Ottmar Ette und Paulo Astor Soethe
Einleitung
João Guimarães Rosa (1908–1967) ist aus heutiger Sicht der bei weitem wichtigste
Romancier Brasiliens aus der Zeit seiner literarischen Schaffensperiode, die sich
über die 40er, 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts erstreckte. Geboren in der
kleinen Stadt Cordisburgo im Bundesstaat Minas Gerais studierte er Medizin in
Belo Horizonte und arbeitete relativ kurze Zeit als Arzt bis er sich 1934 für eine
Karriere als Diplomat in Rio de Janeiro entschloss. Nach der entsprechenden Ausbildung im Jahre 1938 trat er sein erstes Amt als brasilianischer Vizekonsul in
Hamburg an. In der Hansestadt wirkte er bis 1942, als Brasilien, nach langem politischem Zögern und unter starkem Druck durch Nordamerika, dem Dritten Reich
und Italien den Krieg erklärte.
Rosa war der einzige lateinamerikanische Intellektuelle seines Rangs, der in
jener Zeit derart lange in Deutschland lebte bzw. leben musste. Während ihm in
seiner Kindheit ein eher idealisierter Bezug zur deutschen Sprache zuteil wurde,
veränderten die neuen Erfahrungen seinen Blick auf Deutschland und das historische Erbe Europa, mit dem er sich geistig verbunden fühlte.
Nach seiner Rückkehr nach Brasilien wirkte er als Botschafter in Paris und Bogotá; von 1945 bis zu seinem Tod im Jahr 1967 nahm er mehrmals politische und
administrative Posten im Außenministerium in Rio de Janeiro ein.1 Jahrelang wirkte er zum Beispiel während der Regierung von Bundespräsidenten Gaspar Dutra
als erster Staatssekretär im Außenministerium Brasiliens und diente somit Minister João Neves da Fontoura, an dessen Stelle er am 16. November 1967 die Academia Brasileira de Letras antrat. Drei Tage später starb Rosa an einem Herzinfarkt.
Die literarische Laufbahn Rosas verlief parallel zu seiner diplomatischen Karriere vor allem ab 1946, als er sich entschloss, den Erzählband Sagarana zu veröffentlichen, für den er 1938 den zweiten Platz im Literatur-Wettbewerb des brasilianischen Verlags José Olympio erhalten hatte. Der Novellenzyklus Corpo de
Baile und Grande sertão: veredas, wichtigster Roman der brasilianischen Literatur
in der Mitte des 20. Jahrhunderts, erschienen beide zugleich erst zehn Jahre später. In seinem letzten Werk Ave, Palavra (1970, postum) erschienen die sogenannten deutschen Kurzgeschichten, in denen die Hamburger Zeit des brasilianischen
Schriftstellers literarisch verarbeitet wird.2
1 Vgl. Heloisa Vilhena de Araújo: Guimarães Rosa: diplomata. Ministério das Relações Exteriores: Fundação Alexandre de Gusmão 1987.
2 Vgl. Paulo Astor Soethe: A imagem da Alemanha em Guimarães Rosa como retrato auto-irônico. In: Scripta 9/17 (2005), S. 287–381. Ders.: Os humores de Wotan: fontes alemãs de Guimarães
Open Access. © 2020 Ottmar Ette und Paulo Astor Soethe, publiziert von De Gruyter.
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https://doi.org/10.1515/9783110677713-001
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Ottmar Ette und Paulo Astor Soethe
Guimarães Rosa war trotz seines bewegten Diplomatenlebens ein sorgfältiger
Archivar des eigenen Schaffens: Handschriften, angemerkte Exemplare seiner
Privatbibliothek im Instituto de Estudos Brasileiros an der Universität São Paulo
(IEB/USP), sein bisher unveröffentlichtes deutsches Tagebuch im Rosa-Archiv der
Bundesuniversität von Minas Gerais und zahlreiche Briefe enthalten Informationen zu Rosas Konfrontation mit Deutschland und zu seiner Rezeption deutschsprachiger Werke.3 Das Material wurde unter diesem Aspekt erst seit 2001 systematisch erforscht. Rosas Interesse an deutscher Sprache und Kultur lässt sich
anhand der in seiner Privatbibliothek aufbewahrten deutschsprachigen Werke erkennen.4 Unter insgesamt gut 3000 Titeln befinden sich dort 360 Bücher auf
Deutsch bzw. Werke über deutsche Themen in französischer, spanischer, englischer, italienischer und portugiesischer Sprache. Die Filmemacherinnen Adriana Jacobsen und Soraia Vilela haben nach langjähriger intensiver Recherche zum
Hamburger Aufenthalt von Guimarães Rosa den Dokumentarfilm outro sertão vorgelegt.5 Der Film erzeugte in der brasilianischen Öffentlichkeit ein großes Echo
und erhielt mehrere Auszeichnungen. Parallel zur Entstehung des Films leisteten
die Regisseurinnen durch das Sammeln von Informationen und Dokumenten,
durch das Führen und Aufzeichnen von Interviews (über 100 Stunden Videomaterial), sowie durch einige Publikationen6 wichtige Beiträge zur Erforschung des
Themas.
Rosa. In: Antonio Donizeti da Cruz/Lourdes Kamisnki Alves (Hg.): Literatura e contexto na América Latina. Cascavel: EdUnioeste, 2012. Jaime Ginzburg: Guimarães Rosa e o terror total. In: Elcio
Cornelsen/Tom Burns (Hg.): Literatura e Guerra. Belo Horizonte: Editora UFMG, 2010b, S. 17–27.
Und outro sertão. Regie: Adriana Jacobsen/Soraia Vilela. Brasilien, 2013. DVD, 73’.
3 Georg Otte: O ‹Diário Alemão› de João Guimarães Rosa – Relato de um projeto de pesquisa em
andamento. In: Leila Parreira Duarte (Hg.): Veredas de Rosa II. Belo Horizonte: PUCMinas, 2003,
S. 285–290. Marques, Reinaldo M. O diário de Guimarães Rosa na Alemanha: a escritura e a leitura como coleção. In: José Cirillo/Ângela Grando (Hg.): Processos de criação e interações: a crítica
genética em debate nas artes, ensino e literatura. Belo Horizonte: C/Arte, 2008, S. 294–302. Jaime
Ginzburg: Notas sobre o Diário de guerra de João Guimarães Rosa. In: Aletria 20/2 (2010a), S. 95–
107.
4 Paulo Astor Soethe: «Goethe war ein sertanejo»: das selbstreflexive Deutschland-Bild Guimarães Rosas. In: Peter Birle/Friedhelm Schmidt-Welle (Hg.): Wechselseitige Perzeptionen: Deutschland – Lateinamerika im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Vervuert 2007, S. 171–193. Daniel R. Bonomo: A biblioteca alemã de João Guimarães Rosa. In: Pandaemonium germanicum 16 (2010),
S. 155–183.
5 outro sertão. Regie: Adriana Jacobsen, Soraia Vilela. Brasilien, 2013. DVD, 73’.
6 Adriana Jacobsen/Soraia Vilela: Diário de uma Busca. In: Humboldt 49/95 (2007), S. 74–75.
Dies.: Guimarães Rosa na Alemanha. In: Cadernos de Literatura Brasileira 20–21 (2006), Beilageheft.
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Für mehr Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Guimarães Rosa seit seiner
frühen Kindheit und bis zum Lebensende großes Interesse an der deutschen Sprache hatte, sorgte die Veröffentlichung des Briefwechsels7 zwischen ihm und seinem deutschen Übersetzer Curt Meyer-Clason (1910–2012), dessen Nachlass sich
seit 2013 im Iberoamerikanischen Institut zu Berlin befindet. Curt Meyer-Clason
hatte sich bereits bemüht, in verschiedenen Eigentexten diesen Aspekt im Leben
und Werk des Brasilianers hervorzuheben.
Curt Meyer-Clason wurde im Jahr 1910, somit zwei Jahre nach Rosa, in Ludwigsburg geboren. Er absolvierte eine Banklehre, erhielt eine kaufmännische
Ausbildung im Baumwollimport und übte auch in Südamerika diesen Beruf aus.
Aus diesem Grund verbrachte er seine Jugendjahre in Brasilien. Während der
1940er Jahre geriet er dort in Kontakt mit Agenten und Kollaborateuren des Nationalsozialismus, was ihn unter Spionage-Verdacht stellte. Auf Befehl brasilianischer Behörden wurde er deshalb für knapp fünf Jahre (1942–1946) interniert. In
dieser Haftzeit begann seine Beziehung zur Literatur, der er sich in Deutschland
ab 1955 und nach seiner Rückkehr aus Brasilien bis zu seinem Lebensende hauptberuflich widmen sollte, auch als Schriftsteller und Literaturkritiker. Orlando
Grossegesse hat Curt Meyer-Clason treffend als «ein[en] Mensch[en]» definiert,
«der im Strudel der deutschen Katastrophe zur Selbstreflexion und in das Niemandsland der Literatur getrieben wird und dort das Übersetzen als seine Berufung erkennt».8 Letzten Endes hängt auch seine spätere Tätigkeit als Leiter des
Goethe-Instituts in Lissabon von 1969 bis 1977 damit zusammen, dass er sich in
den Jahren zuvor einen Namen als Übersetzer von Werken großer Schriftsteller
aus dem iberoamerikanischen Raum, insbesondere des mittlerweile international
anerkannten João Guimarães Rosa, gemacht hatte. Schon im ersten Jahr seiner
Präsenz in der portugiesischen Hauptstadt organisierte der deutsche Gesandte
eine Publikation über den großen brasilianischen Schriftsteller und veröffentlichte dort einen eigenen Beitrag über «Guimarães Rosa und die deutsche Sprache».9
Die persönliche Bekanntschaft und intensive literarische Zusammenarbeit
zwischen João Guimarães Rosa und Curt Meyer-Clason ist im transarealen Raum
7 Maria Apparecida Faria Marcondes Bussolotti (Hg.): João Guimarães Rosa – Correspondência
com seu tradutor alemão Curt Meyer-Clason (1958–1967). Rio de Janeiro/Belo Horizonte: Nova
Fronteira/Editora da UFMG, 2003.
8 Orlando Grossegesse: Verwandlungskünstler zwischen Brasilien und Deutschland. In: Tópicos
3 (2010), S. 48–49, hier S. 48.
9 Curt Meyer-Clason: João Guimarães Rosa e a língua alemã. In: Curt Meyer-Clason et al. Guimarães Rosa. Lisboa: Inst. Luso-Brasileiro 1969, S. 43–59.
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der deutsch-brasilianischen Kulturbeziehungen ein besonderer Fall.10 Die profunde Auseinandersetzung beider Intellektueller mit dem entsprechend anderen Kulturraum, ihre persönlichen Erfahrungen vor Ort und ihre starke Beteiligung an
politischen, ökonomischen und sozialen Ereignissen in der Geschichte dieser
Länder hinterließen in beider Leben tiefe Spuren und beeinflussten zutiefst ihren
jeweiligen Entschluss, literarisches Wissen zu produzieren und von literarischem
Wissen Gebrauch zu machen, auf dass ihre Mitmenschen – im Zeichen eines
grenzüberschreitenden, dialogstiftenden Schreibens im Leben – über die Möglichkeiten des Zusammenlebens reflektieren sollten. Denn auch Brasilien betrieb
während der faschistoiden Diktatur unter Getúlio Vargas, des Estado Novo
(1937–1945), eine antisemitische Geheimpolitik11, in deren Dienst Guimarães Rosa
als Diplomat stehen musste. Er hat sich dazu in literarischen Texten diskret, aber
kritisch geäußert, jedoch wurde diese Thematik bei weitem noch nicht ausführlich genug untersucht.12 Das sind Aspekte des Werkes von Rosa, die der vorliegende Band literatur-, kultur- und übersetzungswissenschaftlich erörtern möchte,
auch mit dem Ziel, zur Entwicklung historischen Bewusstseins und der Pflege demokratischer Kultur in Brasilien und Deutschland beizutragen.
Im interdisziplinären Dialog zwischen brasilianischer und portugiesischer
Germanistik sowie deutscher und brasilianischer Romanistik erweisen sich bei
der Erforschung dieses im Spannungsfeld des für die deutsch-brasilianischen
Kulturbeziehungen zentralen Sujets die damit verbundenen Fragestellungen als
produktiv und sinnvoll. Sowohl in methodologischer als auch epistemologischer
Hinsicht werden in den folgenden Beiträgen innovative Ansätze erprobt und weiterentwickelt.
10 Vgl. dazu auch Stefan Kutzenberger: Europa in Grande sertão: veredas, Grande sertão: veredas
in Europa. Amsterdam: Rodopi 2005. Marcel Vejmelka: Kreuzwege: Querungen – João Guimarães
Rosas Grande sertão: veredas und Thomas Manns Doktor Faustus im interkulturellen Vergleich. Berlin: Tranvía 2005. Orlando Grossegesse: Verwandlungskünstler zwischen Brasilien und Deutschland. In: Tópicos 3 (2010), S. 48–49. Berthold Zilly: Entremundos. Un grand segnieur del diálogo
entre culturas y personas. In Memoriam Curt Meyer-Clason (1910–2012). In: Humboldt 138 (2012),
S. 82–83.
11 Maria Luiza Tucci Carneiro: O anti-semitismo na Era Vargas. São Paulo: Perspectiva 2001;
dies. (Hg.): O Antissemitismo nas Américas. Memória e História, vol. 1. São Paulo: EDUSP 2007;
dies.: Cidadão do Mundo. O Brasil diante do Holocausto e dos refugiados do nazifascismo, 1933–
1948, vol. 1. São Paulo: Perspectiva 2010.
12 Paulo Astor Soethe: Os humores de Wotan: fontes alemãs de Guimarães Rosa. In: Cruz, Antonio Donizeti da Cruz/Lourdes Kamisnki Alves (Hg.): Literatura e contexto na América Latina. Cascavel: EdUnioeste 2012. Jaime Ginzburg: Guimarães Rosa e o terror total. In: Elcio Cornelsen/Tom
Burns (Hg.): Literatura e Guerra. Belo Horizonte: Editora UFMG 2010b, S. 17–27.
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Die Konfrontation mit Faschismus, autoritärer Staatsführung in den 1930er
und 1940er Jahren in Deutschland und in Brasilien sowie die Auseinandersetzung
mit dem Krieg bedarf in der Forschung über João Guimarães Rosa und Curt MeyerClason immer noch der genaueren Untersuchung und beinhaltet ein großes heuristisches Potenzial hinsichtlich der Wirkung ihrer Persönlichkeiten und Werke
auf die heutige Öffentlichkeit und Problemstellungen, die erneut ganz hoch auf
der weltpolitischen Tagesordnung stehen.
Die vorliegende Publikation soll die Sichtbarkeit sowie die Anschlussfähigkeit ihres Themas an die Diskussion durch eine breite internationale Öffentlichkeit belegen und zu deren Weiterführung ermutigen und einladen.