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Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen

2009, Eurolinguistik. Entwicklungen und Perspektiven. Akten der internationalen Tagung vom 30.9. – 2.10. 2007 in Leipzig. Hrsg. v. Uwe Hinrichs, Norbert Reiter, Siegfried Tornow. Unter Mitarbeit v. Uwe Büttner. Wiesbaden.

Irslinger, Britta: Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen S. 233-253 Eurolinguistik Entwicklungen und Perspektiven Akten der internationalen Tagung vom 30.9. – 2.10.2007 in Leipzig Herausgegeben von Uwe Hinrichs, Norbert Reiter und Siegfried Tornow unter Mitarbeit von Uwe Büttner 2009 Harrassowitz Verlag · Wiesbaden EUROLINGUISTISCHE ARBEITEN Herausgegeben von Uwe Hinrichs Band 5 Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen Britta Irslinger, Freiburg i. Br. Der zum Inselkeltischen gehörende Zweig der britannischen Sprachen umfasst Kymrisch, Bretonisch sowie Kornisch und ist über eine Zeittiefe von ca. 1500 Jahren belegt. Dass die britannischen Sprachen sich in dieser Zeit stark vom ursprünglichen indogermanischen Sprachtyp wegentwickelt haben, zeigt der Vergleich mit dem ebenfalls inselkeltischen Altirischen. Die Ursache ist zumindest teilweise darin zu suchen, dass Britannien als Teil des Römischen Reichs knapp 400 Jahre lang engen Sprachkontakt mit dem Lateinischen, insbesondere dem Vulgärlatein hatte.1 Dass Zwei- oder Mehrsprachigkeit auf den britischen Inseln und Irland im frühen Mittelalter weit verbreitet war, ist gut belegt. Diejenigen Britannier, die ab dem 5. Jh. in das Gebiet der heutigen West-Bretagne einwanderten, besiedelten Gebiete, die vormals zum Römischen Reich gehörten. Auch ihre unmittelbaren Nachbarn sprachen Vulgärlatein, bzw. dessen Fortsetzer, aus denen schließlich die französische Sprache hervorging. Während mit der Erforschung des lateinischen Einflusses im Wortschatz der britannischen Sprachen bereits Ende des 19 Jhs. begonnen wurde,2 beschäftigt man sich erst in neuerer Zeit mit seinen Auswirkungen auf andere Gebiete der Sprache, vgl. SCHRIJVER 2002 und MATASOVIĆ 2007. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Frage, ob auch ein Phänomen, das für die britannischen Sprachen charakteristisch ist, durch Sprachkontakt erklärt werden kann, nämlich die Ausbildung eines Kollektivs, das in Opposition zu einem mittels Suffix derivierten Singulativ steht. 1. Kollektiv und Singulativ Da der Terminus „Kollektiv“ in der Literatur auf unterschiedliche Weise verwendet wird, ist es angebracht, hier eine vorläufige, speziell auf die britannischen Sprachen zugeschnittene Beschreibung zu geben: Das Kollektiv bezeichnet eine Sammlung gleichartiger Elemente. 1 2 Die Meinungen darüber, ob bis zum Abzug der römischen Truppen im Jahr 410 n. Chr. brittonisiertes Latein oder latinisiertes Britannisch die Umgangssprache der einfachen Leute war, gehen allerdings auseinander, vgl. SCHRIJVER 2002, 87ff. mit Lit. Vgl. fürs Bretonische u.a. LOTH 1892, HAARMANN 1973, fürs Kymrische LEWIS 1943, HAARMANN 1970. 234 Britta Irslinger Teilt man das substantivische Lexikon anhand der auf kognitiven Erfahrungen beruhenden Kriterien der Unteilbarkeit und inneren Strukturierung ein, so erhält man die vier folgenden Klassen, nämlich Individuativa bzw. count nouns, Gruppen, Substanzen bzw. mass nouns und Aggregate. Die britannischen Kollektiva gehören überwiegend zur Klasse der Aggregate und in geringerem Maß auch zur Klasse der Substanzen. Letzteres liegt daran, dass eine Substanz auch als Aggregat betrachtet werden kann, Salz als Sammlung von Salzkörnern, Wasser als Sammlung von Tropfen, Kohle als Sammlung von Kohlestücken. Semantische Kategorien der Nominalphrase3 [+ konturiert, – innere Strukturiertheit] [+ konturiert, + innere Strukturiertheit] [– konturiert, – innere Strukturiertheit] [– konturiert, + innere Strukturiertheit] Individuativa Buch, Schwein Gruppen Komitee Substanzen Wasser, Salz Aggregate Bücher, Schweine britann. Kollektiv Das Singulativ (nomen unitatis) bezeichnet ein einzelnes Element aus dieser Ansammlung und wird mittels Suffix deriviert. Das Kymrische besitzt zwei Suffixe, das seltenere maskuline -yn und das frequentere feminine -en. Beide können in der auslautenden Silbe ihrer Ableitungsbasis Umlaut auslösen. Im Kornischen und Bretonischen erscheint ein einfacheres System. Es gibt nur feminines -enn, d.h. alle Singulativa sind feminin im Gegensatz zu den Kollektiva, die, zumindest im Bretonischen per definitionem maskulin sind.4 Kollektiv Singulativ kymrisch dail deilen f. kornisch del delen f. bretonisch de(i)l m. delienn f. ‘Laubwerk, Blätter’ ‘Blatt’ Kollektiv Singulativ llygod llygoden f. logos logoden f. logod m. logodenn f. ‘Mäuse(schar)’ ‘Maus’ Kollektiv Singulativ blew blewyn m. blew blewen f. blev m. blevenn f. ‘Haar(e), Pelz’ ‘einzelnes Haar’ Die große Ähnlichkeit der Bildungen aus den einzelnen Sprachen, die ohne die unterschiedlichen orthographischen Konventionen noch größer wäre, weist auf die Entstehung der Kollektiv-Singulativ-Opposition bereits im Britannischen hin. 3 4 Vgl. JACKENDOFF 1991, 20, CORBETT 2000, 80, MEISTERFELD 1998, 27. Vgl. PEDERSEN II, 67: Das ursprüngliche Genus wurde unkenntlich, weil die Kollektiva hinsichtlich der Kongruenz als Plurale behandelt werden. Eine Genusunterscheidung ist weder anhand von Mutationen noch anhand von kongruierenden Pronomina, Adjektiven oder Zahlwörtern möglich. Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen 235 2. Semantische Gruppen im Kymrischen und Bretonischen5 Es sind jedoch nicht alle der zu den Klassen der Substanzen und Aggregate gehörigen Begriffe als Kollektiva kodiert, vielmehr beschränken sie sich auf bestimmte semantisch-lexikalische Bereiche. Fürs Kymrische habe ich die Einteilung von STOLZ6 übernommen; fürs Bretonische schlage ich auf der Basis meiner Datensammlung eine etwas andere Einteilung vor. Die Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch trotzdem leicht ablesen. Kymrisch Gemüse / Getreide / Früchte llysiau ‘Kräuter, Gemüse’, danadl ‘Brennesseln’, cnau ‘Nüsse’, drysi ‘Brombeeren’, ydd ‘Getreide’, gwenith ‘Weizen’ ... Bäume coed ‘Bäume, Wald’, derw/dar ‘Eichen’, bedw ‘Birken’, helyg ‘Weiden’ ... kleine Tiere / Insekten chwain ‘Flöhe’, malwod ‘Schnecken’, mogrug ‘Ameisen’, cylion ‘Fliegen’, llygod ‘Mäuse’ ... mittelgroße Tiere pysg/pysgod ‘Fische’, ysgadan ‘Heringe’, hwyaid ‘Enten’, cwning ‘Kaninchen’, moch ‘Schweine’, plant ‘Kinder’ ... Körperteile ais ‘Rippen’, monoch ‘innere Organe’, blew ‘Haar’, gïau ‘Sehnen’ ... unzählbare Substanzen/mass cenllysg ‘Hagel’, tywod ‘Sand’, tywarch ‘Torf’, llwch nouns ‘Staub’ ... Wertlosigkeit Phänomene von kurzer Dauer 5 6 rhacs ‘Lumpen’, plor ‘Pickel’, hacs ‘Huren’ … luched ‘Blitze’, mellt ‘Blitze’, pelydr ‘Strahlen’ ... Kornisch ist bereits im 18. Jh. ausgestorben. Da Sprachmaterial, das mit dem Neukymrischen und Neubretonischen auf derselben zeitlichen Stufe steht, somit spärlich ist, wird auf die Einbeziehung des Kornischen im Folgenden weitgehend verzichtet (ebenso wie auf die Arbeit mit wiederbelebtem Kornisch). Aus der gut dokumentierten mittelalterlichen Periode ergibt sich jedoch ein den anderen beiden Sprachen entsprechendes Bild. S. STOLZ 2001, 65ff. 236 Britta Irslinger kleine Reste asclod ‘Holzschnitzel’, plu(f) ‘Feder, Flocke’, brychau ‘Flecken’ ... Werkzeuge usw. brics ‘Ziegel’, dellt ‘Latten’, dillad ‘Kleider’ ... Bretonisch Pflanzen Gattungsbezeichnungen Früchte und Samen Pflanzenteile Tiere Gattungsbezeichnungen (v.a. Insekten, Schalentiere, Fische) größere Tiere Körpersäfte und -bedeckungen Naturelemente Niederschläge, Wetterphänomene Artefakte (v.a. aus Naturmaterialien) zubereitete Nahrungsmittel diverse Neologismen keine Kollektiva plant ‘Pflanzen’, gwez ‘Bäume’, louzoù ‘Kraut/ Kräuter’, frouezh ‘Früchte’, ed ‘Getreide’ ... derv ‘Eichen’, bezv ‘Birken’, linad ‘Brennesseln’, geot ‘Gras’, gwinizh ‘Weizen’, roz ‘Rosen’ ... sivi ‘Erdbeeren’, bananez ‘Bananen’, kraoñ ‘Nüsse’, fer ‘Linsen’ ... kolo ‘Stroh’, bleuñv ‘Blüte’, rusk ‘Baumrinde’, spern ‘Dorn’, deil ‘Laub’, keuneud ‘Brennholz’ ... gwenan ‘Bienen’, c’hwen ‘Flöhe’, merien ‘Ameisen’, istr ‘Austern’, melc’hwed ‘Schnecken’, sili ‘Aale’, dluzh ‘Forellen’, logod ‘Mäuse’ ... ?moc’h ‘Schweine’, Singulativ pe-moc’h ‘KopfSchwein’, ... glaour ‘Speichel’, blev ‘Haar’, skant ‘Schuppen’, trousk ‘Schorf’ ... ster ‘Sterne’, koguss ‘Wolken’, eien ‘Quellen’, glaou ‘Kohle’, bili ‘Kiesel’, traezh ‘Sand’, skler ‘vereiste Fläche’ ... glizh ‘Tau’, grizilh ‘Hagel’, luc’hed ‘Blitz’, dared ‘Wetterleuchten’ ... alumetez ‘Streichhölzer’, lien ‘Leinen, Tuch’, neud ‘Faden’, brik ‘Ziegel’, gwer ‘Glas’ ... krampouezh ‘Crêpes’, silzig ‘Wurst’, katev ‘Kuchen’, bruzun ‘Krümel’, kreun ‘Brotkruste’ ... bombez ‘Bomben’, atom ‘Atome’, bakteri ‘Bakterien’... kymr. afal m./f. bret. aval m.‘Apfel’ kymr. wy m. bret. vi m. ‘Ei’ Die größte Gruppe besteht in beiden Sprachen aus Bezeichnungen für Referenten aus der Pflanzenwelt, vor allem aus Gattungsbezeichnungen für Bäume, Sträucher, Blumen, Kräuter, Algen. Das Kollektiv bezeichnet jeweils die Gattung, z.B. derv ‘Eichen’, das Singulativ einen einzelnen Vertreter derselben, z.B. dervenn ‘Eiche’. Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen 237 Auch bret. gwez ‘Bäume’ gehört hierher, das zahlreiche Komposita bildet, die als Bezeichnungen für Baumgattungen dienen. Weiterhin gehören hierher Bezeichnungen für Früchte und Samen sowie für Pflanzenteile und Produkte daraus, was, wie auch STOLZ feststellt, die semantische Einteilung schwierig macht. Ein Unterschied ergibt sich bei den Tieren: Das Kymrische verzeichnet neben kleinen Tieren auch mittelgroße wie Fisch, Vogel und sogar plant ‘Kinder’. Im Bretonischen beschränken sich die Kollektiva im wesentlichen auf Insekten, Schalentiere sowie zahlreiche Gattungsbezeichnungen für Fische, wobei der Oberbegriff pesk ‘Fische’ kein Kollektiv ist.7 Das einzige größere Tier ist moc’h ‘Schweine’, das jedoch nicht von allen Grammatikern als Kollektiv eingestuft wird, weil es das Singulativ nicht mit -enn sondern durch das Kompositum pemoc’h (penn ‘Kopf’ + moc’h ‘Schweine’) bildet.8 Die verbleibende Gruppe, die sich etwa mit Naturphänomenen und Naturelementen umreißen lässt, und die Untergruppen Naturmaterialien als Werkstoffe und Artefakte daraus enthält, ist weniger homogen als die beiden vorhergehenden. Zwischen beiden Sprachen gibt es weniger lexikalische Entsprechungen und die Zugehörigkeit einzelner Wörter ist weniger vorhersagbar. So ist bret. grizilh ‘Hagel’ ein Kollektiv, glav ‘Regen’ jedoch nicht. Auch die semantische Relation zwischen Kollektiv und Singulativ ist nicht in jedem Fall dieselbe. So bedeutet bret. traezhenn, das Singulativ zu traezh ‘Sand’, nicht etwa Sandkorn, sondern ‘sandbedeckte Fläche’, d.h. ‘Strand’. 3. Form Die Form eines Substantivs gibt keinen Aufschluss darüber, ob ein Kollektiv oder ein Singular vorliegt. Die Mehrzahl der neubretonischen Kollektiva, ca. 82 %, sind synchron nicht weiter analysierbar und sehen aus wie normale Singulare. Ca. 12 % enden auf -ez: Dies sind Lehnwörter, die überwiegend auf französischen Pluralen basieren. Inwieweit ein heutiger Muttersprachler diesen Ausgang als pluralisch empfindet, ist fraglich, da im Französischen das /z/ nur in bestimmten lautlichen Umgebungen ausgesprochen wird. Der Rest der Kollektiva verfügt über einen Ausgang, der mit einem bretonischen Pluralsuffix identifiziert werden kann. Bei den südbretonischen Dialekten, die zum Teil ältere Pluralendungen bewahrt haben, liegt die Zahl der als Plural analysierbaren Kollektiva etwas höher. Auch im Kymrischen kann man das -od von llygod ‘Mäuse’ als Pluralsuffix segmentieren, im Nord- und Westbretonischen jedoch nicht. Diachronische Untersuchungen zeigen, dass die tat7 8 Vgl. jedoch dial. süd-vannetais peskedenn, auf der Basis des Plurals wie kymr. pysgodyn : pysgod (TRÉPOS 1982, 238). Als Kollektiv nur in GIB, sonst als Plural. S. TRÉPOS 1982, 236f., 242 zu dialektalen Übertragungen des Systems auf andere in Herden lebende Nutztiere: Bei dañved ‘Schaf’, Pl. deñved wurde der Singular regional einerseits durch enn-Bildungen vom Singular (dañvadenn) und Plural (deñvedenn), andererseits durch die Komposita penndeñved, loen-deñved (loen ‘Tier’) ersetzt. 238 Britta Irslinger sächliche Zahl ursprünglicher Plurale höher liegt, als sich anhand der modernen Sprachen erkennen lässt, aber in vielen Fällen sind eindeutige Aussagen schwierig. bretonisch kymrisch ursprünglicher gwez ‘Wald, Bäume’ < *uidus Singular ed ‘Korn, Getreide’ ursprüngl. Pl. synchron analysierbar siv-i ‘Erdbeeren’ louz-où ‘Kräuter’ ster-ed ‘Sterne’ gwydd ‘Wald, Bäume’ moch ‘Schweine(herde)’ drys-i ‘Dornen’ llys-aw ‘Kräuter’ briws-ion ‘Krümel’ llyg-od ‘Mäuse’ synchron logod ‘Mäuse’ < kelt. *lukot-es unanalysierbar beide Formen, ster9 / ster-ed ‘Sterne’ teilw. dial. verschieden pysg / pysg-od ‘Fische’ Lehnwörter aus dem Singular frouezh ‘Obst’ < lat. frūctus abriko ‘Abrikosen’ < frz. abricot karot ‘Karotten’ < frz. carotte wniwn ‘Zwiebeln’ < engl. onion aus dem Plural bananez ‘Bananen’ < frz. bananes karotez ‘Karotten’ < frz. carottes brics ‘Ziegel’ < engl. bricks gwsberys < engl. gooseberries 4. Kongruenz Das Kollektiv erkennt man nach Auskunft der Handbücher daran, dass es hinsichtlich der Kongruenz als Plural behandelt wird, vgl. zum Bretonischen:10 (a) N’eo NEG sein. UNPERS.PRÄS. ket mat ar bili-se, re vihan int. NEG gut zu klein ART Kieselsteine.KOLL-DEM sein.3PL.PRÄS. ‘Diese Kieselsteine sind nicht gut, sie sind zu klein.’ 9 Wohl aus kelt. *sterā, dessen Herleitung aus einem uridg. Kollektiv umstritten ist, vgl. IRSLINGER in WODTKO/IRSLINGER/SCHNEIDER (im Druck) s.v. *h2str- ‘Stern’. 10 Vgl. TRÉPOS 1996, 85, FAVEREAU 1997, 50; bret. Beispiele aus FAVEREAU. Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen 239 In Beispiel a) erscheint zunächst das Verb eo, in der unpersönlichen Konjugation bzw. der Basisform des Verbs, die formal identisch ist mit der 3. Singular der persönlichen Konjugation, und damit unmarkiert hinsichtlich des Numerus. Diese Form muss hier stehen, weil das Subjekt in Form der Nominalphrase ar bili-se im Satz steht. Pluralische Kongruenz erscheint jedoch im zweiten Teilsatz, der das Subjekt nicht als Nominalphrase kodiert. Entsprechendes gilt fürs Kymrische,11 wo sich der unterschiedliche Numerus an den Pronomina im Antwortsatz zeigt: (b) Lle mae ’r adar? Mae nhw ar y wal. wo sein.3SG.PRÄS. ART. Vögel.KOLL. sein.3SG.PRÄS. 3PL.sie auf ART. Mauer. ‘Wo sind die Vögel? - Sie sind auf der Mauer.’ Lle mae ’r wo sein.3SG.PRÄS. ART. Vogel.SINGULAT. aderyn? Mae o sein.3SG.PRÄS. 3SG.MASK.er auf ART. Mauer. ar y Sic in Jones/Thomas 1977, 158. Das Beispiel sollte jedoch richtig lauten: Maent nhw ar y wal. wal. ‘Wo ist der Vogel? - Er ist auf der Mauer.’ Dasselbe findet sich in Beispiel c): (c) An arc’hant-se ART Geld.KOLL-DEM Text n’ int NEG sein.3SG.PRÄS. ket deoc’h. NEG zu euch.2PL (Ost-Cornouaille) ‘Dieses Geld gehört nicht euch.’ Das Subjekt erscheint zwar in Form der Nominalphrase an arc’hant-se, steht aber vor der Negationspartikel ne und wird damit nicht als Bestandteil des Satzes betrachtet. Arc’hant ‘Geld’ listet keines der Handbücher als Kollektiv; es gibt auch kein zugehöriges Singulativ arc’hantenn. Lediglich die syntaktische Kombination mit pluralischem Verb legt die Interpretation als Kollektiv hier nahe. Möglicherweise handelt es sich um eine regional begrenzte Erscheinung. Satz d) wird von FAVEREAU als Beleg für die Tatsache angeführt, dass bei Kollektiva, die Pflanzen bezeichnen, auch Kongruenz im Singular erfolgen kann: (d) Gwelet em eus ho kwinizh, kaer eo. Gesehen.PPP habe. 1SG.PRÄS. POSS.2PL.Weizen.KOLL schön sein.3SG.PRÄS ‘Ich habe euren Weizen gesehen, er ist schön.’ 11 Vgl. JONES/THOMAS 1977, 158. Auch wenn viele Grammatiken keine Aussage machen oder Beispielsätze geben, so impliziert die von manchen gewählte Darstellung des Kollektivs als unregelmäßige Pluralbildung (s.u. Anm. 18) die pluralische Kongruenz von attributiven Adjektiven, Verben und anaphorischen Pronomina. 240 Britta Irslinger Beispiel e), das Favereau als Beleg dafür anführt, dass solche Sätze alternativ mit pluralischem Verb konstruiert werden können, ist bei näherem Hinsehen jedoch widersprüchlich: Zwar steht am Ende die 3. Pers. Plural int, wenn man ed jedoch als ‘Getreidepflanzen’ auffasst, wäre zu fragen, ob man nicht besser auch o fennoù ‘ihre Köpfe’ anstatt o fenn ‘ihren Kopf’ gesagt hätte, oder aber, bei Interpretation von ed als Singular e benn ‘seinen Kopf’. (e) An ed ART a bleg Getreide.KOLL PTK neigt.UNPERS.PRÄS o fenn, azw int. POSS.3PL Kopf.SG reif (Poher) sein.3PL.PRÄS ‘Das Getreide (die Getreidepflanzen) neigt seinen Kopf. Sie sind reif.’ Anders beurteilt TRÉPOS (1996, 85) das Material: Nach ihm werden Kollektiva, die eigentlich Massenomina oder Gattungsbezeichnungen sind, grundsätzlich als Singular behandelt.12 Er gibt dazu die folgende Liste mit Beispielen; welche und vor allem wie viele weitere Elemente sie enthält, bleibt offen. Es handelt sich jedoch, abgesehen von den Pflanzenbezeichnungen, um Wörter, deren Kollektiv-Status nicht allgemein akzeptiert ist wie dir, dour,13 douar, erc’h, glav und teil und solche, bei denen die enn-Bildung nicht die erwartete Singulativ-Bedeutung hat. dir dour douar leton erc’h kolo ‘Stahl’ ‘Wasser’ ‘Erde’ ‘Rasen’ ‘Schnee’ ‘Stroh’ : : : : : : glav geot derv ed gwinizh plouz teil ‘Regen’ : ‘Gras’ : ‘Eichen’ : ‘Getreide’ : ‘Weizen’ : ‘Stroh’ : ‘Mist’ : direnn dourenn douarenn letonenn erc’henn koloenn ‘Stahlstück, Feuerzeug, Klinge’ ‘Flüssigkeit’ ‘Erdfläche’ ‘Rasenfläche’ ‘schneebedeckte Fläche’ ‘Strohhalm, Bienenkorb’ glavenn geotenn dervenn edenn gwinizhenn plouzenn - 14 ‘Regenschauer’ ‘Grashalm’ ‘Eichbaum’ ‘Getreidekorn’ ‘Weizenkorn’ ‘Strohhalm’ u.a. 12 Zugehörige Pluralbildungen sind häufig Sortenplurale, vgl. geot Koll. ‘Gras’ : geotoù Pl. ‘Grasarten’, istr Koll. ‘Austern’ : istri Pl. ‘Austernsorten’. Davon abweichend jedoch meskl Koll. ‘Miesmuscheln’ : meskled Pl. ‘Trauben von Miesmuscheln’, vgl. FAVEREAU 1997, 47. 13 Die Unsicherheit in der Einordnung zeigt sich bei KERVELLA 1976, 215, der dour ‘Wasser’ zunächst unter den Massenomina (anvioù hollek) aufführt, im nächsten Abschnitt jedoch den Pl. dourioù ‘Arten von Wasser’ als Beispiel für den Plural eines Kollektivs (liester an anvstroll) bringt. 14 Zu teil ‘Mist’ konnte ich keine enn-Ableitung finden. Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen 241 Es ist schwierig zu beurteilen, welchen Stellenwert die singularische Kongruenz hat. Im Bretonischen gehören ca. 10 % der Kollektiva auch der Singular/Plural-Gruppe an, vgl. z.B. dluzh Koll. ‘Forellen’ : dluzhenn ‘eine Forelle’ vs. dluzh m. ‘Forelle’ : dluzhed Pl. ‘Forellen’. Auch im Kymrischen ist das Phänomen häufig. Die Wörterbücher führen ein Wort dann sowohl als Singular mit Angabe des Genus und wie auch als Kollektiv.15 Die zahlreichen Doppelvertretungen machen eine Definition des Kollektivs etwa als „Substantiv mit pluralischer Kongruenz, das eine Ansammlung gleichartiger Elemente bezeichnet und über eine enn-Ableitung zur Bezeichnung des nomen unitatis verfügt“, problematisch. Dies spiegelt sich in der unterschiedlichen Behandlung des Phänomens in der Grammatikschreibung. Während das bretonische Kollektiv von Grammatikern bereits im 18 Jh. identifiziert wurde16 und in bretonischen Grammatiken des 20. Jhs. stets als grammatische Kategorie beschrieben wird,17 taucht der Begriff in vielen kymrischen Grammatiken gar nicht auf; das Material wird im Rahmen der Pluralbildung behandelt. Die yn- und enFormen erscheinen als „Singulare“, die ihren „Plural“ durch Wegfall des Suffixes bilden.18 5. Weitere enn-Bildungen im Bretonischen Die Unsicherheit bei der Identifizierung von Kollektiva resultiert im Bretonischen auch daraus, dass es neben den eigentlichen Singulativa mehrere hundert enn15 Diese Fälle sind nicht zu verwechseln mit der oben besprochenen Pluralisierbarkeit der Kollektiva. M.E. ist die Erklärung dafür in der Sprachentwicklung zu suchen. Die Kollektiva mit ihrem semantischen Kern attrahieren nach und nach weitere Substantive, (s. auch oben, Anm. 8), wobei die Beurteilung der Zugehörigkeit im Einzelfall schwanken kann. Ein von BIERMANN 1982, 234 postulierter Status als Transnumeral lässt sich damit nicht begründen, vgl. auch KUHN 1982, 66. 16 Vgl. LAMBERT 1976/78, 234. 17 Vgl. z.B. GUILLEVIC/LE GOFF 1902, 23., LE CLERC 1908, 43, HEMON 1975, KERVELLA 1976, 215f., 39ff., TRÉPOS 1996, 85f., FAVEREAU 1997, 50ff. Entsprechend fürs Neukornische BROWN 1993, 27. Bei der Lektüre von Wörterbüchern legt die Klassifizierung der Substantive als maskulin, feminin und kollektiv fast schon die Interpretation als drittes Genus nahe. 18 So z.B. STEPHENS 1980, 13f., THORNE 1993, 106f., WMFFRE 1998, 20; weiteres bei CUZZOLIN 1998, 123f. Dies entbindet die Autoren von der Erklärungspflicht, weil auch die Verwendung eines der zahlreichen Pluralsuffixe im Kymrischen nur eingeschränkt vorhersagbar ist und weil es eine Reihe von Bildungen gibt, bei dem das Singulativsuffix im Austausch mit einem Pluralsuffix steht, wie cwningen : cwningod ‘Kaninchen’. Unkommentiert bleiben freilich die Umkehrung der Derivationsrichtung, die innerhalb der Sprache keine Parallelen hat, sowie die abweichende semantische Funktion. Das Kollektiv erscheint jedoch z.B. bei KING 1993, 48, 67ff. und EVANS 1964, 31. Dazwischen steht MORRIS JONES 1913, 213f., 229, der zwar nicht die Termini Kollektiv und Singulativ verwendet, die yn-/en-Bildungen aber immerhin als deriviert beschreibt. Ähnlich JONES/ THOMAS 1977, 158f., die die Substantive in “ordinary” und “group nouns” (d.i. Kollektiva) einteilen, wobei bei letzteren die Pluralform die Basis darstelle. Zum Mittelkornischen s. LEWIS 1990, 13 mit Anm. 31. 242 Britta Irslinger Bildungen gibt. Manche können formal zu einem Kollektiv gestellt werden, zeigen aber eine abweichende, teilweise lexikalisierte Semantik (dies trifft auf einen Teil der obigen Beispiele von TRÉPOS zu). Andere – und das ist die Mehrzahl – haben kein Kollektiv neben sich, werden aber doch von der Opposition Singulativ : Kollektiv beeinflusst. Auf Bildungen, die etymologisch ursprünglich nicht hierher gehören, sondern nur durch die Folge von Sprachwandelprozessen auf -enn auslauten und Singulativa, deren Kollektiv verloren gegangen ist, werde ich nicht weiter eingehen. a) Mit -enn können Bezeichnungen für Personen weiblichen Geschlechts und für weibliche Tiere abgeleitet werden. Im Gegensatz zu den Singulativa bilden sie ihren Pl. nicht mit -où, sondern mit -ed. Die Ableitungsbasen sind häufig Adjektive, aber auch Substantive, insbesondere Familien- und Ortsnamen. Im letzteren Fall bezeichnet die enn-Bildung die Trägerin einer Tracht aus der entsprechenden Region. Zahlreiche Bildungen können auch zur Bezeichnung von männlichen Referenten verwendet werden, behalten aber ihr feminines Genus.19 koantenn sodenn loudourenn tostenn heskenn kiezenn kailharenn Kernevodenn ‘Schöne’ ‘törichtes Mädchen’ ‘Schlampe’ ‘geizige Frau’ ‘milchlose Kuh’ ‘Hündin’ ‘Schlampe’ ‘Trägerin der Tracht der Cornouaille’ : : : : : : : : koant sot loudour tost hesk kiez kailhar Kernev ‘schön’ ‘töricht’ ‘dreckig’ ‘nahe, eng, gierig’ ‘trocken’ ‘Hündin’ ‘Schlamm’ ‘Cornouaille’ b) Weiterhin dient -enn zur Bildung von – meist konkretisierten – Eigenschaftsabstrakta. Da die meisten Adjektive als Maskulina substantiviert werden, bleibt offen, ob die Ableitungen im Einzelfall desubstantivisch erfolgten und damit zu c) zu stellen wären. glazenn gwagenn kaledenn krommenn plaenenn ruzenn uhelenn ‘Rasenfläche’ ‘Schlammloch’ ‘Schwiele’ ‘Kurve’ ‘Ebene’ ‘Morgen-/Abendröte, rote Kuh’ ‘Anhöhe, Hügel’ 19 Vgl. FAVEREAU 1997, 68. glaz m. ‘Grün(en)’ kaled m. ‘Härte’ kromm m. ‘Krümmung’ plaen m. ‘Ebene’ ruz m. ‘Röte’ uhel m. glas gwag kalet kromm plaen ruz ‘grün’ ‘feucht’ ‘hart’ ‘krumm’ ‘flach’ ‘rot’ ‘Anhöhe, Hügel’ uhel ‘hoch’ Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen 243 c) enn-Bildungen werden auch von Singularen abgeleitet. Der Bedeutungsunterschied zwischen Basis und Derivat manifestiert sich oft in feinen und feinsten Nuancen und ist in vielen Fällen auch ganz verblasst. Nach TRÉPOS (1982, 268) wird die unsuffigierte Form in allgemeinen Kontexten oder zur Klassifizierung verwendet, während die enn-Bildung einen konkreten Referenten bezeichnet, vgl.: « Le sentiment du bretonnant, lorsqu’il s’oblige à analyser la différence entre le singulier et le singulatif correspondant, est que le suffixe -enn rend l’objet plus proche, plus tangible. » Und weiter: lod ‘Anteil’ würde eher verwendet vor der Teilung also peb hini ’no e lod ‘jeder wird seinen Anteil bekommen’ gegenüber lodenn, das den konkreten Anteil nach der Teilung bezeichnet: brasoc’h eo e lodenn ‘sein Anteil ist größer’. Diese Interpretation kann jedoch nicht für alle Wortpaare Gültigkeit beanspruchen; auch bestehen regionale Unterschiede. Beispiele für diese Gruppe sind: to karreg prezeg gortoz gouzoug hili ‘Bedachung’ ‘Fels’ ‘Satz, Rede’ ‘Warten, Erwartung (des Essens)’ ‘Nacken’ ‘Salzlake, Soße, Marinade’ : : : : : : toenn karregenn prezegenn gortozenn gouzougenn hilienn gwiad ‘Stoff, Gewebe, Stück Stoff’ : gwiadenn ‘Dach’ ‘Fels’ ‘Vortrag’ ‘belegtes Brot’ ‘Kragen’ ‘Salzlake, Soße, Marinade’ ‘Stoff, Gewebe, Stück Stoff’ d) Seit dem 15. Jh. ist -enn in der Funktion eines Suffixes zur Eingliederung von Fremdwörtern in das bretonische Lexikon belegt.20 Dabei handelt es sich um Entlehnungen aus dem Lateinischen und vor allem aus dem Französischen, überwiegend um Feminina. Durch die Suffigierung wird deren Genus auch im Bretonischen beibehalten.21 Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb das Neubretonische gegenüber dem Kymrischen gut 10 % mehr Feminina besitzt. 20 Gelegentlich finden sich Entsprechungen im Korn. und Kymr., was auf bereits britannisches Alter des Wortbildungsmusters weist, vgl. bret. kordenn, mbret. cordenn, akorn. corden, mkymr. cordyn, corden ‘Seil’ < lat. c(h)orda, abret. literenn, akorn. litheren, mkymr. llythyren ‘Buchstabe’ < lat. littera. 21 Häufig gibt es neben der enn-Bildung eine weitere Entlehnung, die teilweise früher belegt ist, z.B. planet ‘Planet’ (15. Jh.) : planedenn ‘Planet, Schicksal, Horoskop’ (ab 18. Jh.), reol : reolenn, beide ‘Regel, Reglement, Lineal’ (beide ab 15. Jh.). In diesen Fällen scheint die Derivation innerhalb des Bretonischen wahrscheinlich. Es wäre zu untersuchen, ob es sich hier 244 Britta Irslinger saladenn ‘Salat’ (ab 17. Jh.) frazenn ‘Satz’ (ab 18. Jh.) gavotenn ‘Gavotte’ (ab 18. Jh.) < frz. salade < frz. phrase < frz. gavotte Auch im Kymrischen gibt es weitere yn- und en-Bildungen in diesen Gruppen. Bei den Personen- und Tierbezeichnungen wird der Genusunterschied der Suffixe zum Ausdruck von männlichem und weiblichem Sexus verwendet. Im Gegensatz zum Bretonischen verfügt das Kymrische jedoch auch über ein Deminutivsuffix -yn/-en,22 so dass sich in GPC bei Wörtern der Gruppen b) und c) häufig die Einordnung als Deminutiv findet, auch wenn die englische Glossierung und die Belege eine solche Interpretation nicht immer stützen. Eine detailliertere Untersuchung wäre wünschenswert. Welche Schlüsse lassen sich aus dem bisher Gesagten ziehen? Die Grundlage der britannischen Kollektiv-Singulativ-Opposition besteht darin, dass in einem Teilbereich des substantivischen Lexikons, nämlich bei der aufgrund kognitiver Kriterien etablierbaren Klasse der Aggregate neue Prinzipien der sprachlichen Kodierung zur Anwendung kamen. Kognitiv-semantische Charakteristika entscheiden über die Einordnung als Kollektiv, während formale Aspekte wie Stammbildung oder vorhandene Pluralmarker zweitrangig sind. Das gegenüber dem Singulativ unmarkierte Kollektiv erscheint vor dem Hintergrund des Singular-Plural-Systems des übrigen substantivischen Lexikons, in dem der Singular die primäre Form ist, zwar kontraikonisch, bringt jedoch für den Teilbereich der Aggregate sprachliche Form und semantisches Konzept in Übereinstimmung. Dem natürlichen und damit unmarkierten Auftreten von Aggregaten als Vielheit entspricht ihre Kodierung in Form des nicht explizit markierten Kollektivs. Im Bretonischen machen Kollektiva je nach Zählung zwischen 4 und 6 Prozent des substantivischen Lexikons aus. Trotzdem scheinen sie auch auf andere Bereiche des Wortschatzes auszustrahlen — dies gilt insbesondere für die gerade besprochenen nicht-singulativischen enn-Bildungen. Zum Konzept des Singulativs passt, dass man mit -enn von Adjektiven, die bezüglich ihres Nominalaspekts den Kontinuativa näher stehen als den Individuativa, Bezeichnungen für Individuativa, in diesem Fall für Lebewesen, ableiten kann. In dieselbe Richtung weist auch die „konkretere“ Bedeutung der von einem Singular abgeleiteten enn-Bildungen unter c). Umgekehrt ergibt sich daraus, dass Bildungen, die kein -enn enthalten, zur Bezeichnung von Individuativa offensichtlich als weniger geeignet erscheinen. Ist dies deshalb der Fall, weil die pluralische Lesart der Kollektiva unterschwellig mitschwingt? Ist aus der konsequenten Eingliederung von femininen Lehnwörtern mit um nachträgliche Suffigierung gemäß den Erfordernissen eines stets produktiver werdenden Eingliederungsmusters für Lehnwörter handelt, oder ob solche Paare zumindest teilweise der unter c) beschriebenen Gruppe zuzurechnen sind. 22 Das Genus der Ableitung richtet sich nach dem Genus der Basis. Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen 245 -enn zu schließen, dass diese als pluralisch oder zumindest nicht als explizit singularisch empfunden werden? Bei der Frage, wodurch diese Veränderungen in der Strukturierung des substantivischen Lexikons hervorgerufen wurden, und ob es dafür Parallelen gibt, stößt man schnell auf diejenige Sprache, die das Erscheinungsbild der britannischen Sprachen am stärksten geprägt hat, auf das Vulgärlatein. 6. Phänomene im Vulgärlatein und im Romanischen a) „Kollektiver Singular“ Ein vieldiskutiertes Phänomen im Lateinischen ist der sogenannte „kollektive Singular“.23 Eine Nominalphrase mit pluralischer Bedeutung wird als Singular kodiert und kongruiert mit einem Verb im Singular. Dass sie als Plural zu interpretieren ist, ergibt sich aus dem Textzusammenhang, oder daraus, dass sie mit pluralisch markierten Nominalphrasen im Wechsel steht. Fabam in locīs validīs nōn calamitōsīs seritō. Bohne.AKK.SG an Ort.ABL.PL gesund.ABL.PL NEG ungünstig.ABL.PL. säen.2/3SG.IMP.FUT (Cato, De agricultura 35) ‘Bohnen sollst du/soll man an gesunden, nicht ungünstigen Orten säen.’ Belege für den kollektiven Singular gibt es bereits bei Cato. Man geht daher davon aus, dass es sich um ein altes Phänomen handelt, das vor allem in der Alltagssprache bei Bauern, Soldaten und Handwerkern Verwendung fand. Daneben findet er sich als Stilmittel in der Dichtung und wird im Spätlatein auch in schriftlichen Quellen häufiger. Zahlreiche Fortsetzer oder Reste finden sich in den modernen romanischen Sprachen.24 Der kollektive Singular beschränkt sich auf vier semantische Gruppen, zunächst Völkernamen und Personenbezeichnungen aus dem militärischen Bereich wie mīles usw. In manchen Textbelegen wird der kollektive Singular nur verwendet, wenn auf die feste Fügung des Truppenverbandes oder der Gruppe hingewiesen wird, während eine Mehrzahl von einzelnen Soldaten oder Tieren als Plural kodiert wird. Weiterhin erscheint der kollektive Singular bei denselben semantischen Gruppen, die auch bei den britannischen Kollektiva vorherrschend sind, nämlich bei Bezeichnungen für Tiere, Pflanzen und Früchte sowie Gegenständen, die in größerer Zahl verwendet 23 Vgl. LÖFSTEDT 1928, 12ff., LEUMANN/HOFFMANN/SZANTYR 1972, 13f., MEISTERFELD 1998, 121ff. 24 S. dazu ausführlich MEISTERFELD 1998. Die Aufstellung nach Sachgruppen von HAARMANN 1973, 48 zeigt, dass im Bretonischen der Anteil lateinischer Entlehnungen bei den Pflanzen- und Tierbezeichnungen besonders hoch ist und nur von den Gruppen der Werkzeuge und Eigennamen übertroffen wird. 246 Britta Irslinger werden, z.B. Baumaterialen wie lapis ‘Stein’, tēgula ‘Ziegel’, oder bei Bezeichnungen für mit einem Material bedeckte Flächen wie caespes ‘Rasenfläche’. Nahrungsmittel, Obst und Gemüse, ebenso wie Fisch und Fleisch, erscheinen vor allem dann im Singular, wenn sie nach Gewicht verkauft werden, während für Zählware der Plural verwendet wird. Semantische Gruppen: - Völkernamen, Personenbezeichnungen aus dem militärischen Bereich: Rōmānus ‘der Römer’, mīles ‘Soldat’, eques ‘Reiter’, pedes ‘Fußsoldat’, hostis ‘Feind’ - Tiernamen: porcus ‘Schwein’, āgnus ‘Schaf’, gallīna ‘Henne’ - Pflanzennamen, Früchte, Gewächse, Baumnamen: faba ‘Bohne’, rosa ‘Rose’, viola ‘Veilchen’ - Gegenstände und Materialen, wenn diese in größerer Zahl verwendet werden: lapis ‘Stein’, tēgula ‘Ziegel’, fāgus ‘Buchenholz’, abiēs ‘Tannenholz’ - bedeckte Flächen: caespes ‘Rasenfläche’ b) Verlust des Neutrums Eine Entwicklung, die in den britannischen ebenso wie in den romanischen Sprachen stattgefunden hat, ist der Verlust des aus dem Indogermanischen ererbten Neutrums. Während die britannischen Sprachen von Beginn ihrer Überlieferung an keine neutralen Substantive mehr aufweisen, lässt sich der Übergang vom lateinischen DreiGenus-System zu den romanischen Zwei-Genus Systemen aufgrund der besseren Beleglage gut nachvollziehen. Es bestand weitgehende Homonymität der Kasusformen zwischen Neutrum und Maskulinum im Singular einerseits und zwischen Neutrum Plural und Femininum Singular andererseits – hier ist insbesondere das -a des Nominativs relevant. Nominativ Akkusativ Genitiv Dativ Ablativ Neutrum Singular fol-i-um fol-i-um fol-i-ī fol-i-ō fol-i-ō Maskulinum Singular -us -um -ī -ō -ō Neutrum Plural fol-i-a fol-i-a fol-i-ōrum fol-i-īs fol-i-īs Femininum Singular -a -am -ae -ae -ā Das lateinische Wort folium ‘Blatt’ z.B. entwickelte sich daher im Altfranzösischen zu einem zunächst neutralen Paradigma, dessen Plural fueille als Distributiv ‘Blätter’ oder als Kollektiv ‘Laub’ interpretiert werden konnte. Bei distributiver Interpretation wurde zur Verdeutlichung der Pluralmarker -s der Maskulina und Feminina angefügt, was die Rückbildung eines Singulars feuille zur Folge hatte. Dieser ist struktu- Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen 247 rell identisch mit den Feminina, so dass das Wort im Neufranzösischen feminin ist, während der Fortsetzer des Singulars Neutrum zum Maskulinum foil, fueil25 wurde, dann aber ausstarb.26 Entsprechend wird auch mit den anderen Neutra verfahren, wobei die Ergebnisse je nach Wort und Sprache unterschiedlich sind. Teilweise setzt sich das Maskulinum durch, teilweise werden Maskulinum und Femininum mit unterschiedlichen Bedeutungen lexikalisiert, vgl. z.B. ital. foglia ‘(Laub-)Blatt’ vs. foglio ‘Blatt Papier’; in einigen Fällen wurden die verschiedenen Formen zum Ausdruck des Bedeutungsunterschieds zwischen Distributiv und Kollektiv beibehalten, vgl. ital. il frutto ‘Frucht’ mit dem Distributivplural i frutti im weiteren und übertragenen Sinn nb. dem kollektiven Plural le frutta27 in der Bedeutung ‘Obst’.28 Fürs Französische gilt, dass vor allem bei Pflanzen und Früchten dieselbe Entwicklung wie bei feuille ‘Blatt’ stattfand, und dass die zu femininen Singularen umgebildeten Neutra zunächst den Gesamtertrag bezeichneten. Daher sind nfrz. pomme ‘Apfel’, poire ‘Birne’, cerise ‘Kirsche’ feminin gegenüber lat. pōmum, pirum, ceras(i)um (nb. ceresia). Weitere Beispiele sind voile ‘Segelwerk, Segel’ brace ‘Klafter’, corne ‘Geweih’, graine ‘Korn’, pré ‘Wiese’,29 cervelle ‘Gehirn’ usw. Sie gehören überwiegend zur Klasse der Aggregate. Es wird nun besser verständlich, warum das Bretonische die Tendenz zeigt, feminine französische Lehnwörter mit einem singulativen -enn zu versehen: Ausgangspunkt hierfür sind die eben genannten Wörter aus der Klasse der Aggregate; von hier aus wurde das Wortbildungsmuster auf Wörter anderer Klassen ausgedehnt. Fürs Britannische ist anzunehmen, dass die Neutra in entsprechender Weise abgebaut wurden und dass ein Teil der Kollektiva auf diesem Weg entstanden ist.30 Im Gegensatz zum Romanischen lässt sich der Prozess jedoch häufig nicht nachvollziehen, da das Genus vieler nur im Keltischen oder Britannischen belegter Wörter unbekannt ist. 25 Belegt in Amors, car retorne ton foil (Eneas, 12. Jh.), vgl. GRANDSAIGNES D’HAUTERIVE 1966 s.v. Weiterhin nfrz. dial. mit spezialisierter Bedeutung fiôl ‘feuille de blé’ und fuèl ‘fagot feuillu, branchages feuillus qu’on donne aux bêtes’, s. auch prov. fuei ‘Laub (als Futter)’ (FEW s.v. folium, 677b, SCHÖN 1971, 96). 26 Vgl. MEYER-LÜBKE 1934, 184f. 27 Wozu der sekundäre Singular la frutta, vgl. SCHÖN 1971, 101. 28 Vgl. SCHÖN 1971 mit reichem Material für alle romanischen Sprachen. 29 Im Nfrz. mask., im Afrz. jedoch pré m. nb. pree f. (beide Chanson de Roland, 1080), vgl. GRANDSEIGNE D’HAUTERIVE 1966, GREIMAS 1995, s.vv. 30 Vgl. PEDERSEN II 76. 248 Britta Irslinger c) Resuffigierung von Substantiven Damit die Kollektiv-Singulativ-Opposition überhaupt ausgebildet werden konnte, mussten bei einer größeren Zahl von Simplizia Derivate mit -in(i)o- bzw. -in(i)ā31 gegenüberstehen. Die traditionelle Erklärung von MORRIS JONES (1913, 229) geht davon aus, dass es mit dem im Kymrischen und Kornischen danebenstehenden homonymen Deminutivsuffix gleichzusetzen ist und dass die Singulativfunktion aus der deminutiven hervorgegangen sei. Aus typologischer Sicht wäre dies plausibel, vergleichbare Fälle sind bekannt.32 Dies erinnert an die umfangreiche Resuffigierung von Substantiven im Vulgärlatein, die in diesem Fall unbestritten mit Deminutivsuffixen erfolgte; zu nennen sind insbesondere die Suffixe -ulus / -ula, -culus / -cula, -ellus / -ella, -illus / -illa, -ullus / -ulla, -ittus / -itta.33 Die Deminutivbedeutung dürfte aufgrund des inflationären Gebrauchs der Suffixe recht schnell verblasst sein; die Fortsetzer in den romanischen Sprachen zeigen meistens keine Spur davon: lat. circus lat. apis lat. auris lat. vītis lat. castrum lat. *vitus lat. avis lat. fīlius ‘Kreis’ ‘Biene’ ‘Ohr’ ‘Rebe’ ‘Festung’ ‘Kalb’ ‘Vogel’ ‘Sohn’ → → → → → → → → circ-ulus > api-cula > auri-cula > vīti-cula > cast-ellum > vit-ellus > avi-cellus > fīli-olus > frz. frz. frz. afrz. frz. frz. frz. frz. cercle abeille oreille veille, nfrz. vrille ‘Ranke’ château veau, ital. vitello oiseau, ital. uccello filleul ‘Taufkind’ Die Annahme der Funktionsspaltung eines Deminutivsuffixes wäre auch fürs Britannische nicht ausgeschlossen. Die Uminterpretation zum Singulativ erfolgte nur bei Substantiven der entsprechenden semantischen Klasse; ansonsten blieb die deminutivische Lesung erhalten.34 31 Dabei wird -in(i)o- über *-inn(i)o- zu kymr. -yn, -in(i)ā- über *-inn(i)ā zu kymr. -en; im Korn. und Bret. fallen beide zu -enn zusammen. Zur Erklärung der Gemination s. CUZZOLIN 1998, 133 Anm. 15 mit Lit. 32 Vgl. JURAFSKY 1996, 533ff. 33 Vgl. GRANDGENT 1962, 18ff., LEUMANN 1977, 305ff. 34 Im Neubretonischen erscheinen Tier- und Pflanzennamen sehr häufig mit dem Suffix -ig, das auch Deminutiva bildet und alle übrigen britannischen Suffixe in dieser Funktion verdrängt hat. Vgl. z.B. glazig ‘Kornblume’, kroazigoù ‘Gewürznelken’, munidig-bras ‘Thymian’, munudig ‘Feldthymian’, tommheolig ‘Gänseblümchen’ und aus dem Tierreich boc‘hruz(ig) ‘Rotkehlchen’, brennig ‘Napfschnecke’, eostig ‘Nachtigall’, erminig ‘Hermelin’, glizig ‘Sprotte’, kannerezig-dour ‘Bachstelze’, karv(ig)-lann ‘Heuschrecke’, karv(ig)-raden ‘Heuschrecke’, laouenan(ig) ‘Zaunkönig’, pennglaouig ‘Kohlmeise’, perokedig ‘Wellensittich’, pint(ig) ‘Buchfink’, reunig ‘Seehund’, torig-ruz ‘Rotkehlchen’, yarig-doue ‘Marienkäfer’. Wenngleich es sich bei diesen Namen ursprünglich nicht um Deminutiva Singulativ und Kollektiv in den britannischen Sprachen 249 CUZZOLIN 1998 lehnt diese Erklärung ab, da von den frühesten mittelkymrischen Belegen an beide Funktionen stets klar unterschieden würden, was nicht auf eine Funktionsverschiebung hindeute. Vielmehr handle es sich um zwei verschiedene, aus dem Indogermanischen erbte Suffixe, die im Britannischen homonym wurden. Die Singulativfunktion sei erst innerhalb des Britannischen entwickelt worden. Dabei berücksichtigt er nicht das irische Suffix -ne, das ebenfalls Deminutiva und Singulativa bildet, und das mit dem britannischen identisch sein kann, wenn man nicht *-ino-/*-inā-35 sondern eine Vorform mit *i, also *-inio-/*-iniā-, ansetzt. Nach DE BERNARDO STEMPEL handelt es sich bei air. -ne um ein Suffix „mittlerer“ Produktivität, wobei sie nicht erläutert, was man sich darunter vorzustellen hat. Die bei ihr und in der von ihr zitierten Literatur genannten Beispiele deuten darauf hin, dass auch die irischen Singulativa überwiegend bei Wörtern aus der Gruppe der Aggregate zu finden sind, vgl. z.B. foiltne ‘einzelnes Haar’ : folt ‘Haar’, cuailne, cuaille ‘Stecken, Pfosten’ : cual ‘Reisigbündel, Haufen’, sílne ‘Samenfluss, Sperma, Samen’ : síl ‘Samen, Ursprung, Rasse’. Allerdings sind darunter nur zwei Bildungen, die im Britannischen Entsprechungen haben: Zu air. froíchne ‘Spross von Heidekraut’ : fráech ‘Heidekraut’ ist kymr. grug : grugen zu vergleichen; den Singulativa der Paare bret. de(i)l : delienn, korn. del : delen, kymr. dail : deilen entspricht air. duilne, duille ‘Laub, Blatt’.36 Ein underiviertes Kollektiv fehlt im Irischen; diese Funktion übernimmt duillebad mit dem Kollektivsuffix -bad. Auch wenn durch die systematische Auswertung des irischen Lexikons noch eine Handvoll weiterer Entsprechungen gewonnen würde, so könnte diese insgesamt dünne Materialgrundlage nicht zweifelsfrei die Entstehung der Singulativ-KollektivOpposition im Inselkeltischen belegen; gesichert scheint nur die Existenz des Deminutivsuffixes. Denkbar wäre z.B., dass im Inselkeltischen einige wenige Deminutivbildungen als Singulativa interpretiert wurden und beide Sprachzweige nach ihrer Trennung unabhängige Entwicklungen durchlaufen haben – im Irischen ist -ne gelegentlich sogar in kollektiver Funktion zu finden, vgl. z.B. maicne ‘Söhne, Nachkommenschaft’ : mac ‘Sohn’ sowie das bereits erwähnte duilne in der Bedeutung ‘Laub’. Weiterhin ist die Möglichkeit irischer Lehnbildungen nach britannischem Muster ebenso in Betracht zu ziehen, wie die von CUZZOLIN angenommene Entstehung der Bildungen aus ursprünglich verschiedenen Suffixen bzw. aus verschiedenen Funktionen desselben Suffixes. handelt, so liegt synchron doch vor allem bei kleinen Tieren und Pflanzen die Assoziierung damit nahe. 35 So Forscher, die nur das Britannische betrachten, z.B. MORRIS JONES 1913, 229, CUZZOLIN 1998, 133. Für den Ansatz mit *-i- u.a. MARSTRANDER 1910, 377ff., PEDERSEN II 57f. und DE BERNARDO STEMPEL 1999, 361ff. DE BERNARDO STEMPEL a.a.O. rekonstruiert *-īno-/*-īniā-, um auch das Baltische und Slavische anzuschließen (s.u.); allerdings kommt ein Ansatz mit *ī nur für das Irische in Frage, da das Britannische *ĭ voraussetzt. 36 Neben dem ā-Stamm duillend ‘Blatt’ mit Suffix *-inā-. 250 Britta Irslinger Im Gallischen ist *-ino-/*-inā- häufig bei Ableitungen von Personennamen zu finden, Anhaltspunkte für Singulativa gibt es nicht, vgl. MARSTRANDER 1910, 378f., was aber an der lückenhaften Überlieferung liegen kann. Spekulativ bleiben damit auch die Anschlussmöglichkeiten an außer-keltisches Material, wie z.B. an russische Paare vom Typ gorox ‘Erbsen’ : trava ‘Gras’ : pesok ‘Sand’ : gorošina ‘eine Erbse’37 travinka ‘ein Grashalm’ pesčinka ‘ein Sandkorn’ Das slavische Stuffix -ina geht auf *-īnā- zurück und wurde in -inka um das Deminutivsuffix *-ko/-ka erweitert. Mehrere Suffixvarianten mit *ĭ, *ī und *ei finden sich weiterhin in den meisten idg. Sprachen, insbesondere im Baltischen und Lateinischen. Die ausführliche Untersuchung von BUTLER 1971 erweist den stark einzelsprachlichen Charakter der jeweiligen Entwicklungen, so dass auch MATASOVIĆs Versuch, die britannischen und slavischen Singulativa als Komposita mit dem Zahlwort *(H)oino- ‘eins’ zu erklären, letztlich nicht überzeugt.38 7. Zusammenfassung Die Kollektiv-Singulativ-Opposition ist eine Entwicklung der britannischen Sprachen, die nach der Abspaltung des Irischen, aber vor der Trennung in die britannischen Einzelsprachen Kymrisch, Kornisch und Bretonisch stattgefunden hat. Ihre Untersuchung hat gezeigt, dass ihre Entstehung Veränderungen in der Kodierung von Nomina der semantischen Klasse der Aggregate voraussetzt, für die es im Vulgärlatein Parallelen gibt. Auch die umfassende Resuffigierung von Substantiven kann zu ähnlichen Prozessen im Vulgärlatein in Beziehung gesetzt werden. Es wäre daher denkbar, dass der Anstoß zur Entwicklung dieses Systems auf den intensiven Sprachkontakt in Britannien im frühen Mittelalter zurückzuführen ist.39 Sein Ausbau erfolgte parallel in den britannischen Einzelsprachen. Die Eingliederung von englischen bzw. französischen Lehnwörtern als kymrische bzw. bretonische Kollektiva und Singulativa bezeugt die ungebrochene Produktivität der Kollektiv-SingulativOpposition auch in den modernen Sprachstufen. 37 Vgl. KNOBLOCH 1955, 210, DE BERNARDO STEMPEL 1999, BALLES 2004, 12. 38 Vgl. MATASOVIĆ 2006, 109f., Anm. 5. 39 GERMAN 2004, 341ff. diskutiert die Möglichkeit, dass sich die Kollektiv-Singulativ-Opposition auch auf südenglische Dialekte ausgebreitet hat. Hier finden sich häufig die ansonsten verschwundenen Plurale auf -en der aengl. schwachen Deklination, vor allem bei Wörtern ähnlicher semantischer Klassen wie im Britannischen (Herdentiere, paarig auftretende Körperteile, Bekleidungsstücke dafür). 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