Aufbau die im indischen Kulturraum nicht nur in der Sakralarchitektur typenbildend Der strukturelle Aubau eines Gebäu- wirkt11, sondern sich auch auf das Kondes in drei Zonen unterschiedlicher zept des Wohnhauses auswirkt. Wertigkeit und Ausbildung ist ein weit verbreitetes Prinzip in südostasi- Resultiert also aus bautechnischen und atischen Architekturtraditionen. Die funktionalen Ursachen eine Gliederung Gliederung in Unterbau, Wandzone des Baukörpers in drei Zonen unterund Dachbereich ergibt sich als Resul- schiedlicher Wertigkeiten, so generiert tat mehrerer Faktoren, die zueinan- die Symbolik des Bauwerk in seiner der in logischer Verknüpfung stehen: Widerspiegelung kosmischer Vorstelder bautechnische Schutz gegen Nässe lungen eine Steigerung dieser Wertig(Abhalten der hohen Bodenfeuchtig- keiten vom Unterbau über die Wandzone zur Dachzone. Dieser Steigerung im Symbolgehalt entspricht eine Steigerung der Gestaltung – sowohl in der ornamentalen Wertigkeit als auch in der geometrischen Valenz, artikuliert im Übergang vom Stabwerk des Unterbaus über die flächige Ausbildung der Wandzone zur skulpturalen Gestaltung des Dachkörpers (Abb. 2). rer Betrachtung, dass sich diese Differenzen weitgehend auf das Erscheinungsbild der Bauwerke beschränken, während diese in struktureller Hinsicht durchaus viele Parallelen aufweisen. Unterbau: Sphäre des Animalischen Der Unterbau des Hauses entspricht in seiner symbolischen Wertigkeit der Unterwelt, der Welt des Übels und der animalischen Begierden. In dieser Zone des Hauses wird der Abfall gelagert, hier befinden sich Stallungen für die Haustiere 12 Die niederrangige Bedeutung des Abb. 3. Die Skelettkonstruktion des Unterbaus eines Wohnhauses der Karo-Batak mit den deutlich zur Schau gestellten bautechnischen Details der Schlitz-Zapfenverbindungen und der Basissteine, die das Verrotten der Steher verhindern sollen. (Lingga) 9 Unterbaus drückt sich in der geringen Beachtung einer ästhetischen Ausführung aus. Die nackte Konstruktion bleibt ohne Ornamentierung und künstlerisch-skulpturale Ausbildungen; Vorrichtungen für die statische und dynamische Festigkeit werden nicht verborgen, sondern in aller Deutlichkeit präsentiert: Die Zapfenverbindungen zwischen den vertikalen Pfählen und den horizontalen Aussteifungshölzern, sowie die manchmal recht ungefügen Basissteine, welche ein rasches Verrotten der Pfähle verhindern sollen (Abb. 3).13 Wandzone: Sphäre des Menschlichen Die Wandzone – Aufenthaltsort der Hausbewohner – entspricht in ihrer Symbolik der Sphäre der irdischen Welt. Begrenzt wird dieser Bereich durch einen ebenflächigen Abschluss in Form einer Plankenwand; der Dekor ist weitgehend flächig und zeigt in manchen Fällen sehr deutlich seine Verwurzelung in bautechnischen Elementen, wie etwa bei den konstruktiven Verschnürungen der Wandplanken, die in ihrer obligatorischen Ausführung zu abstrahierten Darstellungen von Eidechsen umgedeutet werden (Abb. 4). Ähnlich der Ausbildung des Unterbaus werden konstruktive Details also auch in der Wandzone noch gezeigt, hier allerdings transformiert zu Dekorformen.14 Dachzone: Sphäre des Göttlichen Hauses. In seiner Symbolik wird er der Welt des Göttlichen, der Ahnen, gleichgesetzt und bleibt im Wesentlichen frei von praktischer Nutzung.15 Die Position des Daches als höchstgelegenes Element des Bauwerks entspricht der Vorstellung der Götterwelten am Gipfel des kosmischen Berges Meru.16 Anstatt der nackten Konstruktion des Unterbaus oder dem flächigen Dekor der Wandzone wird der gesamte Dachbereich in seiner Körperhatigkeit zur Skulptur. In der baukulturellindividuellen Gestaltung des Dachkörpers finden wir hier die stärksten Unterschiede zu anderen Ethnien: Die Dachform wird zum Zeichen kultureller Identität. So weist die Dachgestalt des traditionellen Hauses der Toba-Batak zwei wesentliche Hauptcharakteristika auf: eine extreme Durchbiegung des Satteldaches17 und eine mehrfach durchbrochene, hypertroph dekorierte Giebelzone, wodurch die höchst charakteristische Gestalt des Daches sowohl bei der Betrachtung von der Seite als auch in der Frontalansicht in Erscheinung tritt. Beides ist von Relevanz im Siedlungsbild des Toba-Dorfes mit seinem lang gestreckten zentralen Platz: In Blickrichtung längs des Platzes dominieren die markanten sattelförmigen Dächer, in Blickrichtung zu den Häusern reihen sich die charakteristischen mehrschichtigen Giebelfronten aneinander (Abb. 5). Bei den traditionellen Wohnhäusern Der Dachbereich bildet die voluminö- der Karo-Batak sind die bestimmenden seste Zone im dreiteiligen Aubau des Charakteristika der Dächer nicht nur Abb. 4. Konstruktive Details der Wandzone als Dekor: Plankenverschnürungen in Form von Eidechsen an einem Wohnhaus der Karo-Batak. (Peceren) 10 Abb. 5. Die markante Gestalt der sattelförmigen Dächer mit ihren weit vorkragenden Giebeln verleiht den Dorfplätzen der Toba-Batak ihre charakteristische Prägung. Leider sind heutzutage fast alle der ursprünglichen Strohdeckungen durch Wellblech ersetzt. (Samosir) deren markante Formgebung, sondern auch das dominante Volumen, in seiner Mächtigkeit das Erscheinungsbild des einzelnen Bauwerks und sogar der Siedlung bestimmend. Der Dachkörper des Karo-Batak-Wohnhauses weist ebenfalls zwei Schauseiten mit unterschiedlicher Charakteristik auf: Von der Frontseite aus betrachtet erscheint das Dach in der Silhouette eines einfachen Dreiecks, aber differenziert in der Oberflächenstruktur, nämlich dem Deckungsmaterial im Fußwalmbereich und dem Flechtwerk im Giebelbereich, während es hingegen von der Seite aus betrachtet zwar eine einheitliche Oberflächenstruktur, jedoch eine differenziert-markante Silhouette aufweist, die dem Dach den Namen "Wasserbüffel" eingebracht hat (Abb. 6).18 Durch die beträchtliche Differenz zwischen Frontalansicht und Seitenansicht der Dachkörper, die sowohl bei den Haustypen der Toba als auch der Karo offensichtlich ist und bemerkenswerterweise durch unterschiedliche Gestaltungsmittel erreicht wird, erhält der Baukörper des Wohnhauses in seiner Gesamtheit eine markante axiale Ausrichtung. Diese Ausrichtung wird zum Ordnungsfaktor im Abb. 6. Die markante Dachform des Wohnhauses der Karo-Batak, gezeigt in ihren unterschiedlichen Schauseiten der Frontalansicht (links) und Seitenansicht (rechts). (Lingga und Barusjahe) 11 Erscheinungsbild der Siedlung, sowohl bei den Toba-Batak, die gleichförmige Ausrichtung zum Platz hin akzentuierend, wie auch bei den Karo-Batak, die unregelmäßige Bebauung strukturierend, indem die Dachform den auf annähernd quadratischer Grundfläche aubauenden Häusern eine ausgeprägte gemeinsame Ausrichtung verleiht.19 Gemeinsamkeiten im dreiteiligen Aufbau Die Steigerung der Symbolik des architektonischen Ausdrucks und der Gestaltungsmittel vom Unterbau über die Wandzone zum Dachbereich wurde bereits in mehrfacher Hinsicht erwähnt: die sukzessive Steigerung von ästhetischer Wirkung und Dekorformen, die sukzessive Verschleierung konstruktiver Realitäten, sowie die sukzessive Steigerung von der Skelettstruktur des Unterbaus über die flächig begrenzte Wandzone zum körperhaten Dach. Der essentielle Faktor ist jedoch die Steigerung der identitätsbildenden Elemente (Abb. 7): Die Unterbauten werden bei den Toba und den Karo weitgehend identisch ausgebildet; die Wandzone erfährt bei den Haustypen beider Baukulturen eine flächige Begrenzung, weist jedoch unterschiedliche Dekorformen auf: Die Dachzone besitzt schließlich das höchste Potential an gestalterischer Identität, die sich in mehrfacher Hinsicht manifestiert: einerseits im Satteldach mit durchgebogenem First und gewölbten Dachflächen bei den Toba oder dem Fußwalmdach mit körperlich-kantig begrenzten ebenen Dachflächen bei den Karo; andererseits in den prominenten Frontseiten, welche bei den Toba aus mehreren Ebenen bestehen und mit Balkonen20 als – mehr oder weniger symbolische – Verbindung der Privatzone des Hauses mit dem öffentlichen Bereich des Platzes versehen sind, während bei den Häusern der Karo der dichte Abschluss durch den Fußwalm und der darüber liegenden ebenflächig geschlossenen Giebelzone typenbildend wirkt. Räumliches Konzept Die traditionellen Wohnhäuser der Karo-Batak und Toba-Batak differieren nicht bloß in ihrem Erscheinungsbild; ein entscheidender Unterschied besteht auch im räumlichen Konzept21. Ist das Toba-Wohnhaus im Wesentlichen für eine einzige Familie ausgelegt, so lebten im Karo-Wohnhaus bis zu acht Familien. Die größeren Dimensionen des Innenraums bedingten hier eine komplexere Struktur des Tragsystems, das krätige Innenstützen aufweist, womit es möglich ist, den gesamten Innenraum ohne tragende Zwischenwände und damit ohne fixe räumliche Teilung auszubilden.22 Die Platzeinteilung im Einheitsraum, dessen einzelne Kompartimente fallweise durch flexible Raumteiler wie Matten und Textilien visuell voneinander getrennt werden können, war dennoch für die Mitglieder des Haushaltes verbindlich vorgegeben und widerspiegelte die Rangordnung der Bewohner.23 Entsprechend der großen Bewohneranzahl gibt es im Haus mehrere Feuerstellen, deren Rauch sich im hohen Dachraum verteilt und durch Giebelöffnungen und Dachdeckung abzieht. Ein zentraler Erschließungsgang verläut genau in der Längsachse des Gebäudes und verbindet die beiden Eingänge an den beiden Fußwalm-Giebelseiten des Hauses, die im Wesentlichen identisch ausgebildet sind. Damit erhält das Bauwerk zwei Hauptfronten; es ist demnach nicht eindeutig nach einer bestimmten Seite hin ausgerichtet (Abb. 8 oben). Das Wohnhaus der TobaBatak besitzt dagegen nur einen einzigen Eingang und ist somit konzeptuell nach einer Seite gerichtet, die als prominente Schaufront ausgebildet wird. Das Gebäude weist damit eine prononcierte "Vorder-" und "Hinterseite" auf, was sich nicht nur im Siedlungskonzept der entlang eines Platzes angeordneten Häuser auswirkt, sondern auch in der räumlichen Disposition des Kochbereichs: Ursprünglich besaß auch das Toba-Wohnhaus eine Feuerstelle im Inneren des Hauptraums;24 unter dem Einfluss der europäischen Kolonisatoren wurde jedoch aus Gründen der Brandgefahr für die Kochstelle ein Anbau an der Rückseite des Hauses errichtet,25 der eine starke räumliche Abb. 7. Im Aufbau von Unterbau, Wandzone und Dachbereich der Wohnhaustypen von Toba-Batak (oben) und Karo-Batak (unten) erkennt man wiederum deutlich die Hochrangigkeit der Dachzone, welche in ihrer jeweils charakteristischen Ausbildung typenbildend wirkt. (3DModell: Müller 2005) 12 rakteristisch ist, aber auch hier von den ethnischen Gruppen der Karo-Batak und Toba-Batak wiederum in unterschiedlicher Art und Weise realisiert wird. Abb. 8. Ein Vergleich der Grundrisse des Karo- und Toba-Wohnhaustyps zeigt die gänzlich unterschiedliche räumliche Konzeption: Zum einen das groß dimensionierte, nach zwei Seiten gerichtete Rumah der Karo-Batak (oberes Bild), zum anderen das wesentlich kleinere Rumah der Toba-Batak (unteres Bild), welches eine eindeutige Ausrichtung nach einer einzigen Seite hin aufweist; an der Rückseite ist als Anbau die Küche appliziert. (Grundrisse nach Müller 2005). Trennung des nutzbaren Innenraums bewirkt und damit möglicherweise den Auslöser für weitere fixe Raumteilungen gegeben hat, die heute des Öteren errichtet werden und den ursprünglichen Einheitsraum in mehrere Kämmerchen zergliedern (Abb. 8 unten). Eingangszonen In vielen Baukulturen gehört die Eingangszone zu den prominentesten Bereichen im Erscheinungsbild des Hauses und nimmt im Allgemeinen eine dominante Position in der Hauptfassade ein.26 In verschiedenen Baukulturen Südostasiens erfährt dagegen der Hauseingang keinerlei prominente Gestaltung — eine Situation, die auch für die Bautraditionen der Batak cha- Abb. 9. In ihrer Anspruchslosigkeit stehen die Eingangssituationen bei den traditionellen Wohnhäusern der Batak im krassen Gegensatz zur übersteigerten Gestaltung der Hauptfassaden: Bei den TobaBatak (Bild links) ist es ein bescheidenes Leiterchen, bei den Karo-Batak (Bild rechts) eine primitive Plattform aus zusammengebundenen Bambusstäben. (Ambarita und Barusjahe). 13 Die zurückhaltende Ausbildung der Eingangszone fällt als besonders merkwürdiges Phänomen dort auf, wo die Frontseite sich prestigeträchtig zur Schau stellt und mit Giebelbalkonen nach außen öffnet (Abb. 9 links): Der Eingang ins traditionelle Wohnhaus der Toba-Batak erfolgt über ein schmales Leiterchen durch eine von außen nicht erkennbare kleine Luke. Auch bei den Wohnhäusern der KaroBatak liegen die Eingänge an den prominenten Giebelseiten, stehen jedoch ebenfalls in sonderbarem Kontrast zu den elaborierten Ausbildungen der Wand- und Dachzone: Die Eingangszone wird hier von einer Plattform aus primitiv zusammengebundenen Bambusrohren gebildet, an die eine ebenso primitive Leiter gelehnt ist (Abb. 9 rechts); ins Hausinnere gelangt man durch eine winzige Tür mit einer hohen Schwelle. Eine der Ursachen für derartig bescheidene Ausbildungen der Eingangszone ist die Verteidigungsfunktion der Wohnhäuser: In dem einen Fall haben es unliebsame Eindringlinge schwer, der Toba-Batak scheinen eine bedeutendere Rolle erst in jüngerer Zeit und unter europäischem Einfluss genommen zu haben: Vielen Wohnhäusern der Toba ist heute eine massive Freitreppe aus Beton vorgelagert, die in höchst seltsamem Kontrast zum Holzskelettbau des Hauses steht (Abb. 10).28 Als Pendant zu dieser Situation mögen die merkwürdigen, des Öteren aus Betonfertigteilen hergestellten Stiegenaufgänge erwähnt werden, die im rührendhilflosen Streben nach Modernisierung an die traditionellen Ovalhäuser im Norden von Nias, einer Sumatra vorgelagerten Insel,29 appliziert werden.30 Abb. 10. Zur Aufwertung der Eingangssituation werden den traditionellen Wohnhäusern der Toba-Batak heute oft völlig deplaciert wirkende Freitreppen aus massivem Beton vorgelagert (Samosir). durch eine weit hinter die Außenwand versetzte Luke, wie sie bei den Toba gebräuchlich ist, ins Hausinnere zu gelangen; im anderen Fall können die wie Provisorien erscheinenden Eingangsplattformen der Karo bei einem drohenden Angriff mit wenigen Handgriffen abgebaut werden. Übrigens ist die Existenz dieser Bambusplattformen im ursprünglichen Konzept der traditionellen KaroBatak-Wohnhäuser zu hinterfragen. Es könnte sich um eine nachträglich – möglicherweise unter dem Einfluss der Europäer27 – entstandene Eingangslösung handeln. Auch die Hauseingänge Abb. 11. Eines der obligatorischen indonesischen Straßenportale an der Durchzugstraße nach Brastagi, als "Tor der Region" den Eintritt in das Gebiet der Karo-Batak markierend, gestaltet als Collage charakteristischer Elemente der indigenen traditionellen Architektur. 14 Transition Veränderung von Haustypen Architekturtraditionen sind lebendiger Ausdruck von Kulturen und reagieren, im steten Wandel begriffen, auf gesellschatliche und technologische Veränderungen. Prägungen von traditionellen Bautypen ändern sich demnach umso schneller, je kurzlebiger ihre Einzelobjekte sind. Die in feucht-tropischen Klimazonen errichteten Holzskelettbauten erreichen eine Bestandsdauer von höchstens ein bis zwei Generationen und werden nur unter der Voraussetzung von gleich bleibenden Abb. 12. Einigermaßen moderne Verkaufsbude im Stadtzentrum von Brastagi mit aufgesetzten Dachelementen der traditionellen Karo-Batak-Architektur. Verhältnissen des sozialen Umfelds in gleicher Art wieder errichtet; sukzessive Veränderungen der Gesellschatsstruktur bewirken dagegen eine fortlaufende Entwicklung der indigenen Bautypen. Der massive Impact "westlicher" Kultur europäisch-amerikanischer Prägung, der einen radikalen Bruch in den indigenen Kulturen der sogenannten Dritten Welt bewirkte, übersteigt jedoch die Erneuerungskrat und Entwicklungsfähigkeit tradierter Baukulturen bei Weitem. betroffen. Durch den Ersatz der Großfamilie durch die Kleinfamilie31 haben die Einraum-Wohnhäuser der KaroBatak mit Innenräumen, die mehrere hundert Quadratmeter Grundfläche besitzen, ihre Funktion verloren. Nur noch sporadisch genutzt, sind sie einem rapiden Verfall ausgesetzt, weil der Arbeitsaufwand für die im tropischen Klima nötigen periodischen Sanierungsarbeiten nicht mehr gerechtfertigt erscheint, zudem es auch an Materialressourcen mangelt, da auf Sumatra der größte Teil des ursprüngliVom Bruch mit gesellschatlichen Tra- chen Bestandes an wertvollem Bauholz ditionen ist die indigene Architektur aus Profitgier gerodet und ins Ausland der Karo-Batak in besonderer Weise verkaut wurde. Die indigene Baukultur der Toba-Batak besitzt in dieser Hinsicht eine wesentlich günstigere Ausgangslage. Die relativ kleinen Häuser lassen sich dem Wohnraumbedarf von Kleinfamilien anpassen und können von diesen auch besser instand gehalten werden. So haben sich in den Kerngebieten des Toba-Landes, vor allem auf der Halbinsel Samosir im Toba-See, traditionelle Bauformen in ungewöhnlich großer Zahl erhalten. Hier existieren noch gut erhaltene Ensembles, auch wenn die ursprüngliche funktionale Struktur von Wohnhäusern und vis-a-vis stehenden Speicherbauten nicht Abb. 13. Modernes Verwaltungsgebäude, errichtet als hypertrophes Modell eines traditionellen Wohnhauses der Toba-Batak (Tarutung). 15 mehr besteht: Nachdem aufgrund der heute üblichen kollektiven Versorgung die traditionellen familieneigenen Sopos (Speicherbauten) ihre Funktion verloren hatten, wurden sie in Rumahs (Wohnhäuser) umfunktioniert,32 indem man das aus einer Arbeitsplattform bestehende Mittelgeschoss mit einer Bretterwand ummantelte und den Eingang an die Bedürfnisse eines Wohnbaus anpasste.33 Im Erscheinungsbild der Siedlungsstruktur ergaben sich dadurch keine grundlegenden Veränderungen, da die Bautypen des Rumah und des Sopo in ihren formalen Charakteristika viele Übereinstimmungen aufweisen. Batak zeigt sich also sehr deutlich der Stellenwert der Variabilität in den Möglichkeiten funktionaler Nutzung für eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Architekturtraditionen. Einschneidende gesellschatliche Veränderungen führen nicht zwingend zu Bruch und Neubeginn einer Baukultur; in solchen Situationen hängt deren Weiterbestehen von mehreren unterschiedlichen Voraussetzungen ab: Einerseits müssen die tradierten Bautypen ihre Entwicklungsfähigkeit beweisen, in funktionaler und konstruktiver Hinsicht die Veränderungen von Gesellschat und Technologie zu bewältigen, andererseits muss aber auch in der Gesellschat eine allgeEine einschneidende Veränderung im meine Akzeptanz kultureller Tradition Erscheinungsbild der Toba-Siedlungen und Identität verankert sein. wurde allerdings durch die – immerhin positiv zu wertende – sukzessive Identität Befriedung des Landes verursacht. Die in den früheren kriegerischen Zeiten Trotz des massiven Impacts westlicher angelegten und mit dichten Bambu- Kultur spielen im täglichen Leben der shecken bepflanzten Erdwälle, welche Batak gesellschatliche Traditionen eine die Dörfer als sicherer Schutz gegen nicht unbedeutende Rolle; auch heute Angriffe feindlicher Stämme umgaben, noch wird das Sozialverhalten vom bestehen heute nur noch in Rudimen- Adat geregelt, dem ungeschriebenen ten. Das traditionelle Erschließungs- Gewohnheitsrecht, welchem im tradikonzept der Dörfer – ausschließlich in tionellen Siedlungsverband ot höhere deren Längsrichtung34 – wurde durch Bedeutung zugemessen wird als dem das Abtragen der Siedlungsumwallun- staatlich kodifizierten Gesetz. Damit gen aufgebrochen; die Stringenz der ist kulturelle Identität auch heute noch klassisch-linearen Längsentwicklung ein hema, das sich auf verschiedenen ist durch die heute ot üblichen Dorf- Ebenen zeigt. zugänge an den der Straße zugewandten Langseiten nicht mehr in vollem Die Stellung der Architektur in diesem Umfang erlebbar. Zusammenhang ist höchst aufschlussreich: Die traditionellen Bautypen der Im Vergleich der traditionellen Haus- verschiedenen ethnischen Gruppen typen der Toba-Batak und der Karo- verkörpern deren kulturelle Zugehörigkeit und sind Symbol regionaler Identität: So tragen die für Indonesien typischen, auf den Durchzugsstraßen errichteten riesigen Torbauten, welche Provinz- und Bezirksgrenzen markieren, auf ihren Flankenpfeilern Modelle traditioneller Haustypen mit deren charakteristischen Dachformen (Abb. 11); Denkmäler und Grabstätten werden an mehr oder weniger passenden Stellen mit Applikationen charakterisAbb. 14. Hemmungsloser tischer Bauteile und Baudetails traditiRegionalismus scheut auch oneller Architektur geschmückt; Vernicht vor der Vereinnahmung kaufsbuden, Restaurants, Tankstellen, der unvermeidlichen indoneBusstationen und sogar Müllcontainer sischen Befreiungsdenkmäler markieren ihre regionale Zugehörigkeit zurück: Die martialische mit aufgesetzten Dächern traditioneller Siegessäule von Brastagi Wohnhäuser und Speicherbauten (Abb. wächst aus einem betonierten 12); Verwaltungsbauten der Regierung Karo-Batak-Wohnhausmodell. 16 Abb. 15. In der Toba-Region werden die Grabmonumente von Wohnhausmodellen in traditioneller Bauform geziert. Manchmal findet sich eine ganze Gruppe davon auf einer Gruft (Grabstätte bei Pangururan). und öffentlicher Einrichtungen werden als überdimensionierte Modelle traditioneller Wohnhäuser errichtet (Abb. 13); und auch die in ihrer unfassbaren Hässlichkeit unübertrebaren obligatorischen Befreiungsdenkmäler zeigen ihre Zugehörigkeit zum entsprechenden Distrikt unmissverständlich durch applizierte Details traditioneller lokaler Bauformen (Abb. 14). Abb. 16. "Die Pyramide", eine Grabstätte in Form eines kolossalen steingemauerten Kegels mit einem vorgelagerten halbierten Toba-Wohnhaus als Eingang (Samosir). Balustraden, welche wie die Balkonbrüstungen an den Frontseiten der Wohnhäuser ausgebildet sind; Modelle traditioneller Wohnhäuser krönen die Grabplatten, und manchmal tragen die Grabbauten Teile ganzer Siedlungsmodelle (Abb. 15). Bisweilen führt die Sucht nach kultureller Identität in der architektonischen Expression bis an die äußersten Grenzen des Zumutbaren, wie etwa bei dem als "Die Pyramide" bekannten Grabdenkmal auf Samosir, das sich als riesenhater steingemauerter Kegel präsentiert, dem an der Frontseite ein halbiertes Toba-Wohnhaus vorgesetzt ist (Abb. 16). Die Klassiker unter den Bautypen, die ihre kulturelle Identifikation mit der zugehörigen ethnischen Gruppe durch Applizieren baulicher Charakteristika lokaler Architekturtraditionen zu vermitteln suchen, sind im Batak-Land zweifellos die Grabstätten. Die unzähligen hier allenthalben anzutreffenden Grüte sind von den ortstypischen tra- Derartige Höhepunkte jenseitigen ditionellen Dachformen bekrönt; Stu- Architekturverständnisses werden fenpyramiden werden angelegt mit auf Sumatra manchmal noch übertroffen von den Ausgeburten lokaler christlicher Sakralbaukunst. Im hartnäckigen Bestreben der Kirche, sich den Batak anzubiedern, die noch vor einem Jahrhundert ihre kannibalischen Traditionen durch das Verzehren von Missionaren gepflegt hatten, entstehen beispiellose kompositorische Synkretismen des vom obligaten Stahlbetonskelettbau-geprägten anonymen indonesischen Kirchentyps mit regionaltypischen Architekturformen. Die prestigeträchtigsten Elemente des Standard-Sakralbautyps werden ohne Rücksicht auf konzeptionelle 17 Abb. 17. Mit dem Modell eines halbierten traditionellen Toba-Wohnhauses als Eingang erhält die in der obligatorischer Stahlbetonskelettkonstruktion errichtete indonesische Kirche den ersehnten regionalen Touch. Zusammenhänge durch Bauteile lokaler Architekturtradition ersetzt: Ebenso, wie anstatt eines Turmdaches hin und wieder das Modell eines Wohnhauses aufgesetzt wird, findet manchmal auch ein halbiertes traditionelles Wohnhaus als Kircheneingang seinen Platz (Abb. 17). Das endgültige Aufgehen in den Traditionen der indigenen Baukultur erreicht die christliche Sakralarchitektur schließlich mit Bauten, deren Charakteristik vollständig vom Wohnbautyp kopiert wurde, wie etwa bei der katholischen Kirche von Pangururan (Samosir), die zwar das zigfache Volumen eines klassischen Toba-Wohnhauses aufweist, dennoch bis ins Detail sogar dessen Eingangssituation nachbildet, auch wenn deshalb eine ergän- zende behindertengerechte Rampe angefügt werden musste, wodurch das ursprünglich wohl angestrebte Erscheinungsbild dann doch etwas beeinträchtigt wird (Abb. 18). In allen diesen Beispielen zeigt sich ein verzweifeltes Streben nach regionaler Zugehörigkeit, nach kultureller Identität, die im Zeitalter des global-uniformen Architekturschaffens die letzten Stadien des Auflösungsprozesses zu erreichen droht. Kultur – und dazu zählt selbstverständlich auch die Architektur – entwickelt sich aus einem bestimmten Umfeld von regionalen Umweltbedingungen und den Errungenschaften der indigenen Gesellschat. Importierte Kultur, entstanden und entwickelt in einem anderen Umfeld, verliert ihre Relevanz — vor allem, wenn sie sich als weltweite Standardisierung vor dem Hintergrund wirtschatlicher Profitmaximierung erklärt. Die globale Standardisierung der gebauten Umwelt führt nicht nur zum Verlust der kulturellen Vielfalt, sondern verhindert auch eine Weiterentwicklung lebendiger Architektur. Ein derartiger Verlust der Vielfalt von Architekturtraditionen wäre aber gleichbedeutend mit dem Verlust aller kulturellen Identität: Ein Szenario, in dem der Niedergang der Baukul- Abb. 18. Die katholische Kirche von Pangururan (Samosir), errichtet als monströses Modell eines traditionellen Wohnhauses der Toba-Batak, allerdings ausgestattet mit allem Komfort westlicher Zivilisation. 18 Anmerkungen: Möglicherweise aufgrund dieses vermeintlichen alten Anspruchs, 1 Der südostasiatische sicherlich aber wegen ihrer Archipel, auch als "Malaiischer streng muslimischen GlaubensArchipel" bezeichnet, umfasst haltung setzen sie sich bewusst die zwischen dem Indischen und von den anderen indonesischen Pazifischen Ozean gelegenen Ethnien ab, die eine wesentlich Großen und Kleinen Sundatolerantere Religionspolitik verInseln, Borneo, Sulawesi, die folgen, wie dies insbesondere in Molukken, die Philippinen und der Provinz Nordsumatra durch Neuguinea, sowie viele weitere den großen Bevölkerungsanteil kleine Inseln. von Christen deutlich wird. 2 Nach offizieller Zählung besteht die Republik Indonesien aus 13.677 Inseln; ständig besiedelt sind allerdings weniger als tausend davon (Quelle: Bill Dalton: Indonesien-Handbuch. Bremen 1985. S. 7). 3 Sumatra, die westlichste der Sunda-Inseln, ist mit einer Fläche von mehr als 425.000 km² die sechstgrößte Insel der Welt und wird derzeit von etwa 46 Mill. Menschen bewohnt (Quelle: City population.Population statistics. http://www. citypopulation.de/IndonesiaCU.html). 7 Die Anlage von Siedlungen und Städten in küstennahen tief gelegenen Gebieten, wie sie vor allem seit der Zeit des europäischen Kolonialismus in der Umgebung von Seehäfen entstanden, war in traditionellen Baukulturen Indonesiens im Allgemeinen nicht üblich. Die Nachteile des Ignorierens dieser Tradition zeigten sich dann auch beim großen Tsunami im Jahre 2004, welcher die Küstensiedlungen in Aceh austilgte. 8 Üblicherweise werden die Batak in eine Nord- und eine Südgruppe eingeteilt, die sich durch ihre Dialekte unterschei4 Der Ausdruck "wohlden. Zur Nordgruppe zählen die temperiert" entspricht hier Pakpak-, Dairi- und Karo-Batak, der subjektiven Einstellung zur Südgruppe die Mandailing-, eines Bewohners gemäßigter Angkola und Toba-Batak. Die Klimazonen; ein im Tiefland Simalungun-Batak nehmen lebender Indonesier würde eine Mittelstellung ein, wie Temperaturen unterhalb von sich dies auch deutlich in etwa 25°C als unangenehm Konstruktion und Erscheinung kühl empfinden und ernstliche der traditionellen Architektur Gesundheitsschäden befürchten. ausdrückt. (Zusammenfassende Kurzdarstellungen über die Ba5 Die ethnischen Gruppen tak: Achim Sibeth u.a.: Mit den der Batak siedeln in den hoch Ahnen leben. Batak. Menschen gelegenen Regionen um den in Indonesien. Stuttgart 1990. Toba-See in Nordsumatra Christoph Müller: Architekturtra(Provinz Sumatera Utara). Das dition. Traditioneller Wohn- und Kerngebiet der Minangkabau Siedlungsbau in der Provinz befindet sich im Hochland West- Nordsumatra. Wien TU Diss. 2005. Kap. 3.2. Stöhr 1976. Wie sumatras (Provinz Sumatera Anm. 6. S. 59f. Barat). 6 Die Acehnesen (Achinesen, Atjeher, Atschinesen; s. dazu: Waldemar Stöhr (Hg.): Lexikon der Völker und Kulturen. 3 Bde. Braunschweig 1976. Bd. 1. S. 41 f.) waren bis gegen Ende des 17. Jhds. das mächtigste Volk auf Sumatra gewesen. 9 Der Artikel beschränkt sich im Wesentlichen auf die Typen der Wohnhäuser (Rumah) von Karo-Batak und Toba-Batak, da ein Einbeziehen anderer Bautypen den Rahmen des Beitrags sprengen würde. Dennoch soll hier angemerkt werden, dass 19 die Bautypen der Speicher (Sopo) in ihrer architektonischen Wertigkeit eine beinahe ebenso große Bedeutung besitzen wie die Rumah. 10 Indonesien ist eine der durch Erdbeben am höchsten gefährdeten Regionen der Welt. 11 Auf diesem Konzept der Dreiteilung baut sowohl der hinduistische als auch der buddhistische Kultbau auf. In Indonesien haben diese beiden Religionen die Errichtung zahlreicher bedeutender Sakralanlagen hinterlassen, bevor die Islamisierung – in manchen Gebieten auch die Christianisierung – die ursprünglichen Religionen verdrängte. 12 Der Raum zwischen den Pfählen des Unterbaus wird vor allem bei den Wohnhäusern der Toba-Batak für die Haltung von Schweinen und Hühnern genutzt. Die horizontalen Aussteifungshölzer der Pfahlbaukonstruktion dienen dabei gleichzeitig als Gatter für die Tiere. 13 Durch ein Eingraben der Pfähle ergäben sich zwar prinzipiell bedeutende Vorteile für das statische System, es entstünden jedoch noch wesentlich gravierendere Nachteile wegen des rasch fortschreitenden Verrottens der Steher, die im tropischen Klima Sumatras durch das Ansaugen von Bodenfeuchtigkeit binnen kurzer Zeit verfaulen würden. 14 Neben den Schnürungsmustern kommen bisweilen auch aufgemalte Ornamente vor (wobei Rankengebilde sehr beliebt sind) und manchmal sogar szenische Darstellungen. Oft lässt sich dabei jedoch feststellen, dass derartiger Dekor unter kolonialem Einfluss entstanden ist (für die Ornamentik in der Architektur der Batak siehe: Andrianus G. Sitepu: Ragam hias (ornamen) tradisional Karo. seri: A. Kaban- jahe 1980. Herlan Panggabean (Hg.): Ornamen (ragam hias) rumah adat Batak Toba. Medan 1997/1998. Samaria Ginting / Andrianus G. Sitepu: Ragam hias (ornamen) rumah adat Batak Karo. Medan 1994/1995. einer "Durchbiegung" des Firstes zu sprechen; tatsächlich ist das Hochziehen des Firstes an den Giebelseiten ausschlaggebend, wodurch der Prestigefaktor der hoch empor ragenden Giebelfronten eine beträchtliche Steigerung erfährt. (Zu den 15 Verschiedene traditionelle verschiedenen Arten von Riten beziehen sich auf die gebogenen Dachfirsten und Vorstellung, dass der Dachraum ihrer Entwicklung in Indonesien von den Ahnen bewohnt siehe: Gaudenz Domenig: wäre. Als Hinweise seien hier Tektonik im primitiven Dachbau. Zürich 1980.). der im Dachraum befindliche Opferplatz für die Stammeltern 18 In diesem Zusammenhang bei den Toba-Batak erwähnt, mag die Bedeutung des oder der von einem Medium in Trance vollführte Ritualtanz Wasserbüffels als Symbol für Reichtum und soziales Prestige bei den Karo-Batak, bei dem in Indonesien erwähnenswert durch das Berühren eines sein. Gilt in anderen Regionen Dachbalkens der Kontakt zu des insularen Südostasien – beiden Geistern der verehrten spielsweise bei den Toraja auf Verstorbenen aufgenommen Sulawesi – die Zurschaustellung wird (Sibeth 1990. Wie Anm. 8. S. 49. Roxana Waterson: The einer möglichst großen Anzahl Living House. An Anthropology von Wasserbüffelhörnern an der Hausfront als Statussymbol of Architecture in South-East (Waterson 1990. Wie Anm. 15. Asia. Oxford 1990. S. 227). S. 140, 141), so bildet bei den 16 In den religiösen Vorstellun- Karo-Batak ein Wasserbüffelkopf gen des von Indien beeinflussden prestigeträchtigen höchsten ten Kulturraums symbolisiert Punkt des Hauses über der der mythologische Berg Meru Giebelspitze. das Zentrum des Universums und die Achse der Welt, 19 Die Ausrichtung der Häuser gegliedert in die Unterwelt mit ergibt sich einerseits aus der den Höhlen der dämonischen Anlage der Lüftungsöffnungen "alten Götter", die mittlere in den Giebelflächen des Welt mit dem Lebensraum von Dachbereichs zur vorherrschenMenschen, Tieren und Pflanzen, den Windrichtung, also auf sowie die überirdische Welt mit einer klimatechnischen Lösung, den Sphären der himmlischen andererseits auf symbolischWesen und Götterpaläste. (Zur mythologischen Vorgaben. Mythologie des Berges Meru existieren zahlreiche Beschrei20 Zu den charakteristischen bungen und Interpretationen; Giebelbalkonen der Tobasiehe dazu beispielsweise: Wohnhäuser vgl. Gaudenz John Snelling: Buddhismus. Ein Domenig: "Consequences of Handbuch für den westlichen functional change. Granaries, Leser. München 1991 (1London granary-dwellings, and houses 1987). S. 52 ff). of the Toba Batak". In: Reimar Schefold / Gaudenz Domenig / 17 Durchbiegungen des Peter Nas: Indonesian houses. Firstes sind auch für andere Tradition and transformation in Baukulturen in Südostasien vernacular architecture. Leiden und Ozeanien charakteristisch, 2003. S. 81 ff. beispielsweise für die Toraja auf Sulawesi oder Baukulturen auf 21 Zur Raumaufteilung bei den Neuguinea. Die gestalterischen Wohnhäusern der Toba- und Intentionen betreffend ist es Karo-Batak siehe Müller 2005 allerdings nicht ganz richtig, von (vgl. Anm. 8). Kap. 8.1. 20 22 Die Wohnhäuser der Karo-Batak besitzen annähernd quadratischen Grundriss und entsprechen damit nicht dem für größer dimensionierte Holzskelettbauten angewandten Langhaus-System, wie es in anderen Bautraditionen Südostasiens öfters auftritt; in einem derartigen Fall hätte ein einfaches Tragsystem additiv in Längsrichtung angeordnet werden können. 23 Siehe dazu: Sibeth 1990 (vgl. Anm. 8). S. 56. 24 Entsprechend der kleineren Dimensionen des Toba-Hauses und der entsprechend geringeren Bewohnerzahl befindet sich hier nur eine einzige Feuerstelle anstelle von mehreren wie im Wohnhaus der Karo-Batak. 25 Diese heute obligatorischen Küchenanbauten an den Rückseiten der traditionellen Wohnhäuser der Toba-Batak weisen sich durch ihre unbedarften Bauformen (einfaches Satteldach – oder seltener abgewalmtes Dach – mit geradem First und simple Wandund Giebelverbretterung) als Fremdkörper im architektonischen Gesamtkonzept aus, auch wenn sie bei den jüngeren Gebäuden gleichzeitig mit dem Hauptbau errichtet werden. 26 Die Artikulation als "Hauptfassade" wird in vielen anderen Baukulturen vor allem durch die Positionierung des – in vielen Fällen aufwändig gestalteten und optisch durch Umrahmungen und flankierende Elemente vergrößerten – Einganges an der Frontseite erreicht. 27 Sumatra wurde 1825 von den Niederländern in Besitz genommen; als erstes Gebiet im Batak-Land wurde 1835 Mandailing unterworfen. 28 Es soll hier erwähnt werden, dass vereinzelt und sehr selten auch aus Stein gehauene Eingangstreppen auftreten, die aber möglicherweise ebenfalls Applikationen aus jüngerer Zeit sind, wie etwa in Huta Siallagan bei Ambarita (Samosir), wo die weithin bekannten Steinskulpturen des Dorfplatzes erst aus den 1930-er Jahren stammen (Sibeth 1990 (vgl. Anm. 8). S. 44). 29 Nias gehört ebenso wie das Gebiet der Batak zur indonesischen Provinz Sumatera Utara. Selbstverständlich hat die Insel Nias durch ihre isolierte Lage (120 km von der Küste Sumatras entfernt) eine eigenständige – und übrigens hoch interessante – Entwicklung erfahren; in den architektonischen Konzepten der Baukunst von Nord-, Mittel- und Südnias sind allerdings gewisse Parallelen mit der indigenen Architektur der Hauptinsel Sumatra vorhanden (zur Architektur von Nias s. beispielsweise: Jerome A. Feldmann: The architecture of Nias, Indonesia with special reference to Bawomataluo village. Ph. D. Columbia University 1977. Alain Viaro: Urbanisme et architecture traditionnels du sud de l'île de Nias (Etablissements Humains et Environnement Socio-culturel, issue 21). 1980. Achmad Bagoes Poerwono Wiryomartono: Cosmological and spatiotemporal meanings of a traditional dwelling in South Nias, Indonesia. Aachen Techn. Diss. RWTH 1989. 30 Die Positionierung dieser Eingänge an einer der kurzen Rundseiten der traditionellen Häuser ist im Vergleich mit der generellen Situierung des Eingangs an den Langseiten von Ovalhäusern völlig unüblich und deutet auf eine nachträgliche Veränderung des Eingangskonzepts hin, also auf das Hinzufügen eines Eingangs mit prominenterem Erscheinungsbild. 21 31 Es muss hier allerdings angemerkt werden, dass die Personenzahl im Haushalt einer indonesischen Kleinfamilie doch immer noch um Einiges höher liegt als jene einer europäischen Kleinfamilie. 32 Für die Umfunktionierung von Sopos zu Rumahs siehe Domenig 2003 (vgl. Anm. 20). S. 61 ff. 33 Die Erschließung der traditionellen Sopos erfolgte über einen gekerbten Baumstamm durch eine in den Dachraum führende kleine Öffnung und ist in dieser Art für einen Wohnbau unbrauchbar. 34 Ursprünglich befanden sich die Zugänge durch die Umwallung der Toba-Siedlungen nur an deren Schmalseiten. 22 Karl R. Kegler (Köln/Aachen) Teil 1: Das Eigene und das Fremde Zerbrochene Spiegel Das "exotische Europa" und die Bauten der Nawabs von Oudh Zwischen 1780 und 1856 entstanden in der nordindischen Stadt Lucknow mehrere große Baukomplexe, die von den indisch-islamischen Herrschern der Stadt in europäisch-klassizistischen Formen gestaltet wurden. Nach dem indischen Aufstand, der in den Jahren 1857 und 1858 gegen die britische Herrschaft in Indien losbrach, wurden diese Bauten zum Thema einer scharfen Polemik. Die britische Architekturkritik sah in der freien und nach akademischen Maßstäben fehlerhaften Übernahme klassizistischer Formen durch die Herrscher von Lucknow einen Beweis für den Niedergang der indigenen indischen Kultur und interpretierte sie als Rechtfertigung für die britische Herrschaft über Indien. Der erste Abschnitt – "Das Eigene und das Fremde" – betrachtet zunächst die westliche Rezeption der europäisch-klassizistischen Bauten Lucknows, die über Jahrzehnte durch ein Negativurteil bestimmt war, das sich aus der politischen Interpretation des indischen Aufstands erklärt. Der zweite Abschnitt – "Kopie und Synthese" – geht auf die Suche nach den Zusammenhängen für die positive Europarezeption in Lucknow und für die negative Kritik dieser Bauten in Europa. Es erweist sich, dass die Wahrnehmung europäischer Stilformen und das Verständnis von Architekturkopien bei der Übernahme klassizistischer Motive durch die Baumeister von Lucknow ein deutlich anderes war als das exakte und moralisch überhöhte Verständnis von Stilformen in Europa nach 1850. http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-12079 Januar 2008 #1 "FremdSehen" S. 23-41 schwachen und entarteten Dynastie? Ich muß gestehen, daß ich mir immer Im März 1858 erreichte William wieder am liebsten die Augen gerieben Howard Russell als Korrespondent der hätte."2 (Abb.1) Londoner Times die Stadt Lucknow im Norden Indiens, um als Kriegsbericht- Russells Bericht steht nicht allein. erstatter über den Feldzug der Armee Auch der Schweizer Kaufmann Ruutz der East India Company gegen die Rees, der Lucknow im Jahr zuvor von ehemalige Hauptstadt und Residenz der Residenz der britischen Statthalter der Könige von Oudh zu berichten.1 überblicken konnte, zeichnet ein ähnDie Armee schlug ihr Hauptquartier liches Bild: südlich der feindlichen Befestigungen im Landsitz Dilkusha auf. Vom Dach "Auf der Statthalterschatsterrasse hatdieses schlossartigen Gebäudes ver- ten wir das ganze reizende Panorama schate sich Russell einen ersten Über- der Stadt vor uns liegen. Die vergoldeten blick über die Stadt. Minarets, die reichen Kuppeln, die glänzenden Moscheen und Paläste, die Rei"Wenn ich heute daran denke, kommt hen regelmäßiger und dicht angefüllter es mir vor wie ein Tagtraum, wie eine Häuser, waren unterbrochen und abgeFata Morgana aus Palästen, Minaret- löst von Gärten, Parkanlagen und von ten, azurblauen und goldenen Kuppeln, Bäumen, die inmitten der Stadt und die Kolonnaden, langen, wunderschönen Ufer entlang zerstreut umherstanden."3 Fassaden aus Pfeilern und Säulen und (Abb.2) flachen Dächern – eine Märchenstadt, die sich aus einem friedlichen Meer Beide Berichte lassen das Bild eines üppigster Vegetation erhebt. So weit der reichen, malerischen und märchenBlick reicht, nichts als [dieses] Meer, haten Orients entstehen. Es sind Bilund mittendrin schimmernde Mina- der aus der Distanz, Bilder, in denen rette, goldene Dächer, die in der Sonne fremdartige Bauten, nicht Menschen, glitzern, sternengleich funkelnde Türme die Hauptrolle einnehmen. Ein Bild und Goldkugeln. Man sieht nichts Schä- von Indien ohne Inder. biges oder Armseliges. Eine Stadt, größer und prachtvoller als Paris, scheint vor Die Geschichte Lucknows in den Jahren uns zu liegen. Ist dies hier Oudh? Ist dies 1857 und 1858 ist weniger idyllisch als die Hauptstadt einer halbbarbarischen die Zitate von Russell und Rees ahnen Rasse, errichtet von einer ruchlosen, lassen. Lucknow war zu dieser Zeit einer der Brennpunkte des indischen Aufstandes, der weite Teile Nordindiens erfasste und die britische Herrschat auf dem Subkontinent grundlegend gefährdete. Im Norden Indiens tobte ein Kolonialkrieg. 1856 war Wajid Ali Shah, der letzte der Könige von Oudh, welche die Provinz offiziell als "Nawabs" (als Stellvertreter) der Mogulkaiser in Delhi regierten, von den Briten wegen "schlechter Verwaltung" abgesetzt und sein Staat von der East India Company (EIC) annektiert worden. Dieses Vorgehen war eine von mehreren Ursachen für die Erhebung, die im Mai 1857 unter den indischen Teil 1: Das Eigene und das Fremde Abb. 1. Blick aus der Martinière auf Lucknow. Das schlossartige Gebäude der Martinière befindet sich wenig weiter nördlich vom Landschloss Dilkusha, wo William Russell seine ersten Beobachtungen notierte. Die wiedergegebene Aussicht ist mehr oder minder ein Phantasiebild. Die große Kuppel am rechten Bildrand soll möglicherweise die Shah Najaf Imambara darstellen, hat aber wenig Ähnlichkeit mit Gebäude (vgl. hier). Undatierter Stich (ca. 1858), Quelle möglicherweise The Illustrated London News. 24 Abb. 2. Stich aus der Illustrated Times vom 23. Januar 1858. Auch dieses Bild ist eine freie Interpretation der Stadt. Die beiden Minarette am rechten Bildrand sollen möglicherweise die Asafi Moschee darstellen, die zum Komplex der Bara Imambara gehört (vgl. Abb. 8). Bei einem Blick von der Residenz nach Westen müssten sie allerdings auf der linken Bildseite liegen. Truppen der EIC als Meuterei ausbrach und sich schnell zu einem allgemeinen antibritischen Aufstand in Nordindien ausweitete.4 Mit den meuternden Truppen vereinigten sich Gefolgsleute des ehemaligen Herrscherhauses und breite Kreise der Bevölkerung. Diese Ereignisse bilden den historischen Rahmen für ein eigentümliches Stück Architekturgeschichtsschreibung: in der nordindischen Stadt begegneten die Europäer einer Architektur, die seit Jahrzehnten von europäischen Formen beeinflusst war; ihre Autraggeber waren indische Herrscher, die aus einer spezifischen Konstellation von Grün- den Bauten in europäischem Stil errichten ließen und Elemente der europäischen Architektur nach ihren Bedürfnissen abgewandelt hatten. Nach dem Sieg der Briten erfuhr diese europäischindische Architektur ein Schicksal, das dem der Aufständischen ähnlich war: die britische Architekturkritik fällte ein stilkritisches Vernichtungsurteil, das bis heute Betrachtung und Wertung dieser historischen Architektur beeinflusst. Diese Wertung der Architektur Lucknows ist eine harte und negative Reaktion auf die Übernahme europäischer Architekturformen in einem außereuropäischen Kulturkreis. Die Interpretation der "eigenen" europäischen Stilformen durch eine indische Dynastie erschien – nach dem indischen Aufstand – wie eine Herausforderung. Die europäischen Beobachter reagierten mit einer fundamentalen Kritik, die die kulturelle Distanz zu der Gesellschat, welche die europäischen Vorbilder übernommen hatte, nicht allein wiederherstellte, sondern noch vergrößerte. Diese Negativwertung der Architektur von Lucknow kann nicht losgelöst von den Ereignissen der Jahre 1857 und 1858 betrachtet werden, die mit einem Schlag die Schauplätze der Kämpfe und die Bauten von Lucknow einem europäischen Publikum Abb. 3. Oudh im Jahr 1848, umgeben vom Territorium der EIC. Bearbeitete Karte aus: Charles Joppen: Historical Atlas of India. London 1907. 25 bekannt machten, das wie gebannt auf die Ereignisse in Indien blickte. Das militärische Vorgehen der Briten gegen die indischen Insurgenten, das mit einer Woge europäischer Überlegenheitsgefühle einherging, erzeugte den Kontext für die spätere Rezeption der Architektur Lucknows. Die Bauwerke der Stadt wurden in der Folge nicht mehr als Schöpfungen eines orientalischen Hofes gesehen, der sich Formen der westlichen Tradition zu eigen gemacht hatte, sondern als Zeichen für den Niedergang einer überlebten Kultur gedeutet. Die vermeintliche Dekadenz der Herrscher von Oudh, welche die Briten in ihren "entarteten" Bauten bestätigt sahen, wurde zu einem nachträglichen Argument für die Annexion des Staates. Diese besondere Rezeptionsgeschichte spiegelt ein Umfeld von Gewalt und Konfrontation, das durch die Kämpfe von 1858 gegeben war und in mehrfacher Weise eine Eskalation kolonialer Machtausübung darstellt; es kann bei der Betrachtung der hier zu besprechenden Bauten daher nicht ausgeblendet werden. Die britische Reaktion, die unmittelbar nach dem militärischen Sieg in einem Strafgericht über Leben und Tod von Beteiligten oder auch nur Verdächtigen entschied, verlängerte sich Jahre nach den Ereignissen zu einem Urteil über Wert und Unwert der architektonischen Schöpfungen Lucknows, das zwar weniger blutig war, aber von einem ähnlichen Gefühl europäischer Überlegenheit5 getragen wurde. Eine Auseinandersetzung mit den Bauten von Lucknow darf aber auch nicht die eigenen Voraussetzungen übersehen, aus denen vor 1856 in Lucknow eine bemerkenswerte indisch-europäische Stilsynthese entstanden war. Die zwei Teile dieser Studie beschreiben deshalb eine doppelte Spiegelung. In einer ersten Phase rezipierten die Fürsten von Oudh vor den Ereignissen des indischen Aufstandes europäische Stilformen und verwendeten sie mit spezifischen Anpassungen für ihre Bauten. In einer zweiten Phase wurde dieses Spiegelbild europäischer Kultur von europäischen Beobachtern wie durch einen verfremdenden Zerrspiegel wahrgenommen, der durch die Interpretation des indischen Aufstandes deformiert und eingefärbt war. Dieses Zerrbild hat bis in die zweite Hälte des 20. Jahrhunderts die Wahrnehmung der Architek26 tur von Lucknow dominiert. Es ist ein Grund dafür, dass die "europäisch"klassizistischen Bauten der Nawabs von Oudh über Jahrzehnte hinweg zerstört und vernachlässigt worden sind. – Heute bleiben wenige Reste und Ruinen: zerbrochene Spiegel. Lucknow und das Selbstbild der Briten in Indien Hätte man um 1900 einen britischen Kolonialbeamten oder Offizier gebeten, die Orte in Indien zu benennen, die von besonderer symbolischer Bedeutung für die britische Herrschat seien, so hätte Lucknow ohne Zweifel einen der ersten Plätze eingenommen. Diese besondere Bedeutung Lucknows für das Selbstverständnis des Kolonialregimes erklärt sich aus den militärischen Ereignissen während des indischen Aufstandes und ihrer politischen Ausdeutung. Während zu Beginn der Erhebung 1857 Delhi bald in die Hand der Aufständischen fiel und die Stützpunkte der Briten in ganz Nordindien in großer Zahl eingenommen wurden, hielt die britische Residenz in Lucknow, verteidigt durch 1500 britische Soldaten, loyale indische Unterstützer und bewaffnete Zivilisten,6 über fünf Monate von Anfang Juli bis Ende November 1857 einer Belagerung durch einige Zehntausend indischer Kämpfer stand. Ein Versuch der Briten, den Ring um die Residenz im September 1857 aufzusprengen, scheiterte. Von außen zur Befreiung der Belagerten herbeigeeilte Truppeneinheiten mussten sich nach starken Verlusten selbst in die Residenz zurückziehen und wurden nun ebenfalls belagert. Als sich im November schließlich eine weitere britische Armee den Weg nach Lucknow freikämpte, entwichen die Belagerten nachts unbemerkt aus der Residenz zu den Truppen am Stadtrand, welche sich darauhin wieder zurückzogen. Im März 1858 kehrten die britischen Truppen verstärkt durch Kontingente der verbündeten Sikhs und Nepalesen wieder zurück. Nun standen 58.000 Soldaten unter britischem Kommando gegen 36.000 indische Kämpfer.7 Die Stadt wurde erneut zum Schlachtfeld und diesmal siegten die Briten; auf beiden Seiten wurde erbittert und brutal gekämpt. Eine neuere indische Studie Abb. 4. "The British Lion's Vengeance on the Bengal Tiger" Stich aus Punch, or the London Charivari 22. August 1857. Die Zeichnung drückt die Stimmung in Großbritannien nach Ausbruch des indischen Aufstandes aus. Vgl. Anm. 9. schätzt, dass während der Gefechte um Lucknow 1857 und 1858 etwa 20.000 indische Kämpfer getötet wurden; es gab keine Gefangenen.8 feld für die Quartiere der Garnison zu schaffen, die die Paläste der ehemaligen Könige, aber auch die großen Moscheen der Stadt besetzte.11 Nach dem militärischen Sieg gegen die Insurgenten demonstrierten die Briten ihren Herrschatsanspruch (Abb.4) mit exemplarischen Strafen gegen wirkliche und imaginierte Gegner.9 Das Ausmaß dieser Reaktion wird durch die Tatsache deutlich, dass die siegreichen Truppeneinheiten "teilweise die Männer ganzer Dörfer summarisch exekutierten, weil ihnen Unterstützung der Rebellen nachgewiesen oder unterstellt wurde."10 (Abb.5) Die britische Vergeltung richtete sich auch gegen Bauten und Stadtstrukturen. Große Teile der am dichtesten bebauten Viertel Lucknows wurden systematisch abgerissen, nachdem die Briten die Kontrolle wiedergewonnen hatten, um ein Vor- und Schuss- Für ganz Indien hatte die Niederschlagung des Aufstandes schließlich weitreichende politische Auswirkungen. 1858 wurde das Regime der EIC durch die direkte britische Herrschat ersetzt; Indien avancierte zur britischen Kronkolonie. 1876 wurde Königin Victoria als Kaiserin von Indien proklamiert, eine bewusste Inszenierung, welche die britische Kolonialherrschat als Fortführung der Mogul-Dynastie legitimieren sollte. Abb. 5. "Outlying pickets of the Highland Brigade". Illustration aus: William Forbes-Mitchell: Reminiscences of the Great Mutiny 1857-59. Wie Anm. 16. Das Bild, das ohne weiteren Kommentar einen "Außenposten" des 93. Highland-Regiments zeigt, illustriert die Beiläufigkeit drakonischer Strafaktionen gegen wirkliche Insurgenten oder Verdächtige. 27 Im Kontext dieser historischen Begebenheiten erhielten die Ereignisse in Lucknow beinahe unmittelbar eine geradezu paradigmatische Bedeutung für das Selbstverständnis der Briten in Indien. Im militärischen Sieg über Abb. 6. Seite aus The Illustrated London News vom 29. April 1859. Das obere Bild zeigt die Einfassung des Sikander Bagh, wo schwere Kämpfe stattfanden. Das untere Bild zeigt das beschädigte Bailey Guard Gate der Statthalterschaft. Beide Darstellungen wurden nach Photographien Felice Beatos gestochen. die zahlenmäßige Übermacht der revoltierenden Inder sahen die Briten ihre zivilisatorische wie charakterliche Überlegenheit als Kolonialherren bestätigt. Die traumatische und verlustreiche Belagerung, der erfolgreiche Widerstand und schließlich die Wiedereroberung von Lucknow avancierten zu einem zentralen Bestandteil der kolonialen Erinnerungskultur. Die Kämpfe in Indien erregten dem damaligen imperialistischen Geist entsprechend aber auch die Gemüter in Europa. Neben vielen anderen berichteten Karl Marx und Friedrich Engels über die Ereignisse.12 Illustrierte Zeitschriften wie die Illustrated Times die Illustrated London News informierten mit Stichen, die teils auf Skizzen, teils auf photographischen Aufnahmen, teils auf Erfindung basierten, über jedes Detail (Abb.6). Das Interesse, das den Kämpfen in Lucknow in Europa entgegengebracht wurde, führte zudem dazu, dass unmittelbar nach den Ereignissen 1858 photographische Aufnahmen der zerstörten Stadt und der Bauten Lucknows entstanden. Noch im April 1858 reiste Felice Beato, ein Pionier der Photoberichterstattung, nach Lucknow und dokumentierte die teilweise zerstörte Stadt in Aufnahmen,13 die nur wenig später in London ausgestellt wurden.14 Weitere Photographen folgten. Diese Photographien stellen 28 heute eine erstrangige baugeschichtliche Quelle dar. Sie sind umso wertvoller, da das dicht bebaute Stadtzentrum rund um die Residenz und die von den Briten später als Garnison genutzten Palastbauten in der Folge der Aufstandes eingeebnet wurde – eine Maßnahme die gleichermaßen dem militärischen Sicherheitsbedürfnis der Kolonialherren wie der Abstrafung der an der Rebellion beteiligten Bevölkerung diente.15 Das Interesse der Öffentlichkeit manifestierte sich in gleicher Weise in der Nachfrage nach autobiographischen Berichten, die teils unmittelbar auf die Ereignisse von 1857 folgten, teils noch Jahrzehnte später veröffentlicht wurden.16 Allein der zitierte Bericht des Schweizers Ruutz Rees erlebte 1858 drei englischsprachige Auflagen und wurde noch im selben Jahr als Selbsterlebtes während der Belagerung von Lucknow ins Deutsche übertragen. In Lucknow, dem Schauplatz der Kämpfe, wurden die zerschossenen Bauten der Residenz bewusst nicht wieder aufgebaut, sondern als Denkmal der Belagerung als Ruine belassen. Reiseführer zu diesen Stätten schilderten die einzelnen Phasen der Belagerung und den britischen Sieg immer wieder in allen Einzelheiten. Die Ruinen der Residenz sind bis heute eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Stadt.17 Auch andere Schauplätze der Kämpfe von 1857/58 wurden zunächst primär als Denkmäler britischer Tapferkeit verstanden. Im Gegensatz zur späteren stilistischen Architekturkritik an den Bauten der Nawabs von Oudh legten die literarischen Berichte von Augenzeugen der Belagerung den Schwerpunkt auf das erlittene Leid, auf Entbehrungen, Entschlossenheit und Heldenmut der eingeschlossenen Briten; sie sagten wenig über die Architektur Stadt, noch weniger über die Belagerer oder die friedlichen Bewohner. Die Chronisten konzentrierten sich auf sich selbst. George Harris A Lady's Diary of the Siege of Lucknow würdigte etwa die indischen Gegner oder die umgebende Stadt an keiner Stelle einer genaueren Beschreibung. Gleiches gilt für den autobiographischen Bericht der Julia Selina Inglis, die als Frau eines britischen Offiziers die Belagerung in der Residenz miterlebte. Nur ein einziges Mal berichtet die Chronistin unscharf von der Expedition einer britischen Abteilung, die sich vor der Belagerung Eingang in die "beautiful gardens of the Kaisar Bagh" der entmachteten Herrscher erzwang, "probably the first Europeans who had ever done so"18. Martin Richard Gubbins, der als Finanzbevollmächtigter des britischen Residenten (Sir Henry Lawrence) die Verhältnisse in der Stadt und in der Provinz genau kannte, gab über die Architektur der Stadt in seinem umfangreichen Bericht in einer einzigen Passage nicht mehr als ein allgemeines, aber positives Urteil: "the city of Lucknow is beyond doubt very beautiful and surpasses every city in India that I have seen."19 Abb. 7. "General View of Lucknow". Stich aus der Illustrated Times 02.01.1858. Das beherrschende Gebäude in der Mitte ist das Rumi Darwaza (KonstantinopelTor). Rechts davon die Türme der Asafi Moschee, die zum Komplex der Bara Imambara gehört. Am linken Bildrand ist die mittelalterliche Steinbrücke über den Gomti zu erkennen. Daneben die Mosche in der Festung Macchi Bawan. Im Vordergrund Teile der Parkanlage des Daulat Khana Palastkomplexes. Die Liste lässt sich ergänzen: Edward Hilton, der als 17-jähriger die Belagerung der Residenz erlebte, berichtete etwa von der Plünderung eines Hauses der Königsfamilie. Dessen europäische Architektur erschien ihm dabei so selbstverständlich, dass er nicht auf sie einging.20 Auch William Forbes-Mitchell, als Soldat beteiligt an der Einnahme des Königspalastes, schildert zwar die Plünderung und Zerstörung der Anlage, ihre europäischen Architekturformen sind ihm aber keinen einzigen Hinweis wert.21 vom Orient so wenig entsprach, dass sie sie nicht eigens hervorhoben, ist bemerkenswert. Das Eigene in der fremden Kultur wurde in der Situation der unmittelbaren Gefahr nicht wahrgenommen, das Fremde umso stärker herausgestrichen. Wie die zeitgleichen Stiche in europäischen illustrierten Zeitungen, welche, sofern sie nicht nach photographischen Vorlagen gearbeitet waren, die Ansichten von Lucknow zu orientalischen Phantasiestädten verfremdeten (Abb. 1, 2, 10), hoben die Augenzeugen der Ereignisse den orientalischen, nicht den europäischen Charakter der Stadt hervor. Anders ist die Wahrnehmung Howard William Russells. Der Korrespondent der Times, der für seine kritischen Berichte von den Kriegsschauplätzen des 19. Jahrhunderts bekannt wurde, ging mehrfach auf die Bauten Lucknows ein und zog aus ihnen seine eigenen Schlüsse. Der Zweifel an der Darstellung der Könige von Oudh als dekadenter und barbarischer Dynastie, den Russell angesichts der eingangs zitierten märchenhaten "Vision" der Stadt empfand, spricht für ein kritisches und nachdenkliches Urteil. Russells Darstellungen folgen einem erzählerischen Kompositionsprinzip, das er als erfahrener Berichterstatter mehrfach einsetzte: aufmerksame Schilderungen von Städten, Schauplätzen und beobachteten Details sind Bilder der Ruhe, die durch die Darstellung eines grausigen Kriegsgeschehens gebrochen werden. Am Ende dieser Architekturbeschreibungen steht häufig ein Bild von Gewalt, das durch den Gegensatz umso intensiver hervorscheint. Dass diesen Zeugen der Belagerung die europäisch beeinflusste Architektur von Lucknow entweder so selbst- Als der Berichterstatter der Times zehn verständlich erschien oder ihrem Bild Tage nach seiner Ankunt in Lucknow 29 die Einnahme des Kaisarbagh-Palastes durch britische Truppen begleitete, nahm er inmitten der Kamphandlungen ein keineswegs orientalisches, sondern dezidiert europäisches Gesicht der Stadt wahr: das Bild gepflegter Gärten, ausgestattet mit Laternen und klassischen Statuen inmitten italienisch anmutender Bauten: […] "wir erreichten alle, atemlos und lachend, den schützenden Torbogen, hinter dem sich ein weiterer Hof befand, voller Statuen, Orangenbäume und Büsche, umgeben von italienisch anmutenden Palazzi […] Man stelle sich einen Hof vor, groß wie Temple Gardens, umgeben von verschiedenen Palästen oder jedenfalls reich dekorierten Bauwerken mit Wandgemälden auf den blinden Fenstern und mit grünen Jalousien und Rolläden über den doppelt angeordneten Maueröffnungen. Im eigentlichen Hof sieht man Statuen, Laternenpfähle, Springbrunnen, Orangengärtchen, Wasserleitungen und Pavillons mit metallisch schimmernden Kuppeldächern. […] Unter den Orangenbäumen liegen sterbende Sepoys. Die weißen Statuen sind rot von Blut. An einer lächelnden Venus lehnt, schwer keuchend und langsam verblutend, ein britischer Soldat." […]22 "Jeder der Höfe wirkt wie Ölgemälde aus der Hand von Lewis23 oder David Roberts.24 Alles ist voller Staub, und Explosionen sind häufig. Wenn man die Tuilerien, den Louvre, Versailles, Scutari,25 den Winterpalast mit einer Entourage kleinasiatischer Hütten26 und einem Lustgarten im Rang von Kew Gardens vermischen würde, könnte dies in etwa eine Vorstellung des Kaisarbagh-Palastes und der Gärten im Innern vermitteln. Das Ganze ist offensichtlich italienisch; nur sind die HinduStatuen, welche italienische Vorbilder nachahmen, abscheulich, lächerlich und absurd. […] In der Nordwestecke in einem dieser Höfe sind die Batterien unserer Mörser in voller Aktion."27 Lucknow und die Nawabs von Oudh Lucknow ist eine der jüngsten Königsstädte in der an historischen Metropolen reichen Flussebene zwischen Ganges und Yamuna. Die Stadt liegt an einer Biegung des Gomti, einem Nebenfluss 30 des Ganges, der gut dreihundert Kilometer weiter östlich in den großen Strom einmündet. 1775 wird Lucknow Hauptstadt der Provinz Oudh als Asaf ud Daula (reg. 1775-1798) seine Residenz von Faizabad dorthin verlagert. Lucknow ist zu diesem Zeitpunkt bereits ein Wirtschats- und Kulturzentrum, dessen Bevölkerungsmehrheit (damals wie heute) aus Hindus besteht. Die Geschichte Lucknows als Hauptstadt eines de facto unabhängigen Königreichs beschränkt sich somit auf die gut achtzig Jahre zwischen 1775 und 1856. Während dieser relativ kurzen Zeitspanne realisierten die Nawabs von Oudh das gewaltige Bauprogramm, das die europäische Architekturkritik nach Annexion des Staates zu einer scharfen Kritik herausforderte. Die Dynastie der Nawabs von Oudh geht auf Saadat Khan (reg. 1722-1739), einen persischen Immigranten am Hof der Moguln zurück, der Anfang des 18. Jahrhunderts in hohe Ämter aufsteigt und die Schwäche der Zentralregierung in Delhi dazu nutzt, die erbliche Herrschat seiner Familie in der von ihm 1722 übernommenen Provinz zu begründen28. Oudh avanciert während des Zerfalls des Mogul-Staates zu einer bedeutenden Macht in Nordindien. In der direkten Konfrontation gegen die EIC scheitert eine Koalition unter der Führung des Nawabs von Oudh allerdings 1764 in der Schlacht von Baksar. Nach der Niederlage findet Nawab Shuja ud Daula (reg. 17541775) gleichwohl zu einem politischen Ausgleich mit der EIC und es gelingt ihm sogar, seine Provinz im Bündnis mit den Briten auf Kosten seiner nördlichen und westlichen Nachbarn zu vergrößern. Unter der Herrschat seines Nachfolgers Asaf ud Daula (reg. 1775-1797) erfolgt immer deutlicher die politische Neuorientierung der Provinz Oudh von Delhi, dem früheren staatlichen und kulturellen Zentrum, hin zu Kalkutta, dem Zentrum der britischen Herrschat in Indien.29 Auch direkte politische Eingriffe der Briten sind spürbar. 1798 erzwingt die EIC den Rückzug des designierten, aber den Engländern feindlich gegenüberstehenden hronerben Vazier Ali und ersetzt ihn durch den anglophilen Saadat Ali Khan (reg. 1798-1814).30 In der Folge nötigen die Briten den neuen Herrscher 1801, die Hälte sei- Abb. 8. Plan von Lucknow mit den im Text erwähnten Bauten. Kartengrundlage entnommen aus: Frederick Sleigh Roberts: Forty-one Years in India. From Subaltern To Commander-In-Chief. London 1914. S. 198. nes Territoriums an die EIC abzutreten.31 Als militärische Größe scheidet Oudh damit endgültig aus. Die Provinz wird ein Garantiestaat unter britischem Schutz ohne außenpolitische Ambitionen. Die EIC ist es auch, welche 1818 Nawab Ghazi ud Din Haider (reg. 1818-1827) dazu drängt, sich zum unabhängigen König zu erklären, um die (nur noch formale) Unterordnung der Provinz Oudh unter die Moguln in Delhi zu hintertreiben. "Dazu fand mit britischer Unterstützung eine höchst eklektische Inthronisation statt, bei der der nawab-wazir als küntiger padshah europäische und indische Herrschatssymbole vermengte."32 Auf Herrscherportraits posiert der König von Oudh mit Krone und Hermelinmantel über einem safranfarbenen indischen Gewand. Trotz der kontinuierlichen Schwächung des Staates durch die Einflussnahmen der ostindischen Kompanie und ihres Statthalters in Lucknow33 avanciert die Hauptstadt des Königreiches Oudh nach 1800 zum bedeutendsten Zentrum islamischer Dichtung und Hokultur in Nordindien. Diese kultu31 relle Blüte wird durch eine Reihe großer und ehrgeiziger Bauprojekte begleitet. Die höfische Prachtentfaltung kompensiert gewissermaßen den von den Briten diktierten Mangel an politischen Entfaltungsmöglichkeiten. Mit der Verlagerung der Residenz nach Lucknow entstehen so zwischen 1775 und 1852 vier Palastkomplexe, die jeweils unterschiedlichen Konzeptionen folgen. Die erste dieser Palastanlagen wird ab 1775 im bestehenden mittelalterlichen Fort "Macchi Bawan" errichtet, das eine steinerne Brücke über den Gomti absichert. Asaf ud Daula (reg. 1775-1797) gibt diese Festungsresidenz zugunsten eines neuen, nördlich gelegenen Residenzkomplexes auf, der eine unregelmäßige Komposition aus freistehenden Landhäusern und Pavillons im europäischen Stil darstellt, die um Gärten und Wasserbecken gruppiert sind. Zur Gestaltung der Bauten dieses sogenannten "Daulat-Khana"-Komplexes (vgl. Abb.8) nimmt Asaf ud Daula die Dienste europäischer Fachleute in Anspruch. Einer von mehreren Beratern ist der Ingenieur und zwischen- Regierungszeit Übersicht über die Regierungszeiten der Nawabs von Oudh und bedeutende Bauprojekte in Lucknow. im Text erwähnte Bauten in Lucknow im "islamischen" Stil im "europäischen" Stil Shuja ud Daula (1754-1775) – Macchi Bawan Palast Asaf ud Daula (1775-1797) Große (Asafi) Imambara Asafi Moschee Rumi Darwaza Daulat Khana-Komplex Begum Kothi Vazier Ali a (1797-1798) – – Saadat Ali Khan (1798-1814) Lal Baradari b Bara Chattar Manzil b Dilkusha Musa Bagh (Barowen) Moti Mahal Khurshid Manzil Ghazi ud Din Haidar Saadat Ali Khan - Mausoleum (1814-1827) Khurshid Zadi - Mausoleum Shah Nadjaf - Mausoleum Chota Chattar Manzil b Nasir ud Din Haidar (1827-1837) – Chaurukhi Kothi b [auch: Darshan Bilas] Gulistam-i-Iram b Roshan-ud-Daula-Kothi [auch: Kaisar Pasind] Muhammad Ali Shah (1837-1842) Husseinabad Imambara Sat Khande ("sieben Stufen") Ahmad Ali Shah (1837-1842) – – Wajid Ali Shah (1847-1856) Kaisarbagh Imambara Kaisarbagh (1848-1852) Sikander Bagh Moti Mahal (Torhaus) a von den Briten abgesetzt b Teil des Chattar Manzil-Komplex zeitliche Hofarchitekt Antoine Polier, ein Franzose, der auch im Dienst der EIC stand.34 Eine weitere wichtige Gestalt für die Vermittlung europäischer Architekturformen in Oudh ist Claude Martin (1735-1800).35 Als Soldat der französischen Armee in Indien wechselt Martin 1760 in den Dienst der EIC und gelangt über Jahrzehnte als Soldat, Handelsagent der Nawabs sowie über Grundstücks-, Kredit- und Handelsgeschäte zu großemReichtum. In Lucknow errichtet Martin für sich in einem eigenwilligen barock-eklektischem Stil das prächtig ausgestattete Stadtpalais Farhad Baksh (vgl. Abb. 15, 25) sowie im Süden vor der Stadt die schlossartige Residenz La Martinière (auch: Constantia).36 entsteht eine zweite Stadt von Hofund Palastanlagen inmitten weitläufiger Gärten und Haine. Saadat Ali Khan (reg. 1798-1814) errichtet nach Kauf von Martins Stadtpalais Farhad Baksh unmittelbar angrenzend einen terrassierten Palast (Bara Chattar Manzil). Die Anlage wird von seinen Nachfolgern zu einem Baukomplex aus mehreren großen Gebäuden ergänzt, die um Wasserbassins in einem zentralen Garten gruppiert sind (Teil 2, Abb. 17, 18). Von diesem "Chattar Manzil" genannten Komplex führt eine breite Straße, die sogenannte Hazratganj, nach Süden zum Landsitz Dilkusha. Entlang dieser Straße, die bei Festen, Inthronisationsfeiern oder bei bedeutenden Besuchen zu zeremoniellen Prozessionen des Hofes genutzt wird, entstehen weitere repräsentative Häuser für den Herrscher, seine Frauen, die königliche Familie und die Würdenträger des Hofes. Während die Residenzbauten und – gärten von Daulat Khana noch in Nähe zur dichtbebauten "ungesunden"37 Altstadt erbaut werden, konzentrieren die Nawabs nach 1800 ihre Bautätigkeit auf ein offenes Gebiet, das im Osten an das Der letzte der Residenzkomplexe, der eng bebaute Zentrum angrenzt. Hier zwischen 1848-1852 fertiggestellte 32 Kaisarbagh, folgt wieder einer völlig anderen Konzeption. Ein riesiger, als Lustgarten genutzter Innenhof von 200 zu 400 Metern wird durch eine einheitliche zweigeschossige Randbebauung gefasst, in welcher der Hofstaat, Diener und vor allem die zahlreichen Frauen des Herrschers untergebracht sind (Teil 2, Abb. 26). Im Zentrum des Gartenhofes befindet sich eine große Halle (Kaisarbagh Imambara). Auf drei Seiten, im Westen, Osten und Norden, ist der zentrale Hof nochmals von kleineren, architektonisch ähnlicher Weise ausgestalteten Höfen umgeben, die heute verloren sind. Diese kleineren Abb. 9. Blick vom Landhaus Höfe binden zwei beim Bau des KaisDilkusha nach Westen auf arbagh schon bestehende palastartige Lucknow. Wasserfarbenbild Bauten ein: im Westen das schlossarvon Ezekial Barton, um tige Gebäude der Roshan-ud-Daula1800-1820. In der grünen Kothi38 (auch: "Kaisar Pasind" u.ä.), das Auenlandschaft zwischen als Residenz für eine bevorzugte Frau Stadt und Dilkusha bauten des Nawabs diente (Teil 2, Abb. 20-22); die Nawabs nach 1800 eine im Osten die sogenannte "Chaulakkhi Folge von Residenzen und Palästen im europäischen Stil. Kothie", in welcher weitere hochranDie Beischrift lautet: "View of gige Damen des Hofes untergebracht waren. the modern (European-built) city of Lucknow taken from the Park of the Vizier’s new Palace Die genannten Bauten wurden wie die übrige Stadt aus Ziegelmauerwerk of Castle Cool [=Dilkusha]". © British Library, Asia, Pacific errichtet, das verputzt und mit Zierformen aus hochwertigem Stuck ornaand Africa Collections. 33 mentiert und farbig gefasst wurde. Sandstein oder Marmor, welche in Delhi und Agra als Baumaterialien für die Bauten der Moguln verwendet wurden, waren in Lucknow nicht verfügbar. Doch insbesondere ihre stilistische Besonderheit unterscheidet die Bauten von Lucknow von den älteren Herrscherarchitekturen in Delhi und Agra. Während die Moscheen, Grabbauten, Imambaras39 oder die Hallen für das traditionelle hronzeremoniell (Baradari), welche die Nawabs in Lucknow errichten, durchweg einem Stil folgen, der die Architektursprache der Moguln fortentwickelt,40 sind die Bauten der königlichen Residenzen fast durchweg in einem Stil errichtet, der sich an englischen und europäischen Vorbildern orientiert. Die Deutung des Eigenen im Fremden Es sind diese europäisch beeinflussten Architekturformen, die nach der Annexion Oudhs Anlass für eine scharfe Polemik europäischer Betrachter darstellen. Banmali Tandam,41 aber vor allem Rosie Llewellyn-Jones in ihrer grundlegenden Studie von 198542 haben die Zeug- Abb. 10. Ansicht von Lucknow aus Ballou's Pictorial Drawing Room Companion 30.1. 1858. Das Bild wirkt wie eine Phantasieansicht und betont den orientalischen Charakter. Die auf dem Steilhang thronenden Moschee hat gleichwohl Ähnlichkeit mit einer späteren Aufnahme von Felice Beato, auf der auch ein ähnlicher Bootstyp, allerdings ohne den chinesischen Zierrat, zu sehen ist. Möglicherweise hatte der Künstler eine ältere Darstellung vorliegen, die er dann frei interpretierte und erweiterte. nisse dieser Architekturrezeption akribisch zusammengestellt. Doch auch vor dem indischen Aufstand von 1857/58 gibt es eine Reihe von europäischen Zeugnissen zur Architektur Lucknows. In ihnen wiederkehrende hemen sind die Enge und fehlende Hygiene der orientalischen Stadt, die Armut der Bevölkerung und ihr Gegensatz zur Prachtentfaltung des regierenden Nawabs.43 Gleichwohl ist festzustellen, dass vor 1858 nicht nur negative Urteile zu fassen sind. Der Ausbau der Stadt im europäischen Stil und vor allem die neue breite Magistrale, die von Süden ins Zentrum führte, werden durchaus positiv gewürdigt.44 Eine farbige Darstellung des Künstlers Ezekial Barton um 1810 illustriert diese positive Wahrnehmung. Sie zeigt in der Ansicht "of the modern (European-built) city" den Blick auf den noch nicht fertiggestellten Chattar Manzil Komplex (Abb.9). Die zitierte Beischrit setzt die Übernahme europäischer Bauformen, die in eine parkähnliche Landschat eingebettet sind, mit Modernität gleich. Eine vergleichbar positive Wahrnehmung spiegelt sich noch im Januar 1858, als Ballou's Pictorial Drawing-Room Companion45 anlässlich der glücklichen Evakuierung der britischen Residenz eine kursorische Stadtbeschreibung druckt, die offenbar auf lexikalisches Wissen oder frühere Reisebeschreibungen zurückgeht. Obwohl der anonyme Redakteur einen "want of taste" bei der Innen34 ausstattung konstatiert, hebt der Verfasser Lucknows europäische Bauten eindeutig positiv von der orientalischen Altstadt ab: "the traveller is struck by the broad streets, handsome houses built in European style, and splendid mosques with beautiful ornamented minarets and cupolas of gilt copper. It has, upon the whole, the appearance of an European city." (Abb.10) Vier Jahre später schlägt der britische Architekturhistoriker und Indienkenner James Fergusson dann einen grundsätzlich anderen Ton an. In seiner History of the Modern Styles in Architecture formuliert Fergusson 1862 ein ästhetisches Vernichtungsurteil über die europäisch beeinflussten Bauten Lucknows. Politische Konstitution und künstlerischer Ausdruck sind für Fergusson zwei Seiten der selben Medaille. Entsprechend vermengen und verstärken sich in Fergussons Einschätzung architekturkritische, politische und rassistische Einschätzungen. Ein, so Fergussons Darstellung, lebensuntüchtiger, korrupter und verschwendungssüchtiger Staat von Gnaden der Engländer, eine Kultur, welche im verständnislosen Kopieren westlicher Vorbilder die eigenen Architekturtraditionen aufgibt, ohne das formale Regelwerk klassizistischer Architektur, die Fergusson primär als regelhaten Einsatz der Säulenordnungen versteht, begreifen zu können, kann nur architektonische Missgeburten schaffen. Die damit unterstellte künstlerische Impotenz dient Fergusson zu einer nachträglichen Rechtfertigung der britischen Annexion: "he kingdom of Oude was one of our next creations. From the importance of their relative position its sovereigns were from the earliest date protected by us, which means that they were relieved, if not from all the cares, at least from all the responsibilities of government; and with the indolence natural to the Indian character, and the temptations incident to an Eastern Court, let to spend in debauchery and corruption the enormous ravenous placed at their disposal. he result might easily be foreseen. hings went on from bad to worse, till the nuisance became intolerable, and was summarily put to an end […]."46 "Of course no native of India can well understand either the origin or motive of the various parts of our Orders – why the entablature should be divided in architrave, frieze and cornice – why the pillars should be a certain numAbb. 11. Fergusson griff zur ber of diameters in height, and so on. Illustration seiner Kritik auf Fotos von Felice Beato zurück, It is, in fact, like a man trying to copy an inscription in a language he does die 1858 nach Eroberung Lucknows entstanden. Beatos not understand and of which he does not even know the alphabet. With the Vorlage und der Stich aus most correct eye and the greatest pains Fergussons Buch zeigen hier die durch die Kämpfe beschä- he cannot do it accurately. In India, besides this ignorance of grammar of digte Begum Kothi; vor dem the art, the natives cannot help feeling Haus sind britische Soldaten that […] brick pillars ought to be thizu sehen. Der Kontext der cker than the Italian orders generally britisch-indischen Konfrontation bleibt so indirekt auch are, and that wooden architravs are the worst possible construction in a climate in Fergussons Illustrationen where wood decays so rapidly, even if ablesbar. Links Felice Beatos Photographie, rechts Stich aus spared by the white ants. he conseFergusson 1873 (vgl. Anm. 46) quence is, that, between this ignorance of the principles of Classic Art on the S. 481, Abb. 276. 35 one hand, and his knowledge of what is suited to his wants and his climate on the other, he makes a sad jumble of the Orders. But fashion supplies the Indian with those incentives to copying which we derive from association and education; and in the vain attempt to imitate his superiors, he has abandoned his own beautiful art to produce the strange jumble of vulgarity and bad taste we find in Lucknow and elsewhere."47 Fergussons Einschätzung stellt nun nicht allein deshalb einen entscheidenden Markstein in der Rezeption der europäischen Bauten der Nawabs dar, da sie in scharfer Form eine Verbindung politischer und ethnisch-kultureller Gründe für die vermeintliche Unfähigkeit indigener Baumeister, klassisch-europäische Bauten korrekt nachzuempfinden, produziert. Mit Fergussons Statement verlagert sich die Negativeinschätzung der kritisierten Architekturen zugleich von der subjektiv berichtenden Ebene europäischer Reiseschritsteller oder Journalisten auf die Ebene professioneller Architekturkritik. Als Nestor der Architekturgeschichte Indiens, der im Jahr 1876 eine monumentale History of Indian and Eastern Architecture48 vorlegte, Autor einer umfassenden vierbändigen History of Architecture und vieler weiterer Schriten zur Geschichte der Architektur gehört Fergusson zu den einflussreichsten Architekturhistorikern des 19. Jahrhunderts.49 Sein weitreichender Einfluss auf die Beschätigung mit der indischen Architekturgeschichte mag daran ermessen werden, dass der Architekturhistoriker Jan Pieper noch im Jahr 1977 seine Dissertation dem Andenken Fergussons widmete.50 Fergussons Einschätzung wird leitbildgebend für die weitere Betrachtung. 1891 stellt Alois Anton Führer, der deutschstämmige Direktor des Provinzmuseums in Lucknow, den vermeintlich dekadenten Stil der königlichen Bauten in einer ganz analogen Weise dar: "Lakhnâû, viewed from a distance, and not too closely scrutinized, is one of the most beautiful and picturesque cities of India. […] But nowhere can we see more markedly the influence of a depraved oriental court and its politics upon art and architecture than in Lakhnâû."51 Die Großbauten der Nawabs, die stilistisch der islamisch-nordindischen Architekturform folgen, beurteilt Führer hingegen weniger streng. Auch wenn sie, so Führer, an die Vorbilder eines reinen Mogul-Stils in Delhi und Agra nicht heranreichen können, würdigt der deutschstämmige Gelehrte die Gebetshäuser und Mausoleen als Bauten "[which] though detestable in detail, are still grand in outline."52 "he great Īmambârâ cannot, it is true, compare with the pure examples of Moghal architecture which adorn Âgrâ and Delhî; but taken along with the adjoining masjid53, the Husainâbâd Imâmbârâ, and the Rûmî Darwâza, it forms a group of buildings whose dimensions and picturesque splendour render it to the most imposing in India."54 Es sind die indischen Bauten im klassizistischen Gewand, auf die sich Führers Kritik konzentriert. "he remaining buildings of a later period, whose style was avowedly and openly copied from debased European models, are unfit to be spoken of in the same chapter as the earlier buildings. All the mongrel vulgarities which were applied in Vauxhall, Rosherville, and the Surrey Gardens, took refuge in the Qaisar Bâgh and Chhatar Manzil when expelled from thence, as, for instance, Corinthian pilasters under Muslim domes, false venetian blinds, imitation marbles, pea-green mermaids sprawling over a blue sky above a yellow entablature, etc."55 elle Gutachten des "Archeological Survey of India" dar, das Führer für die Nordwest-Provinzen und Oudh formulierte. Die vorgenommene Klassifizierung stute die europäische beeinflussten Bauten der Nawabs von Oudh als Monumente ein, "which, from their advanced stage of decay or comparative unimportance, it is impossible or unnecessary to preserve."56 Kurz: als Bauten ohne Denkmalwert. Mehr noch, nach Führers Einschätzung sind die europäisch beeinflussten Bauten der späteren Nawabs Nasir ud Din Haidar (18271837) und Wajid Ali Shah (1847-1856) "the most debased examples of architecture to be found in India". Die stilistisch-politische Wertung der Architektur der Nawabs gewinnt im Gutachten des Archeological Survey eine quasi rechtlich-offizielle Verankerung. Dass in diese Einschätzung die eigene Geschichtsdeutung miteinfließt, wird deutlich, wenn Führer demgegenüber die britische Residenz, Schauplatz der Belagerung von 1857, als Denkmal von höchster Wichtigkeit in der Kategorie Ia klassifiziert: als ein Bauwerk also "in respect of which [the] Government must undertake the cost of all measures of conservation".57 Was den eigentlichen baugeschichtlichen Denkmalwert dieser Bauten ausmacht, die von den Königen von Oudh für die Engländer in indischer Bautechnik und in europäischen Formen errichtet wurden58 (also in genau der gleichen Weise und in einem ähnlichen Stil wie die kritisierten Bauten der königlichen Hohaltung), expliziert Führer nicht, sondern appelliert an ein allgemeines Vorverständnis: "It is, however, far too famous a place and too generally known to require a detailed description."59 In späteren Veröffentlichungen – Reiseführern, Lexikas und wissenschatlichen Arbeiten – wird die von Fergusson und Führer vorgegebene Einschätzung zur communis opinio. Der Topos der aus der Distanz beeindruckenden, von Nahem aber billig und enttäuschend wirkenden Architekturstaffage wird immer wieder reproduziert. Die französische Grande Encyclopédie beschreibt die Stadt im Jahr 1886 in folgender Weise: Führers Einschätzung ist mehr als ein "De loin, elle parait féerique; mais, Geschmacksurteil. Es stellt das offizi- malgré la beauté des monuments et 36 les larges rues percées par les Anglais, l'interieur est malpropre et beaucoup d'édifices sont de placages de médiocre valeur esthétique."60 1890 liest man in der vierten Auflage von Meyers Konversationslexikon: "L.[akhnau] gewährt aus der Ferne einen überraschenden Anblick, nahe gesehen erscheinen Pracht und Glanz aber zumeist als elendes Stückwerk und Tünche."61 Noch 1959 betont Chambers's Encyclopaedia: "he taste of the Nawabs was as degraded as their morals and administration, most of their buildings serving merely to exhibit the final debasement of the magnificent Mogul tradition;"62 Spricht aus dem letzten Zitat – wie bei Fergusson – eine politisch beeinflusste Sichtweise, die im angeblichen geschmacklichen Unvermögen der Könige von Oudh den Niedergang eines Staates diagnostiziert und damit dessen Okkupation durch die britische Kolonialmacht indirekt rechtfertigt, verdeutlicht ein 1911 erschienener Reiseführer einen anderen Angriffspunkt: Kritik, sondern auf die Verwendung unedler Materialien, wo der Betrachter aus der Distanz Gold und Marmor vermutet hatte. In ähnlicher Weise bemerkt Henry George Keene im Jahr 1896 "it is not so much the design as the material that is so disappointing and so pregnant with premature decay."64 Diese Enttäuschung korrespondiert mit einem märchenhat überhöhten Bild des Orients, das die exquisiten Marmor- und pietra-duraArbeiten des Taj Mahal ungeachtet der unterschiedlichen lokalen Traditionen und Bauweisen zum alleinigen Maßstab für alle indische Baukunst erhob. Eine amerikanische Reisende, die in den 1870er Jahren Lucknow beschrieb, äußerte sich in entsprechender Weise enttäuscht, dass ein Gartenpavillon aus dem Kaisarbagh mit farbiger Glasschmelze und nicht mit echten Karneolen, Achaten und Smaragden (!) mosaiziert war: "here are many things in Lucknow that will not bear too close scrutinity. he mosaic of this little pavilion where we rest, is made of painted bits of gloss instead of real cornelians, agates and emeralds."65 Der Nachklang dieser kritischen Topoi setzt sich bis in jüngste Arbeiten fort. "he city, which extends for several Der US-amerikanische Architekturmiles along the river bank, seemed one historiker Giles Henry Tillotson stellt mass of majestic buildings of dazzling 1989 fest: whiteness, crowned with domes of burnished gold, white scores of minars, "In the hands of Lucknow's architects, many of them very high, lent to the classical architecture became not a gramscene that very grace for which they are mar but a box of novelties with which so famous. he whole picture was like a to trick out a building. hey picked up dream of fairy land. […] A nearer view its forms without comprehending their of these buildings; however, destroys all intrinsic significance or historical devethe illusion. he 'lamp of truth' burnt lopment."66 but, dimly, for the architects of Lucknow.You find on examination, that the Ebenso gewinnt die 2001 publizierte, white color of the buildings, which pre- sonst kritische und reflektierte Arbeit sented in the sunlight the effect of the von Banmali Tandam, die erstmals ein purest marble, is simply white wash. umfassendes Inventar der Bauten der he material of the buildings themsel- Nawabs von Oudh zusammengestellt ves is stuccoed brick, and your taste is hat, einen pejorativen Unterton, wenn shocked by the discovery that the gil- sich der Autor der Übernahme euroded domes, of perfect shape and appa- päischer Architekturmotive zuwenrently massive construction, which so det. Eine Vielzahl klassischer Formuch attracted your admirations, are men, "pillaged from European patternmere shells of wood, in many places books", und "nameless oddments from rotten."63 the treasury of English and Continental architecture too countless to enuDas missbilligende Urteil gründet merate", seien, so Tandam, von den sich hier nicht auf eine stilistische indigenen Architekten allzu bereit37 willig aber ohne tieferes Verständnis übernommen worden – "all these were sedulously to be aped [!]"67. Die damit indirekt formulierte Kritik, die ganz mit der einhundert Jahre früheren Anschauung Fergussons übereinstimmt, verkürzt sich mit den Worten Tillotsons auf den Vorwurf: "he Lucknow architects aimed to copy classical forms faithfully and got them wrong […] their parody of classicism was unintentional."68 Tillotson benennt mit dieser hese zugleich eine zentrale Schwachstelle seiner Argumentation: Um in der Nachfolge von Fergusson ein Negativurteil in der Weise eines "gewollt und nicht gekonnt" zu formulieren, ist den Baumeistern von Lucknow die Absicht Anmerkungen 1 Lucknow, Hauptstadt der Provinz Oudh, liegt am Ufer des Gomti, eines Nebenflusses des Ganges (vgl. Abb.3). Die Schreibweisen für "Lucknow" und "Oudh" variieren; in der deutschsprachigen Literatur finden sich häufig auch die Schreibweisen "Lakhnau" und "Awadh". Dass hier die eingebürgerte englische Schreibweise verwendet wird, hat den pragmatischen Grund, dass der Großteil der Literatur und wichtige Archive auf Englisch erschlossen sind. Dies gilt insbesondere für die Recherche im Internet. Lucknow ist heute Hauptstadt des indischen Bundesstaates Uttar Pradesh. zu unterstellen, europäische Vorbilder genau kopieren zu wollen. Ist diese Voraussetzung aber überhaupt zutreffend? – Über die Intentionen der indischen Baumeister ist bei Tillotsen wenig zu erfahren. Quellen, die die hese einer bewussten Nachahmung europäischer Vorbilder erhärten, werden nicht vorgelegt. Die europäischen Bauten Lucknows werden weder von Fergusson noch von Tillotson im Detail analysiert, noch die vermeintlichen Vorbilder aufgewiesen. Die zentralen Fragen, was, wie und mit welcher Absicht kopiert wurde, bleiben damit unbeantwortet. Kurz: die diskriminierende Wertung berut sich letztlich allein auf ein stilkritisches Urteil, das Nutzungskontexte und Rezeptionsbedingungen der europäisierenden Architekturformen in Lucknow außer Acht lässt. 4 Die eigentlichen Gründe für den Aufstand verkennend oder verschleiernd prägten die britischen Kolonialherren den Begriff "Indian mutinity"; sie reduzierten damit eine von weiten Teilen der Bevölkerung getragene Erhebung auf die Befehlsverweigerung ihrer indischen Kolonialtruppen. Zum neueren Forschungsstand zusammenfassend Michael Mann: Geschichte Indiens. Vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Paderborn u.a. 2005. S. 100-104. 7 Archeological Survey of India: The Residency, Lucknow. Janpath, New Delhi 2003. S. 68. 8 Ebd. S. 75. 9 Nachdem im Juli 1857 300 europäische Frauen und Kinder in der Stadt Cawnpore von Aufständischen ermordet worden waren, fühlten sich die britischen Truppen nicht mehr an die Regeln zivilisierter Kriegsführung gebunden. Die Brutalität des britischen Vorgehens schildert Michael Edwardes, der moderne Her5 Mike Davis beschreibt ausgeber von Russells indischen als mittelbare Folgen dieses Reiseberichten in deutlichen Überlegenheitsgefühls die verWorten: "the English threw heerenden Hungerkatastrophen, aside the mask of civilization die – mitverursacht und verstärkt and engaged in a war of such durch die britische Kolonialpolitik ferocity that a reasonable parallel – nach dem indischen Aufstand can be seen in our time with 2 Howard William Russell: Oudh und andere weite Gebiete the Nazi Occupation of Europe Meine sieben Kriege. Die Indiens wiederholt heimsuchten. and, in the past, with the hell of ersten Reportagen von den Mike Davis: Die Geburt der Dritten the Thirty Years War." Michael Schlachtfeldern des neunzehnten Welt. Hungerkatastrophen und Edwardes: "The Mutinity and Jahrhunderts. [gekürzte Massenvernichtung im imperiaits consequences." In: Russell deutsche Übersetzung] listischen Zeitalter. Berlin 2004 1970. S. xiii-xxvii, hier S. xiv. Frankfurt a.M. 2000. S. 162. Der (1London 2001; Late Victorian Den menschenverachtenden vollständige englische Text in: Holocuausts). S. 35-68. exemplarischen Strafen der Ders.: My Indian Mutinity Diary. Briten begegnet Howard Russel Reprint ed. v. Michael Edwardes. 6 Unter diesen Zivilisten mit deutlicher Kritik: "Alle diese London 1970. S. 57-58. befand sich der Schweizer grausamen und unchristlichen Ruutz Rees, von das obige Foltermethoden in Indien 3 L.E. Ruutz Rees: Selbsterleb- Zitat stammt. In der Residenz (beispielsweise Mohamedaner tes während der Belagerung von befanden sich zudem etwa 500 in Schweinehäute einzunähen Lucknow. Leipzig 1858. S. 207. europäische Frauen und Kinder. und vor ihrer Hinrichtung mit 38 Schweinefett einzuschmieren und ihre Leichen zu verbrennen, oder Hindus zu zwingen, sich zu verunreinigen) sind äußerst schändlich und fallen letzten Endes auf uns zurück. Es sind Torturen von Geist und Seele, auf die zurückzugreifen wir kein Recht haben und die wir in Europa auch nicht zu praktizieren wagen." Russell 2000 (vgl. Anm.2). S. 183. Der englische Text Russell 1970. S. 161-162. 15 Oldenburg 1984 (vgl. Anm. 11). 31-42. 16 By a Staff Officer [Thomas Fourness Wilson]: A diary recording the daily events during the siege of the European residency, from 31st May to 25th Sept., 1857. London 1858 (Nachdruck: London 2007). Adelaide Case: Day by Day at Lucknow: A Journal of the Siege of Lucknow. London 1858 (Nachdruck: Adamant Media 2005). Martin 10 Mann 2005 (vgl. Anm. 4). Richard Gubbins: An Account of S. 102. the Mutinies in Oudh, and of the Siege of the Lucknow Residency. 11 Veena Talwar Oldenburg. London 1858. George Harris: The Making of Colonial Lucknow. A Lady's diary of the siege of 1856-1877. Princeton 1984. In: Lucknow: written for the perusal The Lucknow Omnibus. S. 36-37. of friends at home. London 1858 (Nachdruck: Aldershot 1997). 12 Karl Marx. "Der Aufstand in L. E. Ruutz Rees: A Personal Indien". New-York Daily Tribune Narrative of the Siege of Lucknow Nr. 5170, 14. November 1857. : from its commencement to In: Karl Marx/ Friedrich Engels: its relief by Sir Colin Campbell. Werke. Bd. 12. Berlin (Ost) London 1858. Julia Selina 1961. S. 308-313. Friedrich Inglis: The siege of Lucknow: Engels: "Der Aufstand in Indien". a diary. Leipzig 1892. William New-York Daily Tribune Nr. 5443, Forbes-Mitchell: Reminiscences 1. Oktober 1858. of the Great Mutiny 1857-59 In: ebd. S. 574-578. - Including the Relief, Siege, and Capture of Lucknow, and the 13 Auf die Fotokampagne Campaigns in Rohilcund and Beatos geht makaberer Weise die Oude. London, New York 1893 erste bekannte Aufnahme von (Nachdruck: Delhi 1989). Die Kriegstoten in der Geschichte der autobiographischen Berichte zu Photographie zurück (Frances den Geschehnissen in Lucknow Fralin: The Indelible Image. waren dabei nur ein Teil der litePhotographs of War. 1846 to the rarischen Produktion im Umfeld Present. New York, Washington des indischen Aufstandes. P.J.O. 1985, 34 und Abb. 7, 8). In einer Taylor (Hg.): A Companion to the Zeit, in der die Darstellung von "Indian Mutinity" of 1857. Delhi Gefallenen noch ein photogra1996 listet für das Jahr 1857 phisches Tabu war (es gibt keine fünfzehn und für das Jahr 1958 einzige Aufnahme von Toten einundfünfzig veröffentlichte des Krimkrieges), illustrieren die Memoiren auf; nach: David HarAufnahmen Beatos die Veränris: "Topography and Memory." derung moralischer Normen in Wie Anm. 14. Dort Anm. 4. einem Kolonialkrieg, in welchem die Gegner der Europäer nicht 17 Der aus den Ereignissen von mehr als gleichwertig betrachtet 1857/58 abgeleitete Herrwurden. schaftsanspruch manifestierte sich bis zur Unabhängigkeit 14 David Harris: "Topography Indiens im Jahr 1947 in einem and Memory: Felice Beato's Pho- symbolischen Detail: während tographs of India, 1858-1859.". überall im Empire der Union Jack In: Vidya Pahejia (Hg.): India bei Sonnenuntergang eingeholt through the Lens. Photography wurde, blieb in Erinnerung an 1840-1911. München, New York die heroische Verteidigung der 2006. S.119. Residenz die Fahne über Lucknow 39 auch nachts aufgezogen, um zu illustrieren, dass nichts die britische Präsenz von diesem Ort vertreiben könne. Rosie Llewellyn-Jones: Engaging Scoundrels. True Tales of Old Lucknow. Oxford 2000. S. 152. 18 Inglis: The siege of Lucknow (vgl. Anm. 16). S. 53. 19 Gubbins: An Account of the Mutinies in Oudh (vgl. Anm. 16). S. 392. 20 Edward H. Hilton: The Tourists' Guide to Lucknow. Lucknow 61907. S. 108-109. 21 William Forbes-Mitchell: The Relief of Lucknow. Reprint: London 1962. S. 132-141. 22 Russell 2000 (vgl. Anm.2). S. 172-173. Der englische Text Russell 1970. S. 100-101. 23 Gemeint ist wahrscheinlich der Genremaler John Frederick Lewis (1805-1876). Lewis war bekannt für seine orientalischen Bildthemen. 24 David Roberts (1796-1864). Roberts malte orientalische, antike und zeitgenössische Stadtansichten im romantischen Stil. 25 Altertümliche Bezeichnung für den asiatischen Teil von Istanbul. 26 Wörtlich: "hovels worthy of Gallipoli". 27 Meine Übersetzung. Der englische Text in: Russell 1970 (vgl. Anm.2) S. 104. 28 Hierzu die hervorragende Darstellung von Richard B. Barnett: North India Between Empires. Awadh, the Mughals and the British 1720-1801. Berkeley u.a. 1980. S. 23-41. 29 Ebd. S. 96-163. 30 Ebd. S. 233-236. Saadat Ali Khan war der Bruder Asaf ud Daulas. 31 Die Abtretung des Territoriums (jener Gebiete, die Shuja ud Daula für Oudh gewonnen hatte); erfolgte im Jahr 1801 als Kompensation für Truppen der EIC, die Oudh aus Steuermitteln zu unterhalten hatte. die alleinige weltliche Führung der islamischen Gemeinde zu. Hussein wird jedoch im Jahr 680 in der Schlacht von Kerbala besiegt und getötet, womit die Kontinuität der weltlichen Herrscher unterbrochen wurde. Wörtlich bedeutet Imambara "Haus des Imam". europäischen Architekturformen Oudhs. Ebd. S. 604-605. 49 Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. München 2004 (11985). S. 383-385. 50 Jan Pieper: Die angloindische Station oder die 40 Vgl. Hermann Goetz: "The Ge- Kolonisierung des Götterberges. nesis of Indo-Muslim Civilization Hindustadtkultur und Kolonial32 Mann 2005 (vgl. Anm. 4). S. – Some Archeological Notes." In: stadtwesen im 19. Jahrhundert 76. Ars Islamica 1 (1934). S. 46-50. als Konfrontation östlicher und Goetz fasst diese Entwicklung westlicher Geisteswelten. Bonn 33 Der Statthalter ("resident") im späten 18. und frühen 19. 1977. der EIC in Lucknow agierte in Jahrhundert, die er als "real einer Rolle zwischen Botschafter Indian" kennzeichnet, in der 51 A.[lois Anton] Führer: The und Gouverneur. Als zweite Monumental Antiquities and Infolgenden Weise zusammen Gewalt neben dem König und (S. 50): […] cupolas become scriptions, in the North-Western als Befehlshaber der britischen gigantic lotus buds, capitals and Provinces and Oudh. Described Truppen hatte er in etwa die consoles are turned into flowers, and Arranged. Allahabad 1891. Rolle, die Pontius Pilatus in Rom lintels into friezes adorned with Nachdruck: Delhi 1970. S. 265 f. neben König Herodes ausfüllte. leaves, the forms of furniture and other objects are broken up 52 Ebd. S. 266. 34 Polier war zuvor als into shapeless masses of floral Festungsbaumeister in der EIC ornament, even men themselves 53 masjid = Moschee. tätig. Rosie Llewellyn-Jones: become unrecognizable through A Fatal Friendship. The Nawabs, excess of finery, jewels and make 54 Führer 1891 (vgl. Anm. 51). the British and the City of up." S. 266. Lucknow. Oxford 1985. S. 160161. In: The Lucknow Omnibus. 41 Banmali Tandam: The 55 Ebd. S. 267 Oxford 2001. Architecture of Lucknow and its Dependencies 1722-1856. 56 Ebd. S. I. 35 Zu Martin: Rosie Llewellyn- A Descriptive inventory and an Jones: A Very Ingenious Man: Analysis of Nawabi Types. Delhi 57 Ebd. Claude Martin in Early Colonial 2001. S. 187-192. India. New Delhi 1992. 58 Llewellyn-Jones 1985 (vgl. Anm. 37). S. 114. Zu den von 42 Llewellyn-Jones 1985 (vgl. 36 Vgl. die Photographie dieser Anm.37.) Insbes. S. 226-242. Europäern genutzten Bauten in Anlage von Felice Beato: http:// Lucknow cf. auch: Sten Nilsson: www.flickr.com/photo_zoom. European Architecture in India 43 Ebd. S. 227. gne?id=660736&context=set1750-1850. London 1968. S. 16897&size=l 111-115 (Residency), 130-132 44 Ebd. S. 185. (La Martinère). 59 Führer 1891 37 Llewellyn-Jones 1985 (vgl. 45 Die Zeitschrift stellt ein (vgl. Anm. 51) S. 267. Anm. 34). S. 182. amerikanisches Pendent zur 60 La Grande Encyclopédie. Illustrated London News dar. 38 Der Name geht auf den Inventaire raisonné des sciences, Erbauer Roshan ud Daula 46 James Fergusson: History of des lettres et des arts. Bd. 22. zurück, der das Gebäude als the Modern Styles of Architecture. Paris 1886. S. 739. Wesir des Nawab errichtete. London 1862. Hier zitiert nach 61 Meyers Konversationsder zweiten Auflage London 39 Imambaras sind Hallen, Lexikon. Eine Enzyklopädie des 1873. S. 479. die dem Andenken des Imam allgemeinen Wissens. Vierte Hussein gewidmet sind. 47 Ebd. S. 481f. Auflage. Bd. 10. Berlin, Leipzig Hussein, der dritte Imam, ist 1890. nach schiitischer Vorstellung 48 James Fergusson: History of der einzig legitime Nachfolger Indian and Eastern Architecture. 62 Chambers's Encyclopaedia. aus der Familie des Propheten London 1876. Auch dort äußert New Edition. Vol. VIII. London Muhammad. Damit stand ihm sich Fergusson negativ zu den 1959. S. 716. 40 63 M.[irza] A.[mir] Beg: The Guide to Lucknow, Containing Popular Places and Buildings Worthy of a Visit. Lucknow 6 1911 (11891). Nachdruck: New Delhi, Madras 2000. S. 6-7. Beg schreibt die zitierte Darstellung von Lucknow einem "intelligent American writer, who visited it in 1856" zu (ebd.), diese Quelle ist nicht identifiziert. Abbildungsnachweis: Abb. 1-7, 10, 11b: Sammlung des Autors. Abb. 9: British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. http://www.collectbritain. 64 Henry George Keene: Keene's handbook for visitors: Allhabad, Cawnpore and Lucknow ; to which is added a chapter on Benares. Calcutta ²1896. S. 59. 65 Julia A. Stone: Illustrated India Its Princes and People. Upper Central and Farther India, Up the Ganges and Down the Indus. Hartford 1877. Nachdruck: New Delhi, Madras 2003. S. 293. co.uk/collections/svadesh/textintro.cfm Abb. 11a: Fotoalbum Dr. T. Goldie-Scot of Craigmuie, Moniave, Surgeon 79th Cameron Highlanders (Fotoalbum mit Aufnahmen von Felice Beato 41 66 G.[iles]H.[enry] R.[upert] Tillotson: The Tradition of Indian Architecture. Continuity, Controversy and Change since 1850. New Haven, London 1989. S. 12. 67 Tandam 2001 (vgl. Anm. 41). S. 211. 68 Tillotson 1989 (vgl. Anm. 66). S. 17. 1858). http://www.flickr.com/photos/ djgold/sets/16897/ 42 Fedor Roth (Aachen) Zeichnungen hinduistischer Baukunst in Indien Fedor Roth stellt einen Ausschnitt aus seinen Architekturzeichnungen hinduistischer Baukunst vor. Das Medium der Zeichnung dient ihm in der impressionistischen Freude an Strukturen, Licht und Schatten als autonome Annäherung an das Schöne in der Architektur jenseits einer rationalen Durchdringung und Einordnung der gezeichneten Objekte. http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-11974 Januar 2008 #1 "FremdSehen" S. 43-50 Anmerkungen zu meinen Zeichnungen hinduistischer Baukunst in Indien Die abgebildeten Skizzen sind meinen Reiseskizzenbüchern entnommen und zeigen einige der berühmtesten hinduistischen Baudenkmäler. Die hinduistische Baukunst und ihr zeichnerisches Studium waren Anlass zu insgesamt sieben Indienreisen, die ich in den vergangenen Jahren unternommen habe. Mein Interesse an dieser Architektur richtet sich auf das visuelle Erlebnis von Komplexität und Monumentalität und begleitet eine parallel zu meinen Reisen betriebene umfängliche Arbeit an einem Zyklus von Architekturfantasien, der sich die Erschaffung einer neuen und persönlichen Formenwelt zum Ziel gesetzt hat. Die indische Baukunst ist für mich so etwas wie ein kongeniales Studienobjekt, in dem ich die unmittelbare und nichtkognitive Erfahrung dessen suche, was ich als das Seherlebnis architektonischer Schönheit allgemeingültig zu begreifen versuche und zugleich bewundere: Eine höchst komplexe und zugleich harmonisch geordnete Formwelt im Spiel des Lichtes. Dabei richtet sich mein Blick nicht auf die sogenannten architektonischen Eigenschaften oder Merkmale dieser Bauwerke, also weder auf Funktion und Konstruktion noch die spezifische Symbolik der indischen Götterwelt, sondern auf eine Struktur im Sinne des schönen "visuellen Gesamtklangs“ der Formen. Ich bin fasziniert von dem harmonischen Gesamtbild dieser in sich höchst vielfältigen Formenwelt. Kunsthistoriker der Vergangenheit, insbesondere Wölflin, haben dieses Phänomen als Stil zu definieren versucht. fizierender Blick, versucht jene visuellen Bedingungen zu erkunden, die in uns beim Anblick eines Haufen von Steinen plötzlich das Gefühl des Architekturschönen erwecken. Fernab von ideologieträchtigen kunst- und kulturhistorischen Be-trachtungsweisen suche ich mit der Zeichnung eine Art Extrakt dieses Schönheitserlebnisses zu gewinnen, um die darin gewonne Erkenntnis schließlich in meinen eigenen Erfindungen zur schöpferischen Anwendung bringen zu können. Darin unterstützt mich der "weiche“ und reduktive Blick meiner impressionistisch-fleckenhaten Darstellung, die über eine gewisse Verflüssigung und Verallge-meinerung des Gesehenen durch Abstraktion von der allzu konkreten Symbolik zu einer Wahrnehmung im Sinne eines 'interesselosen Wohlgefallens’ an der 'reinen’ Formenvielfalt gelangen möchte. Zugleich verschat mir die malerische Sehweise bei der Betrachtung meiner Skizzen ein Feld gedanklicher Möglichkeiten, eine Verbindung aus Realem und Vorstellbarem, das mir als Projektionsfläche der Assoziation eigener Formgedanken dienen kann, mitunter sogar zur Vorstufe eigener Formerfindung wird. Der konträren Position dieser Art von Architekturbetrachtung zu den gegenwärtig vorherrschenden akademischen Bedeutungskategorien und der durch sie konditionierten Wahrnehmungsweise bin ich mir bewusst. Das zeichnerische Studium der hinduistischen Baukunst dient der Erforschung meiner puren "Augenlust“ in der ideologie- und symbolfreien Betrachtung des Architekturschönen. Zugleich suche ich darin die Befreiung von den zunehmend als Ballast Das Zeichnen, insbesondere mein als empfundenen Traditionen der archimalerisch-impressionistisch zu klassi- tektonischen Moderne. 44 Palitana: Tempelkomplex (Shatrunjaya). Bleistift auf Papier, ca. 18 x 24 cm, 2004. 45 Khajuraho: Devi Jagadambi-Tempel. Bleistift auf Papier, ca. 31 x 25 cm, 2003. 46 Jaisalmer: Chhatris Bada Bagh. Bleistift auf Papier, ca. 24 x 14 cm, 2001. 47 Madurai: Tortürme des Minakshi-Sundareshvara-Tempels. Bleistift auf Papier, ca. 33 x 26 cm, 2005. 48 Chidambaram: Nataraja-Tempel. Bleistift auf Papier, ca. 30 x 21 cm, 2006. 49 Osiyan: Mahavira-Tempel. Bleistift auf Papier, ca. 36 x 32 cm, 2001. 50 Karl R. Kegler (Aachen/Köln) Teil 2: Kopie und Synthese Zerbrochene Spiegel Das "exotische Europa" und die Bauten der Nawabs von Oudh http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-12080 Januar 2008 #1 "FremdSehen" S. 51-77 europäisch beeinflussten Architektur Lucknows lassen sich nur noch aus Will man der Übernahme europäischer den Kontexten ihrer Bauten erschlieFormen in der Architektur der Nawabs ßen. von Oudh gerecht werden, ist es notwendig, das bei ihrer Entstehung wirk- Der Blick auf die Übernahme europäsam werdende Verständnis von Kopie ischer Architekturformen in Lucknow und Nachahmung aus der Perspek- darf zudem nicht ausblenden, dass im tive der indischen Erbauer, nicht aber Bauprogramm der Nawabs wiederholt aus jener der europäischen Betrachter auch Kopien islamischer Vorbilder und Kritiker abzuleiten. Um den kri- zu finden sind. Die aus Persien stamtisierten Bauten von Lucknow gerecht mende Herrscherfamilie von Oudh zu werden, sind sie zunächst aus ihren gehörte der schiitischen Richtung des eigenen Entstehungsbedingungen Islam an und kultivierte entsprechend und Intentionen heraus zu begreifen. eine besondere Verbindung zum irakiMit Tillotson (der sich selbst nicht an schen Kerbala, das in der Grabmoschee diesen Grundsatz hält) ist zu konsta- des als Märtyrer verehrten Imam Hustieren: "Considered as dogs, most cats sein die wichtigste Gedenkstätte der are regrettable deficient; but rational Schiiten besitzt. Mehrfach finden sich people, when considering cats, invoke in Lucknow architektonische Kopien, feline not canine criteria, however much bzw. Abbreviaturen dieses Baus, die they love dogs."1 Da sich architektoni- durch ihre signifikanten, dem Original sche Äußerungen als kulturelle Schöp- entlehnten Doppelkuppeln erkennbar fungen im Gegensatz zu Gattungen sind.3 Auch der in Lucknow häufig des Tierreiches aber nicht an erblich anzutreffende Bautyp der Imambara bestimmte Eigenschaten halten müs- dient den schiitischen Passionsrituasen, stehen auch weitere Interpreta- len in Andenken an Imam Hussein. In tionsspielräume offen als jene einer gleicher Weise lassen sich Bauten nen"artreinen" oder "arteigenen" Betrach- nen, die auf andere Stätten der islatungsweise, die Tillotson mit seinem mischen Welt verweisen. So soll der biologischen Vergleich nahelegt. "It is gewaltige Torbau des Rumi Darwaza very unfair to judge of a foreign country nahe der monumentalen Moschee und by the standard of one's own", schrieb der Bara Imambara, die Asaf ud Daula der indische Historiker Poorno Chun- ab 1784 errichten ließ, die Kopie eines der Mookherji schon im Jahr 1883, Stadttores von Konstantinopel vorstel"and to criticise Lucknow architecture len.4 Auch in der Bara Imambara finby the rules of Palladian Art, shows the den sich Anspielungen, die über Luckpartial and defective knowledge of the now hinaus weisen. Die große freitracritic. It betrays narrow-mindedness, gende Halle der Bara Imambara wird nothing else."2 "persische Halle" genannt. Im Westen und im Osten schließt an die langEine Interpretation der Bauten Luck- gestreckte Haupthalle je ein Zentralnows muss sich also zunächst an den raum an. Aufgrund der DeckendeIntentionen ihrer Schöpfer orientie- koration wird der westliche als "indiren. Aussagen der Erbauer der euro- sche", der östliche als "chinesische" päischen Architekturen Lucknows (!) Halle bezeichnet.5 Auch wenn es wird man in der Literatur allerdings sich bei diesen Bezügen um spätere vergebens suchen; sie wurden von Zuschreibungen handeln kann, wird einer Architekturgeschichte, die im in ihnen das Bestreben deutlich, die 19. Jahrhundert nach europäischen Gesamtheit der (muslimischen) Welt, Maßstäben geschrieben wurde, nicht im Komplex der großen Moschee Asaf berücksichtigt. Der modernen Bau- ud Daulas und seiner Bara Imamgeschichte, deren Paradigmen sich bara zu repräsentieren. Ebenso sind in gegenüber dem Kolonialzeitalter späteren islamischen Baukomplexen grundlegend gewandelt haben, fehlen Architekturzitate anzutreffen. In der für die Aufarbeitung dieser Zusam- Husseinabad Imambara, die Nawab menhänge heute dagegen wichtige Muhammad Ali Shah während seiner Quellen, da die Archive der Könige kurzen Regierungszeit (1837-1842) von Oudh bei der Plünderung ihrer errichten ließ, findet sich als Grabbau Residenzen verloren gegangen sind. für seine Tochter etwa eine verkleiDie Intentionen der Baumeister der nerte Kopie des Taj Mahal.6 Teil 2: Kopie und Synthese 52 Diese Praxis von Architekturkopie ist bei der Betrachtung der europäisch beeinflussten Bauten Lucknows im Hinterkopf zu behalten. Vor und während der Übernahme europäischer Formen wurden für die Bauten der Stadt in gleicher Weise islamische oder indo-islamische Vorbilder kopiert bzw. adaptiert. Die Kultur des Zitierens und Adaptierens architektonischer Vorbildern gab den Königen von Oudh und ihren Beratern die Möglichkeit, je nach Zweck der geplanten Bauten ein geeignetes Modell entweder aus der europäischen oder der islamischen Tradition auszuwählen – ein Phänomen, das sich mit dem zeitgleichen Aukommen der Neostile in Europa vergleichen lässt. Islamische Sakralbauten werden in Lucknow durchgehend in indisch-islamischen Stilformen errichtet, die Residenzen der Königsfamilie und Funktionsbauten in einem klassizistisch-europäischen Stil. Auch dieses Phänomen lässt sich mit den Stilentscheidungen für sakrale oder profane Bauaufgaben im Europa des 19. Jahrhunderts vergleichen. Dass der damit zu konstatierende, bewusste Umgang mit Architekturvorbildern und –kopien ein besseres Verständnis der europäischen Bauten Lucknows eröffnet, verdeutlicht eine Analyse ausgewählter Bauten. Dilkusha Ein exemplarisches und vergleichsweise frühes Beispiel für die Übernahme europäischer Formen stellt der Landsitz Dilkusha im Südosten Lucknows dar (Abb. 13, 14). Er gehört zudem zu den wenigen Bauten der Nawabs, der durch eine moderne Studie ausführlicher bearbeitet ist.7 Dilkusha wird für Nawab Saadat Ali Khan um 1800 nach dem Vorbild eines englischen Herrensitzes errichtet. Die Herrschat Saadat Ali Khans zeichnet sich durch ein besonderes Interesse an Kultur und Lebensstil Europas aus.8 Das große Interesse des neuen Herrschers an europäischer Kultur hat viel mit seiner Biographie zu tun. Vor seiner (auf britische Intervention erfolgten) hronfolge hatte Saadat Ali Khan in Benares eine europäische Erziehung erhalten und kannte aus eigener Anschauung die breiten europäischen Straßenzüge und Architekturen im zeitgenössischen Kalkutta.9 Diese 53 Erfahrungen werden zum Vorbild für die eigenen Bauprojekte. Saadat Ali Khan lässt vom neuen Stadtpalast Chattar Manzil eine breite Straße zu seinem Landhaus Dilkusha anlegen, die das städtebauliche Rückgrat für die Entwicklung einer ganzen Abfolge von Residenzen in diesem Bereich darstellt. Als Architekt für den Entwurf Dilkushas agiert ein Europäer: Major Gore Ouseley, Offizier und Beamter im Dienst der EIC. Ouseley ist nicht allein ein 'Gentleman', der sich wie andere zu seiner Zeit der Architektur als Amateur widmet, er ist zudem Orientalist mit hervorragenden Kenntnissen der persischen und indischen Kultur.10 Dem regierenden Nawab Saadat Ali Khan ist Ouseley, der bis 1802 auch als Statthalter der EIC in Lucknow fungiert, als dessen Adjutant und durch eine persönliche Freundschat11 verbunden. Dilkusha wird so im Zusammenkommen von Bauherr wie Architekt zu einem Projekt zweier interkulturell gebildeter Persönlichkeiten. Das Ergebnis dieser Konstellation ist nach außen hin keine originäre architektonische Schöpfung. Ouseley wählte für seinen Autraggeber einen bereits existierenden Entwurf, der für Dilkusha kopiert und angepasst wurde. Vorlage des ausgeführten Baus ist der Landsitz Seaton Delaval in Northumberland, den der Architekt John Vanbrugh 1717-1729 errichtet hatte (Abb. 12).12 Ouseley kannte diesen Entwurf über Colin Cambells 1725 erschienenes Werk Vitrivius Britannicus, einer Zusammenstellung von britischen Architekturprojekten der neopalladianischen Tradition. Die Wahl ausgerechnet dieses, um 1800 bereits drei Generationen zurückliegenden Vorbildes, das nicht mehr der jüngsten Architekturmode in Europa entsprach, ist bemerkenswert. Für den anglophilen Nawab und den in orientalischer Kultur gebildeten Amateurarchitekten dürte die Attraktivität des Vorbildes darin bestanden haben, dass Seaton Delaval in europäischem Gewand Elemente aufwies, die ihnen auch aus der islamisch-indischen Architektur bekannt waren: zentral orientierter Grundriss, überhöhte Mitte, axiale Wegeführung, polygonale Ecktürme – Elemente also, die entfernt an die Mau- Abb. 12. Südfassade des Landsitzes Seaton Delaval in Northumberland. Das Original nach dem Entwurf von Sir John Vanbrugh wurde zwischen 1722 und 1724 errichtet. Abbildung aus Colen Campbells Vitruvius Britannicus Bd. 3. London 1725. Tafel 21. Campbells weitverbreitetes Musterbuch dürfte auch Gore Ouseley, dem Architekt der Dilkusha, bekannt gewesen sein. soleen der Moguln erinnern und auch in Lucknow in verschiedenen Spielarten verwandt wurden. Ouseley veränderte seinen Entwurf gegenüber dem Vorbild allerdings, indem er aus dem Gebäude, das in Vanbrughs Entwurf in der Achse einer Dreiflügelanlage stand, ein von allen vier Seiten zugängliches freistehendes Gebäude gestaltete und zwei freistehende Bauten hinzufügte, die als Stallungen dienten. Die dem Hof abgewandte Gartenfassade von Seaton Delaval mit einer von vier Säulen gebildeten Portikus wurde in Dilkusha zum Haupteingang.13 Eine Darstellung (Abb. 13), die um 1815 angefertigt wurde, zeigt "he Nawab Vizier's country retreat at Dilkusha within a deer park" als Bau, der sehr nah an das englische Vorbild angelehnt ist. Abb. 13. Landhaus und Wildpark Dilkusha. Wasserfarbenbild von Seeta Ram 1814/15. Aus: Views by Seeta Ram from Cawnpore to Mohumdy Vol. IV. British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. Es ist nicht ganz eindeutig, ob der Künstler eine Idealansicht dargestellt hat. Die Nebengebäude (um 90° gedreht) sind auf jeden Fall idealisiert. © British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. 54 Die innere Organisation des europäischen Vorbildes konnte hingegen nicht in gleicher Weise übernommen werden. In der Haus- und Palastarchitektur des islamischen Indien sind die Gemächer der Frauen, die "Zenana", Räume, die von keinem Fremden eingesehen oder betreten werden dürfen. Sie sind in der traditionellen Baukunst um einen abgeschlossenen Hof organisiert, eine Bauform, die im Modell des freistehenden Landhauses nicht integriert werden konnte. Die Frauengemächer wurden in Dilkusha daher in den ersten Stock verlegt. Als Ersatz für den fehlenden Innenhof diente wahrscheinlich die Dachterrasse. Das Erdgeschoss war einer Audienzhalle, einem Festsaal, der Unterbringung von Gästen und dem Nawab vorbehalten, es stellt den öffent- Abb. 14. Felice Beato, "Dilkusha Kothi". 1858. Abzug aus dem Fotoalbum von Dr. Goldie-Scot of Craigmuie, 79th Cameron Highlanders. lichen Teil des Hauses dar. Der Nawab, seine Frauen, Gäste und Dienerschat betraten den Bau jeweils durch einen anderen der vier Eingänge.14 Damit erhielt Dilkusha trotz der Übernahme des englisch-barocken Vorbilds eine deutlich andere Nutzungsstruktur, die auf die Bedürfnisse eines orientalischen Hofes angepasst wurde. Zudem stellt Dilkusha die Kopie des europäischen Vorbildes in indischer Bautechnik dar. Als Gentleman-Architekt war Ouseley zwar mit der Kenntnis europäischer Vorbilder ausgezeichnet, den Bau errichteten aber indische Handwerker nach seinen Angaben in der traditionellen Bauweise der Region als Mauerwerksbau, der mit Stuck und Keramikelementen entsprechend der Vorlage verziert wurde. Schließlich unterlief auch das Konzept des "Landhauses" eine Umdeutung. Im England des 18. Jahrhunderts dienten Landhäuser der gentry als Residenz auf ihren Gütern fern von London. Dilkusha war dagegen als Landsitz der Nawabs nur zwei Meilen vom Stadtpalast entfernt. Es diente als Garten- und Jagdhaus, zum Empfang von Gästen oder für gelegentliche Ausflüge – als Ergänzung und Bereicherung eines abwechslungsreichen Hoflebens, nicht zum Leben auf einem Landgut fern der Stadt. Photographien, die unmittelbar nach den Ereignissen von 1858 aufgenom55 men wurden,15 dokumentieren, dass in Dilkusha das über die Stiche des Vitrivius Britannicus bekannte Vorbild mit großer Genauigkeit übernommen wurde (Abb. 14). Davon, dass Proportionen von Bauteilen oder Säulen durch die verwandte Technik des stuckierten Mauerwerksbaus verändert wurden, wie Fergusson behauptet, kann in diesem Beispiel keineswegs die Rede sein. Gegenüber der genannten Illustration von 1815 sind auf den Photographien von 1858 allerdings einige signifikante Unterschiede festzustellen: der überhöhte zentrale Bauteil wird nun mit einer flachen Terrasse, nicht durch einen dreieckigen Giebel mit Satteldach abgeschlossen; die achteckigen Ecktürme sind um ein Geschoss erhöht und mit Zeltdächern bekrönt, welche als stilisierte Blätterhaube ausgebildet sind; die Öffnungen im zweiten Stockwerk, die teils den Austritt auf die Terrassen ermöglichen, sind nicht durch Rundbögen, sondern durch Fächerbögen gefasst. Diese Elemente lassen sich als "Indisierung" des Gebäudes deuten.16 Ihre Datierung hängt letztlich aber davon ab, ob es sich bei der genannten Illustration von 1815 um eine Idealansicht oder um eine Darstellung handelt, die einen realen Zustand wiedergibt. Handelt es sich um eine Idealansicht, könnten die indisierenden Elemente bereits beim Bau des Landhauses von Gore Ouseley hinzugefügt worden sein. Ist dies nicht der Fall, muss es sich um nachträgliche Änderungen handeln. Unabhän- Abb. 15. Die Fassaden der Chaurukhi Kothi (Darshan Bilas) zitieren die Schauseiten von drei prominenten Bauten in Lucknow. Großes Foto: Chaurukhi Kothi. Photopostkarte nach einer Aufnahme von Samuel Bourne um 1865. Rechts oben: Felice Beato, "Dilkusha Kothi". 1858 (wie Abb. 14). Rechts unten: Felice Beato, "Landseitige Fassade des Musa Bagh". 1858 (Abbildung gespiegelt, um besseren Vergleich zu ermöglichen). Abzug aus dem Fotoalbum von Dr. Goldie-Scot of Craigmuie, 79th Cameron Highlanders. gig davon aber, welche dieser Alternativen zutrit, stellt die Ergänzung der beschriebenen Elemente eine bewusste Entscheidung dar, die entweder von Ouseley und seinem Bauherrn oder von späteren Nutzern getroffen wurde. Da die Kopie des Vorbildes sonst exakt erfolgte, resultieren die genannten indisierenden Elemente gewiss nicht aus Unvermögen bei der Nachahmung der Vorlage, wie Fergusson behauptet. Hybride Fassaden Handelt es sich bei den Elementen, die bei Dikusha im Vergleich zu Seaton Delaval hinzugefügt wurden, um spätere Änderungen, müssen diese bis Mitte der 1830er Jahre erfolgt sein. Interessanter Weise findet sich die Hauptfassade der Dilkusha mit den erwähnten Zusätzen nämlich als Kopie an einem zweiten Gebäude in Lucknow, das als Bestandteil des Chattar Manzil Komplexes bis 1837 entstanden ist. Dieses Gebäude, die sogenannte Chaurukhi Kothi (auch: Darshan Bilas), wurde während der Regierungszeit Nasir ud Din Haidars (reg. 1827-1837) erbaut. Die Gestaltung der Chaurukhi Kothi (wörtlich: Haus der vier Gesichter) gehört zu den eigentümlichsten Architekturbeispielen in Lucknow und gibt einen wichtigen Einblick in das Verständnis, mit dem die Nawabs und ihre Baumeister architektonische Vorbilder verarbeiteten. In den Fassaden der Chaurukhi Kothi sind die Schauseiten dreier europäischer Häu56 ser in Lucknow zitiert. Die Fassadenkopien sind zwar nicht exakt, aber als solche deutlich erkennbar (Abb.15). Die Westfront der Chaurukhi Kothi ist eine Kopie der Hauptfassade der Dilkusha, die Ostseite kopiert die dem Fluss zugewandte Fassade von Claude Martins Stadthaus Farhad Baksh, die beiden Längsseiten sind Kopien eines weiteren Gebäudes aus der Zeit Saadat Ali Khans, des sogenannten Musa Bagh im Westen der Stadt.17 In der additiven Verwendung dieser Architekturzitate offenbart sich ein sehr spezifischer Umgang mit Architekturkopien. Das Erbe lokaler, europäisch inspirierter Bauten wird als Material für eine freie, aber absichtsvolle Neukombinationen genutzt. Und die Bezüge greifen noch weiter: am Ausgangs- wie am Endpunkt der Straße, die für die zeremoniellen Staatsprozessionen der Nawabs genutzt wurde, begegnet dem Betrachter dieselbe Fassade; am Endpunkt die Hauptfassade der Dilkusha, am Ausgangspunkt ihre Kopie. Die Inszenierung von Original und Kopie erzeugt eine städtebauliche Korrespondenz. Derartige spiegelbildliche Architekturen (sogenannte "jawab" – wörtl. "Antwort") sind ein Grundthema der islamischen Baukunst Indiens. Allerdings ist in diesem Beispiel die räumliche Distanz zwischen dem Original und der "antwortenden" Fassadenkopie so groß, dass ihre Korrespondenz nicht in einer direkten Blickbeziehung erkannt werden kann, sondern erst beim Durchwandern der Hauptstraße Haz- Abb. 16. Städtebauliche Bezüge der Fassadenkopien der Chaurukhi Kothi im Chattar Manzil Palast. Kartengrundlage entnommen aus: Frederick Sleigh Roberts: Forty-one Years in India. From Subaltern To Commander-InChief. London 1914. S. 198. ratganj offenbar wird – es handelt sich um einen abgewandelten Gebrauch des Grundprinzips in einem städtebaulichen Maßstab. In der Chaurukhi Kothi findet sich ebenso die Fassadenkopie des Landhauses Musa Bagh auf der Dikusha entgegengesetzten westlichen Seite der Stadt. Das dritte Fassadenmotiv, das in der Chaurukhi Kothi zitiert wird, greit mit der Fassade des Farhad Baksh schließlich ein Gebäude auf, das im Zentrum der Stadt liegt: Zentrum (Farhad Baksh), östlicher (Dilkusha) und westlicher Endpunkt (Musa Bagh) der "Palastgeographie" Lucknows finden sich in einem Gebäude vereint (Abb. 16). Das Spiel mit Fassaden und mit der Kombination von Architekturelementen bedient sich allerdings nicht allein aus dem Baukasten europäischer Vorbilder, es bezieht auch Elemente der indischen Tradition mit ein. Ein britischer Reisender, der 1828 das neue im Süden angelegte Stadtviertel beschreibt, erwähnt einen dort angelegten Bazar "with a loty gateway at each extremity, which presents a Grecian front on one side and a Moorish 57 one on the other."18 Diese bisher nicht identifizierten Torbauten inszenierten bewusst die doppelte Architekturtradition der Stadt durch eine europäisch-klassizistische und eine "indische" Fassade. Ein ähnlich bewusster Einsatz der beiden Architekturtraditionen findet sich noch an einem weiteren, weitaus bedeutenderen Gebäude: dem größeren Chattar Manzil Palast (Bara Chattar Manzil). Die dem Fluss zugewandte Schauseite folgt in Fensterformen, stuckierten Blattgirlanden, Ziergiebeln, Halbsäulen und Pilastern einem Klassizismus, wie er in Europa in der zweiten Hälte des 18. Jahrhunderts Mode wurde (Abb. 17).19 Dagegen ist die dem Innenhof zugewandte Seite in indisch-islamischen Formen gestaltet. Die bodentiefen Fenster werden von Fächerbögen gefasst, wie sie typisch für die späte Mogularchitektur sind. Europäische Formen erscheinen wiederum in den klassizistischen Pavillons, die als Dachaubauten zusammen mit Chatris20 der indischen Tradition das Gebäude bekrönen (Abb. 18). Aus der Kuppel des höchsten und zentralen Chatri wuchs eine stilisierte Krone, über der ein sonnenbekrönter Schirm Abb. 17 & 18. Der Chattar Manzil- Palast nach den britischen Abbrucharbeiten, die das gesamte Umfeld einebneten. Die Schauseite zum Gomti ist in klassizistisch-europäischen Formen gestaltet. Die (ehemalige) Hofseite – schwerer zu erkennen da teils durch das klassizistische Gebäude Farhad Baksh im Vordergrund verdeckt– ist mit Fächerbögen indisch-islamischer Tradition gestaltet. Oben: Foto v. John Burke 1860er Jahre, unten: Aufnahme von Samuel Bourne 1864. © British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. angebracht war. Dieses symbolische Zeichen wurde namensgebend: Chattar Manzil bedeutet "Schirm-Palast".21 Der Schirm ist ein Königszeichen, das symbolisch auch über dem hron des Nawab angebracht war.22 Auch hier ist es schwer vorstellbar, dass das "Unvermögen" der Architekten oder ein missverstehendes Kopieren zu der völlig ungleichen Behandlung der Fassaden geführt haben sollte. Im Gegenteil, sie ergänzen sich zu einer zeichenhaten politischen Aussage: Unter dem Herrschatszeichen des Nawab vereinen sich eine indische und eine europäische Fassade zum beeindruckenden Staatsgebäude.23 Der Palast Saadat Ali Khans ist das gebaute Manifest eines anglophilen indischen Herrschers, der in der europäischen wie in der indischen Tradition zuhause war und seine neue Resi- 58 denz mit Formen aus beiden Überlieferungen gestaltete.24 Indische und europäische Dekorationssysteme sind im Chattar Manzil Palast schließlich auf einen Bau appliziert der in seiner Typologie und Kubatur deutlich keiner europäischen Vorlage folgt (Abb.19). Die gestaffelte Kubatur des "scheibenartigen" Gebäudes erinnert eher an Bauten wie den "Palast der Winde" in Jaipur.25 Auffällig ist weiter, dass die indisch-islamischen Formen an der privaten Hofseite des Gebäudes ihren Platz finden, die klassizistischen Architekturformen hingegen auf der Schauseite, die über den Fluss Gomti hinweg auf Fernwirkung angelegt war. Die klassizistischen Stilelemente wirken wie ein repräsentatives Gewand, während sich das "private" Hofleben des Nawab inmitten von Hobeamten, Dichtern und einem umfangreichen Harem nach traditionellen Mus- Abb. 19. "Chattur Manzil, Lucknow, on the Gomtee. (from a Photograph)" – Kupferstich aus der Illustrated Times, 17. April 1858. Das Bild zeigt die schmale abgestaffelte Kubatur des Palastes. tern abspielte. Dieses hema setzte sich auch im ehemals gegenüberliegenden kleineren Chattar Manzil Palast (Chota Chattar Manzil) fort, der nach Süden eine klassizistische Schaufassade bot, zur Hofseite nach Norden aber in traditionellen indisch-islamischen Architekturmotiven gestaltet war.26 Die unterschiedliche Behandlung von Fassaden desselben Gebäudes ist ein Grundmotiv, das in den Architekturen von Lucknow auch in weiteren Spielarten Anwendung gefunden hat. Ein Beispiel, das ungleiche Schauseiten nicht durch die Gegenüberstellung von europäischen und indischen Stilformen, sondern über einen formalen Gegensatz entwickelt, stellt die Roshan-udDaula-Kothi dar, die als Haus des Premierministers von Nawab Nasir ud Din Haidar (reg. 1827-1837) entstand und später in den Kaisarbagh Komplex integriert wurde (Abb. 20, 21). Der Baugedanke dieses Hauses, das im Kern noch besteht, aber stark verändert wurde, ist heute nur noch anhand historischer Photographien zu rekonstruieren. Die Nordfassade des palastartigen Hauses war konsequent in einer abgestaffelten rechtwinkligen Kubatur entwickelt, die von Säulen, Halbsäulen und Pilastern der Kompositordnung gegliedert war. 59 Demgegenüber war die Südseite polygonal gebrochen und die Ecken waren durch schwarz-weiß-gestreite Pilaster betont, welche die polygonale Formgebung nochmals optisch hervorhoben. Diese gegensätzlichen Kompositionsprinzipien der Nord- und Südseite wurden in einer eigentümlichen Dachlandschat einander gegenübergestellt, die die kompositorische Absicht überdeutlich machte: eine durchgeschnittene Metallkuppel bekrönte die polygonale Südseite, ein rechtwinkliger schmaler Aufsatz mit einem dreieckigen Tempelgiebel die Nordseite (Abb.22). Beide Strukturen standen wie heaterstaffagen auf der obersten Ebene Rücken an Rücken.27 Nicht stilistische Einheit oder Einfachheit, sondern effektvolle, überraschende Vielfalt war das Ziel der Komposition. Die Gesamtwirkung wurde noch durch weitere Elemente bereichert. Auf der Ost- und Westseite standen niedrigere quadratische Türme, bekrönt von gerippten Halbkuppeln. Die Fassade zwischen den Türmen füllte eine zweigeschossige Säulenfassade aus. Auf der NordostEcke befand sich schließlich für die Bedürfnisse des Hausbesitzers eine nach Mekka ausgerichtete Privatmo- Abb. 20 & 21. Vorder- und Rückseite der Roshan-udDaula-Kothi. Oben: undatierte Postkarte (nach 1870), The Phototype Company Bombay. Unten: undatierte Postkarte (ca. 1860). Die beiden Aufnahmen zeigen die zunehmende Veränderung des Gebäudes. In der früheren, unteren Ansicht sind noch Dachaufbauten zu erkennen, die in der oberen Aufnahme fehlen. schee in indo-islamischen Formen als vorgeblendete Kleinarchitektur. Aus Gründen der Symmetrie wurde diese Miniaturmoschee auch an der Nordwestecke wiederholt, diente dort aber nicht als Gebetsraum.28 Die Gesamtheit der Elemente ergab eine dichte Vielfalt von architektonischen Ehrenzeichen, die in der Überlagerung der Elemente aus jeder Perspektive eine andere Wirkung entfaltete, in der Gesamtanlage aber strikt den Regeln axialer Symmetrie folgte. 60 Chinoiserien Eines der interessantesten und überraschendsten Elemente in der Übernahme europäischer Vorbilder in Lucknow stellen Chinoiserien dar. Den frühesten Hinweis auf dieses Stilelement gibt eine Bleistitzeichnung des Künstlers und Offiziers Robert Smith, der zwischen 1814 und 1830 mehrere Ansichten von Lucknow anfertigte. Die Zeichnung zeigt das von Saadat Ali Khan errichtete Landhaus Musa Abb. 22. Dachlandschaft der Roshan-ud-Daula-Kothi. Aufnahme von Robert and Harriet Tytler aus dem Jahr 1858. Eine Notiz zu dieser Aufnahme erklärt: "The Palace, about six storeys high, the dome on the left purposely cut in two, has the royal arms engraved in gold on it". Die Kuppel wurde also absichtsvoll halbiert, um einen Theater-Effekt zu erzielen. © British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. Bagh (auch: Baronne). Das Haus steht wie ein Torgebäude in der Stirnseite der Umfassungsmauer des Gartens; die achteckigen Ecktürme der Gartenmauer sind mit chinesischen Pavillons bekrönt (Abb.23). Eine vierzig Jahre spätere Panoramaaufnahme des zerstörten Stadtzentrums, die Felice Beato vom Minarett der Asafi Moschee aufnahm, dokumentiert im Jahr 1858 ganz ähnliche, chinesisch anmutende Eckpavillons an einer großen Hofanlage südlich der Husseinabad Imambara.29 Gegenüber befindet sich noch heute das eigentümliche viergeschossige Fragment eines unfertigen Stufenturmes aus der Regierungszeit Muhammad Ali Shahs (1837-1842). Der Name dieses Bauwerks – "Sat Khande" = "sieben Stufen" – deutet darauf hin, dass die ausgeführten achteckigen Geschosse, die sich über einem quadratischen Abb. 23. Bleistiftzeichnung der dem Fluss Gomti zugewandten Front des Musa Bagh (Baronne) von Captain Robert Smith, November 1814. Smith war von 1815-1833 Militäringenieur im Dienst der EIC. Zu seinen Aufgaben gehörte unter anderem die Reparatur des Kutub Minar und der in Delhi. © British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. 61 Sockel erheben, ursprünglich zu einer Art siebenstufiger Pagode ergänzt werden sollten.30 Chinoiserien sind im Kontext der Übernahme europäischer Architekturvorbilder nur auf den ersten Blick verblüffend, denn Chinoiserien gehören im 18. und 19. Jhd. zum festen Inventar europäischer Gartenkunst;31 sie dürten also auch in den Sammlungen und Nachrichten enthalten gewesen sein, aus denen die Nawabs ihre Kenntnisse europäischer Architektur bezogen. Die Übernahme dieses Motivs verdeutlicht zugleich, welche Kontexte Asaf ud Daula und seinen Nachfolgern an europäischen Vorbildern besonders attraktiv erschienen. Beispiele westlicher Gartenkunst mussten sich den an europäischer Architektur interessierten Herrschern Abb. 24 & 25. Torhaus des Sikander Bagh. Das obere Bild zeigt die Stadtseite. Postkarte nach einer Aufnahme Murray & Co. Lucknow. Das untere Bild zeigt die Gartenansicht. Aufnahme eines unbekannten Photographen aus den 1870er Jahren. © British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. geradezu aufdrängen, denn ein wichtiger Teil des Hoflebens in Oudh fand der islamisch-indischen Tradition folgend in Gärten statt. Entsprechend umfassten die Residenzen weitläufige Gartenanlagen. Während sich die europäische Gartenarchitektur aber im späteren 18. Jahrhundert mehr und mehr zu weitläufigen Landschatsgärten entwickelte, blieb in Lucknow das Modell des eingehegten formalen Paradiesgartens persisch-islamischer Tradition der bestimmende Typ.32 Das freistehende Landhaus Dilkusha mit seinem umgebenden "Landschatsgarten" (vgl. Abb.13) erweist sich insofern als Ausnahme. Der häufigste Gartentyp war der von einer Mauer eingefasste geometrische Garten. Der Vorteil dieser Anlagen, die häufig für die Damen der königlichen Fami62 lie oder die Favoritinnen der Nawabs erbaut wurden, bestand darin, dass sie für ihre weiblichen Nutzer ein hohes Maß an Abschottung gewährleisteten. Die Gärten entfalteten sich in diesen Anlagen rings um ein Haus nach europäischem Vorbild, waren aber selbst wiederum durch eine Mauer eingehegt, so dass es nicht zu unerwünschten Begegnungen oder Einblicken kommen konnte, eine Synthese zwischen freistehendem Landhaus und ummauertem Hof. Den Zugang zu diesen Gärten kontrollierten aufwendig gestaltete Torhäuser. Diese Torhäuser sind ein eigener Bautyp, der in Lucknow in vielen Spielarten anzutreffen ist. In einigen Toranlagen, die während der Regierungszeit des letzten Nawab Wajid Ali Shah Abb. 26. Blick in den zentralen Gartenhof des Kaisarbagh. Aufnahme von John Edward Saché aus den 1870er Jahren. Das weiße Gebäude in der Mitte ist die Kaisarbagh Imambara bzw. Baradari. Dahinter ist die sogenannte "Lanka" zu erkennen. © British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. errichtet werden, sind europäische, indische und Chinoiserie-Elemente nicht mehr als unterschiedliche Fassaden oder Bauteile einander gegenübergestellt, sondern in einer einzigen Fassade zu einer Collage von Stilformen vereint. Diese Kompositionen stellen die letzte Phase in der Verarbeitung europäischer Stilelemente dar. Während zuvor allein die Namen europäischer Architekten für Bauten mit europäischen Formen begegnen, ist für diese späteren Bauten erstmals auch die Autorschat indischer Baumeister überliefert.33 Ein signifikantes Beispiel für diesen eklektischen Umgang ist das dreistöckige Torhaus des Sikander Bagh (Abb.24, 25). Auch hier bieten, der ungleichen Behandlung von Fassaden folgend, die Innen- und Außenseite sehr verschiedene Eindrücke. Während auf der Straßenansicht eher die klassizistisch-europäischen Formen hervortreten, verbinden sich auf der Gartenseite klassizistisch-europäische, indische und – in der Dachgestaltung – Chinoiserie-Motive. Über klassizistischen Fenstern mit dreieckigen Giebeln schwingen elegante indische Erker aus den quadratische Ecktürmen, die von chinesisch ausschweifenden Ziegeldächern bekrönt sind. Der sich durch diese Mischung von Stilformen einstellende Eindruck einer märchenhaten "Weltarchitektur" dürte genau das Ziel der Erbauer gewesen sein. Der Garten wird zur Metapher für das Paradies, in welchem 63 die Schönheiten der Welt in kostbaren Pflanzen und der ganzen Fülle architektonischer Formen versammelt ist. Der Kaisarbagh Diese Kombination von klassizistischen und orientalischen Elementen ist auch für Teile des Kaisarbagh charakteristisch (Abb. 25, 27, 28). Wie die eingangs wiedergegebenen Stimmen verdeutlicht haben, ist es zugleich gerade dieser Bau, der nach 1858 die europäische Kritik zu besonderer Schärfe herausforderte. In europäischen Reiseführern um 1900 gilt der Bau des letzten Königs von Oudh schlicht als "the largest, grandiest and most debased of all Lucknow palaces".34 Selbst P. C Mookherji, der engagierte Verteidiger der Nawabs gegen die europäische Kritik, tadelte den "debased style" und die "Anglomania" der Könige von Oudh und fokussierte seine Kritik auf dieses Ensemble: "Wajid Ali Shah, who fell still deeper into the bad style, produced the Kaisarbagh, a range of palaces having a mixture of all possible kinds of style, without judgment shown as to its symmetry, or skill displayed as to the arrangement of its minor parts."35 Eine Betrachtung dieser Palastanlage darf allerdings weder die Typologie, noch die städtebauliche Struktur dieses Komplexes außer Acht lassen, der Abb. 27. Weinumrankte Pergola im großen Hof des Kaisar Bagh. Das Gebäude mit den acht flankierenden Türmchen ist die sogenannte "Lanka", ein Empfangs- und Tribünengebäude. Im Hintergrund rechts erkennt man die Dachlandschaft der Roshan-ud-Daula-Kothi in einem angrenzenden Hof. Aufnahme von Baker & Burke aus den 1860er Jahren. © British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. eine beispiellose Synthese indisch-orientalischer und westlicher Traditionen leistet. Die Gruppierung von Bauten um Innenhöfe ist ein Grundthema der indisch-islamischen Palastarchitektur, die Ausdehnung des Kaisarbagh, dessen zentraler Hof "Jilau Khana" eine Größe von 200 zu 400 Metern hatte, sprengt jedoch den üblichen Maßstab von Palastarchitektur und überführt die Anlage in eine städtebauliche Größenordnung. Der zentrale Garten war durch eine durchgehend zweigeschossige Rahmenbebauung im europäischen Stil gefasst, die durchaus an viktorianische Reihenhäuser oder Londoner Squares erinnern können – auch dies eine eigenständige Lösung ohne Vergleich in Indien. In der Randbebauung waren die Damen des königlichen Serail untergebracht, sofern der König ihnen nicht eigene Residenzen an anderer Stelle gebaut hatte. Jede der Damen verfügte über ein Haus mit mehreren Zimmern und Dienern. Um jede Eintönigkeit zu vermeiden, waren die langen Fronten durch rechteckige oder polygonale Erker gegliedert, die bei aller Abwechslung eine strenge Symmetrie einhielten. Klassizistische Fassaden und Portiken wechselten sich mit Arkaturen ab. Auch die Breite der Fensterachsen variierte rhythmisch. Auffallend ist zuletzt die Bedeutung, die die Übernahme europäischer Formen für den privaten Bereich des Herrschers darstellt. Während im Chattar Manzil Palast einer europäisch-klassizistischen Schaufassade ein in indischislamischen Formen gestalteter Innen64 bereich gegenüberstand, wurden nun für den Wohnbereich der Zenana europäische Formen verwendet (Abb. 26). Im riesigen Innenhof befanden Kleinarchitekturen, die den Zerstreuungen eines abwechslungsreichen Hoflebens gewidmet waren: Pavillons im indischen und klassizistischen Stil, Vogelhäuser und Volieren. Zwei im Nordteil des Gartens T-förmig aufeinanderzulaufende Wasserbecken wurden von Marmorpavillons und einer geschwungenen Brücke überspannt. Im südlichen Teil des Gartens stand eine eigentümliche Mischung aus Aussichtsplattform und Empfangsgebäuden, die sogenannte "Lanka", die von acht polygonalen Türmen flankiert wurde. In der Achse dieses Baus, den man eher auf einer der Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts vermuten würde, führte eine Pyramide von elf Stufen zu einem Marmorpavillon. Über den Pavillon wiederum führte eine Bogenbrücke hinweg, der die beiden flankierenden Empfangsgebäude in europäischen Formen miteinander verband (Abb.27). Rechts und links von diesem Gebäude befanden sich erhöhte quadratische Plattformen, die auf jeder Seite von einer Säulenpergola der Kompositordnung gefasst waren. Achteckige Pavillons bildeten die Ecken dieser heaterarchitekturen. Schattenspendende Bungalows dienten Tanz- und Musikvorführungen. Der Garten war streng achsensymmetrisch. Jedes Gebäude auf der Ostseite hatte sein Spiegelbild auf der Westseite des Gartens, so auch eine Abb. 28. Feuerwerk im Garten des Stadtpalais Farhad Baksh. Wasserfarbenbild von Seeta Ram 1814/15. Aus: Views by Seeta Ram from Cawnpore to Mohumdy Vol. IV. Für das Hofleben in der Jilau Khana des Kaisarbagh darf man sich einen entsprechenden Aufwand vorstellen. © British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. nach Mekka ausgerichtete Miniaturmoschee, die ihr nur formales Pendant auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens hatte. Im Zentrum des Gartens befand sich ein großes weißes Gebäude in indisch-islamischen Formen, das sowohl als Imambara,36 wie als Audienzhalle als (Baradari) für das hronzeremoniell genutzt wurde.37 Die Aufzählung der Kleinarchitekturen und der ursprünglichen Ausstattung lässt keinen Zweifel an der Bestimmung des Komplexes: der Kaisarbagh war ein Lustgarten, der den Rahmen für Hofzeremoniell, Feste, verfeinerte Darbietungen und Vergnügungen darstellte. Diese "Freizeitwelt", die sich um den Nawab als Hauptperson entfaltete, wurde durch weitere Attraktionen in anderen Bereichen des Kaisarbagh ergänzt. So befand sich östlich der Jilau Khana ein "Chini Bagh" genannter Hof, der mit chinesischen Keramiken verziert war. Ein weiterer Hof, Hazrat Bagh, barg ein Haus, dessen Dach und Wände mit dünnem Silberblech verkleidet waren.38 Verschiedene Architekturstile, wertvolle Materialien oder andere Besonderheiten konstituierten so eine eigene Topographie, die auf fremde und eigene Traditionen verwies und in gewisser Weise die gesamte Welt in Architekturminiaturen repräsentierte.39 65 Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die beschriebenen Architekturen allein den Rahmen für eine aufwendige Hohaltung darstellten. Deren Umfang wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der abgesetzte König, der in seinem Exil in Kalkutta von den Engländern als Abfindung eine Rente erhielt, die deutlich geringer war als seine Einkünte in Lucknow, nach Sharar 40.000 Personen in seiner Hohaltung beschätigte und – neben anderen Attraktionen – 25.000 Vögel unterhielt, die in Aviarien und in Tausenden Messingkäfigen gehalten wurden. 300 Bedienstete kümmerten sich allein um die Tauben des exilierten Königs. Daneben gab es exotische Tiere wie Giraffen, Tiger und andere Raubtiere, die in besonderen Gehegen gehalten wurden.40 Den Aufwand in Lucknow, wo Wajid Ali Shah wesentlich größere Ressourcen zur Verfügung standen, muss man sich entsprechend größer denken. Nach Rosie LlewellynJones wurden 1856 für das Futter der königlichen Menagerie in Lucknow allein 1.000 Rupien pro Tag ausgegeben.41 Dabei galt das hauptsächliche Interesse Wajid Alis nicht einmal exotischen Vögeln und Tieren, sondern Musik und Gesang,42 für die er weit größere Mittel zur Verfügung stellte. Noch größere Aufwendungen muss man sich für die nächtlichen Illumi- Abb. 29. Ansicht von einem der Lakhi-Tore, die den Zugang zum zentralen Hof (Jilau Khana) des Kaisarbagh darstellen. Die Aufnahme von Felice Beato aus dem Frühjahr 1858 zeigt die Hofseite des Tores. Abzug aus dem Fotoalbum von Dr. Goldie-Scot of Craigmuie, 79th Cameron Highlanders. nationen und Feuerwerke bei Festta- Auf dieser Seite wurde der zweigegen denken, für die Oudh besonders schossige Torbau durch ein auskragerühmt wurde (Abb.28).43 gendes gerades Gesims abgeschlossen, über dem sich eine reiche DachlandDen Eingang in diese "Märchenstadt" schat aus Zinnen, Laternen und Figudes Kaisarbagh bildeten zwei einan- ren erhob. Auf der Hofseite hatte dieder gegenüberliegende, aufwendig ses Gesims eine geschwungene Form gestaltete Torhäuser. Indische, euro- in der Gestalt eines Schulterbogens päische und weitere Stilelemente tre- – eine Formfindung ohne Vorläufer in ten in ihrer Gestaltung nebeneinan- der indisch-islamischen Baukunst; sie der, es überwiegen allerdings ein- verweist vielmehr auf orientalisierende deutig indische Motive. Die hybride Bogenmotive, wie sie in europäischen Architektur dieser Torbauten unter- Chinoiserien des 18. Jahrhunderts scheidet sich damit deutlich von der anzutreffen waren.45 Das auskragende Rahmenbebauung des zentralen Gar- Gesims ruhte wiederum auf Konsotenhofes, die zwar klassizistische For- len, die teils als Elefantenköpfe teils men in indischer Umsetzung über- als Meerfrauen (vgl. Abb. 33) gearbeinimmt, aber nicht wie die Torbauten tet waren und an die figürlichen KonStilelemente unterschiedlicher Archi- solen hinduistischer Tempel erinnern. tekturtraditionen kombiniert. Wie Auch dieses Motiv findet sich sonst an beim Sikander Bagh hat die Architek- keiner Stelle an den Bauten Lucknows. tur der sogenannten "Lakhi-Tore"44, Bekrönt wurde die Struktur durch vier die in die Jilau Khana führten, eine Ecktürme, die auf der Außenseite ein zeichenhate Bedeutung. Und auch sie indisch-islamisches, auf der Hofseite boten von Hof- und von Außenseite ein mehr europäisch-klassizistisches deutlich unterschiedliche Ansichten. Stilkleid trugen. Die zentrale Torhalle Auf der Hofseite (Abb.29) wurde in überwölbte eine offene Rippenkuppel der Weise eines Triumphbogenmo- aus zwei sich kreuzenden Bögen. Dietivs ein hoher Bogen von zwei klei- ses Element ist ebenfalls ein Architekneren flankiert. Von den drei Durch- turzitat und ist Claude Martins Resigängen führte allerdings nur der mitt- denz La Martinière entlehnt, einem lere nach außen, die beiden anderen europäischen Gebäude in Lucknow, in Nebenräume. In der Außenansicht das um 1800 entstand.46 wies der Torbau hingegen nur einen einzigen großen Bogen auf; an die Neben diesen Elementen aus unterStelle der Seitentore traten vorsprin- schiedlichen Stiltraditionen fanden gende Risalite. auf den Torbauten Dekorationen ihren 66 Platz, die direkt in ihrer zeichenhaften Sinnbedeutung zu lesen waren (vgl. Abb. 29). In den Zwickeln rechts und links der fächerförmigen Bögen waren stilisierte Fische angebracht, die als eine Art Wappentier regelmäßig auf den Toranlagen der Nawabs von Oudh anzutreffen sind.47 Begleitet wurde diese Darstellung durch ein dahinterliegendes Königswappen aus Krone, Schild und Schwertern, das Seejungfrauen als heraldische Schildhalter flankierten. Diese Fabelgestalten erschienen nicht allein an dieser Stelle; sie waren auch auf den schmiedeeisernen Gittern, auf Baldachinen über den aus der Fassade heraustretenden Balkonen und (auf der Außenseite) auf dem Sockel des Torbogens zu erkennen. Weitere Seejungfrauen mit gedrehten Fischschwänzen stützten an den vier Fußpunkten der offenen Rippenkuppel überdimensionale Königskronen. Auch die Ecktürme waren mit stilisierten Kronen überhöht, über welchen sich stilisierte Schirme erhoben, die in Sonnensymbole ausliefen. Die Safranfarbe, in der die Torgebäude gestrichen waren,48 kann ebenfalls als Hinweis auf den König verstanden werden, der unter seinem Krönungsornat ein safranfarbenes Gewand trug. Die Dichte an heraldischen und zeichenhaten Königssymbolen in dieser Architektur veranschaulichte überdeutlich, dass durch das Tor der Privatbereich des Königs betreten wurde. Die Attraktivität des im Kaisarbagh verwandten Formenrepertoires dürte für Wajid Ali Shah und seine Vorgänger nicht allein in der Möglichkeit bestanden haben, über die Adaption europäischer Vorbilder Modernität und Nähe zu den politisch immer deutlicher dominierenden Briten auszudrücken. Die europäisch beeinflussten Residenzen der Nawabs stellten zugleich eine neutrale Folie für ein Hofleben dar, das in der Mischgesellschat von Moslems und Hindus in Lucknow keineswegs mehr primär islamisch geprägt war.49 Jenseits der großen Moscheen und Imambaras, die im indisch-islamischen Stil für die schiitischen Riten geschaffen wurden, zelebrierte insbesondere der letzte regierende Fürst in seinen europäisch-geprägten Residenzbauten ein synkretistisches Hofleben. Berichte über Feste und Aufführungen des Hofes, nach denen sich 67 Wajid Ali Schah in einem safranfarbenen Gewand und mit Asche eingerieben als Yogi verehren ließ oder inmitten von Hofdamen als Krishna autrat50 – beides für einen muslimischen Herrscher höchst ungewöhnliche Schaustellungen – verdeutlichen die höfischtolerante Lebensart einer hinduistisch-muslimischen Mischkultur. Die Erinnerungen einer Hofdame, die William Knighton 1864 herausgab, geben eine höchst anschauliche Vorstellung von diesen Inszenierungen, die den gesamten Palastkomplex über mehrere Tage als Bühne einbezogen.51 Gleichwohl blieb im Zentrum des Lustgartens in der strahlend weißen Imambara die schiitisch-islamische Identität des Herrschers immer präsent.52 Die Übernahme europäischer Architekturelemente erweist sich in diesem Kontext nicht als stümperhates Kopieren, sondern als komplexer, beziehungsreicher und spielerischer Umgang mit unterschiedlichen Architekturtraditionen, die nicht zur Repräsentation, sondern als baulicher Rahmen für die Lustbarkeiten des höfischen Gartenlebens Verwendung fanden. Der Kontext der europäischen Kritik Wenn Alois Führer im Dienst des Archeological Survey of India 1891 die Architekturelemente des Kaisarbagh als "mongrel vulgarities which were applied in Vauxhall, Rosherville, and the Surrey Gardens"53 verurteilte, traf er in gewisser Weise durchaus eine der Intentionen dieses Komplexes. Vauxhall, Rosherville und Surrey Gardens sind frühe Beispiele einer Unterhaltungsindustrie, die ein fürstlich-aristokratisches Freizeitideal einem bürgerlichen Massenpublikum erschlossen. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts gehörten diese Anlagen, welche inmitten von sorgfältig gepflegten Anpflanzungen Musikvorführungen, Feuerwerke, exotische Pavillons und spektakuläre Vorführungen präsentierten, zu den beliebtesten Ausflugszielen Londons. Zum Zeitpunkt, zu dem Führer seine abwertende Kritik verfasste, waren sie allerdings schon überwiegend Geschichte und durch andere Formen der Massenunterhaltung abgelöst worden.54 Statt aber das Modell fürstlicher Lustgärten und ihrer orientalisierenden Architekturen als Parallele zu den Bauten von Oudh zu begreifen, verurteilte Führer sowohl das eine wie das andere. Dabei zeigte der Gutachter des Archeological Survey außerdem ein bemerkenswertes Maß an Ignoranz, wenn er "Corinthian pilasters under Muslim domes, false venetian blinds, imitation marbles, pea-green mermaids" als abschreckende Details zitierte. Denn in Lucknow wurde, wie Banmali Tandam 2001 konstatiert, an keiner Stelle die korinthische Säulenordnung verwendet.55 Die erhaltenen oder auf Photographien dokumentierten Beispiele zeigen allenfalls Säulen der Kompositordnung. Führers Befund ist schon in der Beschreibung ungenau! Und offenbar hielt Führer auch die Seejungfrauen, die als heraldisches Element das Königswappen von Oudh begleiteten, für eine knallbunte aber inhaltsleere Spielerei. Für eine treffendere Einschätzung hätte der deutschstämmige Gutachter nur Löwe und Einhorn als Schildhalter des englischen Königswappens in ihrer heraldischen Farbigkeit als Parallele heranziehen müssen.56 Die Einschätzungen Führers und damit des Archeological Survey of India waren Ausdruck eines akademisch engen Gebrauchs bauhistorischer Stilbegriffe, die für transkulturelle Phänomene, Einflüsse und Parallelen keinen Raum ließen. Es ist ein Stilbegriff, wie er insbesondere für James Fergusson charakteristisch war, der in seiner History of Indian and Eastern Architecture eine Systematik von elf "indo-sarazenischen" Stilen entwickelte, die er aus den baulichen Traditionen von Regionen und islamischen Herrscherdynastien destillierte.57 Jede dieser Stiltraditionen habe, so Fergusson, ihren Niedergang erlebt, sobald sich die zuvor "reinen" Formen mit anderen Elementen vermengten.58 Die wesentlichen Impulse habe die indische Architektur über die Vermittlung Persiens, so Fergusson, ohnehin aus dem Westen erhalten. Die exzeptionellen Marmorarbeiten des Taj Mahal waren nach seiner Meinung gar das Werk italienischer Abenteurer, welche die pietra-dura-Technik aus dem Florenz der Renaissance in das Indien der Moguln exportiert hätten,59 eine Vorstellung, die verdeutlicht, dass Fergusson kein übermäßiges Zutrauen zum handwerklichen und gestalterischen Können der indischen 68 Baumeister besaß. – So grundlegend Fergussons Pionierstudie 1876 für ein Verständnis der indischen Architektur in Europa gewesen sein mag, für Phänomene wie die Übernahme europäischer Formen durch die Inder selbst ließ sie keinen Raum. Fergusson entwarf ein heroisiertes Bild von Indien, das die militärisch aggressiven Mogulkaiser und ihre Bauten idealisierte, der "effeminierten" Hokultur der Nawabs aber mit Unverständnis gegenüberstand und in der Übernahme europäischer Formen nur Verfallserscheinungen ausmachte. Die Bauten Oudhs galten Fergusson als wertloser "bastard"Stil. Ebensowenig Raum ließ Fergussons Systematik indischer Baukunst für einen Stilpluralismus, wie er sich zu seiner Zeit im Aukommen der Neugotik und anderer Neo-Stile in Europa gerade konstituierte. In Fergussons Urteil floss dabei eine Grundhaltung ein, die der Verbindung unterschiedlicher Architekturtraditionen – auch in Europa – grundsätzlich ablehnend gegenüberstand und die baulichen Leistungen einer Epoche eng mit einem Gesamturteil über das jeweilige Volk verknüpte. "he Prussians [..] are not a churchbuilding race", konnte man etwa in Fergussons History of the Modern Syles in Architecture über die "preußische Rasse" lesen (eine Redeweise, die Völker oder gar Staaten mit Rassen gleichsetzte, war im 19. Jahrhundert allgemein verbreitet), bevor der Autor in Länge auf die aus seiner Sicht bestehenden Defizite von Schinkels Friedrichswerderscher Kirche und der (erst nach Schinkels Tod ausgeführten) Nikolaikirche in Potsdam einging.60 Rastrellis SmolnyKloster bei St. Petersburg, das traditionelle russische und französische Barockelemente vereint, galt Fergusson eben deshalb als Missgeburt – "if their ornamentation is characteristic of Russian civilization of that day, 'tant pis pour elle!' It would be difficult to find in Europe anything as bad as this."61 Ähnlich kritisch bewertete Fergusson das Werk John Vanbrughs, der in Seaton Delaval die Vorlage für das Landhaus Dilkusha geliefert hatte. Vanbrughs Hauptwerk Blenheim Palace fertigte er als übergroße Missgeburt ab, "the palace looks as if it had been designed by some Brobdingnagian62 architect for the residence of Abb. 30. Folge von Torbögen aus George Wightwicks The Palace of Architecture 1840. Wightwicks Traktat sollte die Korrespondenzen zwischen den unterschiedlichen Stilen verdeutlichten, die er in didaktischer Absicht hintereinander anordnete. Abb. aus Wightwick S. 113, 151, 167, 171, 178. their little Gulliver." "He [Vanbrugh] was much less successful in his smaller designs, such as Seaton Delaval […]".63 Auch andere Beispiele aus Campbells Kompilation Vitruvius Britannicus, die einen prägenden Einfluss auf die Wahrnehmung europäischer Vorbilder in Oudh ausübte, betrachtete Fergusson als wenig überzeugend, "they all have missed the effect intended to be produced, and not one of them can now be looked upon as an entirely satisfactory specimen of Architectural Art."64 Es wundert wenig, wenn Fergusson bei dieser Grundeinstellung auch die Bauten, die inspiriert durch die kritisierten Vorbilder in Lucknow entstanden, nicht sonderlich schätzte. Fergussons mit rassistischen Aspekten unterfüttertes Ideal rigoroser Stilreinheit war zwei Generationen zuvor, als die Rezeption europäischer Architektur in Lucknow einsetzte, noch keineswegs die allgemein akzeptierte Vorstellung. John Nash inszenierte den 1822 fertiggestellten Royal Pavilion des Prinzregenten und späteren Königs George IV. in Brighton etwa als phantastische Kombination orientalischer Stilelemente. Von Außen gestaltet wie ein indisches Mär69 chenschloss vereinten die Innenräume muslimische, indische und chinesische Dekorationen. Auf der Westseite ordnete Nash Spitzbogenfenster aus einer Mischung neugotischer und orientalischer Stilelemente unter den nachempfundenen indischen Kuppeln und Chartis an. Nashs Royal Pavilion ist so Beispiel einer zwar nicht allzu verbreiteten, aber doch in mehreren Beispielen fassbaren Indienmode um 1820.65 Auch in der literarischen Avantgarde avancierten orientalische Motive zu einem hema. William Beckford66 und Edgar Allan Poe,67 später Joris-Karl Huysmans68 oder Oskar Wilde69 imaginierten in ihren Erzählungen eklektische Interieurs, die mit erlesenen orientalischen Arbeiten ausgestattet waren. Der Umkreis des Architekten John Soane spekulierte um die gleiche Zeit über die Genese der Weltarchitektur und die Entwicklung der Stilformen.70 George Wightwick, einer der Schüler Soanes, präsentierte 1840 in seinem Werk he Palace of Architecture: A Romance of Art and History71 einen fiktiven Garten, der die Baustile aller Zeiten und Räume als Kleinarchitekturen versammelte und nach einem didaktischen Konzept anordnete. he Palace of Architec- Abb. 31. Europäische und indische Phantasiearchitekturen. Beide Torhäuser vereinigen europäische und orientalische Stilelemente. Links: "The Palace Gate" aus George Wightwicks Architekturtraktat The Palace of Architecture 1840. S. 7. Rechts: Torhaus des Moti Mahal. Photographie von Felice Beato 1958. Abzug aus dem Fotoalbum von Dr. Goldie-Scot of Craigmuie, 79th Cameron Highlanders. ture zeichnete eine ideale Stilgeschichte, die vom hinduistischen Indien über die Antike, das christliche Mittelalter, die Baustile des Orients und des islamischen Indiens zur italienischen Gothik und dem Stil Palladios führte und letztendlich in einer "Anglo-Italian Villa" als Mittelpunkt des Gartens mündete. Der Übergang zwischen den Abschnitten des imaginären Gartens, die je einzelnen Baustilen gewidmet sind, bildeten Torhäuser als programmatische Verkörperungen der jeweiligen Architekturstile, die zugleich veranschaulichten, dass die dargestellten Kulturen die gleichen elementaren Bauaufgaben in unterschiedlicher Weise gemeistert hatten (Abb.30). Auch sah Wightwick durchaus Verbindungslinien zwischen diesen Stilsystemen, so zwischen dem christlichen und dem islamischen "Spitzbogenstil" in seinen verschiedenen Spielarten. Dass dieses imaginierte Architekturmuseum seinen Ort in einem Garten fand, ist kein Zufall. Der Schüler Soanes setzte sich in die Tradition anspielungsreicher Gärten, die in Kleinarchitekturen unterschiedliche Zeiten und Räume zitierten, eine Praxis, die in den Landschatsgärten Englands in Pavillons, künstlichen Ruinen oder architectural follies gerade einen Höhepunkt erlebte. Als Haupteingang dieses Gartens Weltarchitektur entwarf Wightwick ein Eingangstor, das collagenartig alle Architekturstile in sich vereint (Abb.31). Vergleicht man diese Fiktion Wightwicks mit den phantastischen Torhäusern Wajid Ali Shahs sind durchaus Parallelen zu konstatieren; doch war es in Lucknow selbstredend nicht das exotische, sondern das europäische Element, das diesen Bauten ihre 70 märchenhate Verfremdung verlieh; es tritt im Torhaus des Sikander Bagh ebenso entgegen wie in den europäisch wirkenden Türmen über der Toranlage, die zum Landhaus Moti Mahal führte. Während sich George IV. als Prinzregent von Nash im Royal Pavillion einen gebauten Traum von Indien errichten ließ, realisierten die Nawabs von Oudh europäische Scheinwelten, indem sie sich – neben anderem – turm- und zinnenbewährte Landhäuser im Stil romantischer Ritterburgen mit Wassergraben und Zugbrücke bauen ließen, so wie etwa das Landhaus Khurshid Manzil, das während der Regierungszeit Saadat Alis Shahs entstand und später der gerade aktuellen romantischen Mittelaltermode Europas folgend zu einer zinnenbewehrten Burg umgebaut wurde (Abb.32).72 Die teils gelehrten, teils spielerischen Spekulationen über Ursprung und Entfaltung der Architekturstile, die im Geist der Romantik von der Überzeugung ausgingen, dass Kulturen in ihrer Verschiedenartigkeit gleichwertig sind, finden in der zweiten Hälte des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund eines kolonial ausgreifenden Europa ihr Ende. Baugeschichte, wie sie Fergusson betreibt, ist zugleich Ausdruck eines neuen Typus von Wissenschat, der weniger spekulativ, sondern sammelnd, ordnend und klassifizierend vorgeht und Baustile an ihren vermeintlich "besten" und "reinsten" Beispielen bewertet. Dahinter stand ein Entwicklungskonzept von Bau- und Stilentwicklung, das in den Begriffen Evolution und Bastardisierung durchaus eine Nähe zur Biologie und Rassenlehre signalisiert. Unhin- Abb. 32. Khurshid Munzil. Das Landhaus wirkt wie ein befestigter europäischer Herrensitz. Im Vordergrund sind die Erdbefestigungen der Insurgenten zu erkennen, die im März 1858 von einer britisch-indischen Armee gestürmt wurden. Aufnahme von Felice Beato 1858. Abzug aus dem Fotoalbum von Dr. Goldie-Scot of Craigmuie, 79th Cameron Highlanders. terfragte Voraussetzung im zugrundegelegten Evolutionsmodell war dabei, dass die Bau- und Stilentwicklung der europäischen Völker denen außereuropäischer Kulturen weit überlegen sei. Von dem selbst zugeschriebenen Platz an der Spitze einer zivilisatorischen Fortschrittspyramide musterten die imperialistischen Nationen mit dem ihnen eigenen Sendungsbewusstsein die baulichen und kulturellen Schöpfungen anderer Erdteile, die nun zum Objekt ihres Zugriffs wurden.73 Der indische Aufstand, in dessen Folge die privatwirtschatlich organisierte ostindische Kompanie in eine direkte Kolonialherrschat überführt wurde, stellt hier einen entscheidenden Wendepunkt dar. Es ist ein bezeichnendes Zusammentreffen, dass zwei Jahre nach der Eroberung Lucknows ein weiteres Beispiel asiatisch-europäischer Stilsynthese, der ältere Sommerpalast bei Peking mit seinen auf Vermittlung der Jesuiten errichteten Bauten im Stil eines europäisch-chinesischen Rokoko, 1860 von einer britisch-französischen Strafexpedition geplündert und niedergebrannt wurde.74 Einher geht die veränderte Sichtweise auf die Architekturgeschichte in der zweiten Hälte des 19. Jahrhunderts mit einem christlich-moralisierenden Sendungsbewusstsein, wie es vor allem John Ruskin in he Seven Lamps of Architecture (1849) propagierte. Ruskins sieben Leuchten – sieben Prinzipien – der Baukunst lesen sich eher wie ein christlicher Tugendkatalog: der Wert eines Bauwerks drückt sich nach 71 Ruskin in Opferbereitschat, Wahrheit, Stärke, Schönheit, Leben, Erinnerung und Gehorsam aus. "Unwahre" Elemente wie vorgeblendete Säulen ohne konstruktive Funktion oder vorgetäuschte Materialien galten Ruskin unabhängig von lokalen Bautraditionen oder verfügbaren Materialien als "architektonische Lügen", die sich gegen das Prinzip der Wahrheit versündigten.75 Ausgehend von diesen Prinzipien mussten die verputzten Ziegelbauten Lucknows, deren feiner, mit Perlmutt angereicherter Stuck Marmor imitierte, oder die mit nur dünnen Blechen überzogenen Kuppeln nicht allein als stilistisch bedenklich, sondern auch als moralisch verwerflich erscheinen, zumal ein sittenstrenger viktorianischer Betrachter wenig Verständnis für die Prachtentfaltung und das Haremswesen der Könige von Oudh aufzubringen wusste. Vom Grundsatz der Stilreinheit her gewertet, schien wiederum eine Vermengung von Stilelementen, wie sie in Lucknow praktiziert wurde, ein ebensolches Unding wie eine Kreuzung von Hunden und Katzen, um Tillotsons irreführenden biologistischen Vergleich noch einmal aufzugreifen. Doch auch die Übertragung eines Baustils auf eine andere Kultur wurde vor der Überlegung fragwürdig, dass Bauformen der reine Ausdruck eines Volks- bzw. Rassecharakters seien. Die Übernahme europäischer Baustile für oder durch Inder, wie sie in der ersten Hälte des 19. Jahrhunderts noch gängige Praxis war, konnte aus dieser Perspektive keine Option mehr sein. Abb. 33 & 34. Zustand der Lakhi Tore des Kaisarbagh im Jahr 2005. Aufnahmen mit freundlicher Genehmigung von Professor Bret Wallach ©. Ende Diese Überlegungen waren schließlich auch für die Frage bedeutsam, in welchem Stil die nach dem Aufstand von 1857/58 gefestigte britische Herrschat in Indien ihren baulichen Ausdruck finden sollte. Nach 1876, der Proklamation von Königin Victoria als Kaiserin von Indien, wurde die überwiegende Zahl öffentlicher Großbauten der Kronkolonie in einem indischsarazenischen Stil errichtet, der die britische Herrschat als Nachfolge der Mogulherrschat inszenierte. Diese Entwicklung war mittelbar ein Ergebnis der Architekturdiskussion in der Folge des indischen Aufstandes. Die anglo-indische Führungselite von Offizieren und Verwaltungsbeamten 72 errichtete ihre kolonialen Großbauten bis in die späten 1920er Jahre in einem Stil, von dem sie glaubte, dass er geeignet war, die Masse der indischen Bevölkerung zugleich anzusprechen und zu beeindrucken, da er an indische Sehgewohnheiten und Traditionen anknüpte.76 Mehr oder minder explizit wetteiferten diese Anlagen dabei auch mit den Monumenten der Moguln. Für die eigenen Wohnbauten, Kirchen und Stadtviertel, die ohnehin in von den indischen Städten räumlich getrennten cantonments entstanden,77 hielten die Kolonialherren hingegen in Sorge um ihre britische Identität entschlossen an europäischen Formen fest. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich schließlich unter dem Einfluss von Lutyens Entwürfen für den neuen Regierungssitz in NeuDelhi eine neue, bewusst vollzogene Synthese aus klassischen, indisch-islamischen und hinduistischen Formelementen im Formgefühl eines imperialen Art Deko.78 Auch in Lucknow dokumentieren die Bauten, die nach der Niederschlagung des Aufstandes entstanden, diese programmatische Entscheidung zugunsten eines indisch-islamischen Stils bis um 1930 der Einfluss der von Lutyens vollzogenen Synthese auch hier spürbar wurde.79 Den "europäischen" Bauten der Nawabs wurde hingegen mit weniger Respekt begegnet, selbst wenn sie teils zum Sitz der neuen Eliten der Stadt avancierten. Ein Teil der königlichen Residenzen diente der britischen Garnison und Verwaltung. Der Bara Chattar Manzil Palast wurde etwa zum Sitz des United Service Club, die Lal Baradari zum Sitz des Provinzmuseums. Der große Hof des Kaisarbagh-Palastes wurde durch Straßen geöffnet, der nordliche Flügel abgebrochen und die verbleibende Randbebauung aufgeteilt, um als Stadtresidenzen für eine neue Schicht landbesitzender Grundherren (Taluqars) zu dienen.80 Die britischen Kolonialherren formten die herrschatliche Anlage damit nach einem MusAnmerkungen: ter um, das der englischen Gentry aus dem Mutterland wohlvertraut war: die Stadtresidenz als Reihenhaus. Der Lustgarten des letzten Nawab wurde umgedeutet zu einem städtischen Square. Abrisse und jahrzehntelange Vernachlässigung haben seitdem die von der europäischen Architekturkritik verurteilten Bauten weitgehend zerstört; das Verbliebene ist bedroht von Verfall.81 (Abb.34) Das Spiegelbild europäischer Baukunst, welches die Nawabs von Oudh in einer einzigartigen Synthese mit der eigenen Tradition erstehen ließen, ist in einer Folge beabsichtigter oder gedankenloser Zerstörungen weitgehend verloren gegangen, ein Prozess, für den die von William Russel geschilderte Plünderung der königlichen Bauten 1858 nur den Autakt bildete: Welches Bild der Zerstörung bietet sich dem Auge, als wir die große Eingangshalle betreten. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß der Marmorboden zwei, drei Zoll hoch bedeckt ist mit Fragmenten zerbrochener Spiegel und Kandelaber, die einmal an der Decke hingen. Und noch immer sind die Männer dabei, alles kurz und klein zu schlagen.82 Anwer Abbas: Wailing Beauty. The the Eastern Roman Empire) but Perishing Art of Nawabi Lucknow. the Roman Empire as well, and 1 G.[iles]H.[enry] R.[upert] Lucknow 2002. that the Rumi Darwaza is the Tillotson: The Tradition of equivalent of a Roman triumphal Indian Architecture. Continuity, 4 Es handelt sich dabei um eine arch." Peter Chelkowski: Controversy and Change since "fiktive" Kopie. Ein vergleichbarer "Monumental Grief: The Bara 1850. New Haven, London Bau in Konstantinopel ist nicht Imambara." In: Rosie Llewellyn1989. S. 14. bekannt. Hinweise auf den Bezug Jones: Lucknow. City of Illusion. zu Konstantinopel/ Istanbul München, Berlin, New York 2006. 2 P[oorno] C[hunder] finden sich in der Literatur S. 101-133. Hier: S. 108. Mookherji: Pictorial Lucknow. häufiger, aber ohne belastbare 5 Chelkowski: "Monumental Lucknow 1883. Reprint: New Quellenangabe; so etwa in Delhi 2003. S. 211. Grief." Wie Anm. 4. S. 111, 127. älteren Reiseführern: Beg 1911 M.[irza] A.[mir] Beg: The Guide 3 Der entsprechende Bautyp 6 Dieses Architekturzitat aus to Lucknow, Containing Popular heißt in Lucknow in Anlehnung dem indo-islamischen Bereich Places and Buildings Worthy of an das irakische Vorbild "Karbala". a Visit. Lucknow 61911 (11891). ist als Beispiel umso wichtiger, Nachdruck: New Delhi, Madras Hierzu Neeta Das: "Lucknow's da es sich beim Architekten der 2000. S. 73-74. Etiam: Yogesh Imambaras and Karbalas." In: Husseinabad Imambara, Ahmed Praveen: Lucknow Monuments. Rosie Llewellyn-Jones (Hg.): Ali Khan (Chota Miyan), um Lucknow then and now. Mumbai: Lucknow 1989. S. 45-46. Peter den selben Baumeister handelt, 2003. S. 90-102. Eine Reihe von der später für Wajid Ali Shah Chelkowski deutet den Namen 10 kleineren unmittelbar vom den Kaisarbagh errichtete; vgl. des monumentalen Tores als Verfall bedrohten "Karbalas" Mookherji 1883 (vgl. Anm. 2). S. Hinweis auf Byzanz: "I believe und Imambaras in Lucknow that 'Rum' here indicates not only 183. Ahmed Ali Khan verwenlistet Saiyed Abbas auf. Saiyed Byzantium (Rum in Arabic means dete also, wie im Abschnitt über 73 den Kaisarbagh zu zeigen sein wird, eine ähnliche Methode architektonischen Zitierens in seinen profanen wie in seinen sakralen Bauten. Dilkusha dagegen als "very un-Indian". Rosie LlewellynJones: A Fatal Friendship. The Nawabs, the British and the City of Lucknow. Oxford 1985. S. 43. Ich möchte dem widersprechen. 7 Neeta Das: Indian Ich kenne keine vergleichbaren Architecture: Problems in the Beispiele für die OrnamenInterpretation of 18th and 19th tierung eines Turmhelmes als Century Architecture – A Study of Blätterlaube. Dagegen ist dieses Dilkusha Palace Lucknow. Delhi Blätterornament in Lucknow 1998. mehrfach in der Gestaltung von Kuppeln oder etwa im Abschluss 8 Saadat Ali ist allerdings nicht der Minarette der Asafi Moschee der erste Nawab, der Bauten im zu fassen. Stil des europäischen Klassizismus errichten lässt; auch sein 17 Auf diesen Befund hat Vorgänger Asaf ud Daula hatte zuerst Rosie Llewellyn-Jones mehrere europäische Häuser im hingewiesen. Llewellyn-Jones Palastkomplex Daulat Khana 1985 (vgl. Anm. 16.) S. 152-153. von europäischen Ingenieuren Etiam: Sophie Gordon: "The errichten lassen. Saadat Ali Khan Royal Palaces". In: Llewellynverlegt den Schwerpunkt seiner Jones (Hg.) 2003 (vgl. Anm. 4). Bautätigkeit demgegenüber S. 30-87. Hier: S. 42-43. nach Süden. 18 Walter Hamilton: The 9 Das 1998 (vgl Anm. 7). S. 19. East-India Gazetteer containing descriptions of Hindostan. 10 1809 wird Ouseley als London 1828. II S. 131. Zitiert Botschafter an den Hof des nach Llewellyn-Jones 1985 (vgl. Shahs von Persien berufen, 1823 Anm. 16). S. 185. ist er Gründungsmitglied der Asiatic Society in London. 19 "Zopfstil" in Deutschland, "Louis Seize" in Frankreich oder 11 Das 1998 (vgl Anm. 7). S. 24. "Late Georgian" in England. 12 Bilder des heutigen Zustandes von Seaton Delaval: hier. http://www. flickr.com/photos/howick/ sets/72157601786763759/ 13 Im Wasserfarbenbild von Seeta Ram hat der Künstler die Nebengebäude gegenüber ihrer tatsächlichen Lage allerdings um 90° gedreht. Insofern ist nicht ganz auszuschließen, dass es sich um eine Idealansicht handelt. 14 Das 1998 (vgl. Anm. 7). S. 46-48. 15 Dilkusha war im März 1858 Hauptquartier der von Colin Campbell geführten britischen Armee. 16 Rosie Llewellyn-Jones betrachtet die Turmhelme der 20 Chatris sind freistehende oder als Dachaufsatz dienende Pavillons. 21 Banmali Tandam: The Architecture of Lucknow and its Dependencies 1722-1856. A Descriptive inventory and an Analysis of Nawabi Types. Delhi 2001. S. 89. 22 Vgl. J.P. Losty: "Painting at Lucknow." In: Llewellyn-Jones (Hg.) 2003 (vgl. Anm. 3). S. 131, 132. 23 Dieser auffallende Befund wurde bei der Deutung des Gebäudes in der bisherigen Literatur offenbar übersehen. 24 Auch eine weitere Anspielung ist denkbar: die europäische Fassade des Chota Chattar Manzil weist nach Norden zum 74 Herkunft der europäischen Formen, die indische nach Süden. Dies mag ein gelehrtes Architekturspiel mit den verwendeten Architekturstilen und ihrer Herkunft andeuten. 25 Hintergedanke bei Wahl dieser Form war möglicherweise die Absicht, den Frauen des Nawabs (ähnlich wie in Jaipur) einen Ausblick auf die Schiffsprozessionen und Feuerwerke zu gestatten, die sich am und auf dem Fluss Gomti abspielten. Diese Schiffsumzüge waren elaborierte und prunkvolle Inszenierungen. Die Nawabs besaßen zu diesem Zweck ein eigenes Staatsschiff in Form eines Fisches, der als eine Art Wappentier auch regelmäßig auf Toranlagen in Lucknow anzutreffen ist. Dieses Staatsschiff ist zusammen mit der halb versenkten königlichen Yacht auch auf einem Photo von Felice Beato dokumentiert. Cf. Clark Worswick, Ainslie Embree (Hg.): The Last Empire. Photography in British India 1855-1911. New York 1990. S. 63. Auch Mookherji berichtet von Umzügen mit "fancy boats" während des hinduistischen Festes Basant. Mookherji 1883 (vgl. Anm. 2). S. 158.In kleinerem Umfang gehörten Schiffsfahrten auf dem Gomti aber auch schlicht zu den üblichen Vergnügungen des Hoflebens. Eine Zeichnung von Robert Smith aus dem Jahr 1832 etwa zeigt eine Reihe von Schiffen, die von einer Barke mit Musikanten und Tänzerinnen begleitet werden. LlewellynJones (Hg.) 2006 (vgl. Anm. 4). S. 38-39. 26 Tandam 2001 (vgl. Anm. 21). S. 90. 27 In der Tat erinnert der Bau entfernt an zeitgenössische europäische Opernhäuser, obwohl er eine ganz andere Funktion hatte. 28 Vgl. Waqarul H. Siddiqi: Lucknow, the Historic City. New Delhi 2000. S. 72. 29 Vgl. die Panoramaaufnahmen Beatos in: Llewellyn-Jones (Hg.) 2006 (vgl. Anm. 4). Abb. 48 (Teil 1 und 2) S. 92-93, Abb. 71 S. 136-137. Das Gebäude, das in der Substanz heute noch existiert, ist namentlich nicht identifiziert. 30 Sharar spricht von einem Gebäude "similar to Babylon's minaret or floating garden", gibt aber keine Gründe für diese Interpretation. Da das Motiv des Babelturms in der islamischen Kunst unbekannt ist, dürfte der Turm, wenn Sharars Deutung zutreffen sollte, ebenfalls von europäischen Vorbildern inspiriert sein. Abdul Halim Sharar: Lucknow. The Last Phase of an Oriental Culture. London 1975 (Originalausgabe 11920). S. 59. In: The Lucknow Omnibus. Den Zustand des Turmes um 1870 zeigt eine Aufnahme von Edward Saché: hier. Den heutigen Zustand zeigt eine Aufnahme aus dem Jahr 2005. Im angrenzenden Daulat Khana Palast befand sich zudem noch ein weiteres, schlankes, sechsgeschossiges Gebäude; Rosie Llewellyn-Jones vermutet darin eine Pagode, die durch eine literarische Quelle belegt ist. Llewellyn-Jones 1985 (vgl. Anm. 16). S. 181. 31 Hierzu etwa die vielfältigen Beispiele in: Eleanor DeLorme: Garden Pavillions and the 18th Century French Court. 1996. 32 Die Fülle von Anlagen, welche die Silbe "bagh" – "bagh" bedeutet "Garten" – in ihrem Namen tragen, illustriert die Dominanz dieses Bautyps: Wichtige Anlagen sind der Musa Bagh, Badschah Bag, Charbagh, Sikandar Bagh, Alambagh, Kaisarbagh. Auch Moti Mahal war ein Garten dieses Typs. 33 Vgl. Anm. 72. 34 Beg 1911 (vgl. Anm. 4). S. 65. Fast wortgleich: Edward H. Hilton: The Tourists' Guide to Lucknow. Lucknow 61907. S. 174. 35 Mookherji 1883 (vgl. Anm. 2). S. 205. 36 Gordon 2006 (vgl. Anm. 17). S. 60. 37 Siddiqi 2001 (vgl. Anm. 28). S. 84. Die Literatur spricht diesen Bau meist als Baradari an. So auch Tandam 2001(vgl. Anm. 21). S. 116. 38 Sharar 1920 (vgl. Anm. 30). S. 64. (ein lakh) aufgewendet, daher der Name. 100.000 Rupien entsprachen 10.000 £ Stirling. 45 Vgl. etwa den Entwurf für einen chinesischen Pavillon von Michel-Bartélémy Hazon um 1770. DeLorme 1998 (vgl. Anm. 31). S. 153. 46 Vgl.: hier. http://www.flickr. com/photo_zoom.gne?id=6607 36&context=set-16897&size=l 47 Vgl. Anm. 25. 39 Den besten Überblick über die architektonische Gestalt der Jilau Khana bietet eine sechsteilige Panoramaaufnahme von Felice Beato, die unmittelbar nach dem Ende der Kämpfe 1858 entstand. Auf dieser Aufnahme erkennt man neben den erwähnten Kleinarchitekturen auch zwei Holzgerüste: es sind Galgen für die Hinrichtung der indischen Insurgenten. Im Norden des Hofes dokumentiert die Photographie zwei geplünderte und verwüstete Gebäude, in denen der Nawab eine Sammlung von europäischem Kunsthandwerk und Möbeln untergebracht hatte. Das Panorama ist reproduziert in: Llewellyn-Jones (Hg.) 2003 (vgl. Anm. 4). S. 64-69. 48 Praveen 1989 (vgl. Anm. 4). S. 181. 40 Ebd. S. 73. 49 Barnett berichtet, dass 1780 am Hof von den 12 Favoriten aus dem direkten Umkreis Asaf ud Daulas nur noch ein einziger aus einer muslimischen Familie stammte: "This shows how far Asaf had removed himself from Islamic high culture and the religious establishment, as well as how easily he related to ordinary soldiers even though they were almost all Hindus." Richard B. Barnett: North India Between Empires. Awadh, the Mughals and the British 1720-1801. Berkeley u.a. 1980. S. 177. Dieser Prozess hatte sich bei seinem Nachfolger Wajid Ali Shah offenbar fortgesetzt. 41 Rosie Llwellyn-Jones: "Reflections from Lucknow on the Great Uprising of 1857". http://www.usiofindia.org/article_Oct_Dec05_10.htm. Abruf: Oktober 2007. Zum Vergleich: ein Maurermeister verdiente in Lucknow 0,25 Rupien am Tag. Llewellyn-Jones 1985 (vgl. Anm. 16) S. 51. 50 Sharar 1920 (vgl. Anm.30). S. 64-65, 74. Etiam: Praveen: Lucknow Monuments. Wie Anm. 4. S. 180-181. Praveens Darstellung ist mit Vorbehalten zu betrachten, sie ist erzählend, anekdotisch und nennt keine Quellen. Sie bietet aber mehrfach Hinweise, die sonst nicht in der Literatur zu finden sind. 42 "dancers and singers became the pillars of the state and favourites of the realm". Sharar 1920 (vgl. Anm. 30). S. 63. 51 William Knighton: Elihu Jan's Story or The Private Life of an Eastern Queen. (11864) In: Ders.: The Private Life of an Eastern King. Together with Elihu Jan's Story or The Private Life of an Eastern Queen. London u.a. 1921. C. 14. S. 306-311. 43 Mookherji 1883 (vgl. Anm. 2). S. 159, 165. 44 Tandam 2001 (vgl. Anm. 21). S. 131. Für den Bau der Tore wurden 100.000 Rupien 75 52 Sharar berichtet, dass Wajid ud Daula seine religiösen Pflich- 58 Unausgesprochen mag sich in dieser Sichtweise die Angst des Europäers vor einem Verschwinden in der zahlenmäßig erdrückenden Mehrheit der indigenen indischen Bevölkerung ausdrücken. 73 Die Überlegenheit der europäischen Architektur steht bereits in Wightwicks Gartenphantasie und anderen Darstellungen zu Beginn des 19. Jhds. fest, in denen die zeitgenössische Architektur Europas End- und Höhepunkt 59 Fergusson ebd. S. 588. der Entwicklung bezeichnet. Diese theoretische Konzeption 60 James Fergusson: History of verbindet sich im Zeitalter 53 A.[lois Anton] Führer: The the Modern Styles of Architecture. des Imperialismus mit der Monumental Antiquities and In- London 1862. Hier zitiert nach direkten Herrschaft über andere scriptions, in the North-Western der zweiten Auflage London Regionen der Welt. Provinces and Oudh. Described 1873. S. 402-403. and Arranged. Allahabad 74 Zur Zerstörung des 1891. Nachdruck: Delhi 1970. Sommerpalastes und zu den 61 Ebd. S. 437 f. S. 265 f. Russell fühlte sich erhaltenen Photodokumenten: in Unterschied dazu beim Régine Thiriez: Barbarian Lens: 62 Brobdingnag – Land der Kaisarbagh an Temple Gardens, Riesen in Swifts Gullivers Reisen. Western Photographers of the das distinguierte Juristenviertel Qianlong Emperors European Londons, erinnert. Vgl Howard 63 Fergusson 1873 (vgl. Anm. Palaces. Amsterdam 1998. William Russell: Meine sieben 59). S. 315-316. Kriege. Die ersten Reportagen 75 Hierzu Hanno-Walter Kruft: von den Schlachtfeldern des Geschichte der Architekturtheo64 Ebd. 329. neunzehnten Jahrhunderts. rie. München 2004 (11985). S. [gekürzte deutsche Überset380-383. 65 Roderich Fuëß: "Eine zung] Frankfurt a.M. 2000. S. Anmerkung zum Royal Pavilion 76 Hierzu die hervorragende 172-173. Der englische Text in: in Brighton." In: Daidalos 19 Studie: Metcalf 1989 (vgl. Anm. Ders.: My Indian Mutinity Diary. (1986). S. 74-80. Etiam: Jan 57). S. 55-90. Reprint ed. v. Michael Edwardes. Pieper: "Sezincote. Ein ostLondon 1970. S. 100-101. westlicher Divan". In: Daidalos 77 Cf. Jan Pieper: Die 19 (1986). 54-73. 54 Vauxhall Gardens schlossen anglo-indische Station oder die endgültig im Jahr 1859, Surrey 66 Vathek. Conte arabe. Kolonisierung des Götterberges. Gardens 1862. Rosherville Hindustadtkultur und KolonialLausanne 11786. Englische Gardens schlossen hingegen Erstausgabe: Anonym [William stadtwesen im 19. Jahrhundert erst 1910. Hierzu auch: Walter als Konfrontation östlicher und Beckford]: The history of the Sidney Scott: Green retreats; westlicher Geisteswelten. Bonn Caliph Vathek. London 1786. the story of Vauxhall Gardens, 1977. 1661– 1859. London 1955. 67 Tales of the Grotesque and Arabesque. 1Philadelphia 1840. 78 Tillotson 1989 (vgl. Anm. 1). 55 Tandam 2001 (vgl. Anm. 21). S. 56-59, 117-126. Metcalf 1989 S. 213. (vgl. Anm. 57). S. .219-239 68 À rebours. 1Paris 1884. ten sehr ernst nahm, aber auch die toleranten Aspekte seiner Religion zu genießen wusste. Zur Sanktionierung seiner vielen Kontakte mit Hofdamen und Dienerinnen schloss er "Ehen auf Zeit", was, so Sharar, nach schiitischer Auffassung möglich ist. Sharar 1920 (vgl. Anm. 30). S. 71. 56 Die Bedeutung dieser Figuren scheint auch Tandam entgangen zu sein, wenn er sie als "work of a shocking vitality" klassifiziert, nicht aber ihre Funktion als heraldische Zeichen anführt. Ebd. S. 214. 57 James Fergusson: History of Indian and Eastern Architecture. London 1876. S. 490-492, 497. Hierzu Thomas R. Metcalf: An Imperial Vision. Indian's Architecture and Britain's Raj. Berkeley, Los Angeles 1989. S. 37-38. 79 Christopher W. London: "Building on Past Traditions: The Victorian, Edwardian, and Modernist Architecture of 70 Brian Lukacher: Joseph Gandy. An Architectural Visionary Lucknow." In: Llewellyn-Jones (Hg.) 2003 (vgl. Anm. 3). S. in Geogian England. New York 2006. S. 168-197. 77-89. 69 The Picture of Dorian Gray. London 1891. 1 71 George Wightwick: The Palace of Architecture: A Romance of Art and History. London 1840. 72 Llewellyn-Jones 1985 (vgl. Anm. 16). S. 152-153. 76 80 Die Förderung dieser Taluqars war ein politischer Schachzug, der die frühere Hofelite der Könige von Oudh durch eine landbesitzende Klasse ersetzte, die den Briten für ihren Aufstieg zu Dank verpflichtet war. Veena Talwar Oldenburg. The Making of Colonial Lucknow. 1856-1877. Princeton 1984. In: The Lucknow Omnibus. S. 221-224. 81 Einen Überblick über den 82 Russell 2000 (vgl. Anm.53). Verfall bedrohter Bauten S. 170. versucht: Abbas: Wailing Beauty. Wie Anm. 3. Abbildungsnachweis: co.uk/collections/svadesh/textintro.cfm http://www.flickr.com/photos/ djgold/sets/16897/ Abb. 14, 29, 31b, 32: Fotoalbum Dr. T. Goldie-Scot of Craigmuie, Moniave, Surgeon 79th Cameron Highlanders (Fotoalbum mit Aufnahmen von Felice Beato 1858). Abb. 33, 34: Bret Wallach. http://www.greatmirror. com/index.cfm?countryid=563 &chapterid=1133&picturesize =medium Abb. 12, 15, 16, 19-21, 24, 30, 31a: Sammlung des Autors. Abb. 13, 17, 18, 22, 23, 25-28: British Library, Asia, Pacific and Africa Collections. http://www.collectbritain. 77 78 Manfred Speidel (Aachen) Träume vom Anderen Japanische Architektur mit europäischen Augen gesehen – Einige Aspekte zur Rezeption zwischen 1900 und 1950. Die traditionelle japanische Architektur mit ihrer Leere und Sachlichkeit wurde zwischen 1930 und 1950 zu einem Referenzmodell für die Moderne. Doch die Wahrnehmung der gestalterischen Qualitäten der japanischen Baukunst in Europa erfolgte spät. Manfred Speidel untersucht in seinem Beitrag die Schritte und die Motive für die Wahrnehmung der Architektur Japans in Deutschland – ein Prozess der bis heute vom "Überraschtsein" erzählt, in Asien grundlegende Ziele der Moderne wiederzufinden. http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-11983 Januar 2008 #1 "FremdSehen" S. 79-96 Abb. 1. Kenzo Tange. Sporthalle für die olympischen Spiele in Tokyo, 1964. Foto Speidel. Als ich im April 1966 ausgestattet mit einem Jahresstipendium – also unbesorgt – nach Japan flog, war ich recht unvorbereitet. Ich hatte nach dem Architekturstudium in Stuttgart einen Lehrautrag an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, der alle Zeit beanspruchte. Einen Sprachkurs hätte ich eventuell in Tübingen machen können, das hatte ich aber nicht getan. verbinden wusste. (Abb. 1) Die faszinierenden Kurven alt-japanischer Tempeldächer schienen mit neuem Sinngehalt in der Gegenwart wiedergeboren, Tradition sich in Moderne mit Hilfe neuer Konstruktionen verwandelt zu haben. Das galt ebenso für Tanges Golklub Gebäude. Das schien uns genial. Tange erhielt bereits 1963 den Ehrendoktor unserer Fakultät. Architektonisch war für mich und meine Kommilitonen damals – außer den USA – vor allem Japan interessant. Hatten uns doch, z.B. die Olympischen Spiele 1964 mit zwei Sporthallen des Architekten Kenzo Tange ein architektonisches Kunstwerk beschert, das mühelos eine riesige Seilkonstruktion für ein Dach mit einer Stahlbetonskulptur für die Tribünen, also "leichtes Zelt" und "schwere Mauer" zu einer Einheit zu Durch Publikationen des deutschen Architekten Günter Nitschke wurde uns – ebenfalls 1963 – die bereits 1960, anlässlich eines Design-Weltkongresses in Tokyo gegründete Gruppe der Metabolisten vorgestellt, insbesondere Kiyonori Kikutake, der utopische Technologien zum Bau künstlicher Inseln mit japanischer Philosophie eines zyklischen Wandels verband (Abb. 2). Sein 1958 gebautes, erweiterbares Skyhouse in Tokyo verband beides japani- Abb. 2. Kiyonori Kikutake. Marine City, Unabara. Entwurfsskizze, 1960. 80 Abb. 3. Kunio Maekawa. Konzerthalle in Ueno, Tokyo, 1961. Foto Speidel sche Raumstruktur und austauschbare genes und ebenes Dach überdeckt Raumelemente. und fasst unter sich Raumlandschat zusammen, eine bewegte Topographie, Auch Kenzo Tange schloss sich die- die das große Foyer auch heute noch ser Gruppe an. Tange, Kiyonori Kiku- zu einem Raumerlebnis werden lässt. take und schließlich Kunio Maekawa, der in Deutschland als Architekt des Das waren meine Träume von Japan, Japanischen Kulturinstitutes in Köln die ich allerdings rasch gesehen hatte. bekannt wurde, – Maekawa schuf mit der 1961 vollendeten Konzerthalle in Auf meiner ersten Rundreise im SomTokyos Ueno Park eine Japanisierung mer 1966, die eigentlich der Moderne der Ästhetik Le Corbusiers, der ja auch galt, entfaltete sich aber, zu meiner Übereiner unserer Heroen war (Abb. 3). Ein raschung vor meinen Augen eine zweite großes, an den Rändern aufgeschwun- architektonische Welt. Ich entdeckte für mich die alt-japanische Architektur. Mich faszinierten die Holzbauten mit ihrem weitausladenden, schattenspendenden Dach, dem weitgespannten, sichtbaren Holzskelett, das die Schlankheit einer Stahlkonstruktion hatte. Ich war erstaunt über die Einfachheit des Katsura-Palastes, der drei Abb. 4. Erhöhte Sitznische hintereinander gestaf(Shoin) im Neuen Shoin, Villa felten Wohnbauten im Katsura, Kyoto, um 1660. Foto sogen. Shoin-Stil, der so aus Zayuho, 1926. gar nichts palastartiges an sich hatte, über die schlichte Schönheit seiner beweglichen, leicht wegnehmbaren Schiebewände, papierbespannt auf feingliedrigem Gitterwerk für einen völlig zu öffnenden Raum, der in geschlossenem Zustand Abb. 5. Wohnbauten, von innen wie eine zauMittleres und Neues Shoin der berhate Laterne wirkt. Villa Katsura, Kyoto, 17. JahrWie überrascht war ich hundert. Foto Speidel. – damals durte man die 81 Bauten auch innen sehen – über die freie Übereck-Komposition aus Flächen, Linien und Körpern der Regalnische – ein Raum im Raum – im Neuen Shoin, der mich spontan an die Kompositionsmanifeste der holländischen De Stijl Bewegung von 1917 erinnerte. Und so etwas aus dem 17. Jahrhundert, dem europäischen Barock-Zeitalter? Ein solcher Bau hat keine vorgesetzte Fassade; das Äußere ist unmittelbar Funktion für das Innere. (Abb. 4) In den sichtbar gefügten Bauteilen zeigte sich, selbst bei dem billigsten Haus, wie meiner Unterkunt oder ganz beliebigen Bauten der Umgebung, eine Sicherheit der Proportionen und eine Feinheit in den Details, die auf den unmittelbaren Gebrauch und die menschlichen Maße bezug nahmen. Dazu kam die Standardisierung durch die Tatami-Fußboden-Matten, welche die Bemühungen der modernen Architektur um Rationalisierung zu erfüllen schienen, ohne deren Kälte mit modernen Materialien wie Glas, Eisen oder Beton auszustrahlen. Das wurde rasch mein "richtiges" Japan. Und das zwang mich länger als ein Jahr zu bleiben. (Abb. 5) Hätte ich die in den 50er Jahren zahlreich erschienenen Bücher über die japanische Architektur studiert1, oder wäre an der Stuttgarter Fakultät eine Lehrkrat in der Baugeschichte gewesen, die, wie Frau Eleanor von Erdberg2 an der RWTH Aachen, regelmäßig eine Vorlesung über das japanische Wohnhaus hielt, in dem die Villa Katsura das wichtigste Beispiel war, dann hätte sich vor meiner Reise vielleicht bereits die Überzeugung durchgesetzt, dass die japanische traditionelle Architektur mit den Augen der westlichen Moderne gesehen eine ihr ebenbürtige, ihre Ästhetik jedoch um 3 Jahrhunderte vorwegnehmende, künstlerische Leistung darstelle. Ise und Katsura Für uns ist heute klar, dass die japanischen IseSchreine und die Katsura-Villa zum kulturellen Welterbe gehören müssen, zu dem man ruhig auch noch die NikkoMausoleen, die Schreinanlagen der Shogune des 17.Jahrhunderts hinzufügen möchte, deren "tatsächlich" barocke Pracht einer Herrschatsarchitektur in krassem Gegensatz zu den anderen beiden steht und doch in dem herrlichen, dunklen Zedernwald wie ein der Natur untergeordnetes, orientalisches Juwel aufleuchtet. (Abb. 6) Abb. 6. Tempeltor Yomeimon, Nikko Tosho-gu, Mitte 17. Jahrhundert. Foto Speidel. Von diesen drei großen Anlagen war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nur Nikko immer wieder in Büchern und Reiseberichten abgebildet worden. Die IseSchreine konnten oder durten nicht fotografiert werden. Die vielleicht erste Abbildung findet Abb. 7. Bildseite aus: Otto Kümmel, Japanische Baukunst V., in: Wasmuths Lexikon der Baukunst, Berlin 1931. oben: Schatzhaus Shosoin, 756, Nara. Mitte: Ise Schreine, unten: Ho-o-do (Phoenixhalle) Uji, 1053. 82 man in Wasmuths Lexikon der Baukunst von 1931, im Beitrag "Japanische Baukunst". Sie zeigt das Problem, die Bauten von Ise zu fotografieren. Wegen der hohen Zaunwand sieht man von den Bauten lediglich die Firste; man kann nur von einem erhöhten Standpunkt aus die Anlage übersehen, und das sieht wie eine Ansammlung von verfallenden Urhütten in einem Freilichtmuseum aus und gibt keineswegs, wie Bruno Taut es 1935 charakterisieren wollte, den Eindruck einer lebendigen, nicht ruinenhaten Akropolis Japans. (Abb. 7) Zum ersten Mal konnten 1953, nach dem Neubau, der alle 20 Jahre erfolgt, Fotos aus der Lut und aus der Nähe, der neugeborenen Bauwerke vor der Einweihung gemacht werden. Das ist dem Parthenon schon ebenbürtiger. Ich möchte daran erinnern, dass ja nach dem Krieg der Tenno vermenschlicht und damit auch das vormalige Staatsheiligtum Ise – ausnahmsweise zur Dokumentation – zugänglich wurde. In dem ausführlichen Beitrag in Wasmuths Lexikon der Baukunst, 1931, zeigt Otto Kümmel, die Autorität für Ostasiatische Kunst im Deutschland der Zwanziger Jahre, die Prachtbauten von Tempeln und Fürstenresidenzen, und er beschreibt sogar kurz die Villa Katsura als ein gutes Beispiel für das aus dem "schlichten Teestil" entwickelten japanischen Hause, aber von den 24 Abbildungen und zahlreichen Zeichnungen zeigt keine die Anlage. Auch sonst ist sie nirgends erwähnt. Selbst Kümmel stellte noch 1929 an die künstlerische Spitze der aus dem "Teestil" entwickelten Wohnhauskultur die Abtswohnung des Samboin und erwähnt Katsura gar nicht. (Die erste Fotomappe, die auch Bilder der Katsura Villa enthält, erscheint in Japan 1926). So konnte Bruno Taut, der berühmte Architekt Berliner Siedlungen, der im März 1933 vor den Nazis floh, als er in Japan ankam, die Villa nicht kennen, obgleich er japanische Architektur von Bildern her kannte. Der Besuch der Villa Katsura am zweiten Tag seines Aufenthaltes, am 4. Mai, wurde – wohl sehr zur Überraschung seiner Gastgeber, die sich diesen Besuch als Geschenk ausgedacht hatten – zu seinem Erweckungserlebnis. Er war ja von einer Gruppe der modernen Architekten aus Kyoto eingeladen worden und sollte ihnen für die Entwicklung der modernen Architektur Ratschläge geben, und nun entdeckte er die alt-japanische Baukunst der Villa selbst als bereits moderne. Der stichwortartige Eintrag ins Tagebuch vom ersten Besuch der Villa, gibt die Überraschung wieder: "Reine nackte Architektur. Ergreifend – unschuldig – wie Kind. Erfüllung heutiger Sehnsucht…" und als Resümee: "Feinste Differenzierung des künstlerischen Genusses: "alles" nur im Wandel, Ruhen mit Bescheidung. Schönheit für das Auge : Auge = Transformator ins Spirituelle. So Japan Augenschönheit." Taut konnte sein Katsura Erlebnis, auch sein Staunen über die Ise Schreine, die zyklisch neu errichteten Bauten aus dem Ende des 6. Jahrhunderts, erst 1935 in einem Aufsatz "Neues Bauen in Japan" in der französischen Zeitschrit l’architecture d’aujourd’hui europäischen Lesern mitteilen. Abb. 8. Tetsuro Yoshida, Das japanische Wohnhaus, Berlin 1935, Schutzumschlag. 83 Seine ausführliche Würdigung von Katsura-Palast und Garten war aber nur auf französisch zu lesen und wurde von deutschen Architekten nicht wahrgenommen. Die Bilderauswahl war spärlich auf Übereckaufnahmen an den drei Shoin-Bauten beschränkt und gab keinen Gesamteindruck. Im gleichen Jahr 1935 erschien jedoch in deutscher Sprache das Buch des Architekten Tetsuro Yoshida, Das japanische Wohnhaus, bei Wasmuth in Berlin. (Abb. 8) Es ist die erste systematische und anschauliche Gesamtdarstellung des Hauses und seiner Geschichte mit Details und vielen fotografischen Innenaufnahmen; dazu mit mehr als 20 Abbildungen der Katsura Anlage, der Bauten im Zusammenhang mit ihren Gärten. Für Taut war es eine Enttäuschung, dass nicht er die ausführliche Darstellung von Katsura als erster in Deutschland publizieren konnte, die er in seinem Buch Das japanische Haus und sein Leben, ebenfalls 1935 und im Kontakt mit Yoshida vorbereitete. Sein Buch war erst 1937 gedruckt worden und musste, als von einem, der in Deutschland verfemt war – in englischer Sprache erscheinen unter dem Titel Houses and People of Japan. Sein deutscher Text wurde erst 1997 durch unsere Publikation bekannt. Yoshida schrieb sein Buch sozusagen auf Bestellung der modernen Berliner Architekten, die er bei seinem Aufenthalt vom September 1931 bis Juni 1932 traf. Ihn "erstaunte ihr Interesse am japanischen Wohnungsbau". Und er schreibt im Vorwort weiter: Abb. 9. Ho-o-den, japanischer Pavillon auf der Weltausstellung in Chicago 1893, aus: Kevin Nute, Frank Lloyd Wright and Japan, London 1993, Abb.3.6. S.52. 84 "Das japanische Wohnhaus bietet gerade in künstlerischer Hinsicht außerordentlich viel und liefert auch für eine Lösung der Wohnungsprobleme in der ganzen Welt wichtiges Material." Der "Kaiserliche Katsura-Palast in Kyoto", war für ihn "der Höhepunkt japanischer Wohnkultur." Das war inzwischen in Japan, nicht zuletzt durch Tauts Bücher, die er in japanischer Übersetzung publizieren konnte, vielen klar geworden. Aber Taut warnte vor einfachen Übertragungen in andere Kulturen, wie Yoshida es zu propagieren schien. Das Echo der Modernen auf Yohidas Buch ist uns nicht bekannt. 1935, im 3. Jahr der Nazi-Herrschat, hatten sie offenbar Anderes zu tun, als sich mit japanischer Architektur auseinanderzusetzen. Gleichwohl erhielt das Buch eine Würdigung mit einem Textauszug in der Zeitschrit Deutsche Bauzeitung. Die auf kulturpolitische Gleichschaltung gestimmte Architekturpresse, wusste bei der Buchbesprechung allerdings nichts von einer 1931 noch gesuchten Parallele zur Moderne und lobte das Buch statt dessen als Vorbild im Sinne der Pflege von Tradition: "Ein Buch, auf das wir gewartet haben. Es ist ein Zeichen dafür, dass das Schlagwort von der internationalen Architektur seine Wirkung in der Welt verliert, dass auch in Japan die zurückgedrängte völkische Baukunst, die ohne feste Verwurzelung in der Überlieferung nicht denkbar ist, alten Boden neu gewinnt. In vorzüglicher Darstellung läßt das Buch erkennen, wie der japanische Abb. 10. Weltausstellung Paris 1900. Ausstellungspalast des Königreichs Siam, im Hintergrund fünfgeschossige Pagode des japanischen Ausstellungspavillons, aus: Die Pariser Weltausstellung in Wort und Bild, 1900. S.176. Architekt den künstlerischen Ausdruck der Geistesart seines Volkes mit Forderungen der heutigen Lebensform zu vereinen weiß."3 Man kann sagen, dass keiner der deutschen, ja auch europäischen Architekten oder Kunsthistoriker, die über Japan schreiben, bis zum Erscheinen von Yoshidas Buch 1935 oder von Tauts 1937, das japanische Wohnhaus oder gar die japanische Architektur als besondere kulturelle Leistung von Weltbedeutung angesehen hat, mit Ausnahme ihrer holzbautechnischen Kunstfertigkeit. Es bedurte dazu einer tatsächlichen Begegnung mit ihr und eines Wandels in der Anschauung von Architektur, und das war erst nach dem 2. Weltkrieg möglich. Die große Ausnahme war Frank Lloyd Wright, in den USA, der bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts die strukturelle, offene Bauweise des japanischen Hauses in die Entwürfe seiner Präriehäuser übertragen konnte, ohne – japonistisch – Bauformen zu kopieren. Er hatte jedoch in Chicago, seit der Weltausstellung 1893, ein vorbildliches Beispiel japanischer Architektur vor Augen, den sogen. Ho-o-den, einen dreiteiligen Pavillon in der Form dreier Adelswohnhäuser im Stil des 11., des 15. und des 17.Jahrhunderts. Der Pavillon stand dort bis 1946.4 (Abb. 9) Die Wahrnehmung japanischer Baukunst in Europa Für die Europäer war auf der Pariser Weltausstellung 1900 der Pavillon 85 Japans, ein zweigeschossiger Bau mit "Glockenform-Fenstern", weit weniger eindrucksvoll. Und noch weniger, wenn man die zwar höhere, aber überaus gleichmäßig geschichtete Pagode Japans neben dem viel exotischeren Turmaubau über dem (thailändischen) Pavillon des Königreiches Siam sieht. (Abb. 10) Ich möchte vermuten, dass der erste deutsche Architekt, der 1886 nach Japan für die Planung des Parlamentsgebäudes in Tokyo eingeladen wurde, der Berliner Wilhelm Böckmann (1832-1902), und zunächst einen aufwendigen Barockpalast entwarf, für seinen "japanisierenden" 2. Entwurf von 1888 eher einen solchen, an Südostasien erinnernden Turmaubau für repräsentativ hielt5 (natürlich nicht den sehr viel späteren der Weltausstellung), und nicht eine aufwendige und doch wenig Effekt machende Übereinanderschichtung gleichartiger Dächer wie an der Nagoya-Burg. Böckmann kritisierte in seinem nach der Reise privat publizierten Tagebuch von 1886 den Aufwand und die Verschwendung an Material bei den alten japanischen Monumentalbauten. Er beschrieb auch die japanischen Wohnhäuser, die ihm lächerlich leicht gebaut erschienen und weder gegen Erdbeben noch gegen Stürme gefeit waren. Er charakterisierte sie als Holzbuden, die bei einem Erdbeben wohl kaum jemanden totschlagen könnten, aber wie Zunder brennen würden. Andererseits seien die Häuser innen so sauber, dass " wir von den Dielen essen können. Es kommt das von der schönen Sitte, nie das Haus Abb. 11. Wohnraum von Hermann Muthesius in Tokyo, um 1887, aus: Yuko Ikeda (Hrsg.), Vom Sofakissen zum Städtebau, Symposium, Kyoto 2002. S.71. mit Schuhwerk zu betreten. Dafür gehen wir dann auf drei Zoll dicken Matten wie auf einem Moosteppich."6 Sein Fazit war: das japanische Haus hat schöne Merkmale, aber es ist ein exotisches Objekt und für uns nicht von besonderem Interesse. Sein Mitarbeiter, Hermann Muthesius (1861-1927), der von 1887-1890, vier Jahre lang zur Planung des Justizministeriums und des Justizpalastes in Tokyo weilte, und der später, 1907, zu den beredten Mitbegründern des Deutschen Werkbundes gehörte, schwieg öffentlich völlig zur japanischen Architektur. In einem Brief an seinen Bruder Karl vom 24. April 1889 stellt er lediglich die Leere des japanischen Raumes als das Erstaunliche heraus: "Das japanische Zimmer ist tathsächlich leer… Das Ideal des japanischen Zimmers ist absolute 'Leere'." Muss man daraus schließen, dass sie ihn erschreckte, ihm zumindest aber unbehaglich war? Das Haus, in dem er wohnte, war mit Teppichen, Möbeln und Vorhängen "wohnlich" gemacht worden und die Bildnische des Tokonoma war mit Ziergegenständen vollgestellt.7 (Abb. 11) Es waren schließlich Nicht-Architekten, die die japanischen Wohnhäuser darstellenswert fanden: 1886 veröffentlichte der amerikanische Zoologe Edward Morse Japanese Homes and heir Surroundings, ein Buch, das allerdings nicht in deutsche Architektenkreise gelangte, von Muthesius aber gelesen wurde. In Deutschland war es der Berliner Eisenbahningenieur Franz Baltzer, der als Berater der japanischen Regierung 5 Jahre lang, von 1898 an, in Japan weilte und seine in der Freizeit angefertigten bautechnischen Stu- Abb. 12. F. Baltzer, Das japanische Haus, 1903, Bucheinband. 86 dien unter dem Titel Das japanischen die berühmt gewordene Studie zu BauWohnhaus bei Ernst & Sohn in Berlin und Lebensreform in England seit der 1903 herausbrachte.8 (Abb. 12) "Arts and Crats"-Bewegung in der zweiten Hälte des 19. Jahrhunderts. Baltzer war der Meinung, das Haus Zwar ist ihm, nach mehr als 10 Jahren verdiene sehr wohl, anders als gemein- "Japan [… immer noch] in vieler Beziehin angenommen, "das Interesse unse- hung das Land, das sich einem zu träurer Architekten." "Es lohnt der Mühe, die menden Paradiese am innigsten nähert." japanische Bauweise näher kennenzu- Aber im Vergleich zu den Errungenlernen." In allen Einzelheiten beschreibt schaten der englischen Architektur er die standardisierten und beweg- bleibt er distanziert: "Die japanische lichen Bauteile, ihre Zierformen vor Auffassung des Angenehmen, Bequeallem, die Raumteilung und die äußere men und selbst Zuträglichen kann nicht Erscheinung der Wohnhäuser für die mit unserem Maße gemessen werden." verschiedenen sozialen Schichten. Allerdings lobt er im Konjunktiv: Obgleich seine Schrit als großformatiges Buch mit Grundrissen, Schnitten "Wenn wir jetzt auf Beschränkung der und einigen Fototafeln erschien, und Ausstattung mit beweglichem Hausrat damit als Vorläufer von Yoshidas Buch ausgehen und dem Zimmer mehr Eindreißig Jahre später gesehen werden heit und Ruhe zu geben trachten, so ist muss, scheint es von Architekten kaum das japanische Zimmer in seiner stolzen wahrgenommen worden zu sein.9 Viel- Leerheit geradezu ein Ideal",12 leicht war es zu wenig anschaulich. Es brachte keine Innenaufnahmen. Aber und er hat damit seinen Schrecken für den Kunsthistoriker Otto Kümmel vor der Leere des japanischen Raumes war es noch immer die einzige zuver- in einen küntigen Reformvorschlag lässige Quelle, um in Wasmuths Lexi- umgemünzt, der ihn noch nicht völlig kon der Baukunst, 1931, den bereits überzeugt, vor allem nicht, wenn man erwähnten ausführlichen Artikel über seine eigene, vollgestellte Londoner die japanische Architektur schreiben Wohnung betrachtet, in der die wenizu können.10 gen japanischen Gegenstände untergehen. Seine später gebauten Villen in Baltzer und übereinstimmend Küm- Berlin bleiben an England orientierte mel stellen fest: Obgleich die Japa- Reformarchitektur. ner "unübertroffene Meister der Zimmermannsarbeit" sind, ist das Zim- Nachdem Japans Kunstgewerbe und merwerk mit "schweren konstrukti- seine grafischen Künste im letzten ven Mängeln" behatet, wie fehlender Viertel des 19. Jahrhunderts mit einer Dreiecksverband, Holzverschwendung Überschwemmung Europas an Netoder übermäßige Schwächung der suke, den figürlich geschnitzten HalProfile an den hoch beanspruchten teknöpfen für Kordeln, den Tsubas, Knotenpunkten. "Die verwickelten den verzierten Schwertstichblättern, und künstlichen Verbindungen wür- oder den Ukiyoe-Farbholzschnitten den mit Nägeln und Schrauben verein- der europäischen Malerei und dem facht werden," schreibt Baltzer, dann Jugendstil-Kunstgewerbe mit kurviaber bewundert er wieder die große gen wie geometrisch ornamentalen Genauigkeit und Geschicklichkeit des Mustern neue Impulse gab und zur Handwerks. "Das Gewerbe steht auf Mode geworden war, konnten reformbesonders hoher Stufe, wie vielleicht in bewusste Architekten den Japonismus keinem anderen Land der Erde."11 Wir nicht mehr ertragen. Erst recht blieb sehen die ambivalente Bewertung der Japans Baukunst fremd. Von Europa japanischen Architektur. aus gesehen lag sie zudem jenseits von "Orient" und China – auch in ihren Durch Baltzers Buch fühlte sich nun Ausdrucksformen. Adolf Loos (1870Hermann Muthesius 1903 endlich auf- 1933), der für die Moderne so wichgefordert, sein Wissen um die japa- tig Wiener Architekt, schrieb mit Ironische Baukunst in einer ausführ- nie unter dem Titel Kunstgewerbliche lichen Buchbesprechung zu zeigen. Rundschau 1898: Inzwischen hatte er als Kulturattaché in England ein großes dreibändiges "Der Osten bildete das große Reservoir, Werk, Das englische Haus, vollendet, aus dem immer neuer Samen in das 87 Abb. 13. Tschillambaram, Shiwa-Teich, aus Bruno Taut, Die Stadtkrone, 1919, Abb. 41. Abendland strömte. […] Im Mittelalter brauchte man allerdings nur bis Spanien zu reisen, um eine neue Formenwelt zu entdecken, die Meister der Renaissance mußten bis Persien und Indien, das Rokoko nach China gehen, während uns buchstäblich nur noch Japan übrig blieb. Nun aber ist es Schluß. Was ist nun japanisch? Japanisch ist in erster Linie das Aufgeben der Symmetrie. In zweiter Linie kommt die Entkörperlichung der darzustellenden Gegenstände dazu. Die Japaner stellen Blumen dar, aber es sind gepreßte Blumen. Sie stellen Menschen dar, aber es sind gepreßte Menschen. Das ist ein Stilisieren, wie geschaffen dazu, die Fläche zu dekorieren und dabei doch naturalistisch bleiben zu können."13 Traumland Indien Wenn von Amerika aus, wie bei Frank Lloyd Wright, der Traum von Asien in Richtung "Westen" bereits in Japan als dem nächsten asiatischen Land ankam, so war doch für Europa der gesuchte "Osten" eine lange Reise, vorbei an vielen Hochkulturen des Orient. Musste dem Europäer der arabische, türkische und persische Orient nicht verwandter, der indische sogar noch über alles stehend erscheinen, nicht zuletzt, wenn man bedenkt, dass Badgadbahn und vielfältige Kolonialbeziehungen den Zugang nach dort viel einfacher machten als den nach Japan? In der Tat scheint um 1915 Japan aus dem Blick der Architekten verschwunden zu sein; an seine Stelle sind wieder Indien und Indochina getreten, die die Phantasie beflügelten und berauschten und 88 Projektionsfläche für ihre Sehnsüchte nach dem Ausdruck überströmenden Lebens waren. Als einen Zeugen darf ich den Kunsthistoriker und Architekturkritiker Adolf Behne (1885-1948) aufrufen, der jahrelang Bruno Taut und die moderne Bewegung in Europa geistig und kritisch begleitete. 1915 war er für einige Zeit Herausgeber der Vortrags- und Lichtbilderreihe des Zentralbildungsausschusses der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und schrieb selber 4 Vorträge. Zwei betrachteten asiatische Kunst. In dem Vortrag Die Kunst Chinas und Japans charakterisiert er die dortige Architektur als eine Baukunst der Horizontale, als eine des Daches, das auf Pfeilern ruht und dazwischen mehr oder weniger geschlossen wird. Chinesische Baukunst ist eine Landschatsbaukunst, so Behne. "An dem, was wir architektonische Formen nennen, ist seine Baukunst arm; aber sie ist unendlich reich an klugen und erfinderischen Kombinationen in die Weite." Das ist gut gesehen, aber auch ein abgeschwächtes Lob. Und das gilt ebenso für die japanische Architektur, die er gar nicht weiter betrachtet. Beiden, China wie Japan, fehlt, was wir an der Baukunst genießen: "eine in die Wolken gehende Höhe eines Turmes. Wer etwa nach Art unserer gotischen Kathedralen eine kühn zum Himmel steigende Architektur erwartet, sieht sich schwer enttäuscht." Enttäuscht werden wir nicht, wenn wir die Kunst Indiens betrachten. In Abb. 14. Bruno Taut, Die Stadtkrone, 1917, erschienen Jena 1919, Abb.49. S. 74, Vogelperspektive mit Kristallturm. dem Vortrag Die Kunst Indiens und des Islam, ebenfalls 1915, beginnt er zu schwärmen: "Kein anderes Land der Erde gilt uns so sehr als ein Land der Wunder wie Indien. Das indische Denken gehört zum tiefsten und fesselndsten Denken der Erde." Es weckt im Europäer ein selbstverständliches Echo, so Behne, im Gegensatz zu China und Japan, so dürfen wir ergänzen. Keine andere Kunst ist der indischen verwandter als die gotische des 12. bis 14. Jahrhunderts. Indische Baukunst dient lediglich der Verherrlichung der Götter, ist Tempelbau, sie kennt keine Begriffe, wie die europäische seit den Griechen. Die große Idee der Seelenwanderung – die Idee, dass der Lebensstrom alles durchfließt – beschwingt unendlich den Künstler und beflügelt zutiefst seine Phantasie. (Abb. 13) Abb. 15. Wohnzimmer eines japanischen Hauses, um 1920, aus: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 6(1921-22). S. 249 ff. 89 Bruno Taut und Japan Wir brauchen uns daher nicht verwundern, dass Bruno Taut 1917 sein erstes großes theoretisches und konzeptionelles Werk, Die Stadtkrone, mit den Kulturbauten in ihrer Mitte wie einen indischen Tempelbezirk aubaut, gekrönt von einem farbig gläsernen Turm, wie ein kristallener, lichtdurchfluteter Turmtempel (Abb. 14). Indische Tempel, ihre Arkadenhöfe und aufragenden Torbauten regen ihn zu Kristallphantasien in den Bergen an, für sein 1918 gezeichnetes Werk Alpine Architektur. Und noch aus der Indienbegeisterung entsteht 1920 der Glasbaukasten Dandanah, he Fairy Palace, der Jung und Alt zum Spielen mit farbigem Glas unter dem Bild eines indischen Märchenpalastes bewegen soll. Abb. 16. Oku-Shinden, Hauptempfangsraum im Tempel Sambo-in, Kyoto, 1598, in: Bruno Taut, Die neue Wohnung, 1924, Abb. 19. S. 29. Japan tritt für Taut erst wieder ins Blickfeld als er über eine radikale Reform der bürgerlichen, mit Nippes vollgestopten Wohnung nachdenkt und seinen Blick von der Monumentalbaukunst wieder auf den alltäglichen Innenraum lenkt. Das ist Ende des Jahres 1923. Der Indieneuphorie ist er bereits 1920 überdrüssig geworden, als alles Indische zu einer Mode zu werden begann.14 Im Frühjahr 1922 erschien, wie aus heiterem Himmel, unvermittelt eine Serie von Fotos eines in traditioneller Weise neu gebauten japanischen Hauses in der prominenten Zeitschrit Wasmuths Monatshete für Baukunst. 15 (Abb. 15) Es wirkte viel moderner und ungezwungener als die im selben Het abgebildeten, ins Groteske gesteigerten, expressionistischen "Wohnkunstwerke" des Architekten Walter Würzbach.16 Der Herausgeber Ernst Wasmuth vermerkte nur kurz: "Im Zusammenhang mit dem vorher gezeigten dürte die völlig fremde, dabei großartige Raumbehandlung besonders interessieren. Die Wirkung jener Innenräume liegt in ganz anderer Sphäre wie die der vorher gezeigten, ein Vergleich voller Anregungen für europäische Architekten." Er machte keine Angaben zu dem Haus und gab keine Erläuterung. Ein Jahr später, im März 1923, gab der Journalist Hans Schiebelhuth zu den japanischen Fotos eine enthusiastische Beschreibung in der Zeitschrit Qualität.17 Ich zitiere nur einige Sätze: 90 "Die Wohnung […] ist ein lutiges und lustiges Ineinander, ein beweglicher und bequem handhablicher Gesamtorganismus. [… Das Zimmer] ist nicht angefüllt […]. Es ist Zimmer an sich […], es ist der reine Raum […], es ist mit Großartigkeit nur auf das Räumliche gestellt […], es ist der lauterste Ausdruck einer Lebenshaltung, die immer welthat und weise, doch durchaus unasketisch ist, […] durch ihre ausgesprochene Qualität imstande, immer vorbildlich zu sein." Diese Publikationen mögen auch Bruno Taut wieder auf die japanische Fährte gesetzt haben und er stellt nun für sein Buch Die neue Wohnung im Herbst 1923 den japanischen Raum neben mittelalterliche europäische Beispiele. Taut verwendet jedoch nicht die Fotos aus der Wasmuth Zeitschrit, sondern wählt eines aus dem aufwendigen,1910 für eine Londoner Japan Ausstellung vom japanischen Innenministerium herausgegebenen Bildwerk Japanese Temples and heir Treasures. Es ist der Innenraum des Oku-Shinden des Sanboin Tempels, mit einem fein proportionierten Fachwerk und äußerst eleganten Schmuckregal. (Abb. 16) Taut will mit dem Beispiel jedoch keinen neuen Japonismus anregen. Er sieht vielmehr einen ästhetisch sinnfälligen Zusammenhang zwischen der Leere des Raumes, den gedämpten Farben seiner Baumaterialien und den leuchtend farbigen Sitzkissen, sowie den farbigen Seidenstoffen der (Frauen-) Kimonos, die es ermöglichen, die Menschen in harmonischem Zusammenklang mit dem Raum zu erleben. Statt nun den Tatamiraum zu empfehlen, folgert er für sich: "So würde für uns aus dem japanischen Vorbild analog zu schließen sein, dass zu unserer vorwiegend unfarbigen Kleidung farbige Wände gehören." Taut will nicht, dass man Japan, sei es auch noch so anregend, kopiert, sondern aus der Logik der fremden Kultur die Konsequenzen für die Raumvorstellungen in der eigenen, europäischen Kultur zieht. Er war überzeugt, dass durch das Ausräumen der überfüllten Wohnung eine Befreiung des Menschen und eine Hinführung zu einem wesentlichen Sein möglich wäre. Nur insofern könnte Japan Vorbild sein. Für Nachteile, wie die offensichtliche Anfälligkeit und Kurzlebigkeit des japanischen Holzhauses, suchte er dann eine Erklärung in der Lebenseinstellung des Japaners: "Nach der taoistischen Philosophie bleibt das Wohnhaus nichts weiter als eine Hütte für vorübergehenden Aufenthalt, worunter das Leben zu verstehen ist …", behauptet er. Diesen Satz hat er wohl in Kakuzo Okakuras Buch vom Tee gefunden18. (Abb. 17) Er scheint das Buch, das 1919 zum ersten Mal im Inselverlag erschien, genauer studiert zu haben, Abb. 17. Kakuzo Okakura, Das Buch vom Tee, Inselbücherei Nr. 274, Leipzig, seit 1919. 91 denn in einem Vortrag vom Februar 192319 mit dem Titel "Vom gegenwärtigen Geist der Architektur", zitierte er daraus, allerdings wiederum nur, um seine eigene Entwurfsanschauung zu rechtfertigen, die je nach Aufgabe andere, durchaus uneinheitliche und gebrochene Formen bevorzugte. Er zitierte folgende Sätze: "Der dynamische Charakter der taoistischen und zennistischen Philosophie legte das Hauptgewicht auf den Prozeß, durch den die Vollkommenheit erreicht werden sollte, und nicht auf die Vollkommenheit selbst. Das wahrhat Schöne ließ sich nur von dem entdecken, der denkend das Unvollendete vollendete." Das ist nach Okakura die Essenz der Philosophie des Tees und des Zen, und auch die Beschwörung der Gegenwärtigkeit im Titel Tauts deutet auf ein zennistisches Verständnis. Wiederum geht es Taut nicht um stilistische Vorbilder. Zudem hatte Okakuras Büchlein gar keine Abbildungen. Das japanische Haus als Modell der Moderne Ende der zwanziger Jahre, als die Moderne sich auch in Japan entwickelt hatte, wird das traditionelle japanische Wohnhaus tatsächlich zum Bundesgenossen der modernen Architektur erklärt und zwar von Vertretern der japanischen Modernen selbst, die sich 1927 zu einem Internationalen Architektenbund zusammengeschlossen hatten. Seit 1929 gaben sie eine Zeitschrit in Esperanto und Japanisch heraus, Arkitekto Internacia, und tauschten sie mit der deutschen Zeitschrit Moderne Bauformen aus, so dass nun ab und zu neue japanische Architektur dort veröffentlich wurde. Der erste gezeigte Bau war übrigens von Taut kommentiert worden. Das war im Februar 1930.20 Abb. 18. Motono Seigo, Umzeichnung der beiden Teehäuser Kasa-tei und Shigure-tei in Kyoto, aus: Moderne Bauformen, 30 (1931), H.5. S. 237. Ein Artikel von Motono Seigo erschien in Moderne Bauformen 1931, mit dem Titel: "Ein Wohnhaus des Kobori Enshu, Kioto, Anfang des 17. Jahrhunderts". Die Fotos von Wohnraum und Gastzimmer in Enshus Tempel sehen in der Tat in ihrer strikten Rechtwinkligkeit ohne jedes Dekor vollkommen modern aus. Um die Nähe der Modernen auch zum traditionellen, asymmetrisch gebauten japanischen Teehaus zu beweisen, zeichnete Seigo noch zwei Ansichten der Teehäuser Kasa-tei und Shigure-tei aus dem 18.Jahrhundert um. (Abb. 18) Er gab ihnen ein flaches Dach, entfernte das sichtbare Holzskelett und erhielt so, wie der Herausgeber in der Bildunterschrit bemerkte: "ein Haus von allgemeiner Gültigkeit… zeigt europäische Übereinstimmung."21 Allerdings kennen wir keinen Kommentar dazu von deutschen Architekten. Es war diese japanische Architektengruppe, die Bruno Taut Abb. 19. Tetsuro Yoshida, Wohnhaus Baba, Tokyo, 1928, Schlafzimmer, aus Yoshida, Das japanische Wohnhaus, 1935, Abb.79. S. 75. 92 1933 nach Japan einlud, und denen er auf der Reise die Botschat zukommen ließ, die moderne Architektur habe ja in der traditionellen japanischen ein gutes Vorbild, aus dem sich eine neue Baukunst entwickeln ließe. Noch kannte er sie erst aus einigen Fotos. In der Tat war das Wohnhaus, das Tetsuro Yoshida dann in seinem Buch Das japanische Wohnhaus, 1935 als modernes vorführte, der eigene Entwurf für das Haus Baba in Tokyo, und das er vielleicht 1931 bei seinem Besuch in Deutschland in Vorträgen auch zeigen konnte, ein Beispiel des traditionell handwerklich gebauten Hauses, das in seiner radikalen Rechtwinkligkeit vollkommen modern aussah. (Abb. 19) Aber es blieb der Nachkriegsmoderne vorbehalten, noch einmal die "stolze Leere" der japanischen Architektur Abb. 20. Steingarten des Tempels Ryoanji, Kyoto, 2. Hälfte 15. Jahrhundert, Foto Speidel. mit den ganz anderen Voraussetzungen des Reisens und Dokumentierens selbst neu zu entdecken. Ich gebe zum Abschluss nur ein Beispiel. Während in den zwanziger Jahren deutsche Architekten aus finanziellen Gründen nicht bis Japan reisen konnten, besuchten viele junge japanische Architekten, wie auch Yoshida, Europa und insbesondere Berlin oder das Bauhaus in Weimar und Dessau. Aber ihr Interesse galt der modernen Architektur, zuverlässige Kunde von Japans Baukunst brachten sie kaum mit, vielleicht ein paar Fotos.22 So ist es nicht zu verwundern, dass Walter Gropius, als er im Frühsommer 1954 zum ersten Mal von den USA aus, in die er 1937 emigriert war, für drei Monate Japan bereisen konnte, euphorische Briefe schrieb, und nun, mit 71 Jahren, japanische Bauten in seine Architekturbetrachtungen einzubeziehen begann. Mochte Gropius in den zwanziger Jahren auch Interesse an japanischer Architektur gehabt haben, gesprochen hatte er nicht darüber. Der Funke einer wirklichen Begeisterung konnte erst bei der Begegnung mit ihr selbst überspringen; in den 20er Jahren war da höchstens ein glimmender Docht zu spüren gewesen. An den bedeutendsten Pionier der modernen Architektur, Le Corbusier (1887-1965), in Paris schickte er nun von Kyoto aus eine Fotopostkarte mit dem Bild des Ryoanji Steingartens (Abb. 20): 93 "Lieber Corbu, alles wofür wir gekämpt haben, hat seine Parallelen in der altjapanischen Kultur. Dieser Stein-Garten von Zen Mönchen im 13. Jahrhundert – Steine und gerechter weißer Kies – könnte von Arp oder Brancusi sein – ein erhebender Ort des Friedens. Du wärst so erregt wie ich in diesem 2000 Jahre alten Raum von kultureller Weisheit! Das japanische Haus ist das beste und modernste, das ich kenne und wirklich vorfabriziert…" 23 Die wenigen Zeilen drücken eine große Überraschung und eine unerwartete Offenbarung aus. Obgleich Gropius sich mit Büchern wohl gut auf die Reise vorbereitet hatte, schreibt er, als hätte er den Steingarten oder die Häuser vorher nicht gekannt. Der Eindruck des Ryoanji Gartens aus dem frühen 16. Jahrhundert und der Katsura Villa, die zwischen 1617 und 1663 erbaut wurde, erschienen ihm so unglaublich modern, dass ihm nur der Vergleich mit den besten Künstlern abstrakter Plastik seiner Zeit, Hans Arp oder Constantin Brancusi, in den Sinn kam. "Alles, wofür wir gekämpt haben" – Vorfabrikation, Standardisierung und Einfachheit –, entdeckte er in Japan als lange Tradition und als lebendige Gegenwart. Japan bestätigte ihm nun sozusagen die Universalität des eigenen Bestrebens. Mit dem Erleben der japanischen Architektur sah er seine Ziele und die seiner viel kritisierten Mitstrei- Abb. 21. Walter Gropius, Kenzo Tange, Yasuhiro Ishimoto, Katsura, Tradition and Creation in Japanese Architecture, New Haven 1960, Umschlag. ter wie durch ein unerwartetes Wunder seit langem erfüllt und damit tatsächlich verwirklichbar. Umgekehrt konnte er, einer der Protagonisten der europäischen Moderne, Japans alte Architektur jetzt, 1954, (wie Bruno Taut ja auch bereits 1933, aber unbeachtet) als äußerst modern ansehen; auch im Gegensatz zu vielen japanischen Architekten für die sie nach dem Krieg Feudalarchitektur mit unzeitgemäßen Baumaterialien und Bautechniken war.24 Gropius ehrliches Überraschtsein zeigt andererseits, dass er sich vor seiner Reise japanische Architektur nur ungenau vorstellen konnte. Man darf wohl seinen Äußerungen glauben, dass deren zurückhaltende, ästhetische Kultur, die trotz Vordringen moderner, westlicher Zivilisation weitgehend noch lebendig war, ihm ein solch großes Rätsel aufgab, dass er nach einem geistigen Hintergrund glaubte suchen zu müssen: "Ich fragte meine Freunde im International House of Japan [wo er 1954 in Tokyo logierte] um Hilfe, und sie führten mich in die fesselnden Schriten von Dr. Suzuki ein, insbesondere seine Interpretation des Zen Buddhismus. Als wir dann die großen Kulturorte in Kyoto und Nara besuchten, teilten wir, meine Frau und ich, unsere Zeit ein zwischen Besichtigungen am Tage und das Studium von Dr. Suzukis Buch über 94 den Einfluß des Zen auf das japanische Leben in der Nacht, eine strapazierende Lebensweise für Reisende, aber höchst lohnend, denn Schritt für Schritt fanden die Phänomene vor unseren Augen ihren Platz."25 Das Buch, das Gropius auf seiner Japanreise studierte, war Suzuki Daisetsus Zen and Japanese Culture. Suzuki wiederum lobte bei einem Besuch in Gropius’ Haus bei Boston 1959, dieses zeige Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Zen.26 Interessant ist, dass zum Ende der 50er Jahre der Vergleich mit Japan zu einem Ritterschlag oder gar einer Erhebung in den kulturellen Adelstand wurde, so hoch stand nun die Wertschätzung der japanischen Kultur und des japanischen Wohnhauses. Eine umfassende Verbindung mit der Philosophie des Zen, die dazu gehörte, verstand Daisetsu Suzuki ausführlicher und eindringlicher darzulegen, als das Okakura Kakuzo mit seinem bescheidenen Buch vom Tee vermochte. Walter Gropius, und leider nicht Bruno Taut, der sich sehr darum bemüht hatte, aber bereits 1938 in seinem zweiten Exil in der Türkei verstarb, hat einen großen Teil zu der umfassenden und bis heute andauernden Entdeckung Japans durch die Moderne beigetragen. Im ersten Katsura Buch in englischer Sprache schrieb er einen Abb. 22. Pavillon zur Veranstaltung von DichterWettbewerben, Korakuen, Okayama, 18. Jahrhundert. Foto Speidel. langen Aufsatz über japanische Architektur. (Abb. 21) Die Fotos von Bau und Garten suggerieren moderne, abstrakte Kompositionen. Auch Kenzo Tange bekannte sich mit seinem Werk zur Katsura Tradition, fast ganz so wie Bruno Taut es schon 1934 den japanischen Architekten vergeblich empfohlen hatte. Nachwort Ich darf zum Abschluss gestehen, dass auch für mich die Entdeckungen in Japan noch nicht zu Ende sind. Warum hatte mich vor erst zwei Jahren der Pavillon für die Gedicht-Wettbewerbe mit kleinen Sake-Schiffchen auf fließenden Wasser im Kôrakuen in Okayama aus dem 18. Jahrhundert noch so begeistert? (Abb. 22) Ich glaube, er verkörpert den noch immerwährenden Traum, den die japanische Architektur zu erfüllen scheint: das Haus des Menschen soll keine harte Mauerschale, keine gebaute Höhle sein, sondern ein leichter und völlig zu öffnender Organismus. Man ist dort geschützt durch ein Dach in einer bescheidenen, aber nicht dominierenden räumlichen Ordnung, die doch eine Freiheit verspricht, sobald man sie verlässt oder mit den Augen die lichtdurchdrungene Pflanzenwelt draußen beschaut. Manche der Träume, die man irgendwo verborgen in sich trägt, entstehen wohl erst an dem fremden Ort, an dem man seinen ersten, ganz anderen Traum in Erfüllung gegangen sah. Anmerkungen historikerin und Spezialistin für ostasiatische Kunst. Professorin 1 Sutemi Horiguchi und Yuian der RWTH Aachen von chiro Kojiro: Architectural Beauty 1951-1968, danach Professorin in Japan. Tokyo 1955; Tetsuro an der Universität Bonn. Erdberg Yoshida: Japanische Architektur, verfasste unter anderem das Berlin 1952; Das japanische Buch: Grundsätze des Wohnens Wohnhaus (2. Auflage), Berlin im westlichen und östlichen 1954; Der japanische Garten, Raum: Baustil und Bautechnik in Berlin 1957. Amerika und Japan. Köln 1964. 2 Eleanor von Erdberg (1907-2002) deutsche Kunst- 3 Deutsche Bauzeitung, 1935, H. 23. S. 461 f. 95 4 Kevin Nute: Frank Lloyd Wright and Japan. London 1993. S.48 – 72. 5 Michiko Meid: Europäische und nordamerikanische Architektur in Japan. Köln 1977. S. 22 ff. 6 Wilhelm Boeckmann: Reise nach Japan. Berlin 1886. S. 126, 78, 129. Die Planungen umfassten Parlament, Oberster Gerichtshof, Justizministerium, Polizeipräsidium und Marineministerium und die dazugehörende Stadtplanung. Gebaut wurde schließlich ein provisorisches Parlamentsgebäude, das bald abbrannte, das Justizministerium, das vereinfacht erhalten ist, und der Gerichtshof, der um 1970 einem Neubau weichen musste. japanischen Architektur eine mögliche Quelle. Allerdings findet man bei Baltzer wenig anschauliche Abbildungen dazu. 21 "Ein Wohnhaus des KoboriEnshu, Kioto Anfang 17.Jahrh.". In: Moderne Bauformen 30 (1931) H.5. S. 236-237. 22 Eine Ausnahme mag Tetsuro Yoshida gewesen sein, der 1928 auch ein großes 11 Anm. 22. S. 13 und 14. Wohnhaus in traditioneller Bauweise für einen reichen 12 Hermann Muthesius. "Das ja- Bauherrn errichtete und dies in 7 Unbeeindruckt von der panische Haus": In: Zentralblatt äußerst reduzierten Bauformen japanischen Architektur baute er der Bauverwaltung 1903, Nr. 49, durchführte, also "modern" und für die evangelische Gemeinde 20. Juni 1903. S.306-307. traditionell zu bauen wusste. in Tokyo 1889 eine neugotische Es wird berichtet, Gropius habe Kirche, die beim Erdbeben 13 Adolf Opel (Hrsg.): Adolf Bunzo Yamaguchi (1902-1978), 1923 zerstört wurde. Siehe: Loos, Ins Leere gesprochen, der 1931-32 in Europa reiste Vom Sofakissen zum Städtebau. 1897-1900. Wien 1981. S.38. und ab Mitte 1931 für ein halbes Hermann Muthesius und der Jahr in seinem Büro gearbeitet Deutsche Werkbund. Ausstellung 14 Bruno Taut: "Glaserzeugung hatte, gebeten Fotos von und Katalog, National Museum und Glasbau". In: Die Qualität, 1, Teehäusern mitzubringen, die of Modern Art, Kyoto, 2002. S. H. 1/2, April/Mai 1920. S. 11. wohl auch ausgestellt wurden, 54 – 58 und 68-71. aber das waren nur einzelne 15 Wasmuths Monatshefte für Proben, die eine Erwartung nur 8 Franz Adolf Wilhelm Baltzer: Baukunst 6 (1921/22). S. 249 ff. unzureichend befriedigten. Das japanische Haus, Eine Es ist nicht klar, ob es sich bei bautechnische Studie. Berlin den Abbildungen von mehreren 23 "Dear Corbu, all what we 1903. Es ist mit 72 Seiten und 9 Gäste- bzw. Hauptwohnräumen have been fighting for has its Tafeln ein umfangreiches Buch um verschiedene Häuser parallel in old Japanese culture. voller bautechnischer Details in oder gar um ein aufwendig This rock garden of Zen-monks Text und Zeichnungen. Baltzer gestaltetes japanisches Hotel in the 13. century – stones and war eigenen Angaben im Buch handelte. Jedenfalls gab es raked white pebbles – an elating zur Folge königl. preußischer nach dem Ersten Weltkrieg, spot of peace. You would be as Eisenbahn- Bau- und an dem Japan nicht beteiligt excited as I am in this 2000 year Betriebsinspektor, der bei dem war, ein reiches Klientel, das old space of cultural wisdom! The Bau der Berliner S-Bahn mitsich den Neubau traditioneller Japanese house is the best and gewirkt hatte. In Tokyo war er Wohnhäuser leistete. most modern I know of and truly Beirat im kaiserlich Japanischen prefabricated. Hoping you are Verkehrsministerium. Baltzer 16 Ebd. S. 234. well. Greetings to you and Mme veröffentlichte einen weiteren yours Gropius." Francesco Dal Co Band zur Architektur Japans: 17 Hans Schiebelhuth: entdeckte diese Postkarte vom Die Architektur der Kultbauten "Japanische Innenräume". In: Die Juni 1954 im Archive Fondation Japans, Berlin 1907. Qualität 3 (1922/23). S. 70–73. Le Corbusier in Paris und publizierte sie im Buch Katsura, 9 Ob Mies van der Rohe 18 S. Kakuzo Okakura Imperial Villa des Electa Verlages es während seiner Zeit als (1862-1913): Das Buch vom Tee. in Mailand, 2005. S. 386-389. Angestellter bei Bruno Paul in Englisch 1906, deutsch 1919 Berlin konsultiert hat, weiß als Inseltaschenbuch Nr. 274 24 S. Reginald R. Isaacs: Walter man nicht. Woher er sonst erschienen. Gropius, Der Mensch und sein die Anregung gehabt haben Werk, Berlin 1984. S. 1011-1022 könnte die Wandgliederung 19 Bruno Taut: "Vom gegenwärder Halle im Haus Riehl, 1907, tigen Geist der Architektur", als 25 Contribution by Walter als feingliedriges Quadratmus- Vortrag gehalten in Düsseldorf, Gropius for the book to be ter unter einem durchgehenKöln, Rotterdam und Amsterdam given to Dr. Suzuki on his 90th den Friesprofil auszuführen, im Frühjahr 1923. In: Hellweg, birthday (1959), Typoscript, das in seinen Proportionen so 3(1923), H.28. S. 487-489. Bauhaus Archiv Berlin sehr japanischen Shoji-Schiebewänden ähnelt, ist völlig 20 Moderne Bauformen 29 26 Isaacs, Anm.24. S. 862. Karin unklar. Auch Franz Schulze (1930), H.2. S. 67, im Anschluss Kirsch: Die neue Wohnung und vermutet in: Mies van der an Tauts Artikel "Rußlands das alte Japan. Stuttgart 1994. Rohe, Berlin 1986. S. 34 in der architektonische Situation". S. 155. 10 Anm.4. S. 273-290. 96 Thomas Knüvener (Köln) Ästhetik der Deponie Der Umgang mit Abfällen ist durch Paradoxien bestimmt: Das urbane Leben erzeugt in unvorstellbarem Ausmaß Abfall, doch Deponien sind selten willkommen; noch seltener werden sie als wichtige Bestandteile der modernen Infrastruktur wahrgenommen und gestaltet. Obwohl Deponien mittlerweile technologisch hochkomplexe Anlagen sind, werden sie im Bewusstsein der Mehrheit ausgeblendet. Dieser Zustand erfordert ein neues Sehen, das die Möglichkeiten von Deponien als Landschaftsbaustellen nutzt, um sie als Infrastrukturprojekten mit erkennbarer Bedeutung zu gestalten. http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-12028 Januar 2008 #1 "FremdSehen" S. 97-103 Wenn der Besucher von Osten kommend eine der Rheinbrücken überquert, liegt ihm Köln zu Füssen. Die Brücken heben den Ankommenden hoch über den Rhein und inszenieren die Einfahrt und den Blick. Die Identität einer Stadt besteht für viele in solchen bedeutungsvollen und sinnstitenden Monumenten. Jeder weiß, nicht alle Momente sind derart beeindruckend und erinnerungswert wie die Rheinquerung, - im Gegenteil. Sowohl der Bahnreisende auf der HohenzollernBrücke wie auch der Autofahrer auf der Zoobrücke haben eine lange Anfahrt hinter sich. Vorbei an Industriegebieten, Zufahrtsrampen der Schnellstrassen und Autobahnen. Infrastruktur ist in vielen Bereichen prägend für die Wahrnehmung von Stadt. Hinzu kommen Einrichtungen, die gezielt abseits angelegt worden sind, so etwa die Zentraldeponie Leppe. Die Infrastruktur, welche die Stadt funktionieren lässt, bedeckt größere Flächen als jede geschichtsträchtige Altstadt. Selten ist sie jedoch in ähnlicher Weise Bedeutungsträger. Nur Brücken sind Ausnahmen von dieser Regel, da sie durch ihre metaphorische Dimension schnell im allgemeinen Gedächtnis zu Bedeutungsträgern avancieren, als Höchstleistungen der Ingenieurskunst gelten und "zur Architektur werden". Im Allgemeinen aber ist es nicht häufig, dass Infrastrukturbauwerke in solch positiver Weise als identitätsstitend wahrgenommen oder dass sie über ihre Funktionalität hinaus als wertvoll empfunden werden. Die Mehrzahl der infrastrukturellen Bauwerke bleibt unbestimmt und ungestaltet. 98 Besonders gilt dies für das gesamte Entsorgungssystem einer Stadt. Das urbane Leben erzeugt in unvorstellbarem Ausmaß Abfall. Das System der Abfallentsorgung ist komplex und hybrid: Vom einzelnen Funktionsgegenstand, den Abfallcontainern über die Abfallfahrzeuge zu den Bauwerken der Umschlagsstationen bis hin zur großflächig landschatlichen Organisation der Deponieanlagen. Fortschreitend rückt dabei der Abfall vom Erzeuger aus der Stadt in die Peripherie, wo er endgelagert wird. Selten kennt der individuelle Konsument die Lage dieser Einrichtungen, geschweige, dass er je dort gewesen ist und sie erlebt hat. Wenn die Gesellschat für die Infrastruktur des Abfalls "Wissen, Technik und Geld"1 investiert, werden insofern ot Chancen vergeben, denn die spezifisch entwickelten Lösungen und Produkte der Abfallwirtschat haben durchaus große gestalterische Potentiale. Um diese Potentiale aufzuzeigen, wird hier beispielhat die Deponie als der räumliche Teil des Abfall-Systems untersucht. Geschichte Auch ein "scheinbar ahistorisches Phänomen"2 wie der Abfall hat Entwicklungen im gesellschatlichen Verständnis erfahren und eine eigene Geschichte. Recycling und Wiederverwendung sind keine neuen Entwicklungen, sondern waren eine Selbstverständlichkeit bis zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Der Anteil des wiederverwendeten Materials war vergleichsweise hoch – Rohstoffe waren ein teures Gut und nahmen ein hohen Kostenanteil in der Produktion ein. Arbeitskrat war billig. Dies machte es lohnend, Gebrauchsgegenstände immer wieder zu reparieren. Hausmüll wiederum bestand zu großen Teilen aus organischen Abfällen wie Speiseresten und Küchenabfällen; diese konnten verfüttert oder als Dünger eingesetzt werden. Der Rest wurde auf dem Grundstück in der häuslichen Senkgrube entsorgt. Anders sah es dann in den aukommenden Großstädten des 19. Jahrhunderts aus: Die Subsistenzwirtschat mit eigenem Vieh oder Anbauflächen wurde durch immer dichtere Bebauung nicht mehr möglich, so dass Müllberge und Fäkalien ein dauerhates Problem darstellten. Die unzureichende Entsorgung der Abfälle wurde zu einer gesundheitlichen Bedrohung, da die Zusammenhänge von Abfall und verschiedenen Krankheiten nicht verstanden wurden und es wiederholt zum Ausbruch von Seuchen kam. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts erkannten Wissenschatler schließlich die Bedeutung der Hygiene. Darauf folgte der Ausbau geordneter Kanalisationen und der Aubau einer Abfallentsorgung. Anfänglich noch schwer durchsetzbar, war eine städtisch organisierte Müllabfuhr schon bald nicht mehr aus dem Alltagsleben weg zu denken. Es musste allerdings auf dem eigenen Dorf- oder Stadtgebiet entsorgt werden: Niemand akzeptierte fremden Abfall auf seinem eigenen Territorium. Jede Gemeinde hatte ihre eigene Müllkippe, meist offen gelassene und zur Verfüllung freigegebene Abgrabungen. Jedoch waren viele der Deponien ungesichert, so dass Schadstoffe durch Sickerwasser in das Grundwasser gelan99 gen konnten. Hinzu kamen die Gerüche und Abfall, den der Wind in die Umgebung trieb. Insbesondere für die Großstädte mit geringerer Fläche wurde die Deponierung auf dem eigenen Stadtgebiet ein Problem. Schon früh wurde die Möglichkeit der Abfallverbrennung in Erwägung gezogen und erste Abfallverbrennungsanlagen wurden konzipiert. Mit dem aukommenden Umweltbewusstsein in den 1970er Jahren kommt es zu einem Anschauungswandel: Das Gefährdungspotential der unzureichend gesicherten Abfallkippen wird erkannt. Kommunen und Kreise reagieren durch gemeinsam geführte Zentraldeponien. Sie werden an Orten errichtet, welche nach geologischen Untersuchungen als geeignet eingestut werden, d.h. insbesondere wasserundurchlässige Bodenschichten aufweisen, die das Grundwasser schützen. Mit der Verwissenschatlichung der Planung geht die Technisierung der Abfalldeponierung einher. Deponietechnik konstruiert künstliche Abdichtungen, Sickerwasseraubereitung, Gasaubereitung und –verstromung; das Verhalten der Deponiemasse nach Einbringen und Setzungen wird erforscht. Die neueste Veränderung, ausgelöst durch die Novellierung des Bundesimmissionsschutzgesetzes 2005 und dem dort erlassenen Deponierungsverbot für organischen Abfall, ist die Vergärung oder die Verbrennung dieser Abfälle; letzteres um Strom zu erzeugen und um das Volumen des zu deponierenden Materials zu verringern. Jedoch ist diese scheinbar elegante Lösung auch nicht ohne Tücken: Ot muss brennbares Material zugegeben werden, um wirkungsvoll zu verbrennen, zum anderen gelangt wird anhand einer Vielzahl von Paraein Teil des Abfalls durch die Verbren- metern überwacht: Senkung, Dichte, nungsgase in die Atmosphäre. Wasserstand. Alle Materialien, die verbaut werden, sowie sämtliche Stoffe, die Die geschichtliche Entwicklung zeigt, aus der Deponie entweichen, werden wie die Gesellschat mit Abfall umgeht aufgezeichnet und kontrolliert. All dies und das Verhältnis zur Umwelt bewer- ähnelt einer riesenhaten Laboranordtet. Darüber hinaus spiegeln sich in der nung, die den biologischen AbbauproArt und Weise der Abfallbewältigung zess anschiebt und in Gang hält. die technischen Möglichkeiten der Zeit. Deponien sind selten willkommen. "Im Technologie Bewusstsein der Menschen sind Deponien 'Unorte'."4 Zugänglich sind sie nur Dieser kurze Abriss der Geschichte für die Betriebsanghörigen, ganz abgedes Abfalls und der Abfallentsorgung sehen davon, dass sich selten jemand zeigt, dass es eine Entwicklung zu zen- freiwillig in diesen Tabuzonen bewegt. tral organisierten Institutionen und zu Zäune schirmen den Betriebsbereich speziellen Anlagen gibt. Die Zentral- und die Flächen, die von Setzungen deponie ist eine infrastrukturelle Ein- betroffen sind, ab. Ein Ring aus Buschrichtung, die Resultat einer aufwendi- werk bildet einen Emissionsschutz und gen und umfangreichen Forschung ist.3 beschränkt den Einblick. Schon beim Alle wesentlichen technischen Aspekte Einrichten der Deponie wird die Nachfließen ein: Bodenkunde und Geologie sorge geplant, die Natur soll zurückbei den vorbereitenden Arbeiten und kehren und die Landschat soll nach der Suche nach dem passenden Stand- Jahrzehnten wieder unberührt ausseort, Materialforschung für adäquate hen. Aktuell wird es zu vielen SchlieDichtungstechnologien und –metho- ßungen kommen, denn die Gesetzesden, Verfahrenstechnik bei Sicker- änderung von 2005 beendet die Depowasseraubereitung und Deponie- nierung von organischen Abfällen. Hier gasentnahme und –verwertung sowie tritt schließlich eine neue Herausfordeverschiedene Disziplinen im Bereich rung auf: Nicht die technische NachMaschinenbau für die Konstruktion sorge ist Neuland, diese wird ähnlich von Sortier- und Sammelanlagen, effizient sein wie das bisherige System Aubereitung und natürlich auch den der Abfallwirtschat, vielmehr steht die gesamten Fahrzeugpark vom Müllfahr- Frage nach dem Erscheinungsbild einer zeug bis zur Spezialmaschine auf der stillgelegten Deponie im Raum. Die Anlage selbst. Auch der Deponiekörper technische und rechtliche Entwicklung 100 zwingt dazu, Deponien aus einer neuen sen Widerspruch, wenn nicht aufzulösen, so zumindest bewusst zu machen: Perspektive zu betrachten. Ästhetik Die technischen Mittel zur Betreibung einer Deponie sind ausgereit. Eine ganze Branche ist darauf spezialisiert, mit den Überresten des täglichen Lebens umzugehen. Es gibt eine Vielzahl besonderer Materialien und entsprechende Techniken, den Abfall einzubauen und über lange Zeit zu sichern. Eine neue Typologie der Deponie hat sich entwickelt, eine Art der Anlage, die eine hybride Form zwischen Landschat und Bauwerk einnimmt. Es ist an der Zeit, nicht ausschließlich über den ordnungsgemäßen Einbau, sondern gleichzeitig über die Gestaltung der Deponie nachzudenken. Es geht nicht mehr nur um die technische Bewältigung einer Aufgabe, sondern im gleichen Maß um gestalterisches Vorgehen und um die Erzeugung von Bedeutung im Sinne von Relevanz und Wert. Wie Hermann Prigann bei seinen Ausführungen zum "Museum der verlorenen Wünsche" schreibt, haben die Menschen Befürchtungen, mit Orten, auf denen Abfällen lagern, umzugehen. Abfälle sind nicht nur lästige Überbleibsel, sondern häufig übelriechend und unhygienisch. Wegwerfen ist ein "Distanzieren" von Dingen, die unangenehm oder schlimmeres sind. Andererseits produziert jeder Abfall und jeder ist dadurch an dem Entstehen dieser Orte der Entsorgung und Lagerung beteiligt. Es geht darum, die101 "Die Frage heute und in der Zukunt ist: Wie können wir nicht nur eine Mitverantwortlichkeit an der Müllentstehung beim Einzelnen erreichen, sondern wie können wir statt der Verdrängung der "Altlasten" sogar ein Interesse an den im Inneren einer Deponie ablaufenden Prozessen wecken?"5 Hier gibt es eine grundsätzliche Strategie: Diese Orte müssen zugänglich werden. Meist liegen Deponien abseits und abgegrenzt hinter hohen Zäunen, abgepflanzt durch Sicht- und Staubschutzbewuchs und sind aus betrieblichen Gründen unbetretbar. Das kann sich ändern und die gesamte Fläche oder Teilbereiche können unter bestimmten Umständen "veröffentlicht" werden. Dieses Vorgehen bietet sich beim der laufenden Deponierung an. Außerdem können Strategien entwickelt werden, wie die verbleibenden betrieblichen Prozesse ablaufen können, auch wenn die Öffentlichkeit Zugang zum Gelände hat. Es besteht die Verantwortung, Deponien als Einrichtungen der öffentlichen Hand bzw. mit öffentlichem Auftrag zurück ins öffentliche Leben zu führen. Dies ist nicht nur im unmittelbaren Wortsinn zu verstehen; es meint ebenso eine Transparenz der ablaufenden Vorgänge, das Bemühen um eine Kommunikation zwischen Spezialisten und Laien. Viele technische Prozesse der Abfalldeponierung sind aufgrund ihrer Komplexität für den Laien nicht mehr verständlich, zumal viele Abläufe unsichtbar sind: Die Deponie erscheint von außen vor allem als ein großer Hügel, der nicht einsehbar ist. Daher ist es in besonderer Weise notwendig, Funktionsabläufe und -prinzipien verständlich aufzubereiten, eine Erfahrung des Ortes zu ermöglichen und Verständnis zu schaffen. "Seit Ciceros Vergleich zwischen der Pflege der menschlichen Seele und dem Ackerbau dient die Arbeit an der organisch wachsenden Natur als ein Vorbild und Muster, anhand dessen sich die Menschen klar zu machen versuchen, wie sie mit sich selbst und der Welt umgehen wollen."6 Panoramablick über die Umgebung möglich wird. Form und Bedeutung aus neuen Stoffen und neuen Technologien zu entwickeln, ist das große Potential. Es kann eine neue Ästhetik der Materialien entstehen, welche die extrem dauerhaten und widerständigen Produkte nutzt, die beim Bau von Deponien eingesetzt werden. Kunststobahnen, die zur Abdichtung und Abdeckung verwendet werden, sind das prägende Material der Deponie – wenn sie nicht unter dem Mantel der rekultivierenden Begrünung verschwinden. Sie können gezielt als Gegensatz zur naturnahen Umgebung eingesetzt werden und so eindeutige Hinweise auf den Ort liefern. Daneben sollte eine Strategie der Informationen über die Abfalldeponie und das sich dahinter verbergende System geboten werden, ein didaktisches Gestaltungskonzept. Ein Informationspavillon an einer besonderen Position in der Landschat mit gutem Ausblick kann gleichzeitig ein Ziel oder eine Station für Wanderungen sein, er kann Service-Einrichtungen beinhalten und über den Ort und seinen Hintergrund informieren. Eine andere Möglichkeit, die sich in dieser besonderen künstlichen Landschat anbietet, ist, das vorhandene Netz von Klein- und Kleinststandpunkten auf der Deponie als "Datenträger" zu verwenden und über viele Einzelpunkte informieren. All diese Maßnahmen können dazu führen, über ein besseres Verständnis des Ortes eine größere Akzeptanz zu erzeugen. Neben der Transparenz der technischen Abläufe und der öffentlichen Zugänglichkeit des Geländes kommt der Gestaltung der Deponie neue Bedeutung zu. Über die Nutzung der Flächen, die "zurückgegeben" werden, wird im Einzelnen entschieden, gesichert sein sollte aber ihre bewusste Gestaltung. Deponien sind Landschatsbaustellen großen Ausmaßes und dies ist gestalterisch zu nutzen. Beispielsweise können Erdformationen von besonderer Prägnanz geschaffen werden, die ihren Reiz darin haben, dass sie gerade nicht natürlich entstanden sind und sich von der Umgebung unterscheiden. Baumaschinen können statt sante Hügel zu modellieren etwa Kanten und "Kristallfacetten" planieren, die gleichzeitig optimal bestimmten funktionalen Bedürfnissen von Ausrichtung und Neigung entsprechen. Auch die Topografie kann bewusst in extremer Weise aufgebaut Deponien können sich von einem reiwerden, beispielsweise durch kegelför- nen Infrastrukturprojekt zu Bauwerken mige Hochpunkte, von denen aus ein mit Bedeutung wandeln. In diesem Sinn sollten sich Deponien – wie Brücken – zu einer Gestaltungsaufgabe wandeln, um von einer rein funktionalen Einrichtung zum Bedeutungsträger zu werden. Es ist die große Chance, beim Bau von Deponien und bei der Nachsorge das Potential dieser "Landschats-Bauwerke" zu erkennen und zu nutzen, ihre Wertschätzung und Attraktivität in der Öffentlichkeit zu fördern und gleichzeitig neue Nutzungen in die bestehenden Standort zu implantieren. 102 Anmerkungen: Baltimore, London 2004. S. 80-81. 1 Ulrike Schnappinger: "Bauen für die Abfallwirtschaft". In: 4 Hermann Prigann: Das Bauwelt 1995 H. 1-2. S. 36. "Museum der verlorenen Wünsche". In: Heike Strelow 2 Susanne Köstering, Renate (Hg.): Ökologische Ästhetik Rüb: "Müll in historischer – Theorie und Praxis künstleriPerspektive – Beispiel Berlin". scher Umweltgestaltung. Basel, In: Bauwelt 1995 H. 1-2. S. 24. Berlin, Boston 2004. S. 166. 3 Mira Engler: Designing America’s Waste Landscape. 5 Hermann Prigann: Das "Museum der verlorenen Wünsche". 103 2000. http://www.deponiestief. de/deponie/prigann/prigann1. htm (23.01.2006). 6 Johannes Bilstein, Matthias Winzen: "Park - Zucht und Wildwuchs in der Kunst". In: Johannes Bilstein, Matthias Winzen (Hrsg.): Park - Zucht und Wildwuchs in der Kunst. Nürnberg, 2005. S. 8. 104 Arne Scheuermann (Bern) RailCity oder Hauptbahnhof? Eine designtheoretische Interpretation von Transportströmen und Einkaufserlebnissen im Hauptbahnhof Bern In der neueren Designtheorie wird zur Zeit – auch in Bezug auf die Rhetorik – vermehrt der Aspekt der Wirkungsintention diskutiert; in Abgrenzung zur Analyse von 'Bedeutung' stehen in diesem Modell Produktion und Analyse in einem wirkungsgeleiteten Verhältnis. Ausgehend von der These, dass sich die beabsichtigten Nutzungen eines Gebäudes anhand des in und an ihm wirkenden Designs beschreiben lassen, wird am Beispiel des Berner Hauptbahnhofs ("SBB RailCity Bern") gezeigt, wie sich dessen 'design for shopping' zum 'design for transport' verhält. Die Architektur des Bahnhofs wird in diesem Setting weniger als 'gebauter Raum' verstanden als vielmehr als Träger und Auslöser von Informationsumgebungen, Blick- und Gangführungen, Stimmungsinszenierungen und Reizen – mit dem Ziel, Reisende und potentielle Konsument in ihrer jeweiligen Erlebniskette zu führen: ein Blick auf die Architektur eines Bahnhofs aus der Perspektive der Designtheorie. http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-12018 Januar 2008 #1 "FremdSehen" S. 105-111 Anfahrt James Bond erreicht Bern mit dem Auto: Sein silberner Aston Martin passiert den Bärengraben von Osten her und "schnürt" über die Nydeggbrücke hinauf in die malerische Altstadt. Er hält an der Heiliggeistkirche, um genau zu sein: vor der grünen Sandsteinfassade des Hotels Schweizerhof, das in der Filmhandlung eine Kanzlei zu beherbergen vorgibt. Auch andere Berner Schauplätze im BondAbenteuer On Her Majesty's Secret Service von 1969 sind nicht das, was sie zu sein vorgeben: Das als Piz Gloria berühmt gewordene, hoch in den Alpen gelegene Hauptquartier von Bonds Widerpart Blofeld beispielsweise war ein zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch ein im Bau befindliches Ausflugsrestaurant; die Filmproduktion übernahm kurzerhand die Kosten der gesamten Innenausbauten in permanenter Bauweise und durte daher den Drehort exklusiv als Höhle des Bösen nutzen. Die pittoreske Kirche, das großbürgerliche Geschätshaus, die futuristische Zentrale des Bösen: Wie für die Auswahl von Filmlocations üblich, richtet sich also auch in diesem Film das 'Casting der Orte' nach ihrer Wirkung, nicht nach ihrer eigentlichen Nutzung. So kommt auch der großen Baustelle gegenüber vom Hotel eine besondere Bedeutung zu: Sie dynamisiert und urbanisiert die Beschaulichkeit der Stadt (angezeigt durch den Barockturm der Heiliggeistkirche) und verleiht der Recherche im Schweizerhof Tempo: Die für Bond wichtigen Unterlagen sind an einem Baukran befestigt und werden ihm schließlich in einer spektakulären Aktion quer über die Strasse gereicht. Was hier gebaut wird, verrät der Film nicht: … es ist der Berner Hauptbahnhof. Modell So wie sich die Auswahl eines Drehorts an seiner Wirkung orientiert, tun dies auch andere Designentscheidungen in anderen Bereichen der Gestaltung: Die Wahl einer Farbe, einer Typografie, eines Leitsystems, eines Interface usw. lässt sich im gestalterischen Prozess grundsätzlich als Entscheidung für eine Wirkungsdimension verstehen. Designer1 tref106 fen diese Entscheidung vor dem Hintergrund erprobter Anwendungen und ihres internalisierten Wissens darüber. Die Rezeption, Analyse und Produktion fremder und eigener Designartefakte sind in diesem Vorgang über eine Schleife verbunden, die sich mit dem Modell wirkungsgeleiteter Kommunikation in der Rhetorik gut veranschaulichen lässt:2 Designer wenden Regeln an, die sich in einem Artefakt manifestieren, das dann ohne weiteres Eingreifen seiner Schöpfer auf die Adressaten wirkt. Hier ist es wichtig, zu verstehen, dass und wie der Designer lediglich die Wirkungsabsicht im Artefakt manifestieren kann: Ob und wie dieses dann auf die Adressaten wirkt, hängt davon ab, wie gelungen die Auswahl der Techniken und Mittel ist, die diese Wirkung erzeugen soll. In Umkehrung – also in der Analyse – kann ein Adressat die durch das Artefakt generierten Wirkungen an sich selbst und anderen beobachten, zu Vermutungen über die Wirkungsfunktionen der angewandten Mittel kommen und schließlich zu Vermutungen über die dieser Wirkung vorgelagerte mögliche (nicht empirische!) Intention der Designer. In diesem – in der klassischen Rhetorik gut erprobten – Lernverhältnis kommt es zur 'Weitergabe' von Designregeln, indem die Analyse wiederum die eigene Produktion beeinflusst: Designer schreiben voneinander ab – was funktioniert, wird imitiert. Innovation wird in diesem Rahmen zu einer konstruktiven Abweichung, die den Regelkreislauf lebendig hält und eine iterative Entwicklung der Regeln ermöglicht. Und mehr noch: heorie (Analyse) und Praxis (Produktion) sind in diesem Modell untrennbar aufeinander bezogen: Rhetores lernen ihr Handwerk durch die Analyse fremder und das Halten eigener Reden, Designer lernen ihr Handwerk durch die Analyse fremder und die Produktion eigener Designartefakte. In diesem Modell 'löst' Design keine Probleme, sondern trägt in einem polyvalenten Wirkungsgemisch zur Verschiebung des Problemkontexts bei. Oder wie der Designer Matt Ward in einer Diskussion zur Forschung im Design einmal sinngemäß bemerkte: "Design gibt manchmal Antworten, ohne das Problem zu lösen." 3 Abb. 1. Der Berner Hauptbahnhof. Aufnahme numstead (www.flickr.com). Methode Im vorgestellten Modell kommt der Beschreibung des Objekts als Methode eine besondere Bedeutung bei. Die Analyse der Designwirkungen und ihres Zusammenspiels führt hierbei zu einer Interpretation am Objekt und schließlich zu einer hypothesengeleiteten Hermeneutik der beabsichtigten Wirkung. Diese Interpretation erfolgt vor dem Hintergrund eigener Designtätigkeit und nutzt daher die eigenen Erfahrungen als Deutungsfolie. Man könnte sagen: Das implizite Wissen aus dem Designprozess manifestiert sich in der expliziten Interpretation des fremden Artefakts. Reisen: Design for Transport Der Berner Hauptbahnhof ist das 'Nadelöhr der Schweiz'. Er verfügt über 13 Gleise (neben den im Untergeschoss beherbergten vier Gleisen des RBS-Kopbahnhofs),4 die im Hauptgebäude durch eine bogenförmige unterirdische Passage und am Westende der Gleise seit 2004 durch eine oberhalb der Gleise verlaufende Passage mit dem Namen 'Welle' miteinander verbunden sind, deren Perrondächer auf Brettschichtholzträgern sich wie eine 107 Welle aus der oberhalb der Gleise liegenden Schanzenstrasse hinabschwingen. Die SBB Verkaufsstelle, allfällige Informationstafeln und der Auslandsschalter der SBB liegen am Eingang zur Unterführung. Wer sich heute den Gleisaufgängen nähert, muss sich also entweder in einer geschlossenen Unterführung nah der zentralen Infrastruktur bogenförmig bewegen oder fern der Infrastruktur auf einer lichten Geraden. Neben seiner Bedeutung als Umsteigebahnhof dient der Berner Hauptbahnhof vor allem Pendlern.5 Dieser Umstand führt zu einem klaren Autrag an das Gebäudedesign: Es soll die Ströme der Reisenden effektiv leiten und möglichst reibungslos auch zu Stosszeiten den Ablauf aller Transportkanäle gewährleisten. Der Neubau von 1966-1974 (noch ohne die 'Welle') galt hierfür rasch als zu eng, zu dunkel und zu wenig auf die Bedürfnisse des Reisens zugeschnitten. Im Jahr 1999 wurde deshalb mit der Umbauplanung des Bahnhofs zu seiner jetzigen Form begonnen – im Mittelpunkt standen dabei die Erneuerung des Empfangsgebäudes und die bereits oben erwähnte 'Welle'. Die zentrale Eingangssituation wurde in eine Halle umgewandelt, deren Ausmaß (60 m Länge, 14 m Breite, 17 m Höhe) nahezu ohne sekundäre Tragelemente auskommt. Die Dachverglasung ist ebenso wie die dreiseitig umlaufende Glashülle am Gebäude und die Innenhaut aus Glas mehrschichtig aufgebaut, wobei acht verschiedene Glastypen zum Einsatz kamen – es lässt sich also vermuten, dass der Kommunikation des Entwurfs Attribute wie Transparenz und Leichtigkeit beigegeben waren; in der Hauszeitung der SBB wird der Neubau dementsprechend als "lutig, sicher, friedlich" beschrieben. 6 Kauferleben: Design for Shopping Neben der Neugestaltung der Laufwege und dem vermehrten Einsatz von Glas und Licht als Gestaltungselementen zeichnet sich der Umbau nun durch eine Teilnutzung des Bahnhofs als Mall aus. Rund 50 Geschätsmieter versprechen "Shoppen auf die Moderne Art: Von morgens früh bis abends spät, 365 Tage im Jahr, hell, sauber, freundlich." 7 Die Engführung in der Marketingsprache der SBB (das Reisen "lutig, sicher, friedlich", das Einkaufen "hell, sauber, freundlich") verweist bereits auf die in eine Richtung intendierte Gesamtwirkung des Konzepts. Im Mai 2003 wurde der SBB Bahnhof eingeweiht. Und wenn das Programmhet zum "Bahnhofsfest" auch noch vom "Bahnhof " spricht, wurde in der SBB-eigenen Hauszeitschrit via bereits folgerichtig unter dem Markennamen des (im Folgenden an allen schweizer Großbahnhöfen) verwirklichten Konzepts berichtet: RailCity. Die Selbstinterpretation der SBB vereint demnach die Wirkungsdimensionen von 'Reisen' und 'Einkaufen' zu einem geschlossenen Ganzen. Diese Interpretation widerspricht der klassischen, an Reiseorten vorherrschenden Trennung beider Sphären, wie wir sie sowohl an herkömmlichen Bahnhofsmodellen als auch an Flughäfen vorfinden, in denen das Einkaufen entweder dem Reisezweck selbst dient oder aber entlang unvermeidbarer Reisewege stattfindet: Der typische 'Blumenladen und Kiosk' kleinerer Regionalbahnhöfe wird beispielsweise im Hauptbahnhof Köln zu einer Kombination aus Reisebedarfanbietern in den orthogonal zu den Gleisen gelegenen Unterführungsteilen und einer quer dazu verlaufenden Restaurantlandschat – die Ein108 kaufswelt im Flughafen wiederum ist an Sicherheits- und Duty-Free-Zonen orientiert und folgt somit der Erlebniskette des Reisens. Die Entscheidung aber, ob die Dramaturgie des Einkaufs in die Dramaturgie des Reisens eingebettet ist oder nicht, beeinflusst alle weiteren Designentscheidungen. Möglicher Konflikt in der Nutzung und daraus resultierende Designfrage Kurt Blum, Architekt im 'Atelier 5' und Gestalter des Umbaus gibt anlässlich der Eröffnung zu Protokoll: "Gute Architektur lenkt die Menschen automatisch an den richtigen Ort."8 Gemeint scheint: der richtige Ort im Reiseerleben. Die Selbsterfahrung im Berner Bahnhof zeigt die deutliche Priorisierung der Wegführung für Reisende. Die zügige Einweisung auf die Transportwege in der Haupthalle führt nicht zwangsweise an einem Ladengeschät vorbei, und auch der Weg über die 'Welle' führt direkt auf die Gleise. Die Kennzahlen der Nutzung unterstreichen diese Beobachtung: Täglich 10.000 Passanten stehen rund 140.000 Reisende im Zugverkehr gegenüber.9 Dies führt zu einer interessanten Designaufgabe: Wie können Reisende auf die Einkaufsmöglichkeiten im Gebäude hingewiesen werden, ohne den Ablauf der Zu- und Abgänge der Passagierströme zu stören? Die Mischung im Nutzungsprofil der rund 50 Geschätsmieter zeigt deutlich, dass zwischen Lauf- und Reisekundschat und gezielt zum Einkauf angereisten Nutzern getrennt wird: Je höher das Geschät im Gebäude untergebracht ist, desto mehr ist es an langfristiger Nutzung und Kundenbindung orientiert; einem Kiosk und einem Blumengeschät im Erdgeschoss beispielsweise sind eine Reinigung und ein Schuhgeschät im ersten Stock zuzuordnen. Der Nutzungsplan zwingt Reisende also nicht in das Obergeschoss. Die beiden hochfrequent genutzten Geschäte im ersten Stock (die Apotheke und die Filiale einer Supermarktkette) sind zudem entlang der Ein- und Ausgänge gelegen und führen nicht zu den anderen Ladenlokalen; die Aufgänge führen in der Richtungslogik der Eingangshalle zurück, also von den Gleisen und von den Ausgängen weg. Die Ladenbeschritungen schließlich sind plan Abb. 2. Die „Welle” ist als Passage auf die zügige der Erschließung der Bahnsteige angelegt. Die eingesetzten Informationstafeln entsprechen den Standards der SBB und sind bewusst zurückhaltend. Aufnahme kusito (www.flickr. com). über den Schaufenstern angebracht, was der verkaufsoptimierenden Blickführung üblicher Malls zuwider läut. Es entsteht also der Eindruck, dass sich das Verkaufserleben dem Reiseerleben unterordnet und Fragestellungen der Orientierung und des gesamthaten Erscheinungsbildung Priorität eingeräumt wurde. Diese Interpretation verdichtet sich, wenn man die im Untergeschoss beherbergten Ladengeschäte und Foodanbieter in der Nebenpassage 'Christoffelunterführung' (in Verantwortung der Stadt Bern, nicht der SBB) beobachtet, die dem Corporate Design der im Stadt- und Galeriegeschoss der RailCity untergebrachten Geschäte nicht folgen. Während in der RailCity Ladentypografien, Farben, Gestaltung der Schaufensterrahmen und alle sekundären Beschritungen am Corporate Design der SBB orientiert sind und dezent wirken, buhlen die Imbisse und Geschäte in der 'Christoffelunterführung' in einem bunten Durcheinander um Kundschat. Die Logik dieser Gestaltungsstrategien folgt merkantilen Interessen und Erfolgsmustern, was zur Frage führt, ob und gegebenenfalls wie die einzelnen Mieter im ersten Stockwerk der RailCity die Nutzung ihres Stockwerks im Rahmen der bestehenden Architektur und Corporate Design-Vorgaben optimieren. 109 Interpretation einiger Designapplikationen als Lösungsansätze für diesen Konflikt Die hese dieses Beitrags ist, dass sich einige Designentscheidungen im Gebäude als implizite oder explizite Versuche deuten lassen, die augenscheinlich eher niederfrequente Nutzung des ersten Stockwerks zu erhöhen. Diese Designentscheidungen schließlich nehmen Einfluss auf die in der Architektur wirksamen Mittel. Als explizite (und erkennbar gesteuerte) Maßnahme beispielsweise ist die gezielte Bespielung der oberen Etage als Raum für kulturelle Anlässe zu werten: So finden regelmäßig kleinere Konzerte statt, zuweilen auf einer den Zugängen abgewandten Bühne, die nur über das Abschreiten der gesamten Ladenpassage zu erreichen ist. Das Niveau der angemieteten Veranstaltungen ist relativ hoch und reicht von Klassik- und Jazzkonzerten bis zu Lesungen. Sampling-Aktionen oder PR-Events hingegen finden im Untergeschoss statt, was darauf hindeutet, dass die Kultur-Ereignisse nicht (nur) als Marketingevent der RailCityMarke zu deuten sind, sondern (auch) dem Umleiten der Passantenströme dienen. Ebenfalls explizit sind die Durchführung von Sondermärkten und Ver- Abb. 3. Einheitliches Design im Empfangsgebäude des Berner Hauptbahnhofs. Die Einkaufspassage im ersten Stockwerk ist ganz der Verkehrsfunktion untergeordnet und fällt nicht durch ausgeprägte Werbebotschaften auf. Aufnahme robw1882 (www.flickr.com). kaufsaktionen einiger nicht selbst in der RailCity untergebrachter Unternehmen zu deuten, wie beispielsweise der Sonderverkauf eines in Bahnhofsnähe beheimateten Velogeschäts. Implizit hingegen ist die Wirkungsdimension zweier einander gegenüber auf Erdgeschossebene angebrachten BewegtbildDisplays. Sie führen den Blick der im Untergeschoss am Meetingpoint wartenden oder die unterirdischen Zugänge nutzenden Reisenden automatisch auf das erste Stockwerk. Gleiches gilt für die mittig dem Eingang gegenüberliegende Tafel, die die Abfahrtszeiten, Gleise und Zielorte der Züge anzeigt; auch sie lenkt den Blick der Reisenden auf die obere Shoppingetage. Eine andere wichtige Designentscheidung beeinflusst die Wahrnehmung der Gesamtarchitektur des Gebäudes von außen: Ein oberhalb des zentralen Eingangs gelegener JeansShop wirbt in seinem Fenster mit einem groß dimensionierten Schritzug, der auf zwei in wechselnden Pastellfarben beleuchteten Leuchtkästen angebracht ist. Der Schritzug dieses Geschäts folgt nicht den Vorgaben im Innern der RailCity; er ist sogar größer als die Auszeichnung des Gebäudes als Hauptbahnhof und er wird dank seiner Illumination zum zentralen Absender zum Bahnhofsplatz hin. Zwei Wirkungsdimensionen stehen sich hier gegenüber. Die Präsenz des eher nicht als Premiummarke zu bewertenden Unterneh110 mens verdrängt – oberflächlich gesehen – die klare Botschat der SBB als Betreiberin des Shoppingcenters im Bahnhof, weist jedoch plakativ auf die im Inneren gelegenen Verkaufsaktivitäten hin. Diese Interpretation wird durch die Beobachtung gestützt, dass das JeansGeschät ebenfalls (am Verlauf der Rolltreppen orientiert) am 'Ende' des ersten Stockwerks liegt. Wenn man diese Designmaßnahmen beschreibt, fällt auf, dass sie jeweils unmittelbare oder vermittelte Auswirkungen auf die Wirkungsdimension der Architektur haben. Die Konzertveranstaltngen verwandeln die Lichtsituation der Halle, da der Klangraum durch schwere Vorhänge entstehen muss, die das vom Bahnhofsplatz eintretende Licht schlucken. Die Werbedisplays senden farbiges Licht und führen den Blick von den zentralen Wegführungen der Reisenden zur Seite und nach oben. Die Sonderverkäufe der nicht in der RailCity vertretenen Unternehmen bespielen Freiflächen, die ursprünglich der Weitläufigkeit der Galerieetage dienen. Das Logo des Jeansgeschäts verändert nahezu kontraproduktiv die Außenwirkung des Gebäudes durch seine visuelle Präsenz. Die 'Aufgabe', das eher wenig genutzte Galeriegeschoss attraktiver zu machen wird also auch auf Kosten der Architektur wirkungsintentional beantwortet. Schluss Der Berner Hauptbahnhof zeigt, wie das in der Architektur artikulierte Ziel, Reisende optimal zu führen, in Konflikt mit anderen Nutzungsmodellen (Erlebniskette des Einkaufens) geraten kann. In der Architektur des Berner Hauptbahnhofs dominiert das 'Reisen' das 'Shoppen'. Nachträgliche Designapplikationen (wie der Nutzungsplan, neu angebrachte Displays, verkaufsfördernde Events usw.) greifen Anmerkungen: in dieses Verhältnis ein und verändern damit auch die Wirkung der Architektur. Die Priorisierung des Reiseaspekts im Bahnhof ergibt Sinn, offen bleibt jedoch, ob und wie ohne Verlust des architektonischen Konzeptes bereits im Entwurf eine bessere Lösung dieses Konfliktes hätte gefunden werden können. Die Beobachtung der Ausweich-, Gegen- und Hilfsstrategien kontextualisieren somit die architektonischen Wirkungen noch einmal neu – als manifestierte Designentscheidungen. 3 Matt Ward (Goldsmith College, London) am 19. April 2007 im 'Hyperwerk' der FHNW, Basel. 1 Mit der männlichen Form ist ausdrücklich die weibliche Form mitbezeichnet. Auf Wunsch der Redaktion wird auf eine inklusive Schreibweise zugunsten einer leichteren Lesbarkeit verzichtet. 4 RBS: Regionalverkehr Bern Solothurn. unterführung abgeschlossen sein. Die wesentlichen Bedingungen im Bahnhofsinnern werden voraussichtlich jedoch auch dann noch wie beschrieben vorzufinden sein. 6 [SBB] via 5/2003. S. 29. 2 Vgl. hierzu auch: Gesche Joost und Arne Scheuermann: "Design as Rhetoric. Basic Principles of Design Research". In: Swiss Design Network: Drawing New Territories. Zürich 2006. S. 153-166, hier:155-161. 5 Während der Niederschrift dieses Textes wurde mit dem großflächigen Umbau des Bahnhofvorplatzes begonnen – dies verändert die derzeitige Wegsituation zum und vom Bahnhof erheblich. 2008 soll die Neugestaltung sowohl des Platzes als auch der Christoffel- 111 7 Mietervereinigung Bahnhof Bern: Lebendig und vielseitig. Bern o. J. S. 7. 8 [SBB] via 5/2003. S. 29. 9 [SBB]: Portrait RailCity Bern, o. J. , o.P. [S. 2]. 112 Mirko Baum (Aachen) Straße am Ende der Welt. Der deutsch-tschechische Architekt und Hochschullehrer Mirko Baum beschreibt seinen Weg zur Architektur und die bestimmenden Einflüsse, die ihn auf diesem Weg prägten: die kultivierte Sachlichkeit von Konstruktionen und Materialien … und die Perspektive der tschechischen Moderne. Der Text ist das Schlußkapitel des gerade erschienenen Buches "Ulice na konci světa – Straße am Ende der Welt" (verlegt von Karel Kerlický, bei AVU/Kant, Prag 2007, ISBN: 978-80-86970-51-6). http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-12000 Januar 2008 #1 "FremdSehen" S. 113-119 Am Anfang der Wahrnehmung meiner Welt lag die genaue Lokalisierung ihres Endes. Es war in Mladá Boleslav, am Ende einer Sackgasse, die vom Rathaus hin auf den Rand eines nahezu senkrecht abfallenden Abhangs führte. Natürlich wusste ich, dass dort unten die Iser fließt, doch an jenem Tag war alles ganz anders. schule vor allem deswegen, weil dort in der Eingangshalle ein Strahltriebwerk der Me 2624 zu sehen war, was in einer Zeit, in der der Propellerantrieb noch dominierte, ein nicht alltägliches Erlebnis war. Von dem Gebäude selbst bekam ich keineswegs den Eindruck, dass ein Haus ausgerechnet so aussehen müsste. Das Tal war vollständig in eine Wolke dichten Nebels gehüllt, auf dessen feuchtem und schweigend drohendem Hintergrund ein gusseisernes Geländer zu sehen war, mit dem die Strasse plötzlich und ohne Umschweife endete. Über Geländer zu klettern war damals mein tägliches Brot. Dennoch, hier wurde mir irgendwie klar, dass über dieses Geländer zu klettern bedeutete, jenen sprichwörtlichen "point of no return" zu überschreiten – eine Grenze, deren Verletzung keine Rückkehr mehr gestattet. Ich erinnere mich, damals in Begleitung meiner Mutter gewesen zu sein. Meine seltsame Erkenntnis habe ich aber nicht preisgegeben, sondern zog den exklusiven Genuss eines Gefühls vor, von dem ich erst ein halbes Jahrhundert später gelesen habe, dass es von einem englischen Denker des 18. Jahrhunderts, Edmund Burke,1 als "delightful horror" benannt wurde – das Gefühl einer angenehmen Furcht, deren Anziehungskrat dem Bewusstsein der Labilität eigener Sicherheit entspringt. Ich denke, dass ich damals einem mächtigen Zauber verfiel, der mich bis heute noch fesselt. Geboren bin ich ein halbes Jahr vor dem Ende des zweiten Weltkrieges, der naturgemäß in meinem Säuglingshirn kaum Spuren hinterließ. Eine der wenigen Erinnerungen, wenn auch nur aus zweiter Hand, war eine flüchtige Bemerkung meiner Eltern über einen hungrigen und zerlumpten deutschen Soldaten, der, nachdem der Krieg schon längst vorbei war, in einer Nacht an die Tür unseres Hauses klopte, um einen Füller gegen Brot zu tauschen. Aus Angst vor der Antwort habe ich meine Eltern nie nach ihrem Verhalten gefragt, bis heute aber blieb diese Episode für mich ein Synonym für die Grauen des Krieges, ein Synonym für Degradierung und Demütigung des menschlichen Individuums. Auch darüber hinaus war in Mladá Boleslav einiges zu sehen. Neben der Noblesse von Králíks Stadttheater2 waren es vor allem Krohas Bauten,3 die das ungeschulte Auge schockierten und die von der früheren Anwesenheit einer rätselhaten, außerirdischen Kultur zeugten. Hotel "Venec", das Polyklinikum und vor allem die Industriefachschule, über die sich meine Mutter mit ihrem typisch weiblichen Pragmatismus äußerte (d. h., sie bedauerte jene Person, die in diesem labyrinthisch unübersichtlichen Objekt die unzähligen Fenster putzen musste), waren störende Fremdkörper in einer geordneten Welt, die noch vorwiegend von der Bauroutine des 19. Jahrhunderts geprägt worden war. Mich interessierte die Industriefach114 Eine willkommene Hinterlassenschat des Krieges stellte dagegen ein Haufen von Flugzeugsschrot dar, der hinter den Hangars des Jungbunzlauer Flugplatzes lag, d. h. an dem Ort, wo ich jede freie Minute verbracht habe. Piloten und Bodenpersonal nannten mich "Ingenieur", wegen eines Schraubenziehers und einer Zange, die ich immer bei mir trug, und tolerierten großzügig meine Anwesenheit zu jeder Zeit und an jedem Ort. Sowohl die Besatzungsmacht als auch die Armeen der Alliierten hatten dort eine unermessliche Menge von Material hinterlassen, das ohne jede Einschränkung zu meiner Verfügung stand. Hohle, auf ein Minimum des Gewichts gebohrte Wellen aus edlen Stahllegierungen, Teile aus Magnesium und Elektron, Kronenmuttern mit Drahtsicherung und ebenso dünne wie unglaublich widerstandsfähige Bleche mit Kontrollstempeln in Deutsch, Englisch und Russisch stellten meine erste Bekanntschat mit der Welt des edlen Details dar, das bis heute nur jenem Industriezweig eigen ist, in dem unerbittliche Genauigkeit und strengste Auslese herrschen und in der ein Irrtum mit dem Tode bestrat wird. Abb. 1. Verwaltungs- und Wohngebäude der Bauerngenossenschaftlichen Molkerei in Cejeticky, Josef Saal 1941 (Architektura CSR, 5/1946) Vielleicht war der erste adäquate Eindruck aus dem Bereich der Architektur die Wohnung des Ehepaars Petera, eine Dienstwohnung der Molkereifabrik in Cejeticky, die ein paar Schritte vom Jungbunzlauer Bahnhof entfernt war. Die 50er Jahre waren der Architektur aus der Zeit der ersten Republik nicht gerade freundlich gesonnen,5 hier aber, in der Abgelegenheit der Provinz, überlebte ihre Noblesse in einer noch unberührten Reinheit. Herr Petera war das, was man damals "úredník" (Beamter) nannte. Immer perfekt angezogen in Anzug und Krawatte, war er so etwas wie ein Felsen in der Brandung der kommenden Barbarei. Mit seiner Frau bewohnte er diese elegante Wohnung, die glatt als Bühnenbild in einem Vorkriegsfilm mit Oldrich Novy6 hätte dienen können. Wir saßen dort am schwarz lackierten Tisch auf Stühlen aus Leder und verchromtem Stahlrohr und tranken Tee aus hauchdünnem Jenaer Glas. Frau Petera, eine elegante Dame mit leichtem, dunklem Flaum unter der Nase, servierte Tee und Gebäck, und während die Gesellschat auf die "Zustände" schimpte, blieben meine Augen an einem Fenster aus vernickeltem Messing haten, dass mit seinem perfekten Detail an jene Eindrücke erinnerte, die ich sonst nur von meinen Flugplatzstreifzügen kannte. Mit einer ähnlichen Intensität war ich vielleicht auch noch von Bata´s Schuhkauhaus in der Jungbunzlauer 115 Innenstadt beeindruckt, das jedoch, weil dort nicht die Peteras herrschten, schon die ersten Zeichen des Rückzuges von seinem einstigen Ruhm zeigte. Ein Kontrastprogramm zur klinisch sauberen Ästhetik des Funktionalismus stellte die Wohnung von Frau von Gednorozec dar, mit der meine Mutter befreundet war. Diese imposante alte Dame mit weit ausladendem Busen, dessen schwer erkennbare Abgrenzung sich in zahlreichen Doppelkinnen und Bauchfalten verlor, Witwe eines österreich-ungarischen Marineoffiziers, wohnte im Zentrum der Stadt hinter Samtvorhängen in der Finsternis einer nie gelüteten Wohnung, die mit tropischen Pflanzen, Statuen, Ölgemälden, Lorbeerkränzen und anderen Reliquien der damals schon unwirklichen Welt überfüllt war. Die dunkle Halle dieses Mausoleums bewachte grimmig, von schweren Fahnen flankiert und mit ewigem Licht zu Füssen, ein riesiger, mit dem Kopf nickender Buddha. Frau von Gednorozec, die von ihrer Umgebung spöttisch "die Gräfin" genannt wurde, fütterte mich mit staubiger Schokolade, die sowohl durch ihren Geschmack als auch durch ihr Aussehen die Herkunt aus den materiellen Ressourcen der längst untergegangenen Flotte Seiner Apostolischen Majestät ahnen ließ. Diese Insel des 19. Jahrhunderts war durchdrungen von der Atmosphäre der schraffierten Welt der Illustrationen der Jules-Verne-Romane, es war in meinen Augen die Welt der weiten Reisen, der Ballone, der Lutschiffe und der Unterseeboote, dieselbe Welt, die ich später, in Bewegung versetzt, in den Filmen von Karel Zeman7 oder in Farben, jedoch immer mit derselben Stimmung von Melancholie und stiller Einsamkeit, in den Bildern des von mir über alles geschätzten Malers Kamil Lhoták8 lieben lernte. Der Weg von Mladá Boleslav nach Prag, wo ich nach einem misslungenen Versuch, an der Militärakademie des Antonín Zápotocky in Brünn zum Stu- dium des Flugzeugbaus zugelassen zu werden, aus purer Not das Studium der Architektur aufnahm, führte wieder an einem Flugplatz vorbei. Der Flugplatz in Kbely bestand damals großenteils (und soweit ich weiß, besteht er noch heute) aus einer Reihe von mit dunkler Holzschutzfarbe angestrichenen Flugzeugschuppen, die noch aus der Pionierzeit der tschechischen Aviatik stammten. In der Nähe der Hallen steht ein Leuchtturm von Otakar Novotny,9 der mir zwar nie sonderlich gefiel, der aber mit seinem futuristischen Reliefschmuck und schon einfach durch sein bloßes Dasein als Leuchtturm das Pathos jener optimistischen Zeit ausstrahlt, die von der Eroberung des Lutmeeres besessen war. Noch ein wenig weiter befindet sich Breberas Stahlbetonhangar,10 dessen genauso einzigartige wie bis heute zu Unrecht wenig bekannte Konstruktion schon auf den ersten Blick meine Neugierde weckte. Gleich hinter dem Flugplatz folgte die abschüssige Serpentine nach Vysocany, mit dem von hier wahrnehmbaren Blick auf Rauch und auf sonnenflimmernde Reflexe der Fabrikdächer, ein Blick auf das monotone und schmuddelige Grau der Welt des alltäglichen Heldentums und der Vorstadtpoesie. Ich erinnere mich, wie ich einen der Professoren der Prager Architekturfakultät schockierte, als ich ihm eröffnete, dass mir dieser Blick auf die "goldene Stadt" am besten gefalle. Über die Prager Straßenbahn könnte man lange schreiben - über die geschliffenen Scheiben in der Verglasung der Türen, über den genial einfachen Öffnungsmechanismus der Fenster, über die Schrauben aus vernickeltem Messing, deren Linsenköpfe in den speziell hierfür gefertig- Abb. 2. Treppenhaus des Kaufhauses Gellner in Mladá Boleslav, Jirí Kroha 1924 (J. Císarovsky, Jirí Kroha a meziválecná avantgarda, Prag 1967) 116 ten Unterlegscheiben gebettet waren, über die edlen Hölzer, über Gusseisen und Leder. Der einzige Versuch, dieses robuste Vehikel zu modernisieren, man müsste ihn irgendwann mal am Anfang der 30er Jahre unternommen haben, endete in einem peinlichen Fiasko. Der schüchtern stromlinienförmigen Formgebung, die im Hinblick auf das Betriebstempo mehr als überflüssig war, verdankten die neueren Wagen den berühmten Namen "Krassin", nach jenem russischen Eisbrecher, der im Jahre 1928 Dr. Behounek11 wie auch die übrigen Überlebenden der Nordpolexpedition Nobiles von der Eisscholle gerettet hatte. Während der Fahrt auf die Straße springen, konnte man aus beiden Ausführungen – umsonst ohne, und für 10 Kronen mit polizeilicher Assistenz. Selbstverständlichkeit, Einfachheit, kultivierte Sachlichkeit und ästhetische Homogenität, die nicht nur diesem Verkehrsmittel, sondern allen Bauten des Schienenverkehrs des 19. Jahrhunderts zu eigen waren, bedeuten für mich bis heute – der Sympathie für die sog. funktionalistische Moderne zum Trotz – die wirkliche Inkarnation des modernen Geistes, des Geistes eines wirklichen und durch ästhetische Vorurteile unverfälschten Funktionalismus. Den Maler Kamil Lhoták habe ich bereits erwähnt. Aus einem seinem Oeuvre gewidmeten Kurzfilm mit dem passenden Namen "Variationen auf die Stille", blieb in meiner Erinnerung die Metapher von der Seine, die im Pariser Stadtraum eine durch die Stadt fließende Landschat darstellt. Diese schöne Metapher ist auch auf die Moldau in Prag voll anwendbar. Es reicht, von der Uferpromenade die Treppen auf die darunter liegende Ebene der Regulation hinabzusteigen, und die Welt, in die der Lärm der Stadt nur gedämpt eindringt, verändert sich völlig. Das liebenswürdige Durcheinander, das hier herrscht, der modrige Geruch des Flusses, der Flug der Möwen und die rostigen Poller, die vor langer Zeit optimistisch dem Festmachen der hypothetischen Wasserfahrzeuge galten, das alles lässt ahnen, dass hinter diesem Fluss sich noch ein größerer Fluss befindet, an dessen Ende Hamburg und der weite Horizont der Nordsee liegen. Die Brücken sind aus dieser Perspektive nur in ihrer funktionellen Nacktheit sichtbar, als Träger des 117 Verkehrs und der Rohrleitungen. Aus ihrem Inneren tropt rostiges Wasser und ihre Details, bar jeder Repräsentationsattitüde, erzählen von der Mühe und Arbeit längst verstorbener anonymer Konstrukteure. Einmal suchte ich Schutz unter der Svatopluk-Cech-Brücke, um ein Buch, das ich mir in der Technischen Bibliothek ausgeliehen hatte, vor dem Regen zu retten – Hans Techel, Der Bau von Unterseebooten auf der Germaniawert, Verlag des Vereines der deutschen Ingenieure, Berlin 1922. Der Inhalt des schmalen Bandes im schwarzen, abgenutzten Einband hielt mich auf dem unwirtlichen Platz sehr lange fest. Auf den vergilbten Seiten, in der spröden Typographie eines sachlichen Ingenieurhandbuches, sah man Zeichnungen aus einer Zeit, in der aus dem Unterseepalast des melancholisch–misanthropischen Kapitäns Nemo längst eine hinterhältige Waffe geworden war. Dennoch - auch durch diese wenig aufmunternde Vorstellung hat das Buch in meinen Augen nichts von seiner Faszination eingebüßt. Auf seinen Seiten wurde für mich, wieder einmal nach einer langen Zeit, die Welt meines Vaters, eines Konstrukteurs der Jungbunzlauer SkodaWerke, sichtbar. Schon als kleiner Junge habe ich von ihm gelernt, wie man Maßketten anlegt, wie man einen Bleistit schärt und wie man dessen Spitze lange erhält – d. h., wie man beim Ziehen eines Striches den Stit langsam und gleichmäßig dreht, um die Stitspitze durch gleichmäßige Abnutzung möglichst lange betriebsbereit zu halten. Die Kotierpfeile waren seine Spezialität. Sie mussten scharf sein, sich tangential an den Strich anlehnen und sich nach hinten nur leicht öffnen, und zwar in einer anmutigen Kurve, deren Verlauf nur ihm bekannt war. Er zeichnete auf schwerem Transparentpapier aus der Zeit der Ersten Republik, das mit einer dünnen Textileinlage verstärkt war. Die im Ammoniak-Verfahren hergestellten Lichtkopien nannte er "Blaupausen", denn sie waren tatsächlich indigoblau mit einem weißen Strich, der dem Ganzen eine zusätzliche Zartheit gab. Bis heute bedauere ich, dass diese Art der Vervielfältigung den moderneren Methoden weichen musste, die sicher praktischer und billiger sind, deren ästhetisch-kontemplativer Inhalt aber gleich Null ist. Fasziniert habe ich jedes raum einer Dekade wirkendes Zentrum des technologischen Determinismus auf tschechischem Boden, gut bekannt. Dennoch, aus der Distanz der Zeit betrachtet, denke ich, dass ihre Bedeutung weniger im Prägen des einen oder anderen Architekturstils lag, sondern in der Realisierung einer sozialen Utopie, die nur unter den vor der Wende des Jahres 1989 herrschenden Bedingungen Techels Buch, um dessen Rückgabe realisiert werden konnte. mich die Technische Bibliothek eine lange Zeit hat mahnen müssen, beein- Auf dem Motorrad Norton ES2, das flusste nicht nur mich, sondern auch ich von dem Metzgermeister Cenek eine Anzahl von Freunden in der Archi- Cerny in Kladno gekaut hatte, mit der tektengruppe Skolka12 in Liberec. Die Zahnbürste in der einen und dem AusGeschichte von Skolka ist längst aus wandererpass in der anderen Tasche, dem Abseits des erzwungenen Inko- habe ich nur widerwillig diese Utopie gnito herausgetreten und ist heute als verlassen. Hier fängt aber eine ganz aktives und zumindest für den Zeit- andere Geschichte an. Mal jenem Wunder zugeschaut, mit dem aus vier senkrechten Linien durch Zugabe von sechs Kreissegmenten die Ansicht einer Mutter wurde, oder wie zwei Parallellinien durch die Zugabe einer lang gezogenen S-Kurve plötzlich eine zylindrische Form bekamen. Mein Vater war ein Künstler, Gott sei Dank, dass er davon nichts wusste. Abb. 3. Bezirkspolyklinikum in Mladá Boleslav, Jirí Kroha 1924 - 25 (J. Císarovsky, Jirí Kroha a meziválecná avantgarda, Prag 1967) 118 Anmerkungen: 1 Edmund Burke (1729 – 1797), englische Publizist und Politiker, Begründer der psychologischen Ästhetik, die u. a. auch Kant und Lessing beeinflusste. 2 Emil Králík (1880-1946), tschechischer Architekt und Professor an der TH Brünn. 3 Jirí Kroha (1893-1974), tschechischer Architekt und Professor an der TH Brünn. 4 Messerschmitt Me 262, das erste in Serie gebaute Düsenflugzeug der Welt. 5 In Wirklichkeit wurde das Gebäude erst während des Krieges im Jahre 1941 von dem Architekten Josef Saal gebaut. 9 Otakar Novotny (1880-1959), tschechischer Architekt, Gründungspräsident und Architekt des Künstlerklubs "Mánes" in Prag. 6 Oldrich Novy (1894-1983), tschechischer Filmschauspieler, Frauenidol und Herzensbrecher. 10 Antonín Brebera (1892 – ?), tschechischer Bauingenieur und Fachbuchautor. 7 Karel Zeman (1910-1989), durch mehrere technisch ungewöhnliche Jules Verne – Verfilmungen bekannter tschechische Filmregisseur. 11 Frantisek Behounek (1898-1973), tschechischer Radiologe, 1928 Teilnehmer an der Polarexpedition des Generals Umberto Nobile. 8 Kamil Lhoták (1912-1990), tschechischer Maler des "metaphysischen Realismus", Buchautor, Buchillustrator und Sammler historischer Fahrzeuge. 12 Skolka SIAL, unter Mitwirkung des Verfassers 1969 im nordböhmischen Liberec (Reichenberg) gegründete Architektenkommune. 119 120 Thema der nächsten Ausgabe: Raubkopie Das Zitieren stellt seit jeher eine grundlegende Methode des künstlerischen Arbeitens dar. Es ist die Möglichkeit der kritischen, persiflierenden oder einfach nur bewundernden Bezugnahme auf zuvor Geschaffenes, auf den Schatz unserer kulturellen Identität. Dies setzt gleichwohl das Vorhandensein eines allgemeingültigen Repertoires voraus, da ein Zitat nur dann Sinn hat, wenn es auch als solches erkennbar bleibt. Dem Repertoire verpflichtet, war bis zur Moderne so gut wie jede künstlerische Ausbildung geprägt durch das Studium bekannter Vorbilder und das Anfertigen tatsächlicher Kopien. Mit der Entwicklung digitaler Medien ist die beliebige Vervielfältigung jeg121 licher Form von Daten ohne einen Qualitätsverlust möglich geworden. Die Film- und Musikbranche benennt die große Verbreitung von Raubkopien via Internet als immensen wirtschatlichen Schaden und stilisiert sie zur Bedrohung der eigenen Branche hoch. Dem stehen gleichzeitig ungeahnte technische Möglichkeiten in der Produktion von Musik, Bildern etc. gegenüber. Eine nahezu professionelle Qualität ist mit mittelgroßem Aufwand auch im heimischen Wohnzimmer möglich, wodurch eine Unmenge an Datenmaterial in verschiedensten Foren zur Verfügung steht. In der unfassbaren Fülle von verheißungsvollen Bildern, Filmschnipseln, Klängen und technischen Möglichkeiten stecken alle Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume unserer Gesellschat. Zugleich beinhalten sie aber auch die Beliebigkeit, Übersättigung und Überforderung in der Suche nach Erfüllung und Befriedigung, die ebenso Teil unserer Welt ist. Wir werden hiermit vor die Herausforderung gestellt, im vorhandenen Chaos die Spreu vom Weizen trennen zu müssen. Eine Kernfrage, die sich auf dem Weg aus der Orientierungslosigkeit stellt, ist die nach der Bedeutung von Originalen und dem Wert der Originalität. In der Kunst sind in der Auseinandersetzung mit dieser Frage ganze Lebenswerke entstanden. So z.B. in der PopArt, deren Werke stets die Frage der Reproduzierbarkeit implizieren. Eine Steigerung stellt die Appropriationskunst dar. Hier wird die abendländische Kunst gar der Originalitätssucht bezichtigt, indem gemalte Verkleinerungen bekannter Werke produziert und ausgestellt werden. Gestärkt wird diese Position durch das Konsumverhalten unserer Gesellschat. Ausstellungen können in Form von Katalogen nach Hause getragen werden und so gut wie jedes bekanntere Opus findet sich im Internet – sowohl als digitale "Reproduktion" des Originals als auch als verflachte Kopie. Auch für die Architektur muss diese Frage erörtert werden. Auf der einen Seite gibt es einen spürbaren Zwang zur Originalität im Sinne des ewig "Neuen". Im Gegenzug wird vielerorts – aktuelle Beispiele sind Dresden, Frankfurt und Berlin – die mehr oder minder exakte "Kopie" einer verlorenen Vergangenheit als einzige Zukuntsvision empfunden. Einerseits wird also die völlige Abkehr vom Bekannten, d.h. die Auflösung des Repertoires betrieben, andererseits entsteht in der Gegenreaktion die Sehnsucht nach dem "Althergebrachten", dem "Bewährten". Es ist zu befürchten, dass beide Ansätze eine Sackgasse darstellen, da wir das Fortschreiten der kulturellen Entwicklung weder verleugnen noch stoppen können. Beide Tendenzen weisen die Schwäche auf, Originalität aus sich selbst heraus schaffen zu wollen, die eine in der Verneinung existierender Originale, die andere in der Verneinung zeitgenössischer Entwicklung. Die Lösung scheint in einer klaren Positionierung bezüglich unserer Identität im Sinne einer kulturellen Kontinuität zu liegen; die Formel könnte heißen, dass Originalität nur in der Auseinandersetzung mit Originalen entstehen kann. Otmals begnügen wir uns mit Kopien, seien es die geklauten CDs aus dem Internet, das Remake eines berühmten Filmes oder die Revival-Band, die gute alte Zeiten wieder aufleben lässt. Es stellt sich nun die Frage, wie die Bedeutung des Originals in Zukunt verstanden wird. Hat uns die digitale Welt von der Verpflichtung zum Original befreit? Welchen Einfluss haben die virtuellen Welten auf unser Verständnis von Realität und wieviel Weltflucht können wir uns erlauben? Welche Formen des Umgangs mit Originalen gelten und welche Erkenntnisse sind in der Auseinandersetzung mit ihnen zu gewinnen? Welches Repertoire liegt unseren heutigen Bemühungen, Originelles zu schaffen, zu Grunde, und stellt dieses Repertoire eine Verbindlichkeit dar? Wann ist ein Zitat eine Kopie und wann eine Kopie eine Raubkopie, ein Plagiat? archimaera möchte mit dieser Ausgabe den Versuch unternehmen, die Begriffe Zitat, Kopie und Raubkopie zu klären und ihre historischen Definitionen zu beleuchten. archimaera lädt dazu ein, Position zu beziehen, wie diese Begriffe heute und in Zukunt zu verstehen sind. Daniel Buggert (Herausgeber des Heftes) Redaktionsschluss für diese Ausgabe: 31.05.2008 Einreichungen direkt unter "mitmachen" bei www.archimaera.de oder per E-Mail an redaktion@archimaera.de 122 www.archimaera.de – architektur.kultur.kontext.online ISSN:1865-7001 • #1 • Januar 2008 • FremdSehen