Tamás Visi
Jüdische liturgische Traditionen
des mittelalterlichen Mährens
Abstract
During the fifteenth century Jewish litrugical texts and customs were reconsidered by rabbis
living in Austria, Moravia, and neighbouring countries. The writings of two famous rabbis that
were active in Brno for some time during the earlier half of the fifteenth century, Eizik Tirna
and Jisrael Bruna, fragments of liturgical manuscripts found in the bookbindings of Christian
books and documents in Moravia, and marginal glosses in the Trebic machzor all attest these
attempts to correct the text of Jewish prayers.
Im mittelalterlichen Leben der Juden spielte das Gebet eine wichtige Rolle. Es
herrschte die allgemeine Überzeugung, daß Gebete absolut unerläßlich für die
Sicherung des Überlebens sowohl für den Einzelnen, als auch die Gesellschaft seien.1 Zudem war eine verbreitete Ansicht, daß es sich beim Beten nicht um einen
spontanen Ausdruck religiöser Gefühle handle; es sei im Gegenteil nötig, vorherbestimmte Texte zu rezitieren, und zwar sowohl in der richtigen Reihenfolge als auch
zu den richtigen Zeiten. Falls das Gebet nicht richtig vorgetragen werde, sei es ungültig und unwirksam. Fromme Menschen verwandten damals viel Zeit und Energie
darauf, festzustellen, wie der richtige Text von Gebeten lauten solle.2
Heutigen Lesern mag es verwunderlich erscheinen, wieviel Gründlichkeit mittelalterliche Juden etwa Fragen hinsichtlich der korrekten Aussprache eines bestimmten hebräischen Wortes widmeten oder dem Problem, ob die Konjunktion „und“
in einen Text gehört, obwohl dies in keiner Weise dessen Sinn ändert. Es ist wichtig, gleich zu Beginn zu unterstreichen, daß mittelalterliche Juden ein derart kleines
Detail in Texten hebräischer Gebete sehr ernst nahmen, da sie glaubten, daß die
Wirksamkeit eines Gebets genau davon abhinge.
Im 15. Jahrhundert spielte Mähren eine wichtige Rolle bei der Herauskristallisierung der sogenannten ost-aschkenasischen Liturgie, die in späteren Jahrhunderten
1
Ich danke Helmut Teufel und Pavel Kocman für ihre Einladung zu dieser Konferenz. Mein Dank
gilt allen Teilnehmern an dieser Konferenz, besonders Martha Keil und Eva Doležalová, für Kommentare,
Kritik und Unterstützung.
2
Eine gute Einführung in die Geschichte des jüdischen Gebets ist REIF, Stefan C.: Judaism and
Hebrew Prayer. – Cambridge: Cambridge University Press 1993.
359
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häufig als „polnischer Ritus“ bezeichnet wurde. Eine der wichtigsten Quellen dieser
liturgischen Tradition, der Sefer ha-minhagim [Buch der Bräuche] von Eizik Tirna,
entstand wahrscheinlich in den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts in Brünn
(Brno).3 Dieses Werk enthält an die zwei Dutzend Fragmente, die sich mit der liturgischen Ordnung und damit zusammenhängenden Bräuchen in der mährisch-jüdischen Gesellschaft, vor allem aber in Brünn, befassen. Einige der mährischen Bräuche gelangten so, wie sie Tirna festhielt, in die Mainstream-Tradition und wurden
in Mosche Isserles Anmerkungen zu dem Werk Schulchan Aruch [Gedeckter Tisch]
kodifiziert.
Ein weiteres wichtiges Quellenmaterial ist eine fragmentarisch erhaltene Handschrift aus dem 17. Jahrhundert, die liturgische Abhandlungen und einen Kommentar von Schabtaj Sofer aus Przemyszl enthält. Dieser Gelehrte aus dem Polen des 17.
Jahrhunderts zitiert in diesem Manuskript zahlreiche Fragmente aus einem nicht
erhaltenen Kommentar zu dem ein Jahrhundert zuvor von Schlomo Lurja (oder
Maharšalem), einem der bedeutendsten polnischen Rabbiner des 16. Jahrhunderts,
verfaßten Gebetbuch. Schlomo Lurja hatte Zugang zu einer Prager oder Regensburger Sammlung mittelalterlicher Manuskripte, die viele anderweitig unbekannte, im
15. Jahrhundert von Rabbinern aus Österrisch, Mähren, Böhmen und Deutschland
verfaßte Texte enthielt. Neben anderen Texten verweist Lurja auf einen Kommentar
zu Gebeten des Jisrael Bruna. Dieser war im 15. Jahrhundert eine führende rabbinische Autorität. In den Jahren 1446 bis 1473 hielt er sich hauptsächlich in Regensburg auf, seine Karriere hatte jedoch in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts in
Brünn begonnen.4
Es hat den Anschein, daß im 15. Jahrhundert an niederösterreichischen Jeschiwot
wirkende Rabbiner versuchten, eine revidierte Version von Gebetstexten zu schaffen. An diesem Bestreben beteiligten sich auch zwei Rabbiner, die in Mähren wirkten, aber zuvor an Jeschiwot in Österreich studiert hatten, nämlich Eizik Tirna und
Jisrael Bruna.5 Offensichtlich waren sie unzufrieden mit den Handschriften, die in
3
Siehe VISI, Tamás, – Magdaléna JÁNOŠÍKOVÁ: A Regional Perspective on Hebrew Fragments:
The Case of Moravia. – In: LEHNARDT, Andreas, – Judith OLSZOWY-SCHLANGER (eds.): Books within
Books: New Discoveries in Old Books Bindings. – Leiden – Boston: Brill 2014, 185–236, hier 186 (mit weiteren Verweisen). EIZIK TIRNA: Sefer ha-minhagim. Ed. Shlomo Y. SPITZER. – Jerusalem: Mekhon Yerushalaim 1979.
4
Siehe REIF, Stefan C.: Shabbethai Sofer and his Prayer-Book. – Cambridge: Cambridge University Press 1979, 90, Anmerkung 28
5
Zu Jisrael Bruna siehe FUCHS, Abraham: Historical Material in the Responsa of Rabbi Israel
Bruna (unveröffentlichte phil. Diss., Yeshiva University, New York 1974), 67–81 (in Hebräisch), sowie VISI,
Tamás: Die Rebellion des Elieser Eilburg gegen die rabbinische Tradition: Eine Episode in der intellektuellen Geschichte des mährischen Judentums. – In: Judaica Bohemiae XLVI (2011) – Supplementum: Individuum und Gemeinde: Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien, ed. Helmut Teufel, Pavel Kocman, Iveta
Cermanová. – Praha – Brno: Židovské Muzeum v Praze / Společnost pro Dějiny Židů v České republice
2011, 11–32; hier 12.
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Jüdische liturgische Traditionen des mittelalterlichen Mährens
den Gemeinden zirkulierten, und entschlossen sich, eine revidierte und autorisierte
Version des Gebetbuchs zu schaffen.
Zwischen beiden Rabbinern kam es jedoch zu Unstimmigkeiten. Aus Glossen zu
dem oben erwähnten Buch Sefer ha-minhagim des Eizik Tirna erfahren wir, daß
Jisrael Bruna mit Eizik Tirna darin nicht übereinstimmte, ob das Wort „und“ im
Schlußsatz des Sabbatgebets in dem Fall verwendet werden solle, daß der Sabbat
auf den ersten Tag des Monats fällt, oder nicht.6 Ähnliche Unstimmigkeiten waren
wahrscheinlich der Grund, warum aus der Tätigkeit dieser beiden Gelehrten kein
einheitliches Gebetbuch entstand. Diese Bestrebungen sind jedoch eine wichtige
Phase bei der Herauskristallisierung der ost-aschkenasischen Liturgie.
Die dritte wichtige Gruppe von Quellenmaterial bilden liturgische Handschriften.7
Im Jahr 1862 fand Chajim Josef Pollak, Rabbiner in Trebitsch (Třebíč), ein liturgisches Manuskript in der Werkstatt eines dortigen Schmieds.8 Obwohl nicht bekannt
ist, wie und wann diese Handschrift nach Trebitsch kam, ist wahrscheinlich, daß
sie im Mittelalter mährische Juden verwendeten – wenigstens wissen wir von keinen weiteren liturgischen Manuskripten, bei denen die Wahrscheinlichkeit ihrer
mährischhen Provenienz höher wäre. Es handelt sich um den sogenannten „Trebitscher Machsor“, eine hebräische liturgische Handschrift aus dem 14. Jahrhundert,
die sich an die aschkenasische liturgische Tradition hält.9
Außer dem „Trebitscher Machsor“ haben wir bis heute Kenntnis von etwa dreißig
Fragmente liturgischer Handschriften, die sich in Einbänden lateinischer, deutscher
und tschechischer Dokumente in mährischen Bibliotheken und Archiven erhalten
haben.10 Diese Fragmente stammen aus mittelalterlichen hebräischen Handschriften, die Juden in Mähren und dessen Nachbarländern in Gebrauch hatten. Die
Bücher wanderten, wie die Menschen, von Ort zu Ort, und auch später konnte das
Pergament, das zum Buchbinden zweckentfremdet wurde, weit vermarktet werden.
So ist es möglich, daß ein heutzutage in einem mährischen Archiv liegendes Fragment aus einem Codex stammt, der, sagen wir, im mittelalterlichen Österreich in
6
EIZIK TIRNA: Sefer ha-minhagim. Ed. Shlomo Y. SPITZER. – Jerusalem: Mekhon Yerushalaim
1979, 31.
7
Prag, Jüdisches Museum, Ms 250 (Trebitscher Machsor / Třebíčský machzor).
8
Siehe POLLAK, Joachim [Hayyim] Joseph: Dovev Siftei Yeshanim” [Erwachen der schlafenden
Lippen und sie zum Reden bringen]. – In: Ha-Nesher 3 (1863), 10–11.
9
Siehe SOMMERNITZOVÁ, I.: Der Trebitscher Machsor – eine Beschreibung und Analyse des
Manuskripts mit Übersetzung von Probepartien. Diplomarbeit. Prag: Karluniversität 1973, siehe auch
Vladimír Sadeks Besprechung in Judaica Bohemiae IX (1973), 91–93.
10
Siehe VISI, T., – M. JÁNOŠÍKOVÁ: A Regional Perspective, 195–203. Siehe auch JÁNOŠÍKOVÁ,
Magdaléna: Stratená knižnica: Hebrejské stredoveké zlomky na Morave [Eine verlorene Bibliothek:
Hebräische mittelalterliche Fragmente in Mähren]. Magisterarbeit. – Olomouc: Filosofická Fakulta Univerzity Palackého v Olomouci 2013.
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Gebrauch war. Jedenfalls läßt sich jedoch darauf bauen, daß dieses Quellenmaterial am anschaulichsten Bücher repräsentiert, das im Mittelalter unter mährischen
Juden zirkulierten.
Ein kleines Forscherteam des Karl-und-Ursula-Schubert-Zentrums für judaistische Studien / Centrum judaistických studií Kurta a Ursuly Schubertových an der
Palacký-Universität / Univerzita Palackého in Olmütz (Olomouc), zu dem Alžběta
Drexlerová, Miroslav Dyrčík, Magdaléna Jánošíková und der Autor dieses Beitrags
gehören, befaßt sich mit hebräischen Fragmenten aus mährischen Archiven und
Bibliotheken bereits seit dem Jahr 2008. Die Analyse, die ich vorstelle, fußt auf den
kollektiven Recherchen dieser Gruppe. Grundsätzlich halfen uns dabei einige Mitstreiter des internationalen Projekts „Knihy v knihách“ [Book in Books], besonders
Judith Olszowy-Schlanger, Emma Abate, Abraham David und Simcha Emanuel.
Dank der ausgezeichneten Online-Datenbank des österreichischen Ablegers dieses
Projekts, der von Martha Keil vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs in St.
Pölten geleitet wird, konnten wir unsere Fragmente mit dem meisten österreichischen Material vergleichen. Wertvolle Informationen über hebräische Fragmente
konnten wir auch durch Vermittlung des von Eva Doležalová geleiteten Projekts der
Forschungsgelderagentut [Grantová agentura] der Tschechischen Republik gewinnen. Pavel Kocman von der Společnost pro dějina židů v České republice / Gesellschaft für Geschichte der Juden in der Čechischen Republik besorgte uns wiederum
wertvolles Material über mährische Archive. Nicht zu vergessen die entgegenkommende Zusammenarbeit der vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mährischer
Archive und Bibliotheken, besonders Hana Jordánková, Michaela Růžičková und
Jitka Machová, Cyril Měsíc, Ludvík Štipl, Petr Gajdošík, Rostislav Krušinský und
Štěpán Kohout. Allen diesen Kollegen möchte ich meinen großen Dank aussprechen.
Nun möchte ich die bisherigen Ergebnisse zusammenfassen. Wir haben drei
Hauptgruppen von Quellenzeugnissen:
1. mährische rabbinische liturgische Texte aus dem 15. Jahrhundert,
2. den Trebitscher Machsor,
3. etwa dreißig Fragmente aus nicht erhaltengebliebenen hebräischen Gebetbüchern.
Durch Vergleich dieser verschiedenen Quellengruppen versuchen wir zu bestimmen, wie sich auf dem Gebiet Mährens die liturgische Tradition entwickelte. Zuerst
vergleichen wir den Trebitscher Machsor und die hebräischen Fragmente.
Unser erstes Beispiel ist das liturgische Lied (oder pijut) Otcha edroš [Das bist du,
den ich fragen will], bestimmt für die Feier von Jom Kippur.11 Dieses Lied schuf in der
11
Davidson, Aleph, 2082. Ich identifiziere die pijutim mit den sogenannten Davidson-Nummern
unter Bezugnahme auf DAVIDSON, Israel: Thesaurus of Medieval Hebrew Poetry. Vols. 1–4. – New York:
362
Jüdische liturgische Traditionen des mittelalterlichen Mährens
zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts Schimeon ben Jizchak, ein verdienstvoller Rabbiner aus Mainz. Wenn wir den Text des pijut aus dem Trebitscher Machsor mit dem
Text eines im Mährischen Landesarchiv / Moravský zemský archiv in Brünn (Brno)
aufgefundenen hebräischen Fragments, das sich in das 15. Jahrhundert datieren läßt,
vergleichen, stellen wir einen interessanten Zug fest: Beide Handschriften enthalten
sekundäre Korrekturen, die in dieselbe Richtung weisen.12 Im Trebitscher Machsor
lesen wir „jeerav alav“, eine andere Hand korrigierte jedoch anstelle von „alav“ „lefanav“. In dem Brünner Fragment finden wir „lefanav“.13 Dieser Unterschied betrifft
hebräische Präpositionen, die einen Verbalsatz begleiten, und modifiziert nicht den
Sinn des Gebets. Nichtsdestoweniger deutet dies auf verschiedene Texttraditionen
hin. Zwischen beiden Handschriften existierte also ein Unterschied und irgendeine
weitere Hand, die die Texte korrigierte, beseitigte diesen Unterschied. Ähnlich lesen
wir im Trebitscher Machsor vatuhaj und im Brünner Fragment batuhaj. Eine weitere Hand korrigierte das Brünner Fragment und schrieb über das bet ein vav. Der
Unterschied war also wieder durch eine sekundäre Korrektur beseitigt.
Der Trebitscher Machsor und das Brünner Fragment zeugen also von unterschiedlichen Texttraditionen, die mittels Korrekturen zu einer größeren Übereinstimmung gebracht wurden. Hier ist anzumerken, daß gedruckte Gebetbücher seit
dem 16. Jahrhundert mit den korrigierten Varianten in beiden oben erwähnten Fällen übereinstimmen.14 Es existieren noch weitere Fälle, die anschaulich denselben
Trend bezeugen: Liturgische Handschriften wurden verglichen und korrigiert und
so enstand nach und nach der allgemein verbreitete Text der Gebete, ein textus
receptus – trotzdem war er erst zu Beginn der Frühen Neuzeit völlig fixiert.
Hier ist festzustellen, daß sich im Trebitscher Machsor viele ähnliche Randkorrekturen finden. Josef Pollak, der den Trebitscher Machsor entdeckte, datierte diese
Korrekturen in das 15. Jahrhundert, denn einige von ihnen erwähnen die Eroberung Jerusalems durch die Araber.15 Zu der gleichen Datierung kommt wahrscheinlich auch der paläographische Befund. Die Korrekturen am Rand des Trebitscher
Machsor stammen also aus demselben Jahrhundert wie die Werke des Eizik Tirna
und des Jisrael Bruna – zweier Rabbiner, die sich einerseits für die Entwicklung der
Liturgie einsetzten, andererseits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Rabbiner
in Brünn (Brno) waren.
The Jewish Theological Seminary of America 1924–1933.
12
Vgl. Mährisches Landesarchiv / Moravský zemský archiv, G 10, Karton 232/fr. 1, siehe VISI,
T., – M. JÁNOŠÍKOVÁ: A Regional Perspective”, 213, vgl. „Brno, MZA 6”, und JÁNOŠÍKOVÁ, M.: Stratená
knižnica, 129–130.
13
Třebíčský machzor (Židovské mueum v Praze / Jüdisches Museum Prag, Ms 250), fol. 18r.
14
Siehe etwa Machsor (Sulzbach, 1705), 127b – aber ke-tuhaj in Machsor minhag Ashkenaz learavit yom kippur [Machsor für den Jom-Kippur-Abend nach aschkenasischem Brauch], Rödelheim 1811,
41a
15
POLLAK, Dovev Siftei Yeshanim, 10–11.
363
Tamás Visi
Ein weiterer interessanter Trend ist die Vokalisierung des Wortes chelijot [Wirbel]
sowohl im Brünner Fragment als auch im Trebitscher Machsor. Die Vokalisierung
dieses hebräischen Wortes lautet gewöhnlich chuljot.16 Im Wormser und im Nürnberger Machsor, die wichtige frühe, die aschkenasische Liturgie enthaltende Handschriften sind, ist dieses Wort als chalajot vokalisiert.17 Diese Vokalisierung hat auch
die früheste erhaltene Handschrift der Mischna, der Kaufmann-Codex, der in das 11.
oder auf den Anfang des 12. Jahrhunderts datiert wird und wahrscheinlich die antike
Tradition der hebräischen Aussprache im Land Israel abbildet.18 Einer der größten
Fachleute für hebräische Sprachgeschichte, Jehezkiel Kutscher, argumentiert, daß
diese Wortform im nachbiblischen Hebräischen üblich ist, jedoch häufig in späteren
Manuskripten und Drucken in Übereinstimmung mit dem biblischen Hebräischen
geändert wurde.19 In gedruckten Mischna-Ausgaben aus der Frühen Neuzeit finden
wir dagegen die Form chuljot in Übereinstimmung mit dem Standard-Hebräischen.20
Um dies zusammenzufassen: Die ursprüngliche Vokalisierung des Worts im
liturgischen Lied war chalajot, was dem Hebräischen der Mischna entspricht. Die
Aussprache wurde standardisiert in chuljot in einer Zeit, als man Gebetbücher zu
drucken begann. Bei der Form chelijot, die wir im Trebitscher Machsor und im Brünner Fragment finden, handelt es sich offensichtlich um eine lokale Variante, die einfach als Fehler beim Abschreiben des Textes entstanden sein könnte.21 Wirklich von
Bedeutung ist jedoch, daß in keiner der beiden Handschriften dieser Fehler korrigiert wurde, obwohl – wie wir sahen – beide Manuskripte Korrekturen enthalten.
Mährische Schreiber des 14. und 15. Jahrhunderts kannten höchstwahrscheinlich
bereits nicht mehr die Regeln des Hebräischen der Mischna. In diesem Fall wäre es
verständlich, warum sich einige Rabbiner in Österreich und Mähren – etwa Abraham Klausner, Eizik Tirna und Jisrael Bruna – bemühten, den liturgischen Text auf
der Grundlage des Standard-Hebräischen zu korrigieren. Die Schreiber verstanden
nicht mehr die Sub-Standard-Varianten der Sprache, empfanden diese deshalb als
16
Diese Lesart ist angepaßt der Standardedition des Textes: GOLDSCHMIDT, Daniel (ed.): Machzor la-yamim ha-nora’im [Machsor für die Bußtage]. Vol. 2: Yom Kippur. – Jerusalem: Qoren 1970, 40.
17
Machzor Worms (Jerusalem, National Library of Israel, Heb. 4° 781), vol. 2, fol. 111r. – Nürnberger Machsor (Privatsammlung; online verfügbar unter http://jnul.huji.ac.il/dl/mss-pr/mahzor-nuremberg/), 359r. Ebenso chalajot in Machzor ke-minhag ashkenaz [Machsor nach aschkenasischem Brauch],
Sabioneta, 1567, 293a, und in vielen anderen gedruckten Ausgaben.
18
MS Kaufmann (Budapest, Magyar Tudományos Akadémia, MS A 50), fol. 165r.
19
Siehe KUTSCHER, Eduard: A History of the Hebrew Language. – Jerusalem – Leiden: Magnes –
Brill 1982, 119–121 und 129.
20
Siehe Perush ha-mishnayot [Kommentar zur Mischna], vol. 6 (Venice: Carlo Quiriti 1549), 2a,
und viele folgende Ausgaben.
21
Es ist also möglich, daß chelijot vom biblischen Wort chelja beeinflußt war, das bei Hosea 2:15
vorkommt und „Ornament“ bedeutet.
364
Jüdische liturgische Traditionen des mittelalterlichen Mährens
unkorrekt, und daher wurden diese Varianten nach Standardformen korrigiert. Deswegen finden wir in gedruckten Versionen die Variante chuljot.22
An unserem zweiten Beispiel sehen wir einen ähnlichen Prozeß der Standardisierung. Der Pijut Archan ve-kacran [Lang und kurz] (Davidson, Aleph, 7650) enthält im
Trebitscher Machsor viele Lesevarianten, die sich sowohl vom Brünner Fragment,
als auch von späteren Druckausgaben unterscheiden.23 In einem dieser Fälle lesen
wir nimna‘ anstelle von nim’ad, das auch in einer böhmisch-jüdischen Quelle vom
Anfang des 13. Jahrhunderts, dem liturgischen Kommentar Arugat ha-bosem [Beet
des Balsamstrauches] des Abraham ben Asriel belegt ist.24 Eine andere Hand jedoch
veränderte das Wort in Übereinstimmung mit der Lesart, die später in Druckversionen des Werks auftaucht. Im Brünner Fragment verschwand dieses Wort: Eine
andere Hand schrieb jedoch das Wort nim‘ad an den Rand des Textes.25
Ähnlich unterscheidet sich das Wort geim im Trebitscher Machsor von der Leseform geon im Brünner Fragment und in gedruckten Versionen, eine andere Hand
schrieb jedoch das Wort als Korrektur an den Rand des Textes des Trebitscher
Machsor. Am Beispiel des Werks des Abraham ben Asriel aus dem 13. Jahrhundert
zeigt sich, daß einige Textvarianten, die aus dem textus receptus beseitigt wurden, in
Wirklichkeit ein hohes Alter aufweisen.
Es existieren noch weitere Beispiele, an denen es möglich wäre, den Prozeß der
Standardisierung von Gebetstexten zu belegen. Andererseits können wir jedoch aufgrund der Fragmente beweisen, daß die liturgische Praxis vielgestaltiger war, als wir
nur aufgrund des Buchs von Eizik Tirna und weiterer rabbinischer Quellen berurteilen können. Obwohl allgemein wahr ist, daß die bisher identifizierten Fragmente
die östliche Version der aschkenasischen Tradition widerspiegeln, so unterscheiden sie sich beträchtlich sowohl von Tirnas Sefer ha-minhagim [Buch der Riten und
Gebräuche] und weiteren damit zusammenhängenden Quellen, als auch von späteren gedruckten Gebetbüchern. Die mährischen Fragmente bestätigen nicht, daß
sich in den Gebetbüchern mährischer Juden im 15. Jahrhundert irgendeine vereinheitlichte Liturgie durchgesetzt hätte.
An dieser Stelle bietet sich an zu erwähnen, daß Tirnas Buch auf eine akademische Tradition zurückgeht, die – wie unlängst Simcha Emanuel zeigte – ihren
22
Es ist jedoch anzumerken, daß zahlreiche gedruckte Editionen die Lesart chalajot beibehalten.
23
Trebitscher Machsor (Prag, Jüdisches Museum, Ms 250), fol. 1v.
24
ABRAHAM BEN AZRIEL: Sefer Arugat Habosem [Beet des Balsamstrauches]. Ed. Efraim E.
URBACH. Vol. 3. – Jerusalem: Mekize Nirdamim 1962, 438. Vgl. Das Hohelied 5:13.
25
Brünn (Brno), Mährische Landesbibliothek / Moravská zemská knihovna, ST3-0490.337/fr. 1.
Siehe VISI T., – M. JÁNOŠÍKOVÁ: A ‚Regional Perspective’, 218. Vgl. „Brno, MZK 9”, und JÁNOŠÍKOVÁ, M.:
Stratená knižnica, 136. Pijut: DAVIDSON, I.: Aleph, 7650.
365
Tamás Visi
Ursprung bereits im 13. Jahrhundert hat.26 Das Werk Eizik Tirnas fußt auf dem Buch
der Gebräuche Abraham Klausners. Dieses Buch ist eine korrigierte und mit Glossen versehene Version eines viel früheren Textes, den in der ersten Hälfte des 13.
Jahrhunderts in Magdeburg Ezechiel von Magdeburg (MaHaRIH) oder dessen Vater
Jakob verfaßt hatte.
Daß diese akademische Tradition nicht überall in der Praxis beachtet wurde, versuchten Magdaléna Jánošíková und ich an anderer Stelle zu zeigen.27 So wurde etwa
die Ordnung liturgischer Gesänge für das Laubhüttenfest Sukkot klar von Klausner
und Tirna festgelegt, aber diese Ordnung wird im Trebitscher Machsor und in Mähren und Böhmen gefundenen liturgischen Fragmenten nicht eingehalten. Dieses
Zeugnis legt nahe, daß die aktuelle liturgische Praxis unterschiedlich war.
Diese Mannigfaltigkeit belegt auch der Unterschied zwischen zwei Fragmenten,
die die gleiche Liturgie beschreiben. Auf dem Speicher der Synagoge in dem mährischen Städtchen Loschitz (Loštice) wurden verschiedene Fragmente hebräischer
Handschriften gefunden, die sich überwiegend in die Zeit zwischen dem Ende des
18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts datieren lassen. Unter ihnen befand sich
auch ein Einzelblatt, das das Schlußgebet für das Purimfest enthält. Dieses Fragment läßt sich in das 15. Jahrhundert datieren. Ein Fragment aus derselben Zeit, das
sowohl wegen des Formats, als auch wegen der Schrift beachtenswert ist, wurde im
österreichischen Benediktinerstift Admont (Benediktinerstift B 24) gefunden. Beide
Fragmente unterscheiden sich dadurch, daß nach Beendigung des Gebets jedes
von ihnen eine andere Instruktion gibt: Nach dem mährischen Fragment sollte das
Gebet ein halber Kaddisch abschließen, worauf die Thoralesung folgen sollte. Dagegen ordnet das Admonter Fragment die komplette Rezitierung des Kaddisch an. In
diesem Fall stimmt das mährische Fragment tatsächlich mit dem Sefer ha-minhagim
Eizik Tirnas und mit der breiteren akademischen Tradition, die Tirnas Werk vertritt,
überein.28 Das österreichische Fragment belegt, daß es in dieser Region auch eine
andere Bräuche gab.
Abschließend möchte ich zusammenfassen, daß die Fragmente liturgischer
Handschriften aus Mähren von zwei wichtigen Erscheinungen zeugen:
1. Vom Prozeß der Standardisierung: Korrekturen am Rand des Textes im Trebitscher Machsor und in Fragmenten liturgischer Handschriften, die in Bucheinbänden gefunden wurden, beweisen die allmählichen Entstehung eines vereinheitlichten liturgischen Textes.
26
EMANUEL, Simcha: Fragments of the Tablets: Lost Books of the Tosaphists. – Jerusalem: Magnes
2006, 219–228 (in Hebräisch).
27
Siehe VISI, T., – M. JANOŠÍKOVÁ: A ‘Regional Perspective’, 201–203.
28
EIZIK TIRNA: Sefer ha-minhagim [Buch der Bräuche]. Ed. Sh. SPITZER, 159. Sefer Maharil, 60a.
Vgl. VISI, T., – M. JÁNOŠÍKOVÁ: A ‘Regional Perspective’, 203, Anmerkung 62.
366
Jüdische liturgische Traditionen des mittelalterlichen Mährens
2. Von einer Vielfalt: Trotz des oben erwähnten Standardisierungprozesses verweisen die liturgischen Handschriften nicht darauf, daß im Bereich Mährens irgendeine vereinheitlichte und allgemein angenommene Liturgieordnung bestanden
hätte. Ziehen wir diese Schlüsse in Betracht, können wir verstehen, warum Rabbiner wie Abraham Klausner, Eizik Tirna oder Jisrael Bruna versuchten, Gebetstexte
zu korrigieren und eine liturgische Ordnung festzulegen. Die Vielfalt verschiedener
Lesarten von Wörten in den Handschriften war für die Rabbiner genauso unbefriedigend wie für die Schreiber, die Handschriften verglichen und korrigierten.
Im Vorwort seines Buches Sefer ha-minhagim beschwert sich Eizik Tirna, daß die
Mehrheit der Menschen „in diesen Ländern“ – also Mähren, Österreich, Böhmen
und Ungarn – nicht die wahre Form liturgischer Bräuche kenne. Das Zeugnis der
Handschriften zeigt, daß die liturgischen Praktiken im Bereich Mährens keineswegs
einheitlich waren und daß hochgebildete Rabbiner diese Vielfalt als Unkenntnis
empfanden.
Lokale Unterschiede in Liturgie und anderen religiösen Bräuchen bestanden
unter aschkenasischen Gemeinden seit der Mitte des 11. Jahrhunderts.29 Solche
Unterschiede wurden durch aschkenasische Rabbiner registriert und akzeptiert,
die nicht versuchten, lokale Unterschiede zu tilgen und unter normalen Umständen einen einheitlichen „korrekten“ Text für die aschkenasische Judenheit zu anzuwenden. Eine Möglichkeit ist, daß lokale liturgischen Traditionen alter Gemeinden
infolge von Verfolgungen, Vertreibungen und Migrationen erschüttert wurden und
es zur Gründung neuer Gemeinden gemischten Hintergrunds kam. Liturgische
Bräuche, die ihren Ursprung an verschiedenen Orten hatten, vermischten sich und
Vorbeter konnten verwirrt sein, welcher Variante zu folgen sei. Deshalb konnte die
Suche nach einer „korrekten“ Version der Gebete als Antwort auf diese Situation
erscheinen.30
Ein Grund, warum Rabbiner und Schreiber so viel Zeit und Energie in das Korrigieren hebräischer liturgischer Manuskripte investierten, war vielleicht das Bestreben, durch Gebete Verfolgungen vorzubeugen. Es ist ein universeller Glaube des
Judentums, daß Verfolgungen auf göttlichen Befehl zurückgehen – es ist dies die
hebräische geserah, was ursprünglich „[göttliche] Anordnung“ bedeutet und später die Bedeutung „Verfolgung“ erhielt.31 Es wurde auch allgemein geglaubt, daß
29
Siehe Israel M. Ta-Shma, Minhag Ashkenaz ha-qadmon [Frühe aschkenasische Rituale und
Bräuche]. – Jerusalem: Magnes, 1992, 22–27.
30
Ich bin einem anonymen Rezensenten dieses Aufsatzes für diesen Hinweis zu Dank verpflichtet.
31
Das Wort „geserah” verweist auf ein göttliches Gericht – kollektive Bestrafung der jüdischen
Gemeinden inbegriffen –, verordnet von Gott an Rosh ha-shana oder Jom kippur im Babylonischen Talmud (ein locus classicus ist Shabbat 17b). Mittelalterliche hebräische Schreiber waren gewöhnlich durch
diese talmudische Wortbedeutung beeinflußt, wenn sie auf eine Verfolgung als „geserah“ hinwiesen. Vgl.
HABERMANN, A. M. (ed.): Sefer Gezerot Ashkenaz ve-Tzarfat [Das Buch der geserot von Deutschland und
Frankreich]. – Jerusalem: Tarsis & Mosad Harav Kook 1946, 28–29, 48, 61, 88–89. Der Gedanke, daß ein
Gebet solche göttlichen Bestrafungen verhindern könne, gehört zu den zentralen Grundsätzen rabbini-
367
Tamás Visi
menschliche Wesen Gottes Entscheidungen durch Gebete beeinflussen könnten.32
Daher konnte die Serie von Verfolgungen, die in den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts kam – „Wiener Gesera” von 1421, Ausweisung der Juden aus Iglau (Jihlava)
1426 und möglicherweise eine Zwangskonversion in Olmütz (Olomouc) 1425 – als
Folgen eines Versäumnisses beim Gebet gesehen werden.33 Die Juden wollten besser
beten, um Verfolgungen vorzubeugen; ihre Schreiber und Rabbiner glaubten, daß
die Effektivität des Gebets von der Korrektur des Textes von Gebeten beeinflußt werden könne. Vielleicht waren die wiederholten Versuche Abraham Klausners, Eizik
Tirnas und Israel Brunas wie auch einer Reihe anonymer Schreiber, Gebetstexte zu
korrigieren, durch diesen religiösen Gedanken motiviert.
Židovské liturgické tradice středověké Moravy
V patnáctém století došlo k přehodnocení židovských liturgických textů a zvyků rabíny
v Rakousku, na Moravě a v sousedních zemích. Spisy dvou slavných rabínů, kteří byli aktivní
určitou dobu během první poloviny patnáctého století v Brně, Eizika Tirny a Jisraela Bruna,
fragmenty liturgických rukopisů nalezených v makulatuře křesťanských knih a dokumentů
na Moravě, a marginální glosy v Třebíčském machzoru, to vše svědčí o pokusech opravit texty
židovských modliteb.
scher Theologie. Shlomo bar Shimeons Bericht über die Verfolgung des Jahres 1096 erwähnt den Mißerfolg von Juden im Gebet als die Ursache der „geserah“ (Verfolgung, göttliche Bestrafung). Siehe Habermann, Sefer Gezerot Ashkenaz ve-Tzarfat, 48, 88–89.
32
Zu den ersten Reaktionen auf die Bedrohung durch den zweiten Hussitenkreuzzug von 1421
gehörten nach Auskunft des Berichts, den uns Salman von St. Goar, ein Schüler des MaHaRIL, hinterlassen hat, die Anordnung von Fasten, Almosen und Gebeten. Siehe YUVAL, Israel J.: Juden, Hussiten und
Deutsche. Nach einer hebräischen Chronik. – In: HAVERKAMP, Alfred, – Franz-Josef ZIWES (eds.): Juden
in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters. – Berlin: Duncker & Humblot 1992 [= Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 13], 59–102, hier 70f., 99–101.
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Daniel Soukup unterstützte unlängst die These, daß die Legende von der Konversion des Rabbi
Moses von Olmütz eine Verfolgung und Zwangskonversion in Olmütz 1425 reflektiert. Siehe SOUKUP,
Daniel: The Alleged Conversion of the Olomouc Rabbi Moses in 1425. Contribution to the Host Desecration Legends in Medieval Literature. – In: Judaica Bohemiae XLVIII (2013), 5–38.
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