Domänen des Subjekts
von
Babu Thaliath
Domänen des Subjekts1
Der anfängliche Briefwechsel zwischen Prinzessin Elizabeth von Böhmen und René
Descartes behandelt den historisch bekannten Leib-Seele-Dualismus. Bereits in den ersten
Briefen stellt die Prinzessin die Frage nach der Natur des Verhältnisses zwischen dem
materiell ausgedehnten Leib und der immateriellen und nicht ausgedehnten Seele. Zu dieser
Frage wurde sie durch das Hauptwerk Descartes, nämlich die Meditationen – insbesondere
durch die sechste Meditation, veranlaßt. In diesem Werk unterscheidet Descartes den
Existenzmodus der Seele von dem des Leibes. Die völlige Differenziertheit der Seele vom
Leib, wie sie von Descartes vorgestellt wird, ist zwar primär eine ontologische Bestimmung,
die allerdings unabdinglich der Entwicklung der neuzeitlichen Erkenntnistheorien zugrunde
lag. Daß bereits der erste Brief von Prinzessin Elizabeth an Descartes diese grundlegende
Fragestellung zum Gegenstand hat, beweist zum einen das aktive Interesse der Prinzessin an
dem so genannten cartesischen Dualismus, und zum anderen die Bedeutung und den Potential
dieser Lehre Descartes selbst, daß sie von vornherein als eine entscheidende Problemstellung
in der Epistemologie identifiziert wurde:
„In October 1642 Descartes had learnt that Princess Elizabeth of Bohemia, in exile at the Hague, had read his
Meditations with enthusiasm. He offered to visit her to explain any difficulties she encountered; but she put her
questions in writing in a letter of 6 May 1643. ‘How can the soul of man’, she asked, ‘being only a thinking
substance, determine his bodily spirits to perform voluntary actions?’ Descartes’ reply began a correspondence
which lasted until his death.”2
1
Folgende Abhandlung ist eine Überarbeitung eines Vortrags (mit dem Titel: „Domains of Mind. Reflections on
the early correspondence between Princess Elisabeth of Bohemia and René Descartes on Mind-Body-Dualism“),
den ich am 27. April 2006 am National Institute of Advanced Studies, Indian Institute of Science in Bangalore
gehalten habe. Sie basiert u.a. auf meiner Dissertation sowie einer früheren Untersuchung, verfaßt und
veröffentlicht im Rahmen meiner Promotion an der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg. Da es in der Abhandlung mehrmals auf diese Werke bezogen wird, verwende ich im Text die
folgenden Abkürzungen:
PMS:
Perspektivierung als Modalität der Symbolisierung. Erwin Panofskys Unternehmung zur
Ausweitung und Präzisierung des Symbolisierungsprozesses in der Philosophie der
symbolischen Formen von Ernst Cassirer (Dissertation); erschienen im Jahr 2005 bei dem
Verlag Königshausen & Neumann in Würzburg.
PGPVR:
Der Prozeß der Geometrisch-Optischen Perspektivierung in der Visuellen Raumwahrnehmung;
veröffentlicht im Jahr 2001 beim FreiDok (Freiburger Dokumentenserver),
Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., unter: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/271.
2
Descartes, René: Philosophical Letters, hrsg. von Anthony Kenny, Oxford 1970, S. 136.
Prinzessin Elisabeth von Böhmen / von der Pfalz war die älteste Tochter von Pfalzgraf Friedrich V, König von
Böhmen, und Pfalzgräfin Elisabeth, geborene Prinzessin von Stuart. Die königliche Familie ging 1620 in der
niederländischen Stadt Hague im Exil. Prinzessin Elisabeth wurde im Jahr 1618 in Heidelberg geboren und
verbrachte dort ihre Kindheit. Sie war zu ihrer Zeit eine außergewöhnlich gebildete Prinzessin in Europa –
bekannt vor allem für ihre Sprachbegabung und Vertrautheit mit verschiedenen Fachgebieten, nämlich
Theologie, Mathematik, Philosophie, Astronomie und Physik. Descartes lernte sie vermutlich im Winter von
1634/5 kennen, als er den Wohnsitz ihrer Mutter in Hague besuchte. Allerdings erwähnte Descartes ihren Name
zum ersten Mal in einem Brief vom 6. Oktober 1642 an seinen Freund und eng Vertrauten Alphonse Pollot. (vgl.
2
Auf diese Frage antwortete Descartes in einem Brief vom 21. Mai 1643:
“There are two facts about the human soul on which depend all the things we can know of its nature. The first is
that it thinks, the second is that it is united to the body and can act and be acted upon along with it. About the
second I have said hardly anything; I have tried only to make the first well understood. For my principal aim was
to prove the distinction between soul and body, and to this end only the first was useful, and the second might
have been harmful. But because your Highness’ vision is so clear that nothing can be concealed from her, I will
try now to explain how I conceive the union of the soul and the body and how the soul has the power to move
the body.”3
Bevor ich auf den in diesem Zitat angedeuteten Lösungsversuch eingehe, möchte ich gerade
in dieser Betrachtung Descartes eine besondere Implikation der Struktur des menschlichen
Subjekts betonen.4 Das Subjekt – als das res cogitans – betrachtet Descartes nicht einheitlich
hierzu Gaukroger, Stephan: Descartes. An Intellectual Biography, Oxford 1995, S. 385). Nach einem Jahr
begann die historisch bekannte Korrespondenz zwischen der Prinzessin und dem Philosophen. Ihr erster Brief an
Descartes (vom 16. Mai 1643) beinhaltete eine klare Polemik gegen die cartesische Lehre der Unterscheidung
zwischen Leib und Seele: „How can the soul of a man determine the spirits of his body so as to produce
voluntary actions (given that the soul is only a thinking substance)? For it seems that all determination of
movement is made by the pushing of a thing moved, either that it is pushed by the thing which moves it or it is
affected by the quality or shape of the surface of that thing. For the first two conditions, touching is necessary,
for the third extension. For touching, you exclude entirely the notion that you have of a soul; extension seems to
be incompatible with an immaterial thing. This is why I ask you to give a definition of the soul more specific
than the one you gave in your Metaphysics, that is to say of its substance as distinct from its thinking action. For
even if we suppose the two to be inseparable (which anyway is difficult to prove in the womb of the mother and
in fainting spells), like the attributes of God we can, in considering them separately, acquire a more perfect idea
of them“(vgl. Nye, Andrea: The Princess and the Philosopher. Letters of Elisabeth of the Palatine to René
Descartes, Rowman & Littlefield Publishers, Lanham 1999, S. 9-10). In deutscher Übersetzung sind die Briefe
der Prinzessin Elisabeth an Descartes bisher nicht erschienen. Zu der französischen Originalausgabe vgl.
Beyssade, Jean-Marie: Correspondance avec Elisabeth et autres lettres / René Descartes, Paris 1989).
3
Descartes, Philosophical Letters, a. a. O., S. 137-138.
4
Im angelsächsischen Sprachraum wird der cartesische Leib-Seele-Dualismus bekanntlich als „Mind-BodyDualism“ übersetzt. Auch im deutschsprachigen Raum wird beliebig der Begriff „Geist“ im Kontext dieser
cartesischen Lehre als Synonym für den Begriff „Seele“ im Gebrauch. Daher haben wir verschiedene
Begriffspaare, die den cartesisch-neuzeitlichen Dualismus ausdrücken, nämlich Leib-Seele, Geist-Körper, MindBody etc.. Offensichtlich sind die Begriffe Seele, Geist und Mind miteinander weder semantisch noch
epistemologisch gleichzusetzen. Ebenso unterscheidet sich der Leib vom Körper, indem er – als beseeltes
organisches Wesen – nur menschlichen oder tierischen Körper bedeutet. Während das „Mind“ bloß eine Sphäre
der rein subjektiven Funktionen, wie Erkennen, Denken, Willensakt, Empfinden, Einbilden, Erinnern etc., bildet,
scheint sich die Seele über diese mentale Operationen hinaus auf die streng genommen vor-subjektiven und rein
organischen Prozesse im Leib zu beziehen (was auch in der scholastischen Differenzierung zwischen beseelten
und nicht beseelten bzw. anorganischen Körpern zum Ausdruck kommt). Allerdings bezieht sich die cartesische
Differenzierung zwischen res cogitans und res extensa nicht ausschließlich auf den menschlichen Leib, sondern
auf den ausgedehnten Körper im allgemeinen; als solche bezeichnet sie die grundlegende Differenz zwischen
zwei Sphären der Wirklichkeit, die unsere Welt ausmachen. In dieser Hinsicht scheint mir der Ausdruck „MindBody-Dualism“ die cartesische Lehre der Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa im allgemeinen
zu kennzeichnen. Denn das „Mind“ schließt in sich alle rein mentale Operationen, die sich – nach der
cartesischen Epistemologie – von bloß physikalischen Prozessen im Körper unterscheiden lassen. Ich orientiere
mich aber nach einer späteren Terminologie in der Geschichte der neuzeitlichen Epistemologie, nämlich nach
der kantischen Differenzierung zwischen dem (erkennenden) Subjekt und dem (erkannten) Gegenstand. In der
kantischen Epistemologie schließt das Subjekt gegenüber dem in der empirischen Anschauung bloß gegebenen
Gegenstand alle mentale bzw. transzendental-ästhetische und transzendental-logische Operationen (wie
Empfinden, Wahrnehmen, Verstand und Erkennen) in sich ein. Daher läßt sich das (kantische) Subjekt – ebenso
wie das „Mind“ – epistemologisch der cartesischen Grundvorstellung von res cogitans analogisieren. Ein
3
– im scheinbaren Widerspruch zu seiner Auffassung in Meditationen, nämlich einer bloß
denkenden und unausgedehnten Substanz –, sondern eher kompositorisch. Dem Subjekt
schreibt Descartes zweierlei Modi der Existenz und Wirkung zu: „The first thing is that it
thinks, the second that, being united to the body, it can act and be acted upon with it. “ Hier
differenziert Descartes innerhalb der Sphäre des Subjekts zwei Domänen voneinander,
nämlich eine Domäne des Denkens und eine Domäne der körperlichen Handlung und
Sinnlichkeit.
Die Frage der Prinzessin bezieht sich prinzipiell auf die körperliche Ausdehnung eines
handelnden Subjekts: „How can the soul of a man, being only a thinking substance, determine
his bodily spirits to perform voluntary actions?“ Descartes Antwort verweist auf drei
bestimmte Funktionen des Subjekts, die die drei Modi der Subjektivität ausmachen, nämlich
das reine Denken, Empfinden und Handeln bzw. die Willensakte. Den Ausdruck „rein“
benutze ich, um hauptsächlich eine saubere Trennung zwischen diesen Modi der Subjektivität
auszudrücken. Während das reine Denken allein zu der Domäne eines logischen Subjekts
gehört, schließt eine vor-logische ästhetische Domäne des Subjekts, die körperlich ausgedehnt
ist, die Funktionen der sinnlichen Empfindungen und der Willensakte in sich ein.
Aber das „Ich“ als eine bloß denkende Substanz, die keine Materialität und Ausdehnung hat,
wurde von Descartes nicht einheitlich aufgefaßt. Das Vermögen des rein subjektiven Denkens
beschränkt sich bei Descartes nicht auf das bloß sprachliche Denken; es wird in
verschiedenen Modi vorgestellt, nämlich als Erkennen, Verstehen, Fühlen, Wollen, Bejahen,
Verneinen, Empfinden etc.5 Hier kann man die Funktionen des logischen Subjekts, die
Sprache als ein Medium des Denkens haben – nämlich das Verstehen, Erkennen, Bejahen
oder Verneinen –, von den nicht-sprachlichen subjektiven Funktionen wie Empfinden, Fühlen
oder dem leiblichen Handeln differenzieren. Offensichtlich gehören alle Modi des Denkens,
die sich sprachlich ereignen, zu der rein logischen Domäne des Subjekts. Aber die anderen
nicht-sprachlichen Modi des Denkens sind eindeutig auf eine vor-logische Domäne der
ästhetischen Subjekts, die unbedingt leiblich ausgedehnt ist, eingegrenzt. Wie können die
subjektiven Funktionen wie Empfinden, Fühlen oder Handeln, die leiblich zustande kommen
anderer Beweggrund für diese Orientierung ist nämlich, daß diese Abhandlung neben den Grundlagen der
cartesischen Epistemologie vorzüglich auf der kantischen Lehre einer Transzendentalphilosophie – insbesondere
auf der Transzendentalen Ästhetik – aufbaut.
5
Descartes, René: Meditationen, übersetzt und herausgegeben von Artur Buchenau, Felix Meiner Verlag,
Hamburg 1972, S. 145.
4
bzw. durch ihn und in ihm entstehen und wirken, einem immateriellen und nicht
ausgedehnten Subjekt, das bloß denkt, zugeschrieben werden?
Diese Fragestellung veranlaßt uns zu einer weiteren und wesentlichen Differenzierung
innerhalb des Grundmodus des Subjekts, nämlich die Differenzierung zwischen Ursprung
und Domäne des Subjekts. Wenn Descartes das reine Empfinden, Fühlen oder Handeln einem
nicht ausgedehnten Subjekt, das von dem Leib völlig verschieden und abgetrennt ist,
zuschreibt, wird dabei nur der Ursprung dieser subjektiven Funktionen berücksichtigt.
Dagegen zeigen sich ihre Domänen unbedingt als leiblich ausgedehnt. Wenn Descartes dem
denkenden Subjekt eine vom Leib völlig verschiedene Existenz zuerkennt, bezieht er sich
streng genommen allein auf den Ursprung des Subjektiven im Menschen, und kaum auf die
Domänen
eines
Subjekts,
das
neben
dem
sprachlichen
Denken
die
leiblichen
Sinnesempfindungen und Willensakte als dessen Funktionen hat. Descartes kann es nicht
annehmen, daß die Willensakte sowie die Sinnesempfindungen, die leiblich zustande
kommen, zu dem bloß denkenden Subjekt – dem res cogitans – gehören, obwohl er das
Empfinden oder Handeln als Modi des Denkens betrachtet und demnach dem Subjekt
zuordnet:
„Unter dem Namen ‚Bewußtsein‘ (cogitation, pensée) befasse ich alles das, was so in uns ist, daß wir uns seiner
unmittelbar bewußt werden. In dem Sinne sind alle Operationen des Willens, des Verstandes, der Einbildung und
der Sinne Bewußtseinsinhalte (cogitationes, des pensées). Das Wort ‚unmittelbar‘ habe ich aber hinzugefügt, um
all das auszuschließen, was aus ihnen erst erfolgt. So hat die freiwillige Bewegung zum Beispiel zwar das
Bewußtsein als Ausgangspunkt, ist aber doch nicht selbst Bewußtsein.“6
6
Ebd. An dieser Stelle ist ein semantischer Unterschied zwischen der geläufigen englischen Übersetzung des
cartesischen Begriffs cogitation und seiner – oben zitierten – deutschen Übersetzung zu erwähnen. Während
Artur Buchenau den Begriff Bewußtsein verwendet, ist im englischsprachigen Raum bekanntlich den Begriff
„thought“ im Gebrauch. Eine englische Übersetzung dieses Zitats lautet: „Thought is a word that covers
everything that exists in us in such a way that we are immediately conscious of it. Thus all the operations of will,
intellect, imagination, and the senses are thoughts. But I have added immediately, for the purpose of excluding
that which is a consequence of our thought; for example, voluntary movement, which, though indeed depending
on the thought as on a causal principle, is yet itself not thought.“ (Descartes: Key Philosophical Writings,
übersetzt von Elizabeth S. Haldane und G. R. T. Ross, Wordsworth Classics of World Literature, Hertfordshire
1997). Wie der oben zitierten Betrachtung zu entnehmen ist, scheint Descartes einen bloßen Seelenzustand von
einem bewußten Seelenzustand zu unterscheiden. Die freiwillige Bewegung ist in diesem Sinne ein unmittelbarer
leiblicher Ausdruck eines Seelenzustands, der als solcher von einem Bewußtseinzustand zu differenzieren ist.
Ebenso sind die bloße Tast- oder Farbempfindung als leiblich-seelische Empfindungszustände an sich keine
Bewußtseinzustände. Die Einmischung unseres Bewußtseins in diesen leiblich-seelischen Willens- und
Empfindungszuständen ist demnach der Moment, in dem uns die von Descartes vorgestellte Differenz zwischen
dem Modus der Seele und dem des Leibes am klarsten einleuchten wird, oder, in anderen Worten: in dem wir der
Differenziertheit der Seele vom Leib (als Wirkungssphäre der Seele) am ehesten bewußt werden. Auch das bloße
Denken oder Erkennen – als Operationen eines logischen Subjekts – scheint sich von dem Denken und dem
Erkennen als Bewußtseinzustände – bzw. dem Bewußtsein des Denk- und Erkenntnisprozesses – zu
unterscheiden. In Hinsicht darauf scheint mir fragwürdig, ob der Begriff „Bewußtsein“ eine (epistemologisch)
adäquate Übersetzung des cartesischen Grundbegriffs cogitation sein kann.
5
Diese Betrachtung könnte eine adäquate Antwort auf die von Prinzessin Elizabeth gestellte
Frage sein. Elizabeth sieht im leiblich ausgedehnten Willensakt des Subjekts die leibliche
Ausdehnung des Subjekts selbst.7 Ihre Frage läßt sich folgendermaßen umformulieren: Wie
kann ein immaterielles und nicht ausgedehntes Subjekt einen leiblich ausgedehnten
Willensakt zustande bringen? Wie in der oben zitierten Betrachtung angedeutet ist,
differenziert Descartes das unmittelbare Bewußtsein der Operationen des Subjekts – wie z. B.
das Bewußtsein der Operation des Willen, des Intellekts oder der Imagination – von deren
Folgen, wie dem leiblich erfahrbaren Willensakt (dargestellt meistens durch eine leibliche
Bewegung). Ein derartiges Bewußtsein der rein subjektiven Operationen impliziert eindeutig
das Bewußtsein des Ursprungs dieser Operationen im Subjekt, das an sich vom Leib, auf den
es wirkt, autonom ist. Während der leibliche Willensakt hier die Wirkung ist, bildet dessen
Ursprung im Subjekt die Ursache. In Wahrheit gehört nur diese Ursprünglichkeit des Denkens
bzw. der subjektiven Operationen zu dem Cartesischen res cogitans, also dem rein denkenden
Subjekt, das immateriell und ohne Ausdehnung ist, und sich als solches vom ausgedehnten
Leib völlig unterscheidet. Im Vergleich dazu gehört der merkliche Willensakt offensichtlich
zu der Domäne des Leibes, die, der von Descartes selbst vorgestellten Verbundenheit
zwischen Subjekt und Leib (bei Willensakten sowie bei sinnlichen Empfindungen)
entsprechend8, die Domäne des Subjekts selbst bildet. Wir merken hierbei, wie Descartes in
seiner Erläuterung der Differenzierung zwischen dem ausgedehnten Leib und dem
immateriellen Subjekt stillschweigend eine weitere und grundlegende Differenzierung
zwischen dem vom Leib autonomen Ursprung der Operationen (wie Willensakte oder
Empfindung) im Subjekt und deren leiblichen bzw. leiblich ausgedehnten Domänen zuläßt.
Die Lehre des Leib-Seele- (oder Geist-Körper-) Dualismus führt Descartes in seinem
Hauptwerk Meditationen ein. Bereits in der ersten Meditation wurde die völlige
Differenzierung zwischen Leib und Seele zu axiomatisieren versucht. Es war allerdings die
sechste Meditation, in der der Leib-Seele-Dualismus ausführlich behandelt wird, und die die
Prinzessin anscheinend zu einer Polemik gegen diese wichtigste Grundlage der cartesischen
Philosophie brachte:
„Daraus also, daß ich weiß, ich existiere und daß ich inzwischen bemerke, daß durchaus nichts anderes zu
meiner Natur oder Wesenheit gehöre, als allein, daß ich ein denkendes Ding bin, schließe ich mit Recht, daß
meine Wesenheit allein darin besteht, daß ich ein denkendes Ding bin. Und wenngleich ich vielleicht – oder
7
Siehe Anhang, S. 53.
6
vielmehr gewiß, wie ich später auseinandersetzen werde – einen Körper habe, der mit mir sehr eng verbunden
ist, so ist doch, – da ich ja einerseits eine klare und deutliche Idee meiner selbst habe, sofern ich nur ein
denkendes , nicht ein ausgedehntes Ding bin, und andererseits eine deutliche Idee vom Körper, sofern er nur ein
ausgedehntes, nicht denkendes Ding ist – soviel gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin
und ohne ihn existieren kann.“9
Descartes versucht, die völlige Differenzierung zwischen Leib und Seele anhand eines
Gedankenexperiments zu beweisen:
„Nun bemerke ich hier erstlich, daß ein großer Unterschied zwischen Geist und Körper insofern vorhanden ist,
als der Körper seiner Natur nach stets teilbar, der Geist hingegen durchaus unteilbar ist. Denn, in der Tat, wenn
ich diesen betrachte, d. h. mich selbst, insofern ich nur ein denkendes Ding bin, so vermag ich in mir keine Teile
zu unterscheiden, sondern erkenne mich als ein durchaus einheitliches und ganzes Ding. Und wenngleich der
ganze Geist mit dem ganzen Körper verbunden zu sein scheint, so erkenne ich doch, daß, wenn man den Fuß
oder den Arm oder irgendeinen anderen Teil des Körpers abschneidet, darum nichts vom Geiste weggenommen
ist. Auch darf man nicht die Fähigkeiten des Wollens, Empfindens, Erkennens als seine Teile bezeichnen, ist es
doch ein und derselbe Geist, der will, empfindet und erkennt. Im Gegenteil aber kann ich mir kein körperliches,
d. h. ausgedehntes Ding denken, das ich nicht in Gedanken unschwer in Teile teilen und ebendadurch als teilbar
erkennen könnte, und das allein würde hinreichen, mich zu lehren, daß der Geist vom Körper gänzlich
verschieden ist, wenn ich noch nicht anderswoher zur Genüge wüßte.“10
Die Verbundenheit zwischen Leib und Seele, wie dieser Betrachtung Descartes zu entnehmen
ist, läßt sich ihrer Differenziertheit voneinander kaum entgegensetzen. Die Trennung eines
Körperteils – wie die Hand oder der Fuß – hat praktisch keine Wirkung auf die Existenz der
Seele. Die Autonomie der Seele vom Leib wird hier betont; aber zugleich wird der Seele eine
leibliche Ausdehnung zugesprochen. Die leibliche Ausdehnung der Seele, in der die
Verbundenheit zwischen Leib und Seele zum Ausdruck kommt, bildet eine Domäne der Seele
oder des ästhetischen Subjekts. Eine derartige Ausdehnung der leiblichen Domäne des
ästhetischen Subjekts ist allerdings nicht konstant, sondern variable. Durch die Trennung
eines Körperteils oder durch das Wachstum des Leibes ändert sich die Ausdehnung der
leiblichen Domäne des ästhetischen Subjekts. Aber diese Änderungen haben keine Wirkung
auf die Existenz des Subjekts, was uns unmittelbar bewußt ist. Unser Bewußtsein ist hier
genau genommen auf eine ursprüngliche und als solche unveränderliche Existenz der
Subjektivität bezogen. Demnach wird hier zwischen der leiblich ausgedehnten Domäne des
(ästhetischen) Subjekts und seinem vom Leib autonomen Ursprung differenziert.
8
Vgl. Anmerkung 3.
Descartes, Meditationen, a. a. O., S. 67.
10
Ebd., S. 74.
9
7
Die leibliche Domäne des Subjekts ist, wie vorher erwähnt wurde, zugleich eine Domäne des
subjektiven Handelns und Empfindens. In der Physiologie des Handelns und des sinnlichen
Empfindens führt man jeder Willensakt bzw. Bewegung des Leibes sowie jede sinnliche
Empfindung der innerleiblichen Phänomene – wie Hunger oder Schmerz – sowie die der
Außenwelt – wie das Sehen, Hören, Tasten, Schmecken oder Riechen – gewöhnlich auf das
Gehirn. Die im ganzen Leib verbreiteten Nerven übertragen die sinnlichen Empfindungen von
verschiedenen leiblichen Sinnesorganen zum Gehirn. Ebenso haben sie bei jedem subjektiven
Willensakt eine gewisse übertragende Funktion zwischen ihrem physiologischen Initiieren im
Gehirn11 und ihrer leiblichen Realisation. Dennoch bildet das Gehirn nach Descartes keinen
Ursprungsort der Seele. Denn die Seele hat einen vom Leib wesentlich verschiedenen
Existenzmodus, und das Gehirn ist letzten Endes bloß ein Teil des Leibes. Allerdings ist die
Seele am nächsten mit dem Gehirn verbunden, indem sie zum einen die sinnlichen
Empfindungen zuletzt vom Gehirn empfängt und zum anderen die Willenakte zunächst in ihm
initiiert:
„Sodann bemerke ich, daß der Geist nicht von allen Teilen des Körpers unmittelbar beeinflußt wird, sondern nur
vom Gehirn, oder sogar nur von einem ganz winzigen Teile desselben, nämlich von dem, worin der Gemeinsinn
seinen Sitz haben soll. So oft dieser Teil nun in gleicher Weise gestimmt ist, stellt er dem Geiste dasselbe dar,
wenn sich auch inzwischen die übrigen Teile des Körpers auf verschiedene Arten verhalten mögen, wie
unzählige Erfahrungen beweisen, die ich hier nicht anzuzählen brauche.“12
In seinem nächsten Hauptwerk Die Prinzipien der Philosophie, gewidmet an Prinzessin
Elizabeth, erläutert Descartes eingehend die Differenzierung zwischen Leib und Seele in
bezug auf den wahren Ursprung der leiblichen Empfindungen. Die sinnlichen Empfindungen
haben ihren Ursprung und ihre Existenz allein im Subjekt. Die gesehene Farbigkeit eines
Gegenstands ist ursprünglich eine bloß subjektive Empfindung. Aber gewöhnlich neigen wir
in unserer unmittelbaren Erfahrung dazu, die Farbigkeit dem Gegenstand zuzuerkennen.
Ebenso empfinden wir den Schmerz im Fuß ursprünglich allein im Subjekt, sind allerdings
von der Täuschung kaum befreit, daß der Schmerz sich in dem Körperteil befindet bzw. die
Schmerzempfindung ihren Ursprung im Fuß hat:
„Es bleiben noch die Wahrnehmungen, die Affekte und die Gefühle, die man zwar auch klar erfassen kann,
wenn man sich genau vorsieht und gerade nur das über sie aussagt, was in unserem Vorstellen darüber enthalten
11
Der Ursprung der Willensakte – ebenso wie der Ursprung der Sinnesempfindungen – im Gehirn ist nach
Descartes streng genommen als ein physiologisches Initiieren zu bestimmen und als solche von dem
epistemologischen Ursprung dieser Operationen im Subjekt zu unterscheiden.
8
ist, und dessen wir unmittelbar bewußt sind. Indes ist es sehr schwer, dies innezuhalten, wenigstens in Bezug auf
unsere Empfindungen, weil wir alle von Kindheit auf angenommen haben, daß alle die Dinge, die wir
empfinden, eine Existenz außerhalb unseres Bewußtseins hätten, und daß sie den Empfindungen oder Ideen, die
wir von ihnen bei Gelegenheit ihrer Wahrnehmung hatten, ganz ähnlich seien. Wenn wir z. B. eine Farbe sahen,
meinten wir eine außer uns befindliche und eine der Idee dieser von uns wahrgenommenen Farbe ganz ähnliche
Sache zu sehen, und infolge der Gewohnheit, so zu urteilen, glaubten wir diese Sache so klar und deutlich zu
sehen, daß sie uns für gewiß und zweifellos galt.
Ganz ebenso verhält es sich mit allen übrigen Wahrgenommenen, auch mit der Lust und dem Schmerze.
Denn wenn auch diese letzten nicht außerhalb unsrer selbst verlegt werden, so werden sie doch nicht in den Geist
oder in unsere Vorstellung allein gesetzt, sondern in die Hand oder in den Fuß oder in einen anderen Teil unseres
Körpers. Es ist aber durchaus nicht sicherer, daß der z. B. in dem Fuße gefühlte Schmerz etwas außerhalb
unseres Geistes ist und in dem Fuße sich befindet, als daß das in der Sonne gesehene Licht auch in der Sonne
sich befindet; vielmehr sind beides Vorurteile aus unserer Kindheit..“13
Versuchen wir, die oben zitierten Beispiele Descartes, die uns über die Differenzierung
zwischen Leib und Seele aufklären sollen, näher zu betrachten. Zunächst untersuchen wir den
Fall der Schmerzempfindung, denn sie bezieht sich unmittelbar auf die Fragestellung der
Prinzessin nach der leiblichen Ausdehnung der Seele. Zwar geht es hier nicht um eine leiblich
handelnde Seele (worauf die Frage der Prinzessin verweist), sondern um eine leiblich
empfindende Seele. Aber in der Schmerzempfindung – ebenso wie in der haptischen
Empfindung der Kälte, Wärme oder des Drucks – taucht das Problem der Einheit oder
(wenigstens) der Verbundenheit der Seele mit dem Leib auf. Der Schmerz wird im Fuß
empfunden, aber es ist nicht der Fuß, der ihn empfindet. Der Ort des Schmerzes im Leib wird
mit dem Gehirn durch die Nerven verbunden. Die Empfindung des Schmerzes entsteht
letztendlich aus der Ganzheit des Nervensystems, das das Gehirn und die mit ihm
verbundenen und auf den ganzen Leib verbreiteten Nerven in sich einschließt. Rein
physiologisch wird die Schmerzempfindung im Gehirn bearbeitet. D.h. ein Gehirnteil ist der
physiologische Ursprungsort des Schmerzes, der aber im Fuß empfunden wird. Wie Descartes
betont, ist es wiederum nicht das Gehirn, sondern die Seele bzw. das Subjekt, das den
Schmerz empfindet, indem es unmittelbar vom Gehirn beeinflußt wird. Hier kann man eine
deutliche Trennung zwischen dem Ursprung und der Domäne der subjektiven
Sinnesempfindung erkennen. Der Schmerz wird innerhalb der Domäne des Leibes
empfunden. Aber der Ursprung der rein subjektiven Schmerzempfindung ist nicht im Gehirn
(der ein Teil des Leibes ist), sondern in dem vom Leib völlig verschiedenen Subjekt. Denn die
12
Descartes, Meditationen, a. a. O., S. 74.
Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie, übersetzt und erläutert von Artur Buchenau, Felix Meiner
Verlag, Hamburg 1965, S. 24-25.
13
9
wahre subjektive Schmerzempfindung und die leiblichen Prozesse – im Gehirn und im
gesamten Nervensystem – sind zwei voneinander absolut verschiedene Existenzmodi oder
Modi der Wirklichkeit. Die Schmerzempfindung läßt sich auf verschiedene neuronale
Prozesse im Gehirn zurückführen, aber diese Gehirnprozesse – mag es im biologischen, im
chemischen oder sogar im elektrischen Modus sein – sind modal und ontisch von der
unmittelbaren subjektiven Schmerzempfindung absolut verschieden.
Aber gerade in bezug auf die leibliche Domäne der Empfindung (der Schmerzempfindung
oder der haptischen Empfindung der Kälte, Wärme oder Antastung) kann man – in
Anlehnung an Prinzessin Elizabeth – das Subjekt für leiblich ausgedehnt halten. Hierbei läßt
sich das cartesische Verfahren der methodischen Isolierung des Subjekts vom Leib umdrehen.
Zwar empfindet allein das Subjekt, das vom Leib völlig different ist, den Schmerz, aber er
(bzw. der Schmerz) wird im Fuß empfunden. Dies besagt, daß in der Realität der
Schmerzempfindung das cartesische Verfahren ihrer methodischen Ableitung – bzw. die
Progression des Empfindungsprozesses von dem Ort der Empfindung (nämlich dem Fuß)
durch die Nerven und durch das Gehirn zum Subjekt – umgedreht werden. An dieser Stelle ist
neben dem absoluten Ursprung der Schmerzempfindung im Subjekt ihre Verortung oder
Lokalisation in der Domäne des Leibes zu berücksichtigen. Die Wirklichkeit unserer
Schmerzempfindung ist, daß wir den Schmerz im Fuß lokalisiert empfinden, und nicht im
Gehirn, in dem er rein physiologisch bearbeitet wird. Daraus läßt sich folgern, daß wir in der
Gesamtheit unserer ästhetischen Subjektivität, die den Ursprung und die Domänen der
ästhetisch-subjektiven Operationen in sich einschießt, auf das Faktum des Raumes bzw. der
räumlichen Ausdehnung kaum verzichten können. Unsere ästhetische Subjektivität, indem sie
sich notwendigerweise auf eine Domäne oder Wirkungssphäre erstreckt, erweist sich in ihrer
Gesamtheit als räumlich ausgedehnt, worauf die Fragestellung der Prinzessin verweist.
Bevor wir das Beispiel der Farbempfindung erörtern, untersuchen wir erneut die bereits
eingeführte Differenzierung zwischen einer rein logischen und einer rein ästhetischen
Domäne des Subjekts. Bereits vorher haben wir angedeutet, daß die von Descartes
bestimmten Modi des Denkens kaum einheitlich sind. Erkennen, Verstehen, Bejahen oder
eine (logische) Schlußfolgerung, die das sprachlich-begriffliche Denken als Basis haben,
unterscheiden sich vom bloßen Fühlen, Empfinden oder Willensakt. Mit Kant zu reden,
handelt es sich bei den sprachlich-begrifflichen Modi des Denkens um eine logische Synthese,
genauer, eine Synthese im Modus eines logischen Nexus. Wir haben die Domäne des
10
Subjekts, das bloß sprachlich denkt bzw. versteht, erkennt, bejaht oder verneint, als eine rein
logische Domäne des Subjekts bestimmt. Dagegen zeigt sich die räumlich bzw. leiblich
ausgedehnte Domäne des Subjekts, das bloß empfindet, sich fühlt oder handelt, als eine vorlogische rein ästhetische Domäne des Subjekts. Diese Domänen bilden die Grundstruktur
unserer Subjektivität, wobei die rein logische Domäne einer logischen Subjektivität und die
rein ästhetische Domäne einer vor-logischen und rein ästhetischen Subjektivität zu
entstammen scheinen. Die andere und zwar grundlegende Differenzierung zwischen dem
Ursprung und der Domäne des Subjekts wird die Differenzierung zwischen der logischen und
der ästhetischen Subjektivität verschiedenartig betreffen. Wir haben bereits innerhalb der
ästhetischen Subjektivität einen nicht ausgedehnten Ursprung und eine räumlich bzw. leiblich
ausgedehnte Domäne des Subjekts aufgewiesen. Aber innerhalb der logischen Subjektivität
scheint eine derartige Differenzierung kaum möglich zu sein. Denn dem sprachlichbegrifflichen Denken – als Verstehen, Erkennen, Bejahen oder Verneinen – läßt sich keine
räumliche Ausdehnung zuordnen; seine Domäne scheint ebenso wie sein Ursprung keine
Ausdehnung zu haben. Das Verfahren des Verstehens, des Erkennens oder der
Schlußfolgerung beziehen sich – im Vergleich zum Empfinden, Fühlen oder Handeln – streng
genommen nicht auf eine leiblich ausgedehnte Domäne. In diesen und ähnlichen Modi des
sprachlich-begrifflichen Denkens scheint der Ursprung der logischen Subjektivität mit ihrer
Domäne vereinheitlicht zu sein. Dies erschwert eine klare Differenzierung zwischen dem
Ursprung und der Domäne des Subjekts im Kontext des sprachlich-begrifflichen Denkens.
Die methodische Isolierung der Seele vom Leib ist in der cartesischen Epistemologie
offensichtlich eine klare Trennung des Ursprungs der Subjektivität, genauer, der subjektiven
Operationen wie Verstehen, Erkennen, Empfinden, Handeln etc. von deren Domänen.
Zunächst aber werden bei Descartes die leiblichen Domänen eines ästhetischen Subjekts
zugunsten seines nicht-leiblichen Ursprungs vernachlässigt, was die Prinzessin Elizabeth zu
ihrer berühmten Problemstellung bezüglich der leiblichen Ausdehnung des Subjekts
veranlaßte. Aber im Kontext der logischen Subjektivität wäre eine derartige Problemstellung
kaum möglich. Denn die verschiedenen Modi des sprachlich-begrifflichen Denkens, nämlich
das Verstehen, Erkennen, Bejahen oder Verneinen, erstrecken sich nicht auf eine leibliche
Domäne. Oder, in anderen Worten: die Prinzessin kann ihre Problemstellung bezüglich der
leiblichen Ausdehnung des Subjekts nicht auf das sprachlich-begriffliche Denken beziehen.
11
Der cartesische Grundsatz „ego cogito, ergo sum“ (ich denke, also bin ich), anhand dessen
Descartes seine Grundannahme einer völligen Differenzierung zwischen der immateriellen
Seele und dem räumlich ausgedehnten Leib zu begründen sucht, bezieht sich streng
genommen bloß auf den Ursprung der Subjektivität, und nicht auf die Domänen des Subjekts
– insbesondere eines vor-logischen rein ästhetischen Subjekts. Die leiblich ausgedehnte
Domäne eines ästhetischen Subjekts kann einen derartigen Grundsatz kaum beanspruchen. Da
im Kontext des rein logischen Subjekts der Ursprung des begrifflichen Denkens mit seiner
Domäne zu koinzidieren scheint (so daß sie sich voneinander kaum differenzieren lassen),
kann man davon ausgehen, daß dieser cartesische Grundsatz sich vorrangig auf die logische
Subjektivität bezieht. Ebenso bezieht er sich auch im Kontext einer rein ästhetischen
Subjektivität allein auf den Ursprung des ästhetischen Subjekts bzw. auf den Ursprung der
ästhetisch-subjektiven Funktionen (oder Operationen) wie Empfinden oder Handeln, und
nicht auf seine Domänen, die räumlich ausgedehnt existieren. Die Problemstellung von
Prinzessin Elizabeth verweist auf eine derartige Einschränkung des (oben zitierten)
cartesischen Grundsatzes.
Die Differenzierung zwischen der logischen und der ästhetischen Domäne des Subjekts läßt
sich nicht auf die cartesische Epistemologie beschränken; sie betrifft darüber hinaus die
Transzendentalphilosophie Kants. Nach der kantischen Epistemologie sind die Gegenstände
in der empirischen Anschauung gegeben, und sie werden durch einen logischen Verstand zu
begrifflichen Erkenntnissen synthetisiert. Hier gehört die empirische Anschauung, die die
Sinnlichkeit als Basis hat und in der die Gegenstände im Modus der sinnlichen Empfindungen
gegeben werden, offensichtlich zur Domäne (oder Sphäre) der ästhetischen Subjektivität, und
der logische Verstand, der die in der Anschauung gegebenen Gegenstände begrifflich erkennt,
zur Domäne der logischen Subjektivität. Daher kann man annehmen, daß wenn Kant in der
begrifflichen Erkenntnis eine Synthese zwischen Begriff und Anschauung sieht, die
epistemologisch bzw. im Erkenntnisvorgang eine Synthese zwischen dem logischen Verstand
und der Gegebenheit der Gegenstände in der Anschauung impliziert, bezieht er den Prozeß
der Synthetisierung prinzipiell auf eine logische Subjektivität. Denn der logische bzw.
sprachliche Begriff kann allein einer logischen Subjektivität entstammen.
In seiner Transzendentalen Logik behandelt Kant nur die Möglichkeit einer derartigen
logischen Synthese. Die rein ästhetische Domäne des Subjekts, in der die sinnlichen
Empfindungen der Gegenstände zustande kommen, wird dagegen kaum erörtert. Die Funktion
12
einer solchen vor-logischen Domäne (die aber von Kant als solche nicht genannt wird) ist für
Kant allein die Veranlassung der bloßen Gegebenheit der Gegenstände. Kant gibt auch keine
Mühe, diese Gegebenheit der Gegenstände in der empirischen Anschauung im Einzelnen zu
spezifizieren bzw. den in der Anschauung gegebenen Gegenstand als einen gesehenen,
gehörten, gerochenen, geschmeckten oder getasteten Gegenstand zu bestimmen. Die sinnliche
Gegebenheit der Gegenstände scheint gerade im Rahmen einer rein ästhetischen Subjektivität
eine ästhetische Synthese zwischen dem rein empfindenden Subjekt und dem empfundenen
Gegenstand zu implizieren. Diese rein ästhetische Synthese innerhalb der Empfindung läßt
sich der oben erörterten logischen Synthese innerhalb des begrifflichen Erkennens
analogisieren, indem beide einen synthetischen Nexus zwischen der Domäne des Subjekts und
der des Gegenstands aufweisen. In der vor-logischen rein ästhetischen Synthese, die das
sprachliche Denken nicht mit einbezieht, bildet die bloß subjektive – bzw. visuelle, haptische,
auditive, geschmackliche oder geruchliche – Empfindung eines Gegenstands mit dem
empfundenen Gegenstand eine Einheit, die als Synthese allerdings kein compositio, sondern
ein nexus ist. Kurzum Wenn wir in Anlehnung an Kant bestimmen, daß die Gegenstände in
der empirischen Anschauung gegeben werden, reden wir letztendlich von einer rein
ästhetischen Synthese – im Modus eines Nexus – zwischen dem bloß empfindenden
ästhetischen Subjekt und dem bloß empfundenen Gegenstand. Eine derartige vor-logische,
rein ästhetische Synthese kann man als ein ursprüngliches Ereignis innerhalb der ästhetischen
Domäne des Subjekts bezeichnen.
Nun untersuchen wir, in wieweit das Beispiel der Farbwahrnehmung im äußeren Gegenstand
eine ästhetische Synthese zwischen der Domäne des (ästhetischen) Subjekts und der des
Gegenstands deutet. Nach Descartes nehmen wir einen äußeren Gegenstand farbig wahr, nicht
weil die Farbe gegenständlich ist bzw. im Gegenstand existiert, sondern weil der Gegenstand
die Farbwahrnehmung im Subjekt verursacht. Ob der Gegenstand an sich farbig ist, entzieht
sich unserer subjektiven Wahrnehmung. Dies besagt, daß das Subjekt überhaupt keinen
Zugang zu der Objektivität der Farbe hat.14 Die Farbwahrnehmung ist zwar subjektiv, aber die
14
Bekanntlich versuchen die Wissenschaftler, der Farbwahrnehmung eine physikalische Objektivität
zuzuordnen. Diese Objektivität basiert auf zweierlei Fakten – einem rein physikalischen und einem
physiologischen. Das rein physikalische Faktum ist nichts anders als bestimmte Wellenlängen des Lichts, die der
Gegenstand reflektiert, und die, wenn vom Auge empfangen werden, bestimmte Farbwahrnehmungen
verursachen. Das physiologische Faktum besteht aus den neuronalen Prozessen im Gehirn, die aus der retinalen
Abbildung (die aber keine Farbe hat) die Farbwahrnehmung zustande bringt. Aber beide dieser Fakten sind
letztendlich der Epistemologie der Farbwahrnehmung untergeordnet. D. h. die physikalischen und
physiologischen Aspekte der Farbwahrnehmung, die in Wirklichkeit eine rein subjektive Wahrnehmung ist, den
Kontext einer Epistemologie der Farbwahrnehmung nicht übertreffen. Während die Farbe im Objekt nur
subjektiv wahrgenommen werden kann, bleibt die ursächliche Objektivität der gegenständlichen Farbigkeit dem
13
Farbe wird im Objekt wahrgenommen. Die Farbigkeit des Objekts ist hier im Vergleich zur
Tastempfindung keine bloß leibliche, sondern außerleibliche und freiräumlich entfernte
Sehempfindung. D.h. das farbige Objekt wird visuell in einer freiräumlichen Entfernung und
in räumlich-perspektivischer Ausdehnung wahrgenommen. Dies impliziert, daß man gerade
in der visuellen Farbwahrnehmung eines äußeren Gegenstands das Faktum des unmittelbaren
Zwischen- oder Freiraumes sowie das der räumlich-perpektivischen Ausdehnung des
Gegenstands unbedingt miteinbeziehen muß. Aber an dieser Stelle taucht das Problem der
visuellen Raumwahrnehmung auf. Sowohl der visuell wahrgenommene Freiraum als auch die
ebenso visuell wahrzunehmende Solidität des Gegenstands wird auf der Augennetzhaut nicht
abgebildet.15 Darüber hinaus erscheinen die Gegenstände in ihrer Abbildung auf der Netzhaut
sehr winzig, zweidimensional und umgedreht sowie – gemäß der sphäroidischen Krümmung
der Netzhaut – sphäroidisch-konvex verzerrt. Auch wenn wir annehmen, daß die Umdrehung
und Konvexität der Netzhautabbildung bloß neuronal korrigiert werden, bleibt uns ein Rätsel,
wie aus dem zweidimensionalen Netzhautbild, dem die oben erwähnten Fakten der
freiräumlichen Entfernung und räumlichen Ausdehnung der Gegenstände fehlen, ein
dreidimensionaler Sehraum entstehen kann, in dem die Gegenstände räumlich ausgedehnt und
in freiräumlicher Entfernung gesehen werden. Ebenso wie die visuelle Lagewahrnehmung –
bzw. die visuelle Wahrnehmung der freiräumlichen Entfernung der Gegenstände – bleibt uns
auch die visuelle Größenwahrnehmung der Gegenstände ein Rätsel. Eine riesige Erscheinung
wie ein Berg wird auf der Netzhaut relativ sehr klein abgebildet. Wie vermag das Subjekt aus
diesem winzigen Netzhautbild, das im Kontext der rein physiologischen Optik das einzige
Input ist, die visuelle Wahrnehmung einer riesigen Erscheinung in großer Entfernung – im
unmittelbaren Sehraum – zu entwickeln? Die winzige Abbildung des Berges auf der Netzhaut
enthält streng genommen keine Daten, aus denen das Subjekt die richtige Größen- und
Distanzwahrnehmung dieses Gegenstands entwickeln kann. Die geschichtlich bekannten
Probleme der visuellen Raumwahrnehmung, nämlich die Korrektur der umgedrehten
Netzhautabbildung und die Größen- und Distanzwahrnehmung der Gegenstände, weisen
visuell wahrnehmenden ästhetischen Subjekt ewig abgesagt. D.h. das Subjekt kann die objektive Ursache der
Farbigkeit des Gegenstands visuell nicht wahrnehmen. Diese Unmöglichkeit könnte man im Rahmen der
Epistemologie der Farbwahrnehmung als eine rein ästhetische Aporie bezeichnen.
15
Wenn wir von einer Abbildung der Gegenstände auf der Netzhaut reden, müssen wir unbedingt
mitberücksichtigen, daß die Netzhautabbildung an sich bzw. rein objektiv nicht farbig ist. Denn sie besteht
objektiv aus farblosen Lichtzonen – entstanden durch die Lichtwellen (oder Lichtpartikeln) von verschiedenen
Wellenlängen, die auf die Netzhaut prallen. Unsere Vorstellung von einer farbigen Abbildung der sich im
Sehraum befindenden Gegenstände auf der Augennetzhaut ist – in klarer Analogie zu der Abbildung in einem
camera obscura – grundsätzlich eine bloß subjektive Wahrnehmung. In Wirklichkeit sehen wir das Netzhautbild
nicht; wir sehen nur die Gegenstände farbig in unserem Sehraum, mit dem die Augennetzhaut durch die auf den
Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen verbunden ist. Indem das Netzhautbild nicht gesehen wird, bildet es
mit dem Sehraum, in dem die Gegenstände farbig wahrgenommen werden, eine Einheit (PMS, S. 210).
14
darauf hin, daß allein das Input eines winzigen Netzhautbildes – zusammen mit der
neuronalen Bearbeitung dieses Inputs – nicht reicht, das Phänomen der unmittelbaren
visuellen
Raumwahrnehmung
zu
erklären.
Neben
dem
Netzhautbild
muß
man
notwendigerweise die unmittelbar zu erfahrende Einheit des Auges mit dem Sehraum (in dem
sich die gesehenen Gegenstände befinden) in Betracht ziehen.16 Der Prozeß des Sehens – der
visuellen Raumwahrnehmung – scheint sich demnach nicht in einer isolierten neuronalen
Bearbeitung des Netzhautbildes, sondern in einer Einheit des Auges mit dem unmittelbaren
Sehraum zu ereignen. In dieser unmittelbar subjektiv zu erfahrenden Einheit des Sehvorgangs
wird das Netzhautbild durch die physikalischen Lichtstrahlen (die, von den Gegenständen
reflektiert, auf den Augenpunkt konvergieren) mit den Gegenständen im Sehraum verbunden.
Exkurs:
„Object Size Consistency“
Das Rätsel der Größenwahrnehmung im Prozeß des Sehens bezieht sich prinzipiell auf zwei Problemstellungen,
mit denen sich die Philosophen und Wissenschaftler der Optik in der Neuzeit auseinandersetzten. Sie sind
nämlich:
1.
Wie entwickelt der Geist aus den relativ sehr winzigen Netzhautabbildungen die visuelle
Größenwahrnehmung der Sehobjekte in annähernder Richtigkeit?
2.
Wie verhält sich die unmittelbar erfahrene Konsistenz in der Größenwahrnehmung eines Sehobjekts in
unterschiedlichen Entfernungen zu der erheblichen Verkleinerung seiner Abbildung auf der Netzhaut?
Die neuzeitliche Auseinandersetzung mit diesen Problemen der visuellen Größenwahrnehmung – insbesondere
im Gebiet der philosophischen Epistemologie – erörtert Prof. Michael M. Morgan in seinem Werk Molyneux’s
Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception. Morgan betont den Irrtum in der Lockschen Lehre
des „inference“ im Phänomen der visuellen Größenwahrnehmung, wie es besonders bei ihrer Rezeption in
Frankreich von dem Philosophen Condillac problematisiert wurde. Nach Locke entwickelt der Geist die richtige
visuelle Größenwahrnehmung aus einer gegebenen Netzhautabbildung durch einen Bewußtseinsprozeß des
„inference“. Hierbei wird das Netzhautbild als das wichtigste Input im Prozeß der visuellen Wahrnehmung – in
Anlehnung an die Kamera-Analogie in der Wissenschaft der Augenoptik – anerkannt. In seiner Polemik gegen
die Locksche Lehre des „inference“ stützt Condillac sich auf das oben erwähnte object size consistency – bzw.
die Konsistenz in der Größenwahrnehmung eines Sehobjekts unabhängig von der erheblichen Variation seiner
Abbildungsgröße auf der Netzhaut:
„Locke’s error, as Condillac clearly points out, was to think that we see the retinal image at all. If we first see the
flat image and then later perceive, Locke’s argument (and Helmholtz’s) follows: some process of inference must
have go on. But if we never see the image – and Condillac correctly points out that we are never conscious of so
16
Zur Einheit des Auges mit dem Sehraum vgl. PMS, S. 209-212.
15
doing – then the ‘inference’ is gratuitous. We do not and cannot see the retinal image: we see objects in the
outside world. The Lockean and Helmholtzian language of ‘unconscious inference’ is an undesirable relic of the
‘camera’ theory of vision.
In some respects Condillac thought more clearly about this problem than many contemporary psychologists.
Take the question of ‘object consistency’ for example. Condillac knew that ‘If a man four feet away ... steps
backward to eight feet, the image of him on the retina is halved in size.’ Because of this it has seemed even to
some contemporary theorists to be a problem that objects do not shrink rapidly in size as they go away.
Originally, the descriptive term ‘object size consistency’ was used to refer to the non-shrinkage phenomenon. Its
use in that way is unexceptionable. But some people now use the term ‘consistency’ as if it applied to a process
which set to work on the retinal image: they speak of consistency ‘scaling things up’ or ‘scaling them down’.
What exactly do they think is being altered in size by constancy? The size of objects? Obviously not. The retinal
image? Still less so. The size of an image in the brain? Possibly: but for what purpose? A moment’s thought
shows the problems in treating constancy as a magnifying/minifying process. The cause of the fallacy is the
belief that we see the retinal image.
Condillac disposes of the fallacy. For one thing, he makes the very just remark that ‘If perception is an
inference involving a link between the idea of a man and a height of about five feet, either I should not see the
man at all, or I should see him five feet tall’ – whereas in fact objects seem to decrease insensibly in size as they
move into the middle distance. He ends with the remark ‘Nature determines that the sight of these objects should
tell me how far the man is away; it is impossible that I should not have this impression every time I see them.’ In
other words, we see things as we do, not because we make inferences, but because we are as we are. As modern
jargon would have it, the system is hard-wired“17
Figur 2
Figur 2 zeigt die von Morgan erwähnte Halbierung der Abbildungsgröße auf der Netzhaut, wenn das Sehobjekt
in einer doppelten Entfernung nach hinten tritt. Wenn Condillac betont, daß wir nicht das Netzhautbild im Auge,
sondern die Objekte in der Außenwelt sehen, wird darin die vorher erörterte Einheit des Auges mit dem Sehraum
impliziert. Das Beispiel des “object size consistency” ist demnach eine weitere und präzisere Beweisführung für
eine derartige optische Einheit im Sehprozeß, anhand deren das Subjekt die visuelle Größen- und
Distanzwahrnehmung des Sehobjekts nicht allein aus einer bloß rezeptiven Netzhautabbildung entwickelt,
sondern grundsätzlich in einem perspektivisch-projektiven Sehvorgang realisiert. Denn das Auge sieht das
Objekt nicht in seiner retinalen Abbildungsgröße, sondern in der realen Erscheinungsgröße; man hat dabei den
Seheindruck, daß das Sehobjekt in richtiger Erscheinungsgröße und Entfernung mit dem Augenpunkt
17
Vgl. Morgan, Michael J.: Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception, Cambridge
1977, S. 78-79.
16
unmittelbar durch lineare Lichtstrahlen verbunden ist. Dieser reale Seheindruck verdeutlicht, daß sich das
Subjekt bei der Konstruierung eines Sehraumes nicht auf das winzige und umgedrehte Netzhautbild – als das
einzige Input im Sehvorgang – beschränken kann, sondern notwendigerweise die von Sehobjekten
reflektierenden und auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen in einem geometrisch-optischen
Sehvorgang miteinbeziehen muß (wie bereits erörtert wurde). Dies würde bedeuten, daß das sehende Subjekt
sich über die Bearbeitung eines bloß rezeptiven Netzhautbildes hinaus projektiv über die orthogonalen
Lichtstrahlen erstrecken soll. Denn im Vergleich zu der Netzhautbildung, die allein das leibliche Input im
Sehvorgang betrachtet werden kann, bilden die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen ein
außerleibliches physikalisches Phänomen. Hier soll die Physiologische Optik, die nur das Netzhautbild als das
Input im Sehvorgang anerkennt, mit der Geometrischen Optik, die über die Netzhautabbildung hinaus die
physikalischen Lichtstrahlen zum Gegenstand hat, eine Einheit bilden. Im Fall des oben beschriebenen “object
size consistency” kommt uns diese Tatsache viel klarer vor. Falls der subjektive Sehvorgang ausschließlich auf
der neuronalen Bearbeitung des Netzhautbildes basiert, ist es unbegreiflich, warum die Halbierung der
Abbildungsgröße des Sehobjekts auf der Netzhaut keine entsprechende Halbierung der Erscheinungsgröße im
unmittelbaren Sehraum zur Folge hat. Das optische Phänomen des “object size consistency” verweist auf eine
Tatsache, daß das Subjekt bei der visuellen Wahrnehmung der Größe und Entfernung der Sehobjekte letztendlich
nicht das Netzhautbild, sondern – über es hinaus – die wirklichen Erscheinungen im Sehraum als Referenz hat
bzw. sich unmittelbar darauf bezieht. Denn die oben dargestellte Konsistenz in der visuellen
Größenwahrnehmung des Sehobjekts läßt sich scheinbar auf die Tatsache zurückführen, daß beim Zurücktreten
das wirkliche Sehobjekt sich im Gegensatz zu seiner retinalen Abbildung (mit der es in einer geometrischoptischen Struktur der Lichtstrahlen unmittelbar verbunden ist) nicht verkleinert. Demnach scheint sich die
Konsistenz in der visuellen Größenwahrnehmung aus der wirklichen Konstanz der Größe des Sehobjekts
erklären zu lassen. Unabhängig davon, ob der unmittelbare Seheindruck durch ein bloßes “inference” des
Subjekts oder durch einen außerleiblichen geometrisch-optischen Prozeß zustande kommt, scheint seine Realität
– wie sie von uns erfahren wird – unweigerlich in der vorher erörterten geometrisch-optischen Einheit zwischen
dem (leiblichen) Auge und dem physikalisch-objektiven Sehraum fundiert zu bleiben. Beachtenswert ist hierbei
vor allem, daß Prof. Michael J. Morgen, ein renommierter Wissenschaftler der Ophthalmologie und der
Experimentellen Psychologie, die Aktualität des “object size consistency” als ein grundlegendes Problem in der
philosophischen Wahrnehmungstheorie anerkennt – zwar im Rahmen eines ebenso aktuellen wissenschaftlichen
Diskurses, nämlich der bekannten Molyneux Frage (aus dem 17. Jahrhundert). Dies beweist, daß derartige
Probleme in der Wissenschaft der Augenoptik letztendlich von einer wissenschaftlichen aber auch von einer
epistemologischen Aporizität kaum loslösen können.
Wie läßt sich eine derartige Einheit des Sehraumes mit dem Auge, die die oben erwähnten
Probleme der visuellen Raumwahrnehmung auflöst, epistemologisch legitimieren? In der
Epistemologie der visuellen Wahrnehmung deutet die Einheit des Sehraumes mit dem Auge
nichts anders als die Gesamtheit des subjektiven Sehens selbst, indem der unmittelbare
Sehraum als eine räumliche bzw. außerleibliche Extension der ästhetischen Subjektivität zu
bestimmen ist. Denn im Sehen erlangt das Auge keine Autonomie; es ist der Geist, der durchs
17
Auge sieht, wie es von Platon – und von vielen anderen Philosophen – nachdrücklich betont
wurde. Die Einheit des Sehraumes mit dem Auge ist daher letzten Endes seine Einheit mit
dem bloß sehenden ästhetischen Subjekt.
Hierbei werden wir mit einer Problematik konfrontiert: Bildet der unmittelbare ästhetischsubjektive Sehraum mit dem wirklichen physikalischen Lichtraum eine Einheit, genauer,
einen einheitlichen Nexus? Anders ausgedrückt: Erlangt der ästhetisch-subjektive Sehraum in
der
visuellen
Wahrnehmung
eine
gewisse
Objektivität?
Diese
Fragestellung
ist
doppelschneidig: wenn wir sie bejahen und demnach annehmen, daß der subjektive Sehraum
mit dem physikalisch-objektiven Lichtraum eine Einheit bildet, bedeutet es grundsätzlich eine
Extension des ästhetischen Subjekts über eine leibliche Domäne hinaus im Raum, der als
Sehraum visuell wahrgenommen wird. Eine derartige Annahme scheint sich unserem
rationalen Verstand entziehen. Wenn wir diese Frage verneinen und folglich feststellen, daß
der unmittelbare ästhetische Sehraum von dem physikalischen Lichtraum völlig getrennt ist
oder existiert, schreiben wir unserer visuellen Wahrnehmung bloße Virtualität bzw. virtuelle
Existenz zu. Eine derartige Annahme wird notwendigerweise zu der Vorstellung von
Doppelexistenz der Gegenstände, nämlich die Gegenstände als subjektiv-immateriell und
zugleich als objektiv-materiell seiend, führen.
Aber jede sinnliche Empfindung muß in Wirklichkeit – d.h. nicht im Traum – unbedingt durch
einen äußeren Gegenstand verursacht werden. Diese notwendige Verursachung impliziert
unweigerlich eine Verbindung der subjektiven Empfindung mit dem objektiven Gegenstand,
die wir im Rahmen der kantischen Transzendentalphilosophie als eine ästhetische Synthese –
im Modus eines Nexus – bestimmt haben. Die ästhetische Synthese zwischen dem sinnlich
empfindenden Subjekt und dem empfundenen Gegenstand drückt sich verschiedenartig aus.
Wenn wir mit barem Fuß im Schnee treten, fühlen wir uns sofort die Kälte im Fuß. Diese
Tastempfindung, die dem vorher erörterten cartesischen Beispiel der Schmerzempfindung im
Fuß analog ist, ist der unmittelbare Beleg dafür, wie die sinnliche Empfindung durch einen
äußeren Gegenstand verursacht wird. Die Kälteempfindung hier ist eine haptische
Empfindung im Fuß, der mit dem Schnee in Berührung kommt. Zwar empfinden wir Kälte im
Fuß, aber es ist letztendlich nicht die Kälte des Fußes, sondern die des äußeren Gegenstands
bzw. des Schnees, die wir haptisch wahrnehmen. Daraus läßt sich folgern, daß in der
Tastempfindung die leibliche Domäne der ästhetischen Subjektivität mit einem äußeren
18
Gegenstand, der mit dem Leib in Berührung kommt, einen unmittelbaren Nexus – eine
unmittelbare ästhetische Synthese – bildet.
Ein anderes, der Tastempfindung analoges Phänomen ist die leibliche Geschmacksempfindung. Uns schmeckt ein Gericht, indem es mit der Zunge in Berührung kommt. Die
Geschmacksempfindung ist ebenso wie die Tastempfindung eine im Leib lokalisierte
subjektive Erfahrung. D.h. wir empfinden den Geschmack des Gerichts in der Zunge, die mit
dem Gericht in unmittelbarer Berührung kommt, und nicht irgendwo im Leib – auch nicht im
Gehirn, wo diese Empfindung ihren physiologischen18 bzw. neuronalen Ursprung hat. Diese
Lokalisierung der Empfindung in der leiblichen Domäne des Subjekts ist ein klarer Beleg
dafür, daß das ästhetische Subjekt eine räumlich ausgedehnte leibliche Domäne hat, durch die
es sowohl die inneren Empfindungen wie Hunger, Durst, Schmerz etc. als auch die äußeren
bzw. durch äußere Gegenstände verursachten Empfindungen haben kann.
Aber zugleich zeigt sich in dieser Lokalisierung der subjektiven Empfindungen, die durch
äußere und mit dem Leib in Berührung kommende Gegenstände verursacht werden, ein –
bereits erörterter – synthetischer Nexus zwischen dem Gegenstand und der leiblichen Domäne
des ästhetischen Subjekts. Dieser rein ästhetisch-synthetische Nexus läßt sich mit Recht als
eine Extension der Domäne des ästhetischen Subjekts zu dem vom Subjekt völlig autonomen
Gegenstand betrachten. Eine derartige Extension der ästhetisch-subjektiven Domäne führt
aber nicht zu einem compositio, indem sie den äußeren Gegenstand in sich materiell19
einschließt bzw. ihn einverleibt, sondern nur zu einem Nexus, also zu einer bloßen
Verbindung, die die Autonomie des empfundenen Gegenstands gegenüber einem bloß
empfindenden Subjekt nicht gefährdet, sie dagegen aufbewahrt.
Die Wirklichkeit der Extension der Domäne des ästhetischen Subjekts in den oben erörterten
sinnlichen Empfindungen basiert auf der Wirklichkeit des Leibes selbst, den vom ästhetischen
Subjekt unmittelbar erfahren wird. Denn die Tast- und Geschmacksempfindungen setzen
voraus, daß der zu empfindende Gegenstand in unmittelbarer Berührung mit der subjektiven
Domäne des Leibes kommt. Eine derartige Sicherheit eines ästhetisch-synthetischen Nexus
scheint der Gesichtssinn kaum zu beanspruchen. Denn das Sehen setzt notwendigerweise eine
Distanz des Gegenstands von dem (leiblichen) Auge voraus – und zwar eine freiräumliche
18
Damit ist die bereits erörterte ontische Differenz zwischen dem rein physiologischen bzw. neuronalen und
dem bloß subjektiven Ursprung der Empfindungen erneut aufzuweisen.
19
Entfernung,20 die allerdings erst durch die vom Gegenstand reflektierenden und auf den
Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen erfolgt. Der Gegenstand wird immer in einer
freiräumlichen Entfernung geschaut; er kann mit dem leiblichen Augenpunkt nicht in
Berührung kommen.
Während die Schmerz- oder Kälteempfindung im Leib lokalisiert ist, wird die visuelle
Farbempfindung immer in einem vom Augenpunkt entfernten Gegenstand verortet.21 Da der
Augenpunkt mit den gesehenen Gegenständen nicht in Berührung kommen kann, bleibt die
visuelle Empfindung – vorzüglich die Farbempfindung – streng genommen nicht leiblich,
sondern gegenständlich, also in einem vom Augenpunkt entfernten Gegenstand lokalisiert.
Hierbei stellen wir die entscheidende Frage: Kann man die Lokalisation der Tast- oder
Geschmacksempfindung im eigenen Leib der Lokalisation der Farbempfindung in einem
äußeren bzw. vom Leib freiräumlich entfernten Gegenstand analogisieren?22 Wenn ja; was
wären die Grundlagen einer derartigen Analogisierung (der Lokalisierbarkeit verschiedener
Sinnesempfindungen) im Kontext der rein ästhetischen Subjektivität? Wir versuchen, diese
Fragestellung anhand der oben erörterten Beispiele zu erweitern. Kann man die Lokalisation
der Schmerz- oder Kälteempfindung im Leib mit der Lokalisation der visuellen
Farbempfindung
in
einem
äußeren
Gegenstand
epistemologisch
bzw.
wahrnehmungstheoretisch gleichsetzen? In dem oben zitierten cartesischen Beispiel wird die
Farbe zwar bloß subjektiv empfunden; demnach hat die Farbempfindung, wie in der
cartesischen Epistemologie angedeutet ist, keine objektive bzw. gegenständliche Realität.
Aber im Sehen empfindet das Subjekt die Farbe nicht im Augenpunkt lokalisiert, sondern wie wir es bereits erörtert haben - im Gegenstand, also in einer freiräumlichen Entfernung.
Der Sehraum, in dem die sichtbaren Gegenstände gegeben werden, ist offensichtlich eine
Domäne des ästhetischen Subjekts, die im unmittelbaren Sehen zustande kommt. Daher läßt
sich
die
leibliche
Domäne
des
ästhetischen
Subjekts
in
der
Tast-
oder
Geschmacksempfindung der außerleiblichen Domäne des Sehraumes, die die Domäne des
ästhetischen Subjekts in der unmittelbaren Sehempfindung ist, analogisieren. Eine solche
19
Die ästhetisch-subjektive Domäne kann offensichtlich den materiellen Gegenstand nicht in sich einschließen,
denn sie hat – gegenüber dem Gegenstand – keine Materialität.
20
Der hier angedeutete Freiraum ist ein visueller Freiraum, der an sich nicht angeschaut, aber visuell
wahrgenommen wird. Gegenständlich ist der visuelle Freiraum nicht leer, sondern unbedingt mit Licht gefüllt.
D.h. der visuelle Freiraum ist objektiv ein Lichtraum.
21
Auch die Farbe des eigenen Leibes ist in einer freiräumlichen Entfernung gesehen. Im Verhältnis zu dem
Augenpunkt (der unmittelbar nicht gesehen werden kann) ist der eigene Leib im Kontext der visuellen
Wahrnehmung ein äußerer Gegenstand.
20
Analogie besagt eindeutig, daß sich in der Sehempfindung der äußeren Gegenstände die rein
ästhetische Subjektivität über deren leibliche Domäne hinaus in einem außerleiblichen
Sehraum ausdehnt. Als Domäne des ästhetischen Subjekts ist der materielle Leib
grundsätzlich ein Medium, durch das die ästhetische Subjektivität räumlich ausgedehnt ist.
Ebenso bedingt die außerleibliche Ausdehnung der Domäne des bloß sehenden Subjekts in
einem Sehraum ein materielles Medium, durch das sich diese Domäne zu den vom
Augenpunkt entfernten Gegenständen im Sehraum ausweitet. Dieses materielle bzw.
physikalische Medium kann nur das Licht sein, das, von den Gegenständen reflektiert, auf den
Augenpunkt konvergiert und folglich auf der Netzhaut im Auge fällt.
Die Vorstellung vom Leib als Domäne eines rein ästhetischen Subjekts haben wir
ursprünglich aus dem Diskurs zwischen Prinzessin Elizabeth von Böhmen und René
Descartes abgeleitet. Auch wenn wir von dieser Grundvorstellung in unserer Untersuchung
leicht überzeugt werden (denn der Leib ist der unmittelbar ästhetisch erfahrene Gegenstand),
wird uns die oben eingeführte Erweiterung dieser Vorstellung, nämlich die Ausdehnung der
Domäne des ästhetischen Subjekts in einem außerleiblichen Sehraum, anscheinend große
Schwierigkeiten bereiten. Hierbei stehen wir vor einer grundlegenden Fragestellung: Kann
unser unmittelbarer Sehraum eine analoge Materialität bzw. physikalische Phänomenalität
wie die unseres Leibes beanspruchen, so daß sich die leibliche Lokalisation der Schmerzoder Tastempfindung mit der außerleiblichen Lokalisation der Farbempfindung (im
Gegenstand) epistemologisch gleichsetzen läßt? Um derartige Frage- oder Problemstellungen
zu lösen, müssen wir zunächst den ontischen Status unseres Sehraumes näher untersuchen.
22
Anders formuliert: Kann man zwischen der leiblichen Lokalisation der Tast- oder Geschmacksempfindung
und der außerleiblichen bzw. freiräumlich entfernten gegenständlichen Lokalisation der visuellen
Farbempfindung eine Analogie aufweisen?
21
Figur 2
Figur 2
23
zeigt ein Sehmodell, das das geometrisch-optische Verfahren des Sehens darstellt.
Die Sehpyramide (wie die Theoretiker der Renaissance sie bezeichnete) DOD ist im Prinzip
ein physikalischer Lichtraum. D. h. der Sehraum DOD besteht aus Lichtstrahlen, die auf den
Augenpunkt konvergieren. Dieses Sehmodell ist ein theoretisches bzw. geometrisch-optisches
Konstrukt, in dem das Verfahren des Sehens geometrisch objektiviert wird. Aber wenn man
sich in diesem Sehmodell ein richtiges bzw. leibliches Auge vorstellt, erlebt man keinen bloß
theoretischen, sondern einen ästhetischen, genauer, einen ästhetisch-subjektiven Sehraum.
D.h. die Einbeziehung eines leiblichen Auges in diesem Sehverfahren hat die Entstehung
eines unmittelbaren subjektiven Sehraumes zur Folge.24 Der ästhetisch-subjektive Sehraum
und der physikalisch-objektive Lichtraum (dargestellt durch eine physikalische Seh- oder
Lichtpyramide) haben eine Eigenschaft gemeinsam; beide haben eine perspektivische
Struktur. Daß wir die Erscheinungen im Sehraum perspektivisch sehen, läßt sich letztendlich
auf die perspektivische Struktur des geometrisch-optischen Lichtraumes zurückführen.
Ansonsten hat der ästhetisch-subjektive Sehraum einen anderen ontischen Status als der
physikalische Lichtraum. Der ästhetisch-subjektive Sehraum wird unmittelbar erfahren und ist
als solcher subjektiv real, aber seine Realität widerspricht in manchen Aspekten der
strukturellen Funktionalität des geometrisch-optischen Lichtraumes. Z. B: Objekte von
verschiedenen Größen und in unterschiedlichen Entfernungen vom Augenpunkt (AA, BB, CC
und DD) werden in einem theoretischen Sehmodell – wie es dargestellt ist – gleich groß auf
der Netzhaut abgebildet. Wenn wir allein von diesem theoretischen bzw. geometrisch23
PMS, S. 199.
22
optischen Sehverfahren ausgehen, bleibt uns unbegreiflich, wie die fast identisch groß auf der
Netzhaut abgebildeten Objekte in richtigen bzw. in unterschiedlichen Größen und
Entfernungen unmittelbar gesehen werden. Auf diese Problematik verweist auch das bereits
erörterte object size consistency im Sehen.25 Dieses und ähnliche Probleme26 in der
geometrisch-optischen Darstellung des Sehvorgangs deuten darauf hin, daß der unmittelbar
erfahrene ästhetisch-subjektive Sehraum einen wesentlich anderen Funktionsmodus hat.
Obwohl in dieser Darstellung des Sehvorgangs die Gegenstände auf der Netzhaut umgedreht
und fast identisch abgebildet werden, werden sie in unmittelbarer ästhetisch-subjektiver
Seherfahrung aufrecht und in richtiger Größe und Entfernung wahrgenommen. Die Basis
einer derartigen visuellen Wahrnehmung kann nicht (allein) das Netzhautbild sein, das im
starken Kontrast zu den wirklichen Erscheinungen sehr winzig, umgedreht und sphäroidisch
verzerrt ist, und in dem die (in der Figur dargestellten) Erscheinungen fast identisch
abgebildet sind. Daß das Subjekt allein aus diesem Input, nämlich dem Netzhautbild, das
wirkliche Sehbild (oder die wirkliche Seherfahrung) entwickelt, läßt sich kaum vorstellen.
Die Entstehung des ästhetisch-subjektiven Sehraumes, in dem die Erscheinungen aufrecht und
in annähernd richtigen Größen und Entfernungen gesehen werden, setzt notwendigerweise die
bereits erörterte Einheit des Sehraumes mit dem Auge voraus. Die oben erörterten Probleme
des geometrisch-optischen Sehvorgangs deuten darauf hin, daß der wirkliche ästhetischsubjektive Sehraum nicht bloß aus einer rezeptiven Netzhautabildung (neuronal) konstruiert
wird, sondern erst durch eine projektive Extension der Domäne des ästhetischen bzw. des
unmittelbar sehenden Subjekts in den Raum (der als Sehraum eine perspektivische Struktur
hat) zustande kommt.
Die oben erörterten Probleme der visuellen Größen- und Entfernungswahrnehmung sowie der
Umdrehung der retinalen Abbildung im Sehvorgang veranlassen uns zu der Annahme, daß in
der unmittelbaren visuellen Wahrnehmung neben dem bloßen Input einer Netzhautabbildung
die Lichtstrahlen, die das Netzhautbild mit den wirklichen Erscheinungen im Raum
verbinden, berücksichtigt bzw. einbezogen werden sollen.27 Diese Lichtstrahlen, die auf den
24
Ebd., S. 195ff.
Vgl. Anmerkung 17.
26
Gemeint ist hier hauptsächlich das historisch bekannte Problem der Umdrehung der Netzhautabbildung. Vgl.
dazu PGPVR, S. 71-75.
27
Daß die Erscheinungen auf der Augennetzhaut umgedreht abgebildet werden, bleibt bis Heute in der
Geschichte der Augenoptik ein Rätsel. Im allgemeinen wird behauptet, daß die Umdrehung sowie die
sphäroidische Verzerrung der Netzhautabbildung neuronal bzw. im Gehirn korrigiert werden. Aber hier taucht
unweigerlich ein epistemologisches Problem auf. Die Umdrehung der Erscheinungen bei der retinalen
Abbildung ist grundsätzlich eine relative Bestimmung. D. h. das Subjekt – oder das Gehirn, wenn wir den
Sehvorgang bloß auf einen Gehirnprozeß reduzieren – braucht eine Referenz, um festzustellen, daß die
25
23
Augenpunkt konvergieren, füllen den Freiraum in der physikalischen Sehpyramide. Sie
konstruieren das Netzhautbild im Auge, das ein zweidimensionales und sphäroidisch
verzerrtes Bild ist. D. h. die Lichtstrahlen vermögen weder den (dreidimensionalen) Frei- oder
Zwischenraum noch die Solidität der Erscheinungen auf der Augennetzhaut abzubilden.28
Daß das ästhetische Subjekt aus diesem Netzhautbild, das streng genommen keine Daten der
Größen- und Entfernungswahrnehmung der Gegenstände enthält, einen Sehraum – mit seiner
riesigen Breite, Höhe und Tiefe – entwickelt, besagt eindeutig, daß der subjektive Sehvorgang
nicht nur die winzige Netzhautabbildung, sondern unbedingt die orthogonalen Lichtstrahlen,
die das Netzhautbild29 mit den wirklichen Erscheinungen im Sehraum verbinden, als Basis
hat. Diese Tatsache wird uns klarer vorkommen, wenn wir unseren unmittelbaren Sehraum
näher betrachten. Wir haben den wirklichen Seheindruck, daß die Erscheinungen im Sehraum
– von kleineren, wie eine Uhr auf dem Schreibtisch, bis größeren und riesigen, wie ein Baum
oder ein Berg – mit uns bzw. mit unserem Augenpunkt durch ein geometrisch-optisches
Gerichtetsein des Blicks30 verbunden sind. Ein Baum in Entfernung erscheint uns so, als ob
die Form seiner Erscheinung im Sehraum durch die an sich unsichtbaren Orthogonalen, die
sie (bzw. die räumliche Ausdehnung des Gegenstands) mit dem Augenpunkt linear verbinden,
geometrisch-perspektivisch konstruiert wird. Allein die Perspektivität unseres ästhetischsubjektiven Sehraumes bildet einen hinreichenden Beleg dafür, daß unsere visuelle
Erscheinungen im Sehraum auf der Netzhaut umgedreht abgebildet werden. Aber diese Referenz kann allein die
im Sehraum aufrecht existierenden Gegenstände sein. Die Unabdingbarkeit einer derartigen Referenz begründet
auch, daß die visuelle Wahrnehmung der Objekte in ihrer richtigen bzw. aufrechten Erscheinungsweise im
Sehraum kein Ergebnis einer bloß neuronalen Bearbeitung des umgedrehten Netzhautbildes ist, sondern erst
durch die bereits erörterte Einheit des Sehraumes mit dem Auge (eine optische Einheit, der die durch
Lichtstrahlen erfolgende direkte Verbindung zwischen Netzhautbild und den Erscheinungen zugrunde liegt)
zustande kommt (vgl. dazu PMS, S. 231-233). In der Einheit des Sehraumes mit dem Auge benötigt die
Umdrehung der Netzhautabbildung keine neuronale Korrektur; statt dessen erweist sich eine derartige
geometrisch-optische Umdrehung als ein natürliches Phänomen im Sehvorgang. Indem das Netzhautbild im
Auge nicht gesehen wird, bildet es, wie vorher erörtert wurde, im Sehvorgang eine Einheit mit dem visuell
unmittelbar zu erfahrenden Sehraum. In einer solchen Einheit des Auges mit dem Sehraum (die wir im weiteren
Sinne als eine Einheit des ästhetischen Subjekts mit dem Sehraum bestimmt haben) bildet die Umdrehung der
Netzhautabbibldung ein der Gesamtstruktur des Sehvorgangs entsprechendes natürliches Phänomen; sie wird
nicht zu einem Problem in der Augenoptik, das neuronal korrigiert werden soll. D. h. die Umdrehung der
Netzhautabbildung scheint in der Einheit des Auges mit dem Sehraum bloß integriert zu sein (vgl. Anmerkung
26).
28
Man merke hierbei ein deutliches Paradoxon: der Freiraum wird (gegenständlich) nicht angeschaut, aber
visuell wahrgenommen. Denn die Lichtstrahlen werden nur von Gegenständen – und nicht vom Freiraum, den
sie bloß durchdringen – reflektiert. Das Netzhautbild enthält nur die planen Abbildungen (die, wie vorher
erörtert wurde, an sich farblos sind), die durch die von Gegenständen reflektierenden Lichtstrahlen zustande
kommen. Aber die den Freiraum durchdringenden und an sich farblosen und unsichtbaren Lichtstrahlen werden
auf der Netzhaut nicht abgebildet. Daher nehmen wir gewöhnlich an, daß das im Netzhautbild völlig fehlende
Faktum des visuellen Frei- oder Zwischenraumes allein aus der neuronalen Bearbeitung des Netzhautbildes
entwickelt werden kann. Aber die Realität einer derartigen neuronalen Konstruktion des Sehraumes soll die
Medialität bzw. die mediale Funktion der Lichtstrahlen, die das umgedrehte Netzhautbild mit den richtigen
Erscheinungen im Sehraum verbinden, in sich einschließen.
29
Hier ist erneut zu merken, daß das Netzhautbild an sich kein Bild, sondern eine bloße Komposition von nicht
farbigen Lichtzonen ist.
24
Wahrnehmung ursprünglich auf der perspektivischen Struktur der Orthogonalen bzw. der von
den Gegenständen reflektierenden und auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen
aufbaut. Daß wir die Gegenstände in perspektivischer Entfernung und Formhaftigkeit (d.h. in
perspektivischer Verzerrung) sehen, ist darauf zurückzuführen, daß unserem unmittelbaren
Seheindruck die geometrisch-perspektivische Struktur des physikalischen Lichtraumes –
genauer, der physikalischen Lichtpyramide – zugrunde liegt.
Exkurs:
Perspektivität des Sehens
Allein die perspektivische Struktur des unmittelbaren Sehraumes verdeutlicht, wie sich die Domäne des
Gesichtssinns in einem mit dem Auge verbundenen Lichtraum – in der Form einer Lichtpyramide - ausdehnt.
Wenn wir die Netzhautabbildung als das Input des Sehvorgangs bestimmen, bildet der perspektivische Sehraum
sein einziges Output, also das Endergebnis aller physikalischen und physiologischen Sehvorgänge. Zwischen der
Netzhautabbildung und dem perspektivischen Sehraum besteht ein struktureller Unterschied. Das Netzhautbild
ist nur ein zweidimensionaler und sphäroidischer bzw. konvexer Durchschnitt der winzigen Lichtpyramide im
Auge, die durch die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen konstruiert wird. Demnach besteht das
Netzhautbild – wie bereits erörtert wurde – bloß aus planen Lichtzonen. Dieses Netzhautbild ist weder farbig
noch perspektivisch. Wenn wir feststellen, daß das Netzhautbild in Analogie zu der Abbildung in einem camera
obscura, die wir unmittelbar sehen können, farbig und perspektivisch ist, basieren diese Eigenschaften nicht auf
dem objektiven oder gegenständlichen Netzhautbild, sondern allein auf unserem subjektiven Sehen. Wir setzen
hier stillschweigend voraus, daß das Subjekt die Netzhautabbildung sieht, wie es die Erscheinungen auf einem
äußeren Bild farbig und perspektivisch wahrnimmt. Die Farbigkeit und Perspektivität sind streng genommen
keine objektiven Eigenschaften des Bildes; sie werden vom Auge – vom sehenden Subjekt – zu einem Bild,
genauer, zu einer bloß belichteten Bildebene hinzugefügt. Die Fähigkeit, in einem perspektivischen Bild die
Tiefe eines Sehraumes und die Solidität der abgebildeten Erscheinungen visuell wahrzunehmen, entwickelt das
Subjekts offensichtlich aus seiner Gewöhnung an unmittelbarer wirklicher Seherfahrung. Das perspektivische
Bild erweckt im Subjekt den (virtuellen) Anschein der freiräumlichen Tiefe und der Solidität der Erscheinungen,
weil es ein annähernd genaues Netzhautbild (wie das des wirklichen Sehraumes) im Auge entstehen läßt. Falls
diese Gewöhnung fällt, vermag das Auge in einem perspektivischen Bild nur plane Farbzonen – ohne
perspektivische bzw. orthogonale Tiefe und Solidität der Erscheinungen – wahrzunehmen (was der historisch
bekannte Fall des Cheselden´s Patients verdeutlicht).31 Das wirkliche Sehbild unterscheidet sich von dem
Netzhautbild nicht nur in seiner Farbigkeit, sondern auch in seiner dreidimensionalen Struktur, die mit der
physikalisch-wirklichen Struktur der Lichtpyramide eine Einheit zu bilden scheint. Die unmittelbar visuell
wahrzunehmende perspektivische Formhaftigkeit der Erscheinungen – des Sehraumes im allgemeinen – läßt sich
30
31
PMS, 211-212.
Ebd., S. 236-240.
25
prinzipiell auf die geometrisch-optische Orientierung der Erscheinungen gegenüber dem Betrachtenden, der die
Struktur der Lichtpyramide zugrunde liegt, zurückführen. Wir sehen die Gegenstände – besonders in der nahen
Umgebung – in richtiger perspektivischer Größe, Entfernung und Solidität, als ob sie mit unserem Augenpunkt
durch wirkliche Lichtstrahlen unmittelbar verbunden sind. (Die geometrisch-optische Struktur – oder die
Geometrisierbarkeit – des Sehraumes wird in dieser Weise zu einem Beleg für die Objektivität des subjektiven
Sehraumes in seiner synthetischen Verbundenheit mit dem physikalischen Lichtraum). Eine derartige
Seherfahrung als Endergebnis des Sehvorgangs hat strukturell mit der Netzhautabbildung wenig gemeinsam,
außer daß das Netzhautbild eine bloße Verbindungsebene zwischen dem Leib bzw. der Augennetzhaut und dem
außerleiblichen Licht, das von Erscheinungen reflektiert wird und sich auf den Augenpunkt konvergiert, bildet.
Die Perspektivität – oder die perspektivische Struktur – des wirklichen Sehens läßt sich daher kaum auf ein
ursächliches Netzhautbild zurückführen. Im perspektivischen Sehen haben wir die unmittelbare Erfahrung, daß
die Gegenstände perspektivisch erscheinen und sie sich allesamt in einer wirklichen und perspektivisch
strukturierten Seh- und Lichtpyramide befinden (oder daß sie mit unseren Augen – wie oben kurz erwähnt ist –
durch die an sich unsichtbaren, den Freiraum durchdringenden und auf den Augenpunkt konvergierenden
Lichtstrahlen verbunden sind). Diese unmittelbare Seherfahrung kann nicht bloß aus dem Netzhautbild, das
keine hinreichenden strukturellen Züge der Perspektivität in sich einschließt, entwickelt bzw. konstruiert werden;
sie scheint eher äußerlich oder projektiv in einer wirklichen Synthese zwischen dem Seh- und Lichtraum,
genauer, zwischen der Seh- und Lichtpyramide zustande zu kommen.
Wie aus dem zweidimensionalen Netzhautbild ein dreidimensionales Sehbild entsteht, bildete
in der Geschichte einen wichtigen Gegenstand der Untersuchung nicht nur im Bereich der
Ophthalmologie oder experimentellen Psychologie, sondern auch – und zwar in erster Linie –
in der neuzeitlichen Epistemologie. Während der Philosoph Berkeley in seiner Abhandlung
„An Essay Towards a New Theory of Vision“ ganz explizit auf diese Problematik eingeht und
sie durch seine Theorie der Verschwommung der Erscheinungen in unterschiedlichen
Entfernungen zu erklären versucht,32 schien sie in der Transzendentalphilosophie Kants eher
implizit
durch
eine
transzendental-epistemologische
Untersuchung
der
subjektiven
Raumvorstellung bewältigt zu werden. In der Transzendentalen Ästhetik erklärt Kant Raum
als eine notwendige Vorstellung a priori, die sowohl unserer empirischen Anschauung als
auch den Erscheinungen zugrunde liegt. Nach Kant sind Raum und Zeit reine Formen der
Sinnlichkeit a priori, die als solche subjektive Vorstellungen (a priori) bilden. Die kantischen
Begriffe wie Sinnlichkeit und empirische Anschauung beziehen sich auf alle Modi der
Sinneswahrnehmung. D. h. Raum als subjektive Vorstellung oder Formen der Sinnlichkeit a
priori betrifft im einzelnen den Seh-, Hör- und den (leiblichen) Tastraum sowie die räumliche
Ausdehnung des Geschmacks- und Geruchssinns. Davon behandeln wir repräsentativ den
Seh- und Hörraum (denn beide zeigen eine außerleibliche Ausdehnung der Domäne der
26
Sinnlichkeit bzw. der ästhetischen Subjektivität). Wie bereits erläutert wurde: wenn der
Sehvorgang rein physiologisch oder psychophysiologisch untersucht wird, bleibt einem ein
Rätsel, wie aus dem zweidimensionalen, winzigen, umgedrehten und sphäroidisch verzerrten
Netzhautbild einen dreidimensionalen Sehraum – in großer Breite, Höhe und Tiefe –
subjektiv entsteht. Während John Locke, der (nach Descartes) diese Problematik eingehend
zu behandeln sucht, die Entstehung der visuellen Raumwahrnehmung in erster Linie auf eine
psychologische Gewöhnung zurückführt – eine Unternehmung, die auch von Berkeley
weitergeführt wurde –, versucht Kant, das Problem des fehlenden Faktums des Raumes in der
Gegebenheit der Netzhautabbildung – in dem bloß sinnlichen Input im Sehvorgang – durch
eine transzendental-epistemologische Bestimmung, nämlich: Raum als eine Form der
Sinnlichkeit
bzw.
Visualität
a
priori,
zu
bewältigen.
Die
Apriorisierung
(oder
Subjektivierung) des Raumes war daher die Lösung, die Kant ganz implizit für das Problem
der visuellen Raumwahrnehmung – der sinnlichen Raumwahrnehmung im allgemeinen –
anbietet.
Alle Beispiele, die Kant in der Transzendentalen Ästhetik zum Beleg für die Apriorität des
Raumes gibt, stammen allerdings aus der Geometrie, die als Wissenschaft der räumlichen
Formen und Gebilde a priori vielmehr einer theoretischen Subjektivität ihren Ursprung
verdankt.33 Der geometrische Raum ist ein theoretisches Konstrukt, das – als imaginärer
Raum – gegenüber dem unmittelbar visuell wahrzunehmenden ästhetisch-perspektivischen
Sehraum einen anderen ontischen Status hat. Streng genommen bezieht sich die Kantische
Vorstellung von der Apriorität der Raumvorstellung bloß auf einen theoretischen Raum der
Geometrie, und nicht auf einen ästhetisch-perspektivischen Sehraum, der für uns
grundsätzlich eine Erfahrung a posteriori ist. Während der theoretische Raum der Geometrie
ein Ergebnis der produktiven Einbildung (a priori) ist, die als solche unbedingt zu der
Domäne der theoretischen Subjektivität gehört, scheint unser unmittelbar empfundener
perspektivischer Sehraum eine Raumerfahrung – genauer, eine Raumempfindung – a
posteriori zu sein. Die Perspektivität oder die perspektivische Struktur des unmittelbaren
Sehraumes ist primär nicht vom Subjekt apriorisch konstruiert, sondern eher als eine
32
Vgl. PGPVR, S. 26ff.
Nach Kant entstehen die Formen der Geometrie in unserer produktiven Einbildung a priori (vgl. Kant,
Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1990, S. 217-218; A 162-163, B
203-204). Die apriorische Konstruktion der geometrischen Formen und Strukturen in der produktiven
Einbildung impliziert zwar das unabdingbare Faktum der ästhetischen Visualität in geometrischen Erkenntnissen
(die sich daher in gewisser Hinsicht als visuelle Erkenntnisse betrachten lassen), aber deren Prinzipien sind – wie
Kant es nachdrücklich betont – nicht aus der unmittelbaren Erfahrung zu gewinnen. Sie gehören zu der Sphäre
33
27
Raumempfindung oder als eine Raumerfahrung a posteriori gegeben.34 Denn die
Perspektivität des unmittelbaren Sehraumes ist keine Folge einer produktiven Einbildung; das
Subjekt muß sie empfinden, wie sie gegeben ist. Die Perspektivität der Erscheinungen – die
perspektivische Struktur des Sehraumes im allgemeinen – ändert sich gemäß dem Stand- oder
Blickpunkt des Betrachters sowie gemäß der Orientierung der betrachteten physikalischen
Gegenstände im Sehraum. Beide dieser räumlichen Orientierungsmodi sind empirische
Gegebenheiten a posteriori, und keine apriorischen Konstrukte des Subjekts.35
Allerdings ist die Differenzierung zwischen einem theoretischen und einem ästhetischen
Raum – im Rahmen der kantischen Transzendentalphilosophie – primär als eine
epistemologische Unterscheidung nachzuvollziehen. Zwar werden dabei der theoretischgeometrische Denkraum zu der theoretischen Domäne und der ästhetisch-perspektivische
Sehraum zu einer vor-logischen rein ästhetischen Domäne des Subjekts angehörig gedacht,
aber gerade in bezug auf den ontischen Status des subjektiven Raumes (im allgemeinen)
erweist sich eine derartige modale Differenzierung als wenig bedeutend. Denn sowohl der
theoretisch-geometrische Denkraum – als Raumvorstellung a priori – als auch der ästhetischperspektivische Sehraum – als Raumerfahrung a posteriori – sind letztendlich subjektive
Raummodi, die als solcher gegenüber dem objektiv-physikalischen Raum einen wesentlich
anderen ontischen Status haben. Der geometrisch-theoretische Denkraum ist offensichtlich
eine bloße Raumvorstellung a priori. Aber unsere visuelle Erfahrung des perspektivischen
Sehraumes, obwohl er ihre Struktur ursprünglich aus dem physikalischen Lichtraum zu
gewinnen scheint, ist prinzipiell im subjektiven – und nicht im objektiv-gegenständlichen –
Modus. Der subjektive Sehraum hat demnach gegenüber dem physikalischen Lichtraum, der
die Erscheinungen objektiv enthält, eine wesentlich andere Existenz bzw. einen wesentlichen
anderen ontischen Status.
Diese Tatsache wird uns klar vorkommen, wenn wir die Befindlichkeit der Erscheinungen in
unserem Sehraum näher untersuchen. Wir sehen einen Gegenstand, eine Pflanze im Garten,
als bloße Erscheinung. D. h. unser Sehbild dieses Gegenstands hat keine Materialität; es ist
ein bloß subjektives oder mentales Bild eines objektiv-physikalisch existierenden
Gegenstands. Zwischen diesem mentalen Bild und dem realen Gegenstand ist daher eine
ontische Differenz – eine Differenz in der Seinsweise – aufzuweisen. Eine derartige
der logisch-theoretischen Subjektivität, obwohl ihrer Apriorität – im Vergleich zu der des sprachlichen Begriffs
– unweigerlich ein Element der Sinnlichkeit bzw. Visualität zugrunde liegt.
34
Vgl. PMS, S. 294-297.
28
Differenzierung wird uns klarer einleuchten, wenn wir zugleich in Betracht ziehen, daß die
Empfindung der visuellen Eigenschaften des Gegenstands – insbesondere der Farbigkeit –
kein gegenständlicher, sondern bloß subjektiver Ursprung ist. Diese ontische Differenz wurde
bereits im Mittelalter als eine Differenz zwischen der physikalischen und der mentalen
Existenz der Gegenstände vorgestellt, was schließlich zu einer über Mittelalter hinaus bis in
die cartesische Neuzeit angedauerte Debatte über eine Doppelexistenz der Gegenstände
veranlaßte.
Nun betrachten wir eine andere wesentliche Komponente unseres Sehraumes, nämlich den
Frei- oder Zwischenraum. Im Vergleich zu den Erscheinungen wird der Freiraum nicht
angeschaut, aber visuell unmittelbar wahrgenommen. Denn der visuelle Freiraum hat keine
Materialität, die der Gegenstand der Sehempfindung (wie die Empfindung der Farbe oder
Helligkeit) sein kann.36 Wenn der Freiraum im Vergleich zu den Erscheinungen nicht
empfunden wird, wie kann ein subjektiv-visueller Freiraum zustande kommen, der mehr oder
weniger dieselbe perspektivische Struktur des physikalischen Lichtraumes hat? Wenn wir
hierbei im Sinne der kantischen Transzendentalphilosophie eine Gegebenheit des
Gegenstands und demnach der Empfindung, die der Gegenstand im Subjekt verursachen (als
Ergebnis einer Affektion), annehmen, müssen wir notgedrungen eine Gegebenheit des
Freiraumes – im Modus einer leeren aber perspektivischen Ausdehnung – im Sehen
anerkennen. Aber eine derartige Gegebenheit läßt sich zwischen den oben erörterten
ontischen Modi des Raumes – d.h. zwischen einem rein subjektiven und einem rein
objektiven Raummodus – kaum differenzieren. Denn der Freiraum hat nur eine Eigenschaft,
nämlich die bloße Ausdehnung, die im Vergleich zu allen anderen sinnlich-visuellen
Eigenschaften – wie Farb- oder Helligkeitsempfindung – epistemologisch unreduzierbar ist
bzw. sich zwischen einem subjektiven und einem objektiven Existenzmodus nicht
differenzieren läßt.37 Gerade in diesem Bezug scheint eine Einheit zwischen dem visuell
35
Zur Aposteriorität der perspektivischen Raumempfindung vgl. PMS, S. 261-265.
Der visuelle Freiraum ist rein physikalisch ein Luft- oder Lichtraum. Aber beide dieser physikalischen
Phänomene werden vom Auge nicht gesehen. Da der freiräumliche Luft- oder Lichtraum an sich nicht gesehen
wird, bleibt er im Kontext der visuellen Wahrnehmung ein leerer Raum, der keine visuell zu erfahrende
Materialität hat.
37
Eine derartige epistemologische Unreduzierbarkeit des Raumes – insbesondere der räumlichen Ausdehnung
der Gegenstände – bildet die Grundlage der epistemologischen Isolierung dieses fundamentalen Existenzmodus
durch eine Methode der Negation (oder Absonderung), die wir öfter in der neuzeitlichen Epistemologie von
Descartes bis Kant sehen. Während bei Descartes die methodische Negation aller subjektiven Attribute und
Eigenschaften eines Körpers letztendlich zu einem objektiven res extensa führt, das das Wesen oder den
wesentlichen Existenzmodus des Körpers ausmacht, erlangt eine derartige residuale Entität der bloß räumlichen
Ausdehnung, die der methodischen Negation aller subjektiven Attribute und Eigenschaften im Gegenstand übrig
bleiben soll, bei Kant keinen gegenständlichen, sondern eher einen subjektiven, genauer, einen transzendentalsubjektiven Existenzmodus – als eine Form der Sinnlichkeit a priori (vgl. Kant, a. a. O., S. 65; A 22, B 36). Man
36
29
wahrgenommenen perspektivischen Freiraum und dem physikalisch existierenden und ebenso
perspektivischen Lichtraum zustande zu kommen. Daß ein perspektivischer Freiraum objektiv
– als perspektivischer Lichtraum – gegeben werden soll, um ihn subjektiv im Sehvorgang
wahrgenommen zu werden, besagt implizit, daß sich die Domäne des ästhetischen bzw. bloß
sehenden Subjekts in den objektiv-perspektivischen Lichtraum ausdehnt. Denn aus dem
gegebenen freiräumlichen und perspektivischen Lichtraum wird nichts auf der Augennetzhaut
abgebildet (wie vorher erörtert wurde). D.h. es fehlt im Netzhautbild die notwendigen Daten
des visuellen Freiraumes, aus denen das Subjekt bloß physiologisch bzw. neurologisch die
freiräumliche Tiefenwahrnehmung entwickeln könnte. Aber lassen wir diese Tatsache
beiseite. Wir nehmen an – in Anlehnung an Kant –, daß das Subjekt imstande ist, die gesamte
visuelle Raumwahrnehmung allein apriorisch zu entwickeln (denn Raum ist eine Vorstellung
a priori). Demgemäß vermag das ästhetische Subjekt aus dem alleinigen Input eines winzigen
und zweidimensionalen Netzhautbildes den zu unermeßlichem Ausmaß ausgedehnten
merke an dieser Stelle eine historische Entwicklung der Apriorisierung des Raumes. Allerdings scheint die
Unreduzierbarkeit – bzw. die Unnegier- oder Unwegdenkbarkeit – des Raumes als eine rein transzendentalsubjektive Form der Sinnlichkeit a priori – wie Kant es vorstellt – letzten Endes auf der Unreduzierbarkeit oder
Unwegdenkbarkeit der rein objektiven Extension des Gegenstands – also auf dem cartesischen res extensa – zu
basieren. Darüber hinaus bildet das res extensa des Gegenstands – sowohl in der cartesischen Objektivierung als
auch in der kantischen Apriorisierung – keine bloße Ausdehnung (die nichts materielles enthält), sondern
notwendigerweise eine Behausung aller ursächlichen materiellen Elemente, die die Empfindungen im Subjekt
verursachen und folglich das Subjekt zu jener logischen Synthese des begrifflichen Attributs des Gegenstands
veranlassen. Denn wenn wir eine Empfindung – wie die Farb- oder Wärmeempfindung – bloß subjektiv erklären
und sie als solche negieren bzw. vom Gegenstand wegdenken, negieren wir nur eine Wirkung des Gegenstands
im Subjekt und nicht deren Ursache im Objekt. Wenn – in Anlehnung an Descartes und Kant – alle subjektiven
Eigenschaften und Attribute vom Gegenstand weggedacht werden, bleiben alle Ursachen – oder ursächliche
Elemente – dieser subjektiv empfundenen Eigenschaften und ebenso subjektiv gedachten Attribute im
Gegenstand übrig. Diese residuale Existenz des Gegenstands ist keineswegs im Modus einer leeren räumlichen
Ausdehnung, sondern unbedingt eine Urform der Materialität, die sich aber subjektiv nicht wahrnehmen läßt.
Die bloß räumliche Ausdehnung des Gegenstands ist hier prinzipiell eine Behausung dieser vom erkennenden
Subjekt völlig autonomen Urform der gegenständlichen Materialität, die das Subjekt affiziert und in ihm folglich
Empfindungen und begriffliche Erkenntnisse erweckt. Hier kann man den unreduzierbaren und als solcher
unwegdenkbaren Raum als Garant der dinglichen Existenz betrachten. Denn er behaust und bewahrt die
ursprüngliche und ursächliche Materialität im Gegenstand, die das Subjekt zu Empfindungen und zu
begrifflichen Erkenntnissen bloß veranlaßt. Diese Betrachtungen werden besonders in bezug auf die vorher
erörterte ästhetische Synthese im Modus eines Nexus – zwischen der Domäne des rein ästhetischen Subjekts und
der des objektiven Gegenstands – an Bedeutung gewinnen. Wenn ein Gegenstand farbig wahrgenommen wird,
kommt sofort eine ästhetische Synthese zwischen der bloß subjektiven Wahrnehmung und dem farbig
wahrgenommenen Gegenstand, an dem diese bloß subjektive Wahrnehmung verortet ist, zustande. Diese rein
ästhetische Synthese im Modus eines Nexus könnte durch eine Metapher besser erklärt werden. Die Farbigkeit
eines Gegenstands ist eine bloß subjektive Wahrnehmung. Ob die Gegenstände an sich farbig oder farblos sind,
entzieht sich daher unserer ästhetisch-subjektiven Wahrnehmung. Daß das Subjekt einen Gegenstand farbig
sieht, gleicht einem Prozeß, in dem es im Sehvorgang die Oberfläche des rein objektiven Gegenstands farbig
malt – ein Prozeß, der in äußerster Spontaneität mit dem Sehvorgang geschieht. Die bloß subjektiv empfundene
Farbe im Gegenstand ist hier wie eine Tinte, die das ästhetische Subjekt zu der Oberfläche des Gegenstands
hinzufügt. Eine derartige subjektive Färbung des Gegenstands verdeutlicht die ästhetische Synthese im
Sehvorgang zwischen der subjektiven und der objektiven Domäne im Modus eines Nexus. Aber um bloß
subjektiv gefärbt zu werden, braucht der Gegenstand eine materielle Oberfläche – wie das Schreiben oder Malen
einer materiellen Basis wie eines Blattes oder einer Tafel bedarf. Eine bloß räumliche Ausdehnung – das
cartesische res extensa – kann nicht gefärbt werden. Hier kommt auch eine klare ontische Differenzierung
30
Sehraum zu entwickeln. Aber woher soll sich unser unmittelbarer und riesiger Sehraum
ausdehnen – wenn nicht in den wirklichen bzw. objektiven Lichtraum selbst? Denn Raum
bildet, wie bereits erörtert wurde, sowohl als ein bloß subjektiver als auch als ein objektiver
Existenzmodus ein unreduzierbares Phänomen. Wenn aber der subjektiv-perspektivischer
Sehraum und der objektiv-perspektivischer Lichtraum, die unterschiedliche ontische
Existenzmodi aufweisen, voneinander völlig getrennt vorgestellt werden; d.h. wenn wir
zwischen ihnen keinen rein ästhetisch-synthetischen Nexus anerkennen, nehmen wir
stillschweigend an, daß wir gegenüber der uns gegebenen physikalischen Realität – dargestellt
durch die wirklichen Erscheinungen im ebenso wirklichen bzw. physikalischen Lichtraum –
völlig blind sind, und daß wir folglich unsere ganze visuelle Wahrnehmung der umgebenden
Welt von vornherein virtuell konstruieren. Im folgenden wird untersucht, in wieweit eine
derartige Betrachtungsweise epistemologisch plausibel ist.
Nehmen wir an, daß der gesamte subjektive Sehraum ein Konstrukt des Subjekts ist, indem
unsere visuelle Wahrnehmung allein aus dem geometrisch-optischen Input, nämlich der
Netzhautabbildung (in beiden Augen) bloß neuronal – bzw. allein im Gehirn – entwickelt
wird. Diese Netzhautabbildung, wie vorher erörtert wurde, kommt durch die Lichtstrahlen
zustande, die, von den physikalischen Gegenständen reflektiert, auf den Augenpunkt
konvergieren und auf die Netzhaut fallen. Die Netzhautabbildung ist daher ein rein
physikalisches Phänomen; als physisch wirkliches Phänomen besteht sie aus bloß belichteten
Zonen, die an sich keine Farbe haben. Daher entsteht streng genommen kein Netzhautbild aus
diesem geometrisch-optischen Phänomen im Sehvorgang, denn das Bild, das sich als farbig
und perspektivisch zeigt, setzt das subjektive Sehen voraus. Wir sehen nicht unsere
Netzhautabbildung, sondern nur die Erscheinungen im Sehraum. Demnach nehmen wir
visuell nicht die Farbigkeit und Helligkeit der Netzhautabbildung, sondern die der
Erscheinungen im Sehraum wahr, die im starken Kontrast zu deren Abbildung auf der
Netzhaut aufrichtig und in annähernd richtiger Entfernung, Größe und (perspektivischer)
Solidität gesehen werden. Vorher haben wir eine derartige Phänomenalität des Sehvorgangs
auf eine grundlegende Einheit oder einheitliche Verbundenheit zwischen dem Auge und dem
Sehraum zurückgeführt, in der die Lichtstrahlen rein physikalisch die Netzhautabbildung (die
allein neuronal bearbeitet zu werden scheint) mit den wirklichen Erscheinungen in einem
einheitlichen optischen System verbindet. Das Ergebnis einer derartigen systematischen
Vereinheitlichung der verschiedenen Komponenten im Sehvorgang ist eindeutig die
zwischen einer bloß räumlichen Ausdehnung – wie dem visuellen Freiraum – und einer gegenständlich31
Entstehung eines Sehraumes als die unmittelbare visuelle Domäne des ästhetischen Subjekts.
Wenn aber nur die Netzhautabbildung als Input des geometrisch-optischen Sehvorgangs
angenommen wird, verzichten wir auf andere physikalische Phänomene, die sich an der
Wirklichkeit des Sehvorgangs beteiligen, nämlich die Lichtstrahlen, die von den
Gegenständen reflektiert werden und den äußeren Freiraum und den Innenraum des Auges
durchdringen, und die wirklichen Erscheinungen im Sehraum. D. h. die Annahme der
Netzhautabbildung als das einzige Input im geometrisch-optischen Sehvorgang setzt
wahrnehmungstheoretisch eine Trennung der Netzhautabbildung von den anderen
Phänomenen (Lichtstrahlen und die Erscheinungen), die sie zustande bringen, voraus.
Wenn allein die Netzhautabbildung – unabhängig von Licht und Gegenständen, die sie
zustande bringen –, neuronal bearbeitet wird, und folglich das Subjekt die gesamte visuelle
Wahrnehmung aus diesem einzig gegebenen Input entwickelt, führt es unweigerlich nicht nur
zu einer ontischen Differenz, sondern auch zu einer vollkommenen Abgetrenntheit des
subjektiven Sehraumes von dem physikalischen Lichtraum, der die Erscheinungen enthält.
Demnach – bzw. dieser ontischen Differenz und Getrenntheit entsprechend – ist der
subjektive Sehraum gegenüber dem physikalisch wirklichen Lichtraum in gewisser Hinsicht
für virtuell zu halten. Denn im subjektiven Sehraum – oder in der visuellen Domäne des rein
ästhetischen Subjekts – sehen wir die Gegenstände als farbige Erscheinungen, die an sich und
im Unterschied zu den wirklichen Gegenständen keine Materialität haben.
Aber unser subjektiver Sehraum zeigt sich – ebenso wie der uns umgebende physikalische
Lichtraum – eine riesige Ausdehnung. Darüber hinaus entsteht seine perspektivische Struktur
ursprünglich aus der Struktur der Lichtpyramide, die dem visuellen Lichtraum zugrunde liegt.
Falls der subjektive Sehraum, der gegenüber dem physikalischen Lichtraum einen wesentlich
anderen ontischen Status hat, von der physisch wirklichen Welt völlig abgetrennt ist, müssen
wir uns einen anderen, von dem physikalischen Lichtraum verschiedenen Raum vorstellen, in
dem die visuelle Domäne des Subjekts ausgedehnt ist. Aber der Existenzmodus des Raumes –
nämlich die unreduzierbare Ausgedehntheit – erlaubt es nicht, daß der subjektive und der
objektive Raum ontisch für nebeneinander existierend gehalten und zugleich sinnlich und
aposteriorisch ineinander verflochtet erfahren werden.
materiellen Ausdehnung, die die Basis aller subjektiven Empfindungen ist, zum Vorschein.
32
In Wahrheit erfahren wir die Gegenstände im unmittelbaren Sehvorgang nicht virtuell,
sondern real, obwohl unser subjektives Sehbild keine physikalische Materialität beanspruchen
kann. Aber in Phänomenen wie Spiegelung oder Fata Morgana sehen wir die virtuellen
Erscheinungen. Sind sie dann – in Anlehnung an unsere Auslegung, daß das unmittelbare
subjektive Sehbild gegenüber den physikalisch-materiellen Gegenständen für virtuell zu
halten ist – Virtualitäten von Virtualitäten? Hier müssen wir uns notwendigerweise über das
bloße Sehen hinaus auf andere Sinneswahrnehmungen – vorzüglich auf den Tastsinn –
stützen. Eine virtuelle Erscheinung unterscheidet sich von einer realen Erscheinung, indem
wir sie nicht antasten können. Einem Baum am Ufer eines Flusses, den wir unmittelbar
sehen, können wir annähern und ihn schließlich antasten; seine Spiegelung im Wasser können
wir dagegen weder annähern noch antasten. Die auf der Frisierkommode und vor einem
Spiegel liegenden Objekte – den Kamm, die Puderdose oder das Parfüm – vermögen wir mit
der Hand zu berühren, ihre Spiegelungen sind dagegen virtuelle Erscheinungen, die sich nicht
antasten lassen. Die physikalisch materielle Existenz dieser Objekte, auch wenn wir sie im
bloßen Sehen nicht absichern können, wird uns hierbei allein durch das Antasten gewiß. Denn
die Hände, die die Härte, Grob- und Weichheit sowie die Undurchdringlichkeit der oben
erwähnten Objekte unmittelbar fühlen, gehören zum Leib, der die unmittelbare haptische
Domäne unserer ästhetischen Subjektivität bildet.38 In beiden diesen Beispielen sehen wir,
wie unsere Hände den wirklichen Gegenständen nähern und sie antasten. Der Moment des
Tastens wird zugleich visuell und haptisch wahrgenommen. Die Sicherheit unserer haptischen
Wahrnehmung – in der sichersten Domäne unserer rein ästhetischen Subjektivität, nämlich im
Leib – wird in dieser Weise unmittelbar auf die Domäne unserer Visualität übertragen, so daß
wir feststellen können, daß unser subjektives Sehbild (eines Gegenstands) mit dem
physikalisch wirklichen Gegenstand eine Einheit bildet.
38
Ein viel einfacher experimenteller Beweis für die physikalische Realität und Materialität der unmittelbar
gesehenen Gegenstände wäre der Fall, in dem wir unsere eigenen Hände – den Leib im allgemeinen –
unmittelbar sehen können. Wenn ich meine eigenen Hände ansehe, bin ich spontan seiner Wirklichkeit und
Materialität – bzw. seiner wirklichen und materiellen Existenz – bewußt, indem meine Hände, wie ich
unmittelbar erlebe, zu meinem Leib gehört, dessen Wirklichkeit ich als ein bloß sinnlich wahrnehmendes
ästhetisches Subjekt bewußt bin.
33
Exkurs:
Virtualität und Realität
Die
sinnliche Virtualität
betrachtet
man
gewöhnlich
als
hinreichenden
Beweis
dafür,
daß
die
Sinnesempfindungen bloße Konstrukte des Subjekts sind, die als solche keine Objektivität beanspruchen können.
Denn die virtuellen Sinnesempfindungen sind subjektiv real, aber objektiv irreal. Am ehesten erlebt man die
sinnliche Virtualität im Gesichtssinn – im Phänomen der Spiegelung. Das Spiegelbild – oder die Spiegelung im
Wasser sowie das Phänomen Fata Morgana – ist keine reale, sondern eine virtuelle Erscheinung. Hier müssen
wir näher untersuchen, wie sich eine virtuelle Erscheinung von einer realen unterscheidet. Diesbezüglich könnte
uns ein naiver Realismus zu Hilfe kommen, indem wir feststellen können, daß sich die virtuelle Erscheinung
nicht antasten bzw. haptisch empfinden läßt. Dagegen vermögen wir die materielle Existenz einer realen
Erscheinung vorzüglich durch unseren Tastsinn abzusichern. Epistemologisch bzw. wahrnehmungstheoretisch
entsteht eine virtuelle Erscheinung im Gesichtssinn immer aus einer räumlichen Trennung des bloß subjektiven
Sehbildes von dem objektiven Gegenstand. Daher sehen wir unser eigenes Spiegelbild sowie die Spiegelung
unserer Umgebung getrennt von den realen Erscheinungen. Figuren 3 & 4 zeigen das Prinzip der Spiegelung.39
Figur 3
Figur 4
Das Auge sieht zugleich die reale Erscheinung und ihr virtuelles Spiegelbild, das hinter der Spiegelebene in
einem ebenso virtuellen Sehraum erscheint. Das Spiegelbild des realen Gegenstands wird nicht auf der
Spiegelebene, sondern in einer virtuellen Tiefe visuell wahrgenommen. Die virtuelle Erscheinung, die sich in
einem virtuellen Sehraum befindet, hat keine objektive Existenz; sie ist offenbar ein subjektives Konstrukt. Das
Phänomen der Spiegelung zeigt in dieser Weise die vorher erörterte ontische Differenz zwischen der ästhetischsubjektiven Domäne der Sinnlichkeit und der objektiven Domäne des empfundenen Gegenstands in aller
Klarheit und Deutlichkeit. Daß die virtuelle Seherfahrung eine vom Gegenstand abgetrennte bloß subjektive
Existenz hat, besagt, daß das Subjekt imstande ist, eine nicht materielle bzw. vom Gegenstand völlig losgelöste
Realität zu konstruieren. Aber in einem wesentlichen Faktum werden die objektive Existenz des Gegenstands
und die subjektive Realität seiner virtuellen Erscheinung (bzw. des Spiegelbildes) nicht übereinstimmen,
nämlich in der räumlichen Lokalisation der Sehempfindung. Das virtuelle Spiegelbild erscheint immer getrennt
39
PMS, S. 207.
34
vom realen Gegenstand. Anders ausgedrückt, ist es unmöglich, daß das virtuelle Spiegelbild mit dem realen
Gegenstand koinzidiert. Denn die Koinzidenz zwischen dem subjektiven Sehbild und dem objektiven
Gegenstand ist nicht anders als der bereits erörterte ästhetisch-subjektive und synthetische Nexus zwischen der
Domäne des subjektiven Gesichtssinns und der des gesehenen Gegenstands, aus dem sich die Realität der
subjektiven Seherfahrung ergibt. Im Vergleich zu der virtuellen Erscheinung wird der objektive Gegenstand in
seiner Realität gesehen, indem das bloß subjektive Sehbild mit ihm räumlich, genauer, räumlich-perspektivisch
koinzidiert. Daraus läßt sich ein allgemeines Prinzip der Realität in der visuellen Wahrnehmung ableiten: die
Realität der unmittelbaren Seherfahrung besteht darin, daß das subjektive Sehbild, das von vornherein zu der
subjektiven Domäne des Gesichtssinns gehört, mit dem objektiven Gegenstand räumlich-perspektivisch
koinzidiert bzw. einen ästhetisch-synthetischen Nexus bildet. Das virtuelle Sehbild – der virtuelle Sehraum im
allgemeinen – kommt immer dann zustande, wenn dieser der Realität der Seherfahrung zugrunde liegende
ästhetisch-synthetische Nexus abgebaut wird, bzw. wenn das subjektive Sehbild sich vom objektiven
Gegenstand trennt. Von dieser räumlichen Trennung zwischen dem realen und dem virtuellen Sehbild
ausgehend, läßt sich die oben eingeführte Betrachtung, nämlich die visuelle Virtualität als Beweis für die
ontische Differenz oder Andersheit der subjektiven Empfindungen, methodisch umdrehen. Das Spiegelbild ist
zwar ein hinreichender Beweis dafür, daß das Subjekt sein Sehbild bloß konstruieren kann. Aber diese
Seherfahrung besteht nicht nur aus einem Spiegelbild, sondern auch aus dem realen Sehbild des Spiegels selbst.
D. h. bis zum Spiegel ist unser Sehraum für real zu halten. Das wirkliche Sehobjekt befindet sich in diesem
wirklichen Sehraum. Daher trennt die Spiegelebene einen wirklichen Sehraum von dem virtuellen. Indem wir
den wirklichen Gegenstand und sein virtuelles Spiegelbild sehen, nehmen wir die vom physikalischen
Gegenstand getrennte Existenz der subjektiven Domäne des Gesichtssinns und zugleich deren reale räumlichperspektive Koinzidenz mit dem objektiven Gegenstand – im Modus eines ästhetisch-synthetischen Nexus –
visuell wahr. In dieser Weise bildet das Phänomen der einfachen Spiegelung nicht nur ein Beispiel für die
durchaus autonome Existenz der subjektiven Domäne des Gesichtssinns, sondern auch – umgekehrt – ein
treffendes Beispiel für den ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen der subjektiven Domäne des Sehens und der
objektiven Domäne des gesehenen Gegenstands, dem die Sehempfindung ihre Realität verdankt.
Nun stellen wir uns anstatt des Planspiegelbildes (Figur 3) ein perspektivisches Bild vor. D. h. wir
photographieren das Spiegelbild und ersetzen es durch eine vollkommene Abbildung. Das perspektivische Bild
erweckt nur einen Anschein der Tiefe eines Sehraumes sowie der Solidität der abgebildeten Erscheinungen, auch
wenn es in der Augennetzhaut des Betrachtenden dieselbe Abbildung (wie die im Falle des Spiegelbildes)
entstehen läßt. Anders ausgedrückt: das perspektivische Bild kann die Virtualität eines Spiegelbildes nicht
erzeugen; es zeigt keinen eingerahmten Hohlraum, in dem die wirkliche Tiefe des Freiraumes und die wirkliche
Solidität der Gegenstände virtuell gesehen wird. Dies besagt, daß die vollkommene Seherfahrung – sowohl in
ihrer Realität als auch in ihrer wahren Virtualität – die Existenz eines wirklichen oder objektiven Freiraumes und
die der ebenso wirklichen Erscheinungen voraussetzt. Auch wenn ein vollkommenes perspektivisches Bild ein
vollkommenes Netzhautbild, das mit der Abbildung eines wirklichen Sehraumes auf der Netzhaut durchaus
identisch ist, entstehen läßt, erzeugt es keine richtige virtuelle Wahrnehmung der perspektivischen Tiefe eines
Sehraumes und Solidität der Erscheinungen. Denn die subjektive Domäne des Sehraumes erreicht nur bis zu
einer gegenständlichen Bildebene; d. h. sie dringt nicht einen wirklichen perspektivischen Freiraum (oder
35
Lichtraum) durch und erreicht keine objektiv soliden Gegenstände, sondern nur ihre flachen Abbildungen.40 Daß
das Spiegelbild als eine virtuelle Erscheinung hinter der Spiegelebene und in unmittelbarer – d.h. unabgelenkter
– Gerichtetheit des Sehens zustande kommt, könnte auf die Gewöhnung des ästhetischen Subjekts an die
Geradheit oder Richtungskonstanz des Blicks in wirklicher und unmittelbarer Seherfahrung zurückgeführt
werden. Denn im Alltag sehen wir die Gegenstände meistens nicht virtuell-gespiegelt, sondern real in einem
unmittelbaren Gerichtetsein des Blicks, das prinzipiell aus der direkten Verbindung zwischen dem Netzhautbild
und den Erscheinungen durch gerade Lichtstrahlen entsteht 41
Eine ähnliche Gewöhnung scheint die von Descartes selbst thematisierte Virtualität im leiblichen Tastsinn zu
verursachen. In Meditationen erwähnt Descartes den Fall, wie das Subjekt einen amputierten Körperteil – eine
Hand oder einen Bein – als existierend empfindet: „Gleichwohl habe ich früher einmal von Menschen gehört,
denen man ein Bein oder einen Arm abgeschnitten hatte, und die trotzdem bisweilen in dem ihnen fehlenden
Körperteile Schmerz zu empfinden vermeinten, und daher schien es auch bei mir nicht durchaus sicher zu sein,
ob ein Glied mich wirklich schmerzte, selbst wenn ich Schmerz in ihm empfand.“42 Descartes gibt dieses
Beispiel, um hauptsächlich zu erklären, wie unsere inneren Sinne uns täuschend wirken. Aber es verdeutlicht in
erster Linie die Virtualität in der leiblichen Domäne des Subjekts, die am nächsten mit der (leiblichen) Domäne
des Tastsinns verbunden ist. Denn Scherz ist hier eine im Innen des Leibes lokalisierte Empfindung, die mehr
oder weniger einer schmerzhaften Wärmeempfindung – beim Antasten eines überhitzten Gegenstands – analog
ist. Wir fassen die leibliche Wirkungssphäre verschiedener Empfindungen, die nach Descartes sowohl durch die
äußeren Sinnesvermögen wie Tast-, Geschmacks- oder Geruchssinn als auch durch die inneren Zustände wie
Schmerz, Hunger oder Durst entstehen, im allgemeinen als die Domäne des Leibes auf (die aber grundsätzlich
die leiblich ausgedehnte ästhetisch-subjektive Domäne ist). Die Schmerzempfindung in einem Körperteil, die
bereits amputiert ist bzw. physikalisch nicht existiert, ist eine Virtualität in der leiblich ausgedehnten Domäne
des ästhetischen Subjekts, weil ihre Lokalisation außerleiblich ist. Hier ist das bereits erörterte Prinzip der
Virtualität, nämlich die Trennung der rein subjektiven Domäne der Empfindung von einer gegenständlichen
bzw. leiblichen Domäne oder Wirkungssphäre, zu erkennen. Wie die visuelle Virtualität eines Spiegelbildes auf
eine räumliche Trennung dieses bloß subjektiven Sehbildes von dem gesehenen Gegenstand zurückzuführen ist,
basiert die Virtualität eines Phantomlimbs auf der Trennung der Lokalisation seiner subjektiven Empfindung
(dargestellt am Beispiel des Phantomschmerzes in einer amputierten bzw. nicht existierenden Hand) von dem
physikalisch-gegenständlichen Leib. Das Phänomen des Phantomlimbs ist ein klarer Beleg dafür, daß die
innerleibliche Schmerzempfindung ursprünglich eine bloß subjektive Empfindung ist bzw. von vornherein zu
der Domäne des ästhetischen Subjekts gehört. Aber zugleich beweist es, daß die Domäne des ästhetischen
Subjekts in ihrer Wirklichkeit leiblich ausgedehnt ist – oder mit dem Leib in einem synthetischen Nexus
verbunden ist. Denn im Vergleich zu der virtuellen Schmerzempfindung im (nicht existierenden) Phantomlimb
bilden die leiblichen Empfindungen bis zu der leiblichen Grenze der amputierten Hand eine Realität, die wir
unmittelbar erfahren. Die Schmerzempfindung im amputierten Körperteil ist nur objektiv irreal; in der Domäne
des ästhetischen Subjekts ist sie für subjektiv real zu halten. Daher ist Virtualität jener Art der Sinnesempfindung
zugleich objektiv irreal und subjektiv real; die Wirklichkeit der Sinnesempfindungen setzt dagegen eine
Verbundenheit – einen synthetischen Nexus – zwischen der Domäne des ästhetischen Subjekts und der des
40
41
PGPVR, S. 80ff.
Zur visuellen Virtualität und Realität vgl. PMS, S. 204-212.
36
empfundenen Gegenstands vor. Während die sinnliche Realität unweigerlich durch diese ästhetische Synthese
gekennzeichnet ist, zeigt die sinnliche Virtualität ihr Fehlen – ihre Abwesenheit bzw. die räumliche
Abgetrenntheit der Domäne des ästhetischen Subjekts von der des Gegenstands. Das Phänomen des
Phantomlimbs veranlaßt uns dazu, daß wir dieses Prinzip sowohl in der Realität als auch in der Virtualität der
unmittelbaren leiblichen Empfindungen erkennen – und zwar deutlicher als in der Realität und Virtualität der
außerleiblichen Seh- und Hörempfindungen. Denn das ästhetische Subjekt ist der Wirklichkeit des Leibes am
ehesten bewußt.
Eine derartige Einheit zwischen dem subjektiven Sehbild und seinem physikalischen
Gegenstand kann nur im Modus einer ästhetisch-subjektiven Synthese zustande kommen.
Diese ästhetisch-subjektive Synthese – zwischen einer bloß subjektiven Empfindung und
einem objektiven Gegenstand – ist aber kein compositio, sondern unbedingt ein nexus, wie
vorher erörtert wurde. Eine ästhetisch-synthetische Komposition (im Modus einer
Vereinheitlichung) ist hier nicht möglich, denn die subjektiven Empfindungen und die
objektive Gegenständlichkeit durchaus verschiedene Existenzen – oder Seinsmodi –
aufweisen. Vorher haben wir den ästhetisch-subjektiven und synthetischen Nexus zwischen
einer subjektiv-haptischen Empfindung und ihrem objektiv-ursächlichen Gegenstand
erläutert. Wir sind der Realität einer derartigen ästhetisch-subjektiven Synthese – zwischen
Subjekt und Gegenstand – vor allem gewiß, indem die Gegenstände mit unserem Leib in
unmittelbarer Berührung kommen. In den oben erläuterten Beispielen ist zu erkennen, wie
eine ästhetische Synthese in der unmittelbaren visuellen Domäne unserer ästhetischen
Subjektivität – zwischen dem subjektiven Sehbild und dem objektiven Gegenstand – zustande
kommt, die der bereits erörterten ästhetischen Synthese zwischen einem bloß haptisch
empfindenden Subjekt und dem haptisch empfundenen bzw. angetasteten Gegenstand analog
ist. Allerdings unterscheidet sich diese ästhetische Synthese in der Domäne der Visualität – in
der Domäne des Sehraumes – von der in der Domäne des Leibes darin, daß das unmittelbare
Sehen im Gegensatz zum leiblichen Antasten notwendigerweise eine Distanz zwischen dem
Augenpunkt und dem Gegenstand voraussetzt, wie bereits erwähnt wurde.
Wenn wir unmittelbar sehen, daß unsere Hand einen Gegenstand antastet, koinzidieren sich
zeitlich und räumlich unsere visuellen und haptischen Wahrnehmungen dieses Vorgangs.
Demnach ist die leibliche Lokalisation der haptischen Empfindung der außerleiblichen
Lokalisation der visuellen Empfindung im Sehraum für analog zu halten. D. h. ebenso wir das
Tasten in unserem Leib lokalisiert empfinden, empfinden wir die Sicht eines sich in unserem
42
Descartes, Meditationen, a. a. O., S. 66.
37
Sehraum befindenden Gegenstands, die in Wirklichkeit die visuelle Empfindung der
Farbigkeit, Helligkeit und Ausdehnung des Gegenstands ist, im Gegenstand selbst lokalisiert.
Daraus läßt sich eine grundlegende Analogie zwischen der leiblichen Domäne des Tast- oder
Geschmackssinns und der außerleiblichen Domäne des Gesichtssinns, die in Wirklichkeit
einen ästhetisch-subjektiven Nexus zwischen dem subjektiven Sehraum und dem objektivphysikalischen Lichtraum (der die ebenso physikalischen Gegenstände enthält) bildet,
ableiten.
Eine derartige Analogisierung hat zur Folge, daß wir es annehmen müssen, daß sich die rein
ästhetische Subjektivität in einem objektiven bzw. physikalisch wirklichen Sehraum ausdehnt,
ebenso sie im Rahmen des Tast- oder Geschmackssinns im objektiven Leib ausgedehnt ist.
Das materielle Medium, durch das sich die ästhetische Subjektivität im physikalisch
wirklichen Sehraum ausdehnt, kann allein das Licht sein, das als solches dem Leib, der
Domäne des Tast- und Geschmackssinns, analog ist. Denn das Licht ist der einzige fremde
Gegenstand, der beim Sehvorgang im Auge zugelassen wird, und der folglich das
Netzhautbild mit den wirklichen Erscheinungen verbindet. Wenn das Licht fehlt, hört man auf
zu sehen. Kurzum: wie der Leib das physikalisch-materielle Medium ist, in dem die Domäne
des ästhetischen bzw. haptisch oder geschmacklich empfindenden Subjekts ausgedehnt ist,
bildet das außerleibliche Licht das materielle Medium, in dem sich die visuelle Domäne des
ästhetischen Subjekts ausdehnt.
In dem bereits erörterten ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen dem subjektiven Sehraum
und dem objektiven Lichtraum ist ein Sehbild, das in Wirklichkeit von bloß subjektiven
Empfindungen wie Farben, Gradation der Helligkeit etc. zusammengesetzt ist, mit den
räumlich ausgedehnten Gegenständen verknüpft. Die Basis dieses subjektiven ästhetischsynthetischen Nexus ist offensichtlich die bloße Materialität der Gegenstände, die räumlich
ausgedehnt ist, und die an sich nicht die vom Subjekt empfundenen sinnlichen Eigenschaften,
sondern nur ihre materiellen Ursachen besitzt.43 Wie vorher erörtert wurde, wird das res
extensa des Gegenstands, dem Descartes einen vom wahrnehmenden Subjekt völlig
autonomen ontischen Status zuschreibt, hierbei zum Träger aller materiellen Ursächlichkeiten
im Gegenstand, die im Subjekt sowohl die rein ästhetischen Empfindungen als auch die
logisch-begrifflichen Erkenntnisse verursachen, und mit denen die theoretischen oder
begrifflichen Attribute und sinnlichen Empfindungen des Subjekts im Modus eines subjektiv43
Vgl. Anmerkung 37.
38
synthetischen Nexus bloß verbunden sind. Die räumliche Ausdehnung – das res extensa – des
Gegenstands ist demnach der Träger und als solcher das Garant der gegenständlichen
Existenz gegenüber einem sinnlich empfindenden und logisch-begrifflich erkennenden
Subjekt.
Der ästhetisch-synthetische Nexus der Empfindungen mit der bloßen Materialität des
Gegenstands ist unter verschiedenen Modi der Sinnesempfindungen ein analoges Phänomen.
Wir haben bisher in diesem Zusammenhang zwei leibliche Sinnesvermögen, nämlich den
Tast- und Geschmackssinn, und ein außerleibliches oder über den Leib hinausgehenden
Sinnesvermögen, nämlich den Gesichtssinn, erörtert. Wie wir die Kälte der Schnee leiblich in
der Berührungsebene zwischen dem baren Fuß und der Schnee lokalisiert empfinden,
empfinden wir visuell die Weiße der Schnee oder die Farbe einer Blume im Gegenstand selbst
lokalisiert. Bei der Berührung zwischen dem leiblichen Fuß und der Schnee kommt
epistemologisch eine rein ästhetische Synthese zwischen einer gegenständlich-materiellen
Ursächlichkeit und einer bloß subjektiven Empfindung – nämlich die haptische
Kälteempfindung, die die Wirkung einer bestimmten materiellen Ursächlichkeit im Subjekt
ist – im Modus eines Nexus. Ebenso wird unsere subjektive Farbempfindung mit der bloß
materiellen Oberfläche des Gegenstands – der Schnee oder der Blume –, die an sich nicht
farbig ist (sondern nur eine potentielle objektive Ursächlichkeit der subjektiven
Farbempfindung trägt), im Modus eines ästhetisch-synthetischen Nexus verknüpft. Hier
gehört die Farbigkeit des Gegenstands zu der Domäne des ästhetischen Subjekts, aber deren
gegenständliche Basis, nämlich die räumlich ausgedehnte materielle Oberfläche zu der
Domäne der vom Subjekt völlig verschiedenen objektiven Wirklichkeit oder Phänomenalität.
Die Analogie zwischen der Tast- und Sehempfindung verdeutlicht, wie unser bloß subjektives
und räumliches Sehbild mit dem objektiven bzw. physikalisch wirklichen Gegenstand, sowie
unsere unmittelbare Tastempfindung mit dem angetasteten Gegenstand im analogen Modus
eines ästhetisch-synthetischen Nexus verknüpft sind. Aber diese Analogie setzt eine
Erkenntnis voraus, daß die Ausdehnung der Domäne des Tastsinns im Leib der Ausdehnung
der Domäne des Gesichtssinns im physikalischen Lichtraum für analog zu halten ist (wie
bereits erörtert wurde). Hier taucht ein wesentliches Problem auf: wie kann sich unsere
ästhetische Subjektivität in einem außerleiblichen und bloß physikalischen Medium des
39
Lichtraumes44 ausdehnen – in ähnlicher Weise wie der Tastsinn im organischen Leib
ausgedehnt ist? Unser Leib ist im Vergleich zum physikalischen Licht ein lebendiger
organischer Gegenstand. Die Domäne des Tastsinns kann nur der lebendige Leib und kein
anorganischer physikalischer Gegenstand sein. Wir empfinden Kälte, Wärme oder Druck
eines materiellen Gegenstands, entweder wenn der Gegenstand in unmittelbarer Berührung
mit dem Leib kommt, oder dieser Gegenstand durch ein materielles Medium – wie Stahl,
durch den die Kälte, Wärme oder der Druck vom Gegenstand auf den Körper übertragen
werden können – verbunden ist.45 Aber eine derartige Mediation ist mit der leiblichen
Ausdehnung des Tastsinns nicht gleichzusetzen, denn das Subjekt hat die Empfindung
wiederum in einer Berührungsebene zwischen dem lebendigen Leib und dem anorganischen
materiellen Medium.
Aber auch als ein organisches Wesen ist der Leib ein physikalisches Phänomen, das
gegenüber der subjektiven Tastempfindung einen wesentlich anderen ontischen Status hat,
wie vorher erörtert wurde. Hierbei müssen wir erneut auf die cartesische Betonung stützen,
daß der Schmerz im Fuß – ebenso wie die Sensation der Kälte im Fuß – nicht vom Fuß,
sondern vom Subjekt empfunden wird. D. h. der Fuß selbst bildet keinen Ursprung bzw.
Urheber der Scherz- oder Kälteempfindung. Wenn wir annehmen, daß der Schmerz oder die
Kälte durch das Gehirn, das mit dem Fuß durch zahlreiche Nerven verbunden ist, empfunden
wird, bleibt die Lokalisation der Schmerz- oder Kälteempfindung im Fuß ein physiologischphysikalisches Rätsel – ebenso wie es ein rätselhaftes epistemologisches Problem bildet.
Denn der Fuß schließt in sich kein Teil des Gehirns, das die Sensation der Kälte oder des
Schmerzes am Ort bearbeiten kann. Die mit dem Gehirn verbundenen Nerven sind im ganzen
Leib verbreitet, aber sie füllen nicht lückenlos die gesamte Ausdehnung des lebendigen Leibs.
Dennoch vermögen wir die haptischen Sensationen wie Kälte, Wärme oder Druck an jedem
Punkt auf der Haut genau lokalisiert wahrzunehmen. Wir stellen aber in Anlehnung an
Descartes fest, daß es letztendlich nicht das Gehirn, sondern das Subjekt, das durchs Gehirn
die haptischen Sensationen im Leib lokalisiert empfindet. Die ästhetisch-subjektive Sensation
und der physikalische Leib, der die Domäne der subjektiven Sensationen ist, sind zwei
voneinander völlig verschiedene Existenzmodi (oder ontische Realitäten). Daher ist die
44
Hier kann man nicht annehmen, daß die ästhetische Subjektivität bloß im Sehraum – ohne die Medialität des
Lichts – ausgedehnt ist. Denn der physikalische Sehraum ist notwendigerweise ein Lichtraum – also ein Raum,
der durch Licht gefüllt ist. Darüber hinaus ist das Licht ein notwendiges physikalisches Phänomen, das allein
vom Außen im Auge zugelassen wird, und erst durch dessen Medialität (zwischen Gegenständen und dem Auge
– im weiteren Sinne dem Subjekt) das Sehen sich ereignet.
45
In diesem Fall bildet das materielle Medium, das der Leib mit dem zu empfindenden Gegenstand verbindet,
eine Einheit mit dem Gegenstand.
40
leibliche Ausdehnung des ästhetischen Subjekts ist ein ebenso rätselhaftes Phänomen wie die
von uns vorgestellte Ausdehnung des ästhetischen Subjekts in einem visuellen und
physikalischen Lichtraum. Rein physikalisch oder physiologisch läßt sich das Phänomen der
Subjektivität nicht entschlüsseln. Denn das Subjekt ist, wie Descartes es nachdrücklich betont,
dem physis nicht unterworfen; d.h. es hat gegenüber den physikalischen Phänomenen einen
wesentlich anderen Existenzmodus.46
Daher wäre es ungereimt, wenn wir einerseits die Ausdehnung des subjektiven Tastsinns im
organischen Leib anerkennen und zugleich die Ausdehnung des ebenso subjektiven
Gesichtssinns in einem physikalischen Lichtraum ablehnen. Sowohl der organische Leib als
auch das anorganische Licht sind letztendlich physikalische Phänomene. Es scheint auch
ungereimt zu sein, wenn wir das Licht als ein bloß physikalisches Phänomen bestimmen und
es als solches gegenüber dem organischen Leib epistemologisch herabsetzen. Denn wir
wissen nicht genau, wie das Wesen des Lichts ist, das das Subjekt zur Sicht der Außenwelt
veranlaßt. Rein physiologisch haben wir das Licht, das ein physikalisch-anorganischer
Gegenstand ist, in dem ophthalmologischen Prozeß des Sehens zugelassen, da das Licht die
Erscheinungen auf der Netzhaut abbildet. Daß das Gehirn die Netzhautabbildung als Input
hat, besagt auch, daß der physiologische Vorgang des Sehens das physikalische Licht als sein
Hauptgegenstand hat, oder daß das physikalische Licht in der Physiologie des Sehens
unmittelbar einbezogen ist. Diese Tatsache deutet darauf hin, daß der Gesichtssinn mit dem
Licht verbunden ist – wie der Tastsinn mit dem Leib; oder, anders ausgedrückt, zwischen der
Verbundenheit der Domäne des Sehens mit dem Licht und der der Domäne des Tastens mit
dem Leib eine Analogie aufzuweisen ist.
Ein anderes Problem, das in unserer Untersuchung auftaucht, wenn wir die Ausdehnung der
Domäne des Gesichtssinns im physikalischen Lichtraum annehmen, ist die riesige
Ausdehnung dieser Domäne des ästhetischen Subjekts selbst. Es wird uns schwer fällen, sich
vorzustellen, daß die Domäne oder Sphäre unserer Subjektivität eine unermeßlich große
Ausdehnung erlangen kann. Theoretisch soll dann in der ästhetischen Domäne des
Gesichtssinns alle Erscheinungen in richtiger Größe und Entfernung wahrgenommen werden,
46
Darauf verweist eine Bemerkung der Prinzessin Elisabeth über die Natur der Seele (in ihrem Brief vom 1. Juli
1643 an Descartes), die im Prinzip ihre Reaktion auf die Ansicht Descartes über die sinnliche Erkennbarkeit der
Union zwischen Leib und Seele ist, die aber letztendlich ein Argument gegen die cartesische Grundvorstellung
von einer nicht ausgedehnten Seele bildet: „I see also that the senses show me that the soul moves the body, but
that they do not show me really (any more than the Understanding or the Imagination does) the way in which it
does. For that, I think, there are properties of the soul, unknown to us, which could, perhaps, overturn what your
Meditations persuaded me of with such good arguments: that is, the nonextension of soul.“ (vgl. Anhang, S. 54).
41
denn sie alle werden durch die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen mit dem
Auge verbunden. Aber eine derartige visuelle Wahrnehmung entspricht kaum unserer
wirklichen Seherfahrung. Wir sehen die uns nahen Erscheinungen mehr oder weniger in
richtiger Größe und Entfernung; diese Seherfahrung entspricht auch der perspektivischen
Struktur des Lichtraumes, der als solche annäherungsweise eine Identität mit dem unmittelbar
erfahrenen Sehraum zu bilden scheint. Aber die weit entfernten Erscheinungen, wie die
Bäume auf einem Berg, Wolken bis zu den im Nachthimmel sichtbaren Himmelskörpern wie
Mond, werden nicht in richtiger Entfernung und Größe visuell wahrgenommen. Man sieht
diese Gegenstände demnach nicht in ihrer Realität, sondern in ihrer Virtualität – als virtuelle
Erscheinungen. Dies besagt, daß unser unmittelbarer Sehraum von realen und virtuellen
Erscheinungen zusammengesetzt ist, und daß seine Struktur gerade in der Größen- und
Tiefenwahrnehmung eine Gradation der Realität aufweist. Man kann eine derartige
Gradation der Realität des Sehraumes, durch die wir die nahen Erscheinungen viel realer bzw.
in annähernd richtiger Größe und Entfernung wahrnehmen als die weit entfernten, als eine
Gradation der Intensität des Sehraumes betrachten. Demnach variiert die Intensität des
Sehraumes bzw. sie vermindert sich gemäß der Entfernung des Gegenstands vom
Augenpunkt. Diese Gradation der Realität oder Intensität des Sehraumes läßt sich im Kontext
des bereits erörterten ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen dem räumlichen Sehbild – der
Domäne des Gesichtssinns – und der physikalischen Domäne der Erscheinungen im
Lichtraum leicht erklären. Wir haben vorher erörtert, wie die Virtualität entsteht, wenn dieser
synthetische Nexus aufhört bzw. wenn das subjektive Sehbild sich von seiner
gegenständlichen Basis trennt. Wie wir unmittelbar visuell erfahren, ist dieser ästhetischsynthetische Nexus – zwischen dem subjektiven Sehbild und dem physikalisch objektiven
Gegenstand – im Fall der uns nahen Erscheinungen viel vollkommener als im Fall der fernen
Erscheinungen. D. h. der Tiefe unserer wirklichen Sehraum entsprechend, entsteht eine
graduelle Trennung zwischen dem subjektiven Sehbild und dem objektiven Gegenstand – bis
zu dem Ausmaß, daß wir eine in Wirklichkeit riesige Erscheinung wie Mond in extrem
unwirklicher Größe und Entfernung sehen. Immerhin wird diese virtuelle Erscheinung des
Monds durch dieselbe Lichtstrahlen mit unserem Augenpunkt verbunden, die, von dem
wirklichen Mond reflektiert, auf unsere Augen fallen. Die winzige Erscheinung des Monds
oder der Sonne in der Himmelsebene (bzw. auf der Grenzebene unseres Sehraumes) wird auch
dadurch veranlaßt, daß der Mond oder die Sonne von uns weit entfernt ist, und folglich die
Mond- oder Sonnenstrahlen (bzw. vom Mond reflektierten oder von der Sonne ausgesandten)
einen sehr winzigen Winkel mit dem Augenpunkt bilden. Hier kann man annehmen, daß die
42
Domäne unseres Gesichtssinns sich nur bis zu einer Himmelsebene ausdehnt, wo der Mond
virtuell erscheint.
Die Erscheinungen, die uns sehr nahe liegen, vermögen wir aufgrund der hohen Intensität des
Sehraumes sehr präzis bzw. in richtiger Größe, Entfernung und Solidität47 wahrzunehmen.
Dagegen erscheinen uns die vom Augenpunkt entfernten Gegenstände kaum in ihrer richtigen
Größe
und
Solidität;
ebenso
ungenauer
wird
die
visuelle
Wahrnehmung
der
zwischenräumlichen Distanzen bzw. der horizontalen Abstände und orthogonalen Tiefen
zwischen den Erscheinungen. Schließlich sehen wir die weitesten Erscheinungen – wie die
Himmelskörper – im Vergleich zu ihrer richtigen Größe und Entfernung extrem klein und
flach auf einer ebenso zweidimensional gewölbt erscheinenden Himmelsebene, die die
Grenze unseres Sehraumes und demnach die Grenze der visuellen Domäne unserer
ästhetischen Subjektivität ist. Die Gradation bzw. orthogonale Verminderung der Intensität
des Sehraumes ist ein unmittelbar visuell zu erfahrendes Phänomen, das auf den Grad der
Verbundenheit oder des ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen dem subjektiven Sehbild
und dem objektiven Gegenstand im Lichtraum zurückzuführen ist.
Neben dem Sehraum erweist sich unser Hörraum als eine außerleibliche Ausdehnung der
Domäne der ästhetischen Subjektivität. Wie der Gesichtssinn dehnt sich der Gehörsinn über
unseren Leib hinaus in dem uns umgebenden Raum aus. Wir nehmen die Stimmen, Klänge
oder Geräusche wahr, als ob sie aus den wirklichen Ursprungsorten bzw. den Gegenständen in
47
Hierbei ist wichtig zu erwähnen, daß wir in unserem Sehraum die Ausdehnung der Erscheinungen nicht an
sich wahrnehmen, sondern sie kommt uns nur in ihrer perspektivisch modulierten Größe und Solidität vor. Die
perspektivische Größe, Entfernung und Solidität der Erscheinungen sind durch die perspektivische Struktur der
Lichtpyramide, deren Spitze im Augenpunkt liegt, bestimmt; sie entsprechen fast der geometrisch-optischen und
perspektivischen Struktur des uns nahen Sehraumes – aber nicht ganz. In Figur 1 (durch die wir das object size
consistency bei der Größen- und Entfernungswahrnehmung im Sehen erklärt haben) sollten wir im Prinzip –
gemäß der perspektivischen Struktur des Sehraumes - das Sehobjekt in beiden ihren Positionierungen (X1 und
X2) in derselben Größe wahrnehmen. Denn die Lichtstrahlen verbinden dieselbe Erscheinung mit dem
Augenpunkt. Aber der Gegenstand in der Position X2 wird ein bißchen kleiner als der Gegenstand in der
ursprünglichen Position (X1) erscheinen. Denn in der Position X2 wird der Gegenstand in Relation zu einem
größeren Sehbild wahrgenommen, so daß er uns im Vergleich zu seiner Erscheinung in der ersten Position ein
bißchen verkleinert vorkommen wird. Allerdings kommt die erhebliche Reduktion der Erscheinungsgröße des
Gegenstands in großer Entfernung (wie die des Baumes auf einem weit entfernten Berg) durch die bereits
erörterte Trennung des Sehbildes vom Gegenstand – oder, in anderen Worten, aufgrund der erheblich
verringerten Intensität des Sehraumes – zustande. In diesem Fall erreicht das Sehbild den wirklichen Gegenstand
nicht; es erscheint perspektivisch bzw. in perspektivischer Formhaftigkeit vor und in einem Abstand von dem
Gegenstand. Die Grenze der Erreichbarkeit des wirklichen Sehbildes ist zugleich die Grenze unseres Sehraumes
bzw. die Grenze der Domäne unseres Sehens selbst, die wir gewöhnlich an den Erscheinungen der
Himmelskörper erfahren. Hier ist erneut zu betonen, daß die Größen- und Entfernungswahrnehmung der
Gegenstände in dieser Weise unabhängig von den Abbildungsgrößen auf der Netzhaut zustande kommt, indem
der Sehvorgang sich in einer Einheit zwischen dem Auge und dem Sehraum ereignet, oder indem die
Gegenstände von einem in einer Domäne des unmittelbaren Seh- und Lichtraumes ausgedehnten Subjekt
wahrgenommen werden.
43
einem Hörraum stammen. Die Stimme eines Menschen – bei einem Gespräch oder einer Rede
– wird an seinem Mund lokalisiert empfunden. Die außerleibliche Lokalisation der
Hörempfindung ist ein Phänomen, das wir stets in unserem Alltag erfahren. In unserem
Garten oder im Wald hören wir die Stimme der Vögel aus verschiedenen Richtungen und
Ursprungsorten. Wenn ein Vogel singt und zugleich vorbeifliegt, hören wir den Gesang des
Vogels im freien Luftraum wandernd bzw. im fliegenden Vogel lokalisiert. Ebenso hören wir
den Galopp eines Pferds in ihren rapiden Fußstapfen lokalisiert und demnach in einem
Hörraum bewegend.
In diesen und in ähnlichen Fällen kann die Lokalisation der Stimmen und Geräusche nicht nur
im Gehörsinn, sondern auch im Gesichtssinn empfunden bzw. unmittelbar gesehen werden.
Wenn wir die Stimme eines uns frontal stehenden Menschen hören, empfinden wir sie an
seinem sichtbar beweglichen Mund lokalisiert. In gewisser Hinsicht wird hier die Stimme
zugleich auditiv und visuell – am Mund des Sprechenden lokalisiert – empfunden. Zwar trägt
die unmittelbare Sichtbarkeit des Ursprungsortes der Stimme oder Geräusche zu unserer
präzisen Wahrnehmung ihrer außerleiblichen Lokalisation wesentlich bei, aber diese
Eigenschaft des Gehörsinns bedarf einer derartigen Begleitung des Gesichtssinns nicht. Wir
empfinden Stimmen und Geräusche in ihren Ursprungsorten lokalisiert, auch wenn wir die
gegenständlichen Quellen unserer Hörempfindung nicht sehen bzw. wenn sie außerhalb
unseres perspektivischen Sehraumes liegen oder von unserer Sicht versteckt bleiben. Unser
Hörraum ist im Vergleich zu unserem Sehraum nicht perspektivisch; er dehnt sich um uns
herum prinzipiell in einem Luftraum. Wenn wir aber die Quellen der Stimmen und Geräuche
sehen, wird dadurch unsere ästhetisch-subjekitve Wahrnehmung ihrer gegenständlichen
Lokalisation viel präziser. Denn in diesem Fall schneiden die Domänen von zwei
Sinnesvermögen miteinander, so daß das Subjekt einen vollkommeneren und präziseren
ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen ihnen (bzw. den Domänen des Gehör- und
Gesichtssinns) und dem empfundenen Gegenstand zu leisten vermag.
Nun untersuchen wir, wie und wieweit die außerleibliche räumliche Lokalisation der
Hörempfindung zu der der Sehempfindung eine Analogie bildet. Eine einfache und
unmittelbare Analogie zwischen dem Gesichts- und Gehörsinn in diesem Bezug wäre, daß wir
die Farbe eines Gegenstands am Gegenstand selbst lokalisiert sehen, wie wir die Stimme
eines Menschen oder den Klang eines Gegenstands am Gegenstand selbst – an dem
bewegenden Mund oder an einem klingelnden Telefonapparat am Schreibtisch – lokalisiert
44
hören. Wie der gesehene Gegenstand durch das Licht mit dem sehenden Auge verbunden ist,
fungiert vorzüglich ein Luftraum als Medium zwischen dem gehörten Gegenstand und dem
Ohr. Wiederum läßt sich zwischen der Augennetzhaut, die die von Gegenständen reflektierten
Lichtstrahlen – oder Lichtwellen - empfängt, und der Ohrtrompete, die die von vibrierenden
Gegenständen ausgesandten Luftwellen empfängt, eine Analogie aufweisen. Wie das bloß aus
Lichtzonen bestehende Netzhautbild im Sehvorgang bildet die durch verschiedene Luftwellen
verursachten Vibrationen der Ohrtrompete das einzige Input im Vorgang des Hörens. Dieses
Input enthält streng genommen keine Daten der Richtung der Luftwellen sowie der
räumlichen Distanz des gehörten Gegenstands, von dem die Luftwellen ausgesandt werden.
D. h. die rein mechanische Vibration der Ohrtrompete schließt in sich wesentlich nichts von
der freiräumlichen Richtung und Distanz der am Gegenstand lokalisierten Hörempfindung.
Hierbei brauchen wir die bereits eingeführten epistemologischen Auslegungen nicht zu
wiederholen, um zu bestimmen, wie sich die Domäne unseres ästhetisch-subjektiven
Gehörsinns in einem Luftraum ausdehnt – ebenso wie die subjektive Domäne des Sehens in
einem perspektivischen Lichtraum ausgedehnt ist.
Zwischen dem subjektiven Hörraum und dem objektiven Luftraum – ebenso wie zwischen
dem Sehraum und dem Lichtraum – läßt sich eine ontische Differenz aufweisen. D. h. der rein
subjektive Hörraum hat einen anderen Seins- oder Existenzmodus als der physikalische
Luftraum. In Analogie zu dem bereits erörterten Sehvorgang kommt auch im Hörvorgang ein
subjektiv-synthetischer Nexus zwischen dem Hörraum und dem Luftraum – demgemäß
zwischen der gegenständlichen Lokalisation der Hörempfindung und dem Gegenstand selbst
– zustande.48
Versuchen wir wie vorher, diese Vorstellung, die uns unsere unmittelbare Erfahrung liefert,
zu bekämpfen. Nehmen wir an, daß die Vibration der Ohrtrompete das einzige Input im
physiologischen Hörvorgang ist, die als solches von den Luftwellen völlig getrennt bearbeitet
wird. Wenn unsere Hörempfindung aus diesem Input allein bloß neuronal – im Gehirn –
entwickelt wird, hat ein derartiger Hörvorgang theoretisch mit dem außerleiblichen Luftraum
nichts zu tun. Aber das Ergebnis unseres Hörvorgangs, nämlich einen Hörraum, erfahren wir
48
Den (ästhetisch-subjektiven) synthetischen Nexus zwischen dem Sehraum und dem Lichtraum kann man noch
präziser – von der analogen perspektivischen Struktur des Seh- und Lichtraumes ausgehend – als eine Einheit
(im Modus eines Nexus) zwischen den physikalischen Lichtstrahlen und den subjektiven Sehstrahlen vorstellen
(hierzu vgl. PMS, S. 204ff.; PGPVR, S. 78ff.). Ebenso kann man den synthetischen Nexus zwischen dem
subjektiven Hörraum und dem objektiv-medialen Luftraum als einen einheitlichen synthetischen Nexus
zwischen den physikalischen Luftwellen und den subjektiven Hörwellen vorstellen.
45
ebenso wie den Sehraum subjektiv und als unbedingt räumlich ausgedehnt. Wenn wir uns
vorstellen, daß unser rein subjektiver Hörraum von dem uns umgebenden und vorwiegend
durch Luft gefüllten Raum völlig getrennt existiert, nehmen wir stillschweigend an, daß der
subjektive Hörraum und der objektive Luftraum zwei nebeneinander existierende Raummodi
sind. Aber in unmittelbarer Hörempfindung erfahren wir, daß diese ontisch vollkommen
verschiedenen Raummodi sich verflochten. Daraus ergibt sich eindeutig eine Ungereimtheit
zwischen der ontologischen Auslegung und der epistemologischen Erfahrung des Hörraumes.
Wie bereits erörtert wurde, kann das einzige Attribut des Freiraumes, nämlich die
unreduzierbare Ausdehnung, eine völlige Abgetrenntheit zwischen dem subjektiven Hörraum
und dem physikalisch-gegenständlichen Luftraum kaum zubilligen. Denn wenn der subjektive
Hörraum von dem physikalischen Luftraum völlig getrennt ist, wo soll er in seiner räumlichen
Ausdehnung wirklich existieren bzw. wo soll das Subjekt diese seine räumlich ausgedehnte
und wirkliche Domäne projizieren oder platzieren – wenn nicht in dem uns umgebenden
Luftraum selbst?49 Denn wir existieren im objektiven Raum, der an sich nicht reduzierbar ist.
Daher sollen sich unsere räumlich ausgedehnten Domänen der Sinnlichkeit notwendigerweise
in dem realen Existenzraum ausdehnen bzw. in einem synthetischen Nexus integriert werden.
Diesen ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen dem subjektiven Hörraum und dem
objektiven Luftraum erfahren wir unmittelbar in unserem Hörvorgang; er bildet die Basis der
vorher erörterten Lokalisation der Hörempfindung im Gegenstand. Ebenso wie die Farbe
eines Gegenstands bildet dessen Geräusch oder Klang eine vollkommen subjektive
Empfindung, die als solche mit seiner Ursache im Gegenstand, nämlich die bloße Vibration,
keine ontische Identität hat. Die gegenständliche Lokalisation des Klangs – in Analogie zu der
gegenständlichen Lokalisation der Farbempfindung – stellt aber eine epistemologische bzw.
wahrnehmungstheoretische Verbundenheit im Modus eines bloßen Nexus zwischen der
Domäne des rein subjektiven Gehörsinns und der des gehörten Gegenstands dar. Die Realität
der Hörempfindungen – der Stimmen und Geräusche – ist ebenso wie die Realität der Farben
auf die Domäne des ästhetischen Subjekts beschränkt. In der physikalischen Welt bestehen
daher keine Hörempfindungen, sondern nur ihre physikalischen bzw. mechanischen
Ursachen, nämlich die gegenständliche Vibration und deren Übertragung durch die
49
Anders ausgedrückt: auch wenn wir den Hörraum als eine bloß subjektive Konstruktion vorstellen, die
gegenüber dem physikalischen Luftraum einen wesentlich anderen ontischen Status hat, müssen wir uns zu
seiner Realität, genauer, zur Realisierung dieser unserer subjektiven Empfindung auf die wirkliche Ausdehnung
des Luftraumes stützen. D.h. wir vermögen die rein ästhetisch-subjektive Domäne unseres Gehörsinns nur in
einer uns umgebenden objektiven Ausdehnung des Luftraumes zu realisieren.
46
Luftwellen.50 Im allgemeinen kann man das Gesamtsystem des ursächlichen Phänomens –
bzw. des physisch wirklichen Phänomens, das im Subjekt die Hörempfindung verursacht –, in
zwei Prozessen einteilen. Der erste und ursprüngliche Prozeß besteht aus einem rein
mechanischen Vorgang – also ein Vorgang, der ein bloß mechanisches bzw. räumlichzeitliches Phänomen ist –, nämlich die Übertragung der gegenständlichen Vibration zur
Ohrtrompete durch einen Luftraum. Diesem ursprünglichen mechanischen Prozeß folgt ein
leiblicher bzw. neuronaler Prozeß, in dem die mechanischen Vibrationen der Ohrtrompete
neuronal im Gehirn – das im Grunde ein physiologisches System ist – bearbeitet werden.
Unsere subjektive Hörempfindung ergibt sich in Wirklichkeit aus der Einheit zwischen den
mechanischen und den neuronalen Prozessen im Hörvorgang. Obwohl unsere Hörempfindung
die Wirkung eines ursächlichen physikalischen Hörvorgangs ist, erweist sie sich als ein bloß
subjektives Phänomen, das gegenüber den oben erwähnten mechanischen und neuronalen
Prozessen im Hörvorgang einen anderen Existenzmodus hat.51
Es wird uns erstaunen, wenn wir unserer alltäglichen Hörerfahrung kurz Aufmerksamkeit
schenken, wie verschiedene Stimmen und Geräusche aus unserer Umgebung zu uns kommen.
Wir nehmen die sichtbaren und die unsichtbaren gegenständlichen Quellen52 unserer
Hörempfindungen räumlich bzw. in richtigen Entfernungen und Richtungen wahr. Allerdings
– wie es bereits erwähnt wurde – wird unsere räumliche Wahrnehmung des gehörten
50
Daher hat ein Taube Recht, wenn er meint, daß die Welt vollkommen stumm ist – ebenso wie ein Hörender,
der sagt, daß in der Welt verschiedene Hörempfindungen existieren. Nun unterscheiden sich diese
widersprüchlichen Aussagen in ihrer Kontextualität voneinander. Die Aussage des Tauben bezieht sich bloß auf
die physikalische Existenz der Welt, während die des Hörenden eine rein subjektive Realität mit einbezieht, die
mit der physikalischen und ursächlichen Phänomenalität der Hörempfindung, nämlich der Vibration des
Gegenstands, einen ästhetisch-synthetischen Nexus bildet.
51
In der Physiologie des Gehörsinns wird nur der neuronale Prozeß berücksichtigt. Das mechanische Vibrieren
der Ohrtrompete wird dabei – ebenso wie das Netzhautbild im Sehvorgang – auf ein bloßes Input reduziert, das
neuronal zu einer Hörempfindung umgewandelt wird. Erstens ist die Hörempfindung ein bloß subjektives
Phänomen, das gegenüber dem physikalischen Hörvorgang einen anderen ontischen Status hat, wie vorher
erörtert wurde. Zweitens ist die subjektive Domäne des Gehörsinns räumlich ausgedehnt und schließt die
gehörten Gegenstände – also die objektiven Quellen der Hörempfindung – in sich ein. Auch wenn wir
annehmen, daß das Subjekt bloß aus den Modi der Vibrationen der Ohrtrompete, die sich gemäß der Stärke und
Richtung der von vibrierenden Gegenständen ausgesandten Luftwellen variieren, die Quellen seiner
Hörempfindungen an Gegenständen wahrnehmen kann, bedeutet es nicht anders, als daß die subjektive Domäne
des Gehörsinns sich durch einen medialen Luftraum zu dem gehörten Gegenstand ausdehnt. Denn die
Distanzwahrnehmung der Hörempfindung – ebenso wie die Distanzwahrnehmung der Farbempfindung – am
Gegenstand ist kein virtuelles, sondern ein reales Phänomen, das als solches in einem realen Raum zustande
kommt. Die Realität des Hörraumes – analog der Realität des Sehraumes – basiert demnach auf einem
ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen dem subjektiven Hörraum und dem physikalisch-objektiven Luftraum.
52
Die unsichtbaren Quellen der Hörempfindungen wären – wie bereits erörtert wurde – die Quellen der Stimmen
und Geräusche, die außerhalb unseres perspektivischen Sehraumes liegen – wie z. B. ein Mensch, der von hinten
ruft – oder die durch opake Objekte (eine Wand oder einen Busch) versteckt sind. Im Vergleich zu den
Lichtstrahlen werden die Luftwellen kaum durch solche Barriere im Luftraum blockiert. Denn die Vibration wird
auch durch solide Medien in die Luft übertragen. Aber es gibt Fälle, in denen die von Gegenständen
47
Gegenstands oder unsere Wahrnehmung der gegenständlichen Quelle der Hörempfindung
viel genauer und deutlicher, wenn wir den Gegenstand zugleich sehen. Denn im
gleichzeitigen Sehen und Hören des Gegenstands schneiden sich zwei unterschiedliche
Domänen des ästhetischen Subjekts am empfundenen Gegenstand im Raum.53 Unsere
Wahrnehmung der räumlichen Lokalisation der sinnlichen Empfindungen wird noch präziser,
wenn sich mehrere Sinne daran beteiligen; wie zum Beispiel: wenn ein Gegenstand zugleich
gesehen, gehört und angetastet wird. Wenn wir an die Tür klopfen, erfahren wir die räumliche
Lokalisation von drei verschiedenen Sinnesempfindungen. Wir sehen, wie unsere
Fingergelenke die Oberfläche der Tür berührt, und zugleich hören wir das Klopfen an diesem
Berührungspunkt lokalisiert. Hier erfahren wir eine simultane Lokalisation der haptischen, der
optischen und der auditiven Empfindungen; d. h. drei verschiedene Domänen des ästhetischen
Subjekts schneiden sich am Berührungspunkt zwischen dem Fingergelenke und der Tür.
Obwohl wir die außerleibliche Lokalisation der visuellen und der auditiven Empfindung des
Klopfens genau wahrnehmen können (indem er sich ganz in unserer Nähe ereignet), verleiht
ihr die zusätzliche Anteilnahme des leiblichen und als solcher sichersten Tastsinns unfehlbare
Gewißheit und Objektivität.54 Die simultane Lokalisation unserer visuellen, auditiven und
haptischen Empfindungen im Vorgang des Klopfens verweist auch auf die Simultane
Schneidung von drei verschiedenen medialen Phänomenen, in denen die verschiedenen
Domänen unserer Sinnlichkeit ausgedehnt sind, nämlich dem Leib, dem Licht- und Luftraum;
ebenso verweist sie auf die Simultaneität des ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen den
oben erwähnten Modi der subjektiven Sinnlichkeit und der objektiven Phänomenalität dieses
Ereignisses.
Wie der Sehraum zeigt unser Hörraum eine Gradation der Intensität. Die Lokalisation der
Hörempfindung an den uns nahen Gegenständen nehmen wir klarer und deutlicher als die
Lokalisation der Hörempfindung an den uns fernen Gegenständen. Das Klingen des Telefons
am Schreibtisch oder die Stimme eines Vogels oder Hörnchens im Garten hören wir an den
Gegenständen in hoher Präzision und Klarheit. Dagegen wird das Geräusch eines Flugzeugs
oder die Explosion in einem von uns weit liegenden Bergs kaum in richtiger Entfernung
wahrgenommen. Wir hören sie zwar von relativ großen Entfernungen, aber diese
ausgesandten Luftwellen durch massive Barriere – wie ein Berg – reflektiert werden. Folglich entsteht das
Phänomen des Widerhalls, der die Virtualität in der Domäne des Hörsinns bildet.
53
In anderen Worten: die subjektiven Domänen des Gesichts- und Gehörsinns erstrecken sich in derselben
Richtung und Distanz zu demselben Gegenstand.
54
Hierbei ist wichtig zu erwähnen, daß diese Gewißheit und Objektivität der simultanen Lokalisation der Seh-,
Tast- und Hörempfindung sich in erster Linie auf eine vor-logische rein ästhetische Subjektivität beziehen.
48
Distanzwahrnehmung in der Hörempfindung entspricht kaum der wahren Distanz des
Flugzeugs oder des Bergs von uns. Hier können wir die gradierende Intensität des Hörraumes
in Analogie zu der des Sehraumes als Gradation des ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen
der Domäne des subjektiven Hörsinns und des gehörten physikalischen Gegenstands
bestimmen. Bei den uns nahen Gegenständen ist dieser ästhetisch-synthetische Nexus viel
vollkommener als bei den uns fernen Gegenständen. D. h. gemäß der Entfernung des gehörten
Gegenstands (von den Hörenden) entsteht eine gradierende Abgetrenntheit zwischen der
subjektiven Domäne des Hörsinns und der objektiven Sphäre der gehörten Gegenstände.
Unser Seh- und Hörraum bestehen in dieser Weise aus einer Komposition von Realitäten, die
durch einen vollkommenen ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen den Domänen dieser
subjektiven Sinne und den empfundenen Gegenständen zustande kommen, und Virtualitäten,
die sich aus der oben erörterten Trennung der ästhetisch-subjektiven Domänen von
empfundenen physikalischen Gegenständen ergeben. Wir haben bisher zwei vollkommen
leibliche Sinne, nämlich den Tast- und Geschmackssinn, und zwei vollkommen außerleibliche
Sinne, nämlich den Gesichts- und Gehörsinn, untersucht. Der übrig bleibende ist der
Geruchssinn, der zum großen Teil ein leibliches Sinnesvermögen ist (denn der Geruch eines
Gegenstands, durch die Luft übertragen wird, in der Nase lokalisiert empfunden). Aber seine
Domäne kann sich einigermaßen in der dem Leib sehr nahen Umgebung ausdehnen. Die
Domäne des ästhetischen Subjekts schließt in sich alle Domänen der verschiedenen Modi der
Sinnlichkeit.
Wie die Domäne des Gesichtssinns den Lichtraum als das Medium ihrer Ausdehnung hat, hat
die Domäne des Gehörsinns vorzüglich einen medialen Luftraum, in dem sie sich ausdehnt.
Vorher haben wir das physikalische Medium des Leibes, das die Domänen des Tast- oder
Geschmackssinns behaust, dem physikalischen Licht analogisiert, durch das sich die Domäne
des Gesichtssinns – also des subjektiven Sehraumes – außerleiblich in einem perspektivischen
Freiraum und zu den perspektivisch orientierten Gegenständen ausdehnt. Wir erweitern diese
Analogie nun zu der Domäne des Hörsinns, indem wir der unseren Hörraum füllenden Luft
ebenso wie dem Leib oder dem Licht eine mediale Funktion (im Hörvorgang) zuordnen. Die
Ausdehnung der ästhetisch-subjektiven Domänen in diesen physikalischen Medien –
dargestellt durch die unmittelbar erfahrene enge Verbundenheit zwischen dem Tastraum und
dem Leib, dem Sehraum und dem Lichtraum, sowie zwischen dem Hörraum und Luftraum –
ist, wie vorher erörtert wurde, immer im Modus einer ästhetischen Synthese, genauer, eines
49
ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen subjektiven und objektiven bzw. gegenständlichen
Domänen.
Die ontische Differenz zwischen den subjektiven und den objektiven Domänen ist zugleich
eine Grenze, die wissenschaftlich nicht überschritten werden kann. Dies besagt, daß die
ästhetisch-subjektiven Domänen, wie der unmittelbare Seh-, Tast- oder Hörraum, sich bloß
objektiv bzw. rein physikalisch nicht entschlüsseln lassen. Farb-, Ton- oder Kälteempfindung
gehören als Wirkungen der Gegenstände im Subjekt allerdings allein dem Subjekt. Obwohl
wir dem gesehenen (bzw. farbig empfundenen), gehörten oder angetasteten Gegenstand eine
epistemologische Ursächlichkeit (dieser Empfindungen) zuschreiben können, bleibt ein
Kausalnexus zwischen der gegenständlichen Ursache und der Wirkung im Subjekt
wissenschaftlich unvollkommen oder inadäquat. Denn hier verknüpft man kausal zwei
Domänen, genauer, zwei Modi der Wirklichkeit miteinander, die ontisch nicht einheitlich
oder homogen, sondern voneinander völlig verschieden sind. Ein Kausalnexus, der adäquat
ist, scheint nur dann möglich zu sein, erst wenn die Domäne der Wirkung und die der Ursache
einen ontisch homogenen Status haben. Daher wäre es eine nur scheinbar plausible, aber in
Wirklichkeit vergebliche Unternehmung, die rein subjektiven Empfindungen physikalisch zu
entschlüsseln bzw. sie auf bloß physikalische Ursachen zurückzuführen.55
55
Kognitive Wissenschaften basieren auf einem solchen Kausalnexus zwischen einer neurologischen Domäne
des Leibes, nämlich dem Gehirn, und den Domänen des Subjekts. Ihr Grundprinzip wäre: das Gehirn verursacht
die mentalen bzw. subjektiven Zustände und Operationen, nämlich die sinnlichen Empfindungen, das
begriffliche Denken sowie die leiblichen Handlungen. Hierbei werden die verschiedenen Gehirnprozesse für
Ursachen und die sich daraus ergebenden logischen und ästhetischen Domänen des Subjekts für ihre Wirkungen
gehalten. Als physikalische Vorgänge gehören die Gehirnprozesse letztendlich zu der Sphäre des
gegenständlichen Leibes, wogegen die verschiedenen Zustände und Operationen des Subjekts, die daraus zu
entstehen scheinen, einer von ihr wesentlich unterschiedlichen Sphäre der Wirklichkeit zuzuordnen sind. D. h.
die Domänen des Subjekts erweisen sich gegenüber den ursächlichen Gehirnprozessen als völlig verschiedene
und autonome Existenzmodi. Demnach läßt sich zwischen den neurologischen Prozessen im Gehirn und ihren
subjektiven Wirkungen eine unabdingbare Differenz im ontischen Status aufzuweisen (wie bereits erörtert
wurde). Die physikalischen Gehirnprozesse sind hier zwar gewisse Ursachen, die zur Entstehung der subjektiven
Domänen führen, aber ihre Ursächlichkeit ist aufgrund ihres vom Subjekt völlig verschiedenen ontischen Status
kaum für adäquat zu halten. Die Gehirnprozesse lassen die subjektiven Vorgänge wie das sprachliche Denken
oder die sinnlichen Empfindungen entstehen. Aber der Existenzmodus oder die Seinsweise des Denkens oder
einer Sehempfindung ist wesentlich anders als der Existenzmodus der physikalischen Prozesse im Gehirn. Daher
kann zwischen den Gehirnprozessen und den rein subjektiven Vorgängen kein hinreichender Kausalnexus
bestehen. In anderen Worten: Daß die physikalischen Gehirnprozesse die subjektiven Domänen verursachen,
bildet streng genommen keinen adäquaten Kausalnexus. Ein adäquater Kausalnexus wäre der Fall, wenn die
Ursache und die Wirkung derselben Domäne – oder demselben Existenzmodus – der Wirklichkeit angehören;
zum Beispiel: die mechanische Beschädigung eines Gehirnteils durch eine ebenso mechanische Begebenheit wie
ein Unfall, oder die Entwicklung physiologischer Anomalien im Gehirn durch ebenso physiologische Ursachen.
Der Ursprung der subjektiven Domänen kann dagegen kaum bloß auf physikalisch-neurologische Prozesse
zurückgeführt werden. Denn dieser Ursprung ist keine einfache Folge innerhalb derselben physikalischen
Domäne, sondern ein absolut neuer Ursprung eines von der physikalischen Phänomenalität wesentlich
verschiedenen Modus der Wirklichkeit. Die physiologischen Gehirnprozesse können streng genommen einen
derartigen Ursprung der subjektiven Domänen nicht verursachen, sondern nur veranlassen bzw. das Subjekt zu
dieser Begebenheit bringen.
50
Die Domänen der subjektiven Sinnlichkeit sind auf einzelnes Subjekt eingegrenzt; d. h. es
gibt streng genommen keine Intersubjektivität in unseren unmittelbaren Sinnesempfindungen.
Niemand kann es erfahren, wie ein anderer die Farbe, Stimme, Wärme, den Geschmack oder
den Geruch der Gegenstände empfindet. Anders ausgedrückt, hat man keinen Zugang zu den
ästhetisch-subjektiven Domänen eines anderen.56 Kurzum: Man kann nicht erfahren, wie die
anderen die Gegenstände sinnlich empfinden. Die Existenzmodi der Sinnesempfindungen
sind auf die einzelne Subjektivität beschränkt. Aber die einzelsubjektiven Domänen der
Sinnlichkeit haben eine primäre Eigenschaft gemeinsam, nämlich die räumliche Ausdehnung.
Die Ausgedehntheit würde eine sinnliche Domäne eines Einzelsubjekts dazu veranlassen, sich
mit gleichartiger sinnlicher Domäne eines anderen Subjekts zu kreuzen. Zum Beispiel: wenn
zwei Menschen einander Angesichts zu Angesicht begegnen bzw. wenn sie gegeneinander in
die Augen schauen, kommt sofort eine Kreuzung ihrer visuellen Domänen (oder Sehräume)
zustande. Hier hat jeder die unmittelbare Seherfahrung, daß er oder sie in die Domäne der
ästhetischen bzw. visuell wahrzunehmenden Subjektivität des anderen hineinschaut. Man
könnte sagen, daß die Augen eines Menschen in dieser Weise die Fenster seiner ästhetischen
Subjektivität bilden, die in ihrer (ontischen) Autonomie von einer logischen Subjektivität kein
sprachlich-begriffliches Verstehen oder Erkennen bedingt.57 Ebenso kreuzen oder überlagern
sich die subjektiven Domänen des Tastsinns gegenseitig, wenn zwei Menschen einander
(leiblich) antasten. Das Antasten eines Leibes ist daher von dem eines außerleiblichen
anorganischen Gegenstands zu unterscheiden. Berührung zwischen zwei Leiber bedeutet in
dieser Hinsicht keinen bloß physikalischen Kontakt, sondern – im weitesten Sinne – eine
gegenseitige Eindringung der haptischen Domänen der ästhetischen Subjekte, die sich in einer
vor-logischen Erfahrungsebene ereignet.
56
Es ist ebenso fraglich, ob man zu der logisch-subjektiven bzw. sprachlichen Domäne eines anderen Subjekts
hinreichenden Zugang findet. Denn der rein logischen Domäne des Subjekts – der Domäne des begrifflichen
Erkennens oder Verstehens – liegt notwendigerweise die vor-logische Domäne der subjektiven Sinnlichkeit
zugrunde (eine Tatsache, die sich der kantischen Lehre einer Transzendentalen Synthese entnehmen läßt). Z. B;
zwei Menschen können sich miteinander zwar bloß sprachlich-begrifflich darin einig werden, daß die Farbe
eines von beiden gesehenen Gegenstands rot ist, aber es kann nicht bewiesen werden, daß beide dieselbe
Sinneserfahrung haben bzw. die Farbigkeit des Gegenstands in demselben Modus empfinden. Hier kann das
Subjekt die Farbe nur allein erfahren; es hat keinen Zugang zu der Farbempfindung eines anderen Subjekts. Die
sprachliche Einigkeit zwischen beiden über die Farbempfindung ist daher vielmehr ein Glaube als eine
Erkenntnis. D. h. jeder muß hier glauben, daß die anderen dieselbe Sinnesempfindung haben. Das Wesen der
Sinnlichkeit läßt sich deshalb sprachlich nicht kommunizieren. Denn die Sprachlichkeit oder Begrifflichkeit
einer Sinnesempfindung ist nicht die Sinnesempfindung an sich, die allein einer vor-logischen rein ästhetischen
Domäne des Subjekts angehört. Zwischen der Begrifflichkeit oder Logizität und der unmittelbaren Ästhetizität
einer Sinnesempfindung ist demnach eine wesentliche und unüberwindbare Differenz aufzuweisen.
57
Anders ausgedrückt, handelt es sich hier nicht um das sprachlich-begriffliche Verstehen oder Erkennen,
sondern um ein unmittelbar sinnliches Erfahren eines anderen.
51
Die gegenseitige Kreuzung der sinnlichen Domänen verweist offensichtlich auf einen
ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen Einzelsubjekten. Zunächst haben wir die leibliche
und außerleibliche Ausdehnung der sinnlichen Domänen erörtert, durch die das vor-logische
rein ästhetische Subjekt mit der umgebenden Welt der Gegenstände einen synthetischen
Nexus bildet. In Hinsicht darauf erweist sich die intersubjektive Kreuzung der sinnlichen
Domänen als eine zweite Natur der Synthese innerhalb der Sphäre der ästhetischen
Subjektivität. Zwar kann der ästhetisch-synthetische Nexus weder die vorher erörterte
epistemologische Unzugänglichkeit der einzelsubjektiven sinnlichen Domänen überwinden
noch die uns anscheinend abgesagte rein gegenständliche Ursächlichkeit der Empfindungen
erkennen lassen, aber er vermag diese grundlegenden Existenzmodi in einer einheitlichen
bzw. über die Zweiteilung zwischen Subjekt und Objekt hinausgehenden Realität zu
integrieren. Die räumliche Ausgedehntheit und die materielle (leibliche und außerleibliche)
Medialität sind die Basen, worauf die subjektiven Domänen der Sinnlichkeit aufbauen; sie
realisieren letztendlich die beiden oben erörterten Naturen des ästhetisch-synthetischen
Nexus – zwischen dem Subjekt und dem Gegenstand sowie zwischen Einzelsubjekten. Die
Realität der rein ästhetischen Subjektivität ist demnach eine synthetische, die sich in den vorlogischen sinnlichen Domänen des Subjekts ereignet; in ihr scheinen drei grundlegende
Existenzmodi – oder Modi der Wirklichkeit – ineinander verwoben zu sein, nämlich das
Subjekt, der materielle Gegenstand und der Raum. Indem sich sowohl die sinnlichen
Domänen des Subjekts als auch die Domäne der empfundenen Gegenstände räumlich
ausdehnen, erlangt der Raum beim Aufbau unserer empirischen Realität eine elementare
Funktion der synthetischen Verknüpfung.
52
Anhang
Der Diskurs über die Differenzierung zwischen Leib und Seele, den die erste Korrespondenz
zwischen Prinzessin Elisabeth von Böhmen und René Descartes initiierte, schien von der
Seite des Philosophen kaum hinreichend unterstützt zu werden. Als Antwort auf die Frage der
Prinzessin, wie eine immaterielle und nicht ausgedehnte Seele auf den materiellen und
ausgedehnten Leib wirken und ihn folglich zu Willensakten – dargestellt durch die leiblichen
Bewegungen – veranlassen kann, versucht Descartes eine Analogie zwischen der Schwerkraft
und der Seele, die das rätselhafte Verhältnis zwischen Leib und Seele erklären soll:
„I think that we have hitherto confounded the notion of the soul’s power to act on the body with the power one
body has to act on another. We have attributed both powers not to the soul, whose nature we did not know, but to
the various qualities of bodies such as weight, heat etc. We imagined these qualities to be real, that is to say to
have an existence distinct from that of bodies, and so to be substances, although we called them qualities. In
order to conceive them we sometimes used notions we have for the purpose of knowing bodies, and sometimes
used notions we have for the purpose of knowing the soul, depending on whether we are attributing to them
something material or something immaterial. For instance, when we suppose that heaviness is a real quality of
which all we know is that it has the power to move the body that possesses it towards the centre of earth, we find
no difficulty in conceiving how it moves the body nor how it is united to it. We do not suppose that the
production of this motion takes place by a real contact between two surfaces, because we find by introspection
that we have a specific notion to conceive it by. I think that we misuse this notion when we apply it to heaviness,
which as I hope to show in my Physics, is not anything really distinct from body; but it was given us for the
purpose of conceiving the manner in which the soul moves the body.“58
Mit dieser Analogie zwischen der Union der immateriellen Schwerkraft mit dem Körper und
der Union der immateriellen Seele mit dem Leib war Prinzessin Elisabeth wenig zufrieden.
Denn sie erklärt nur einen mehr oder weniger analogen Modus der Verbundenheit zwischen
zwei völlig verschiedenen Existenzmodi und kaum die Autonomie der Seele in ihrer Wirkung
auf den Leib. Die cartesische Analogie zwischen Schwerkraft und Seele scheint auf einer
analogen Wirkungsart zu basieren, die auch die Frage der Prinzessin zum Gegenstand hat,
nämlich die immaterielle Ursächlichkeit und Initiierung einer materiellen bzw. leiblichkörperlichen Bewegung. Aber sie erklärt – über eine derartige analoge Wirkungsart hinaus –
nicht die anderen Qualitäten der Seele, wie das Denken, Empfinden oder die Willensfreiheit,
die im Gegensatz zu der Schwerkraft auf eine durchaus autonome Intelligenz der Seele
verweisen. Die Unangemessenheit der cartesischen Analogie zwischen Schwerkraft und Seele
(in Bezug auf ihre Verbundenheit mit dem ausgedehnten materiellen Körper) veranlaßte die
53
Prinzessin dazu, in ihrer Überzeugung von der Ausgedehntheit und Materialität der Seele
weiterhin zu verharren:
„(All of which) will excuse my stupidity, I hope, to not have been able to understand the idea by which we must
judge how the soul (not extended and immaterial) can move the body by an idea we have in another regard of
heaviness, nor why a power – which we have falsely attributed to things under the name of a quality – of
carrying a body toward the center of the earth must persuade us that a body could be pushed by something
immaterial, especially when the demonstration of a contrary truth (which you promised in your Physics)
confirms us in thinking it impossible. (...) I confess that it is easier for me to concede the matter and the
extension of the soul than to concede that a being that is immaterial has the capacity to move a body and moved
by it. For if the former is done by giving information, it is necessary that the spirits which make the movement
be intelligent, which you do not accord to anything corporal. And although, in your Meditations, you show the
possibility of the soul being moved by the body, it is nevertheless very difficult to comprehend how a soul, as
you have described it, after having had the faculty and habit of good reasoning, would lose all that by some sort
of vapors, or that being able to subsist without the body and having nothing in common with it, would allow
itself to be so ruled by the body.“59
In seiner Antwort stellt Descartes die von der Prinzessin erneut problematisierte
Differenzierung zwischen Leib und Seele in der Form einer Aporie dar. Daß der Leib und die
Seele zugleich voneinander abgetrennt und miteinander verbunden vorgestellt werden, ist ein
Widerspruch in sich:
„It does not seem to me that the human mind is capable of conceiving at the same time the distinction and the
union between body and soul, because for this it is necessary to conceive them as a single thing and at the same
time to conceive them as two things; and this is absurd. This is why I made use earlier of an analogy with
heaviness and other qualities which we commonly imagine to be united to certain bodies in the way that thought
is united to ours. I supposed that your Highness still had in mind the arguments proving the distinction between
the soul and the body, and I did not want to ask her to put them away in order to represent to herself the notion of
the union which everyone has in himself without philosophizing. Everyone feels that he is a single person with
both body and thought so related by nature that the thought can move the body and feel the things which happen
to it. I did not worry about the fact that the analogy with heaviness was lame because such qualities are not real
as people imagine them to be. This was because I thought that your Highness was already completely convinced
that the soul is a substance distinct from the body.“60
In einer der letzten Fragestellungen der Prinzessin Elisabeth (nach der Einheit von Leib und
Seele) wird das Erkennen der Seele, genauer, der Seeleneigenschaften selbst problematisiert.
Nach Descartes lehren unsere Sinne, wie die Seele den Leib bewegt und, umgekehrt, wie der
58
59
Descartes, Philosophical Letters, a. a. O., S. 139.
Nye, Andrea, a. a. O., S. 21-22.
54
Leib auf die Seele wirkt. Bei der Erkenntnis der Seele, des Leibes sowie der Union zwischen
ihnen sieht Descartes eine gewisse Einstufung des Erkenntnisvermögens – vom reinen
Verstand zur Sinnlichkeit:
„The soul can be conceived only by pure intellect; the body (i.e. extension, shape, and movement) can likewise
be known by pure intellect, but much better by intellect aided by imagination; and finally what belongs to the
union of the soul and the body can be known only obscurely by pure intellect or by intellect aided by
imagination, but it can be known very clearly by the senses. That is why people who never philosophize and use
only their senses have no doubt that the soul moves the body and the body acts on the soul. They regard both of
them as a single thing, that is to say, they conceive their union; because to conceive the union between two
things is to conceive them as a single thing.“61
Die Union von Leib und Seele ist bei Descartes, wie diese Bemerkung belegt, wiederum kein
richtiger Problemzustand, sondern eher eine Grundannahme, die sich epistemologisch ohne
große Schwierigkeiten erklären läßt. Gerade gegen einen solchen Reduktionismus polemisiert
die Prinzessin, in dem sie zwar die Wahrhaftigkeit dieser Vorstellung nicht bezweifelt, aber
weiterhin nach der Funktionalität der Union von Leib und Seele fragt:
„I see also that the senses show me that the soul moves the body, but that they do not show me really (any more
than the Understanding or the Imagination does) the way in which it does. For that, I think, there are properties
of the soul, unknown to us, which could, perhaps, overturn what your Meditations persuaded me of with such
good arguments: that is, the nonextension of soul.“62
Diese Argumentation deutet nicht nur auf die Beharrlichkeit der Prinzessin in ihrer
Überzeugung von der Ausgedehntheit und Materialität der Seele hin, sondern auch auf den
Potential einer derartigen Wahrheit, eine der Grundvorstellungen in der cartesischen
Epistemologie, nämlich die Immaterialität und Unausgedehntheit der Seele, zu verwerfen. Sie
verweist auch auf einen entscheidenden Aspekt des Diskurses über den cartesischen
Dualismus, nämlich daß wir uns über die wahren Eigenschaften der Seele nicht im Klaren
sind. D. h. wir sind des möglichen Existenz- und Funktionsmodus der Seele kaum bewußt – in
der Art und Weise, wie wir den Existenzmodus des Körpers bzw. seine räumliche
Ausdehnung und Materialität deutlich erkennt. Denn die Seele hat gegenüber dem Körper
einen wesentlich anderen ontischen Status. Descartes nahm keine weitere Stellung zu dieser
Polemik (die daher über einen kurzen Briefwechsel nicht hinausreichte). In seinem Brief an
die Prinzessin Elisabeth vom 28. Juni 1643, in dem er sich zum letzten Mal auf ihre
60
61
Descartes, Philosophical Letters, a. a. O., S. 142.
Ebd., S. 141.
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(wiederholte) Fragestellung bezog, schien Descartes der Problematik der leiblichen
Ausdehnung der Seele letztendlich eine metaphysische Natur zuzuschreiben; der Prinzessin
wurde demnach strategisch davon abgeraten, sich mit den rätselhaften metaphysischen
Prinzipien weiterhin zu beschäftigen.63
62
Nye, Andrea, a. a. O., S. 26.
Vgl. Descartes, Philosophical Letters, a. a. O., S. 143: „I think that it is very necessary to have understood,
once in a life time, the principles of metaphysics, since it is by them that we come to the knowledge of God and
of our soul. But I think also that it would be very harmful to occupy one’s intellect frequently in meditating upon
them, since this would impede it from devoting itself to the functions of the imagination and the senses.“
63
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Literatur
Descartes, René:
Meditationen, übersetzt und herausgegeben von Artur Buchenau, Felix
Meiner Verlag, Hamburg 1972.
Descartes, René:
Die Prinzipien der Philosophie, übersetzt und erläutert von Artur
Buchenau, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1965.
Descartes, René:
Key Philosophical Writings, übersetzt von Elizabeth S. Haldane und G.
R. T. Ross, Wordsworth Classics of World Literature,
Hertfordshire 1997.
Descartes, René:
Philosophical Letters, hrsg. von Anthony Kenny, Oxford 1970.
Gaukroger, Stephan: Descartes. An Intellectual Biography, Oxford 1995.
Kant, Immanuel:
Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt,
Hamburg 1990.
Morgan, Michael J.: Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception,
Cambridge 1977.
Nye, Andrea:
The Princess and the Philosopher. Letters of Elisabeth of the Palatine to
René Descartes, Rowman & Littlefield Publishers, Lanham 1999.
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