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Jakir_Jože Pirjevec Tito_Damals.docx

Rezension Pirjevec, Jože: Tito. – Die Biografie. Verlag Antje Kunstmann, München 2016. In: Damals. Das Magazin für Geschichte 48. Jg. 10-2016, 47. https://www.wissenschaft.de/rezensionen/buecher/tito-die-biografie/

Antje Kunstmann Verlag, München 2016 ISBN 9783956140976 Gebunden, 720 Seiten, 39,95 EUR Jože Pirjevec: Tito. Die Biografie. Übersetzt von Klaus Detlef Olof. Verlag Antje Kunstmann, München 2016, 720 Seiten, 39,95 Euro Der Klappentext des Buches beschreibt den 1980 im Alter von fast 88 Jahren verstorbenen Josip Broz Tito, der laut jugoslawischer Verfassung Staatspräsident Jugoslawiens auf Lebenszeit war, als Partisan und Revolutionär, Diktator und Architekten eines alternativen sozialistischen Modells, der sich bis heute jeder politisch und historisch eindimensionalen Zuordnung entziehe. Der slowenische Historiker Jože Pirjevec, Professor für Geschichte und ausgewiesener Tito-Experte, geht in seiner quellengesättigten Biografie auf knapp 600 Seiten (dem noch ein hundert Seiten starker Anhang beigegeben ist) dem Phänomen Tito nach. Als Tito am 8. Mai 1980 in Belgrad bei einem pompösen Staatsbegräbnis im so genannten „Haus der Blumen“ beigesetzt wurde, erschienen nicht weniger als 215 ausländische Delegationen in der jugoslawischen Hauptstadt, um dem offiziell als „größten Sohn aller jugoslawischen Völker“ gehuldigten verstorbenen Staatsführer, dem der jugoslawische Staat die höchste Auszeichnung „Held des Volkes“ zu Lebzeiten gleich drei Mal verliehen hatte, die letzte Ehre zu erweisen. Die angereisten Trauergäste, unter ihnen auch der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kurt Waldheim, und der Bundeskanzler Helmut Schmidt, konnten in jenem Moment durchaus als Repräsentanten fast der ganzen Menschheit angesehen werden. Tatsächlich war die Beerdigung Titos zu jenem Zeitpunkt die sicher weltweit größte, an der vier Könige, 31 Präsidenten, 6 Prinzen, 22 Premierminister und 47 Außenminister aus 128 verschiedenen Ländern der damals 154 UN-Mitgliedsstaaten teilnahmen. Es heißt, dass an jenem Tag in 144 Ländern weltweit die Flaggen auf Halbmast gesetzt waren. Unwahrscheinlich, dass sich dies seine slowenische Mutter oder sein kroatischer Vater hätten vorstellen können, als Josip Broz am 7. Mai 1892 als ihr siebentes Kind in einer armen Kleinbauernfamilie im Dorf Kumrovec im kroatischen Zagorje zur Welt kam. Bereits die Überschriften der mittlerweile erschienenen deutschsprachigen Rezensionen von Pirjevec Tito-Biografie verraten, wie unterschiedlich der aus dem Zweiten Weltkrieg siegreich hervorgegangene kommunistische Partisanenführer und jugoslawische Staatschef wahrgenommen wird. Tito als Symbol-Figur, wie gemacht für Gedenkmünzen, Tito als Geltungssüchtiger, Frauenheld und Lieblingsdiktator des Westens… Tatsächlich scheint der Gründer des sozialistischen föderativen Jugoslawien in den Augen seiner Bewunderer noch immer deutlich mehr als ein kaltblütiger Diktator und es wird die Frage gestellt „Wie konnte ein Diktator nur so beliebt sein?“ Dabei steht seit langem zweifellos fest, dass er Zehntausende Kollaborateure und Gegner ermorden ließ. Wer war dieser Tito wirklich, den manche den „letzten Habsburger“ nannten? War er ein sozialistischer Sonnenkönig, welcher sowohl Hitler als auch Stalin besiegt hatte und in der Zeit des Kalten Krieges bewundernswert dem Osten und Westen die Stirn bot? Autor Jože Pirjevec hat mehrere Jahrzehnte lang über Tito geforscht und aus zahlreichen Archiven und einer ganzen Bibliothek Sekundärliteratur Fakten zusammengetragen und Titos schillernden Lebensweg nachgezeichnet. Die ursprünglich 2011 in slowenischer Sprache erschienene Biografie trug den Titel „Tito und Genossen“ und wurde in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien zu einem Bestseller, was für ein wissenschaftliches Werk mit über dreitausend Fußnoten und (in der deutschsprachigen Ausgabe) einem enggedruckten fünfzehnseitigen Quellen- und Literaturverzeichnis, durchaus erstaunlich ist. Abgesehen von zwei Einschüben, der Reflektion über „Titos Augen“ ganz zu Beginn und den Exkurs „Tito und die Frauen“, die beide offensichtlich versuchen, dem oft nachgesagten Charisma Titos Rechnung zu tragen und damit dem zu Zeiten Jugoslawiens propagierten Kult um Tito, dem der Verf. an anderer Stelle noch einmal gesondert, leider nur sechs Seiten widmet, ist die Erzählung von Pirjevec klar chronologisch strukturiert. Sechs unterschiedlich lange Kapitel periodisieren den Lebensweg Titos. Zunächst ist es die Geschichte des „jungen Broz“ (Erster Weltkrieg, Kriegsgefangenschaft und Aufstieg in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens) in den Jahren 1882-1939, die sich im zentralen zweiten Kapitel fortsetzt, das dem Zweiten Weltkrieg und dem Partisanenkampf gewidmet ist (1939-1945), darauf folgt die Beschreibung der Nachkriegszeit unter der Überschrift „Konsolidierung der Macht und Auseinandersetzung mit Stalin (1945-1953)“, darauf die Darstellung der „Präsidentenjahre – Entdeckung der Blockfreiheit, Suche nach einem Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“ und Kampf um die Einheit Jugoslawiens (1953-1973)“, schließlich die Schilderung der „späten Jahre – Jugoslawien in der wirtschaftlichen und politischen Krise (1973-1980)“. Das abschließende Kapitel steht unter der Überschrift „1980 - Titos Tod und sein politisches Vermächtnis“. Sehr detailreich, manchmal sogar detailverliebt, schildert der Verf. wie aus dem Bauernsohn Josip Broz zunächst, nach nur vier Jahren Schulbildung, ein Schlosser wurde, auf Arbeitssuche in ganz Mitteleuropa, dann k.u.k. Soldat im Dienst Österreich-Ungarns und Kriegsgefangener in Russland wo Josip Broz die Oktoberrevolution und den sich anschließenden Bürgerkrieg erlebte. Broz wird zum Revolutionär und kommunistischen Funktionär, dem, zurück in der Heimat, der Aufstieg in der Partei gelingt. Der Berufsrevolutionär übersteht und überlebt die Haftzeit in jugoslawischen Gefängnissen wie auch die Stalinschen Säuberungen in Moskau und steigt auf zum Generalsekretär der verbotenen Kommunistischen Partei. Nach dem Überfall der Achsenmächte 1941 ruft die Partei unter seiner Führung zum bewaffneten Widerstand auf. Tito wird zum Partisanenführer, der nach einem erbarmungslosen Guerillakrieg am Ende des Krieges eine schlagkräftige „Volksbefreiungsarmee“ befehligt, deren Kämpfer als Symbol den roten fünfzackigen Stern tragen und deren, zumindest im ersten Teil, durchaus wörtlich zu verstehende Parole lautet „Tod dem Faschismus – Freiheit dem Volke“. Unter der Führung Titos erringt die kommunistisch angeführte Volksbefreiungsbewegung den Sieg über die Besatzungsmächte und ihre Kollaborateure. Ebenso sichert sich Tito die Anerkennung durch die Anti-Hitler Koalition und schaltet geschickt und skrupellos alle seine innenpolitischen Gegner aus. Noch während des Krieges avanciert der Partisanenkommandant zum Marschall, und nach dem Krieg zum immer prunkverliebteren Führer und Symbol des sozialistischen Jugoslawien, um den sich ein ausufernder Personenkult rankt. Die breite Quellenbasis, auf die sich der Autor für seine Biografie Titos stützten kann, erlauben es ihm ein differenziertes Bild zu entwerfen und zu ausgewogenen historischen Urteilen zu kommen. Dem an der Geschichte des sozialistischen Jugoslawien interessierten Leser bietet das Buch eine fundierte und stellenweise auch spannende Lektüre. Wie es zu Titos Bruch mit Stalin kam 1948, was es mit der Blockfreiheit während des Kalten Krieges auf sich hatte, ebenso wie sich bereits in den 1960ern die Widersprüche zwischen den Nationen und Nationalitäten im sozialistischen Jugoslawien zuspitzten, all dies lässt sich in dieser Tito-Biografie ausführlich nachlesen. Als Titos Stärken benennt der Verf. dessen festes Beharren auf Unabhängigkeit und Blockfreiheit und seine Unersetzlichkeit als Integrationsgestalt für die sechs auseinanderstrebenden Nationen unter dem Dach Jugoslawiens. Dabei erliegt er nicht (jedenfalls nicht zu sehr) der Versuchung von Titos Faszination. Ivo und Slavko Goldstein haben in ihrer 2015 veröffentlichten großen Tito-Biografie (911 Seiten in der kroatischen Ausgabe) darauf hingewiesen, dass Pirjevec in seiner ansonsten wichtigen und guten Studie vielleicht zu sehr an manchen Stellen in mehrerer Hinsicht problematischen Dokumenten und Autoren vertraut, so dass die Fachdiskussionen über manche Aspekte sicher weitergehen werden. Doch sind dies Fragen für Spezialisten. Die großen Fragen im Zusammenhang mit der Biografie Titos werden von Prijevec klar analysiert und dargestellt. Auch die brutalen Repressionen gegen vermeintliche wie wirkliche Feinde und Gegner werden nicht ausgespart, aber man vermisst vielleicht doch an mancher Stelle, dass der Verf. klarer die persönliche Verantwortung Titos insbesondere für die sog. „Abrechnung mit den Feinden des Volkes“ am Ende des Zweiten Weltkriegs herausgearbeitet hätte, an der es nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand kaum Zweifel geben kann. Auch bleibt im Zusammenhang mit zahlreichen Morden an antijugoslawischen Emigranten im Ausland vieles ungeklärt. Das Buch endet mit der sicher zutreffenden Feststellung des Autors, dass sich weder „die anfänglichen Grausamkeiten des Tito-Regimes“ noch „sein letztliches Scheitern“ übersehen lassen. An anderer Stelle fasst der Verf. zusammen, dass Tito zeitlebens maßgeblich von der Oktoberrevolution beeinflusst gewesen sei und bis zum Ende seines Lebens betont habe, dass er ein Bolschewik sei. „Und ich glaube, dass er tatsächlich ein Bolschewik war, aber ein Bolschewik besonderer Art in diesem Sinne, dass er verstanden hat, dass es doch notwendig ist, den Sozialismus mit dem menschlichen Gesicht irgendwie in Jugoslawien zu bilden." Diese umfassende und lesenswerte Tito-Biografie zeigt sowohl manch menschliche als auch manch unmenschliche Züge Titos, der zum Symbol und zur Integrationsfigur eines Landes wurde, dessen Entstehung und Zerfall historiographisch sicher nicht verständlich ist ohne die Kenntnis seiner Biografie. Aleksandar Jakir