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Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis (Hrsg.) Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern Reflexionen & Forschungsbericht Sandro Bliemetsrieder | Katja Maar | Josephina Schmidt | Athanasios Tsirikiotis (Hrsg.) Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis (Hrsg.) Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern Reflexionen & Forschungsbericht Hochschule Esslingen Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern Herausgegeben von Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis Titelbild Wolfgang Bliemetsrieder, 2014, Privatbesitz Alle Rechte vorbehalten Esslingen, im April 2018 ISBN 978-3-947390-04-5 (PDF) Inhaltsverzeichnis Einleitung: Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ................................................................................................ 10 Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis „Wir leben unser Leben.“ Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern (Fachtag) Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe: Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ................................... 26 Klaus Dörner Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen: Teilhabe bei psychischen Erkrankungen ............................................................. 42 Bernhard Dollerschell, Martin Ortolf Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen .............................................................................. 52 Barbara Mechelke-Bordanowicz „Wir leben unser Leben – miteinander“.............................................................. 58 Michael Tetzer Menschenrechte und Soziale Arbeit in der Psychiatrie (Forschungskolloquium) Menschenrechte und Soziale Arbeit. Reflexionen im Kontext des Forschungsprojektes „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ ....................................................... 66 Eric Mührel Menschenrechte und Gesundheit ........................................................................ 88 Alexander Schmid 7 Inhaltsverzeichnis Soziale Diagnostik und sozialpädagogisches Fallverstehen (Forschungskolloquium) Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit ........................................................................... 112 Julia Gebrande Rekonstruktive Fallwerkstätten als Methode (macht)reflexiver Sozialer Arbeit - am Beispiel der Sozialpsychiatrie ......................................................................................... 128 Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis Diagnostik in der Sozialen Arbeit ..................................................................... 160 Hubert Höllmüller Wissenschaftliche Reflexionen zur Sozialpsychiatrie Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen ........................................................................ 180 Clarissa Hechler, Claus Melter Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ – Eine differenzreflexive Betrachtung der Partizipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit .............................................................. 216 Stefan Schäfferling Psychiatrisierte Personen und Spiritualität. Transzendenz im Lichte philosophischer Diskurse und die Bedeutung für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ....................................................... 250 Johanna Kohler Inhaltsverzeichnis 8 Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Dokumentation der Forschungsergebnisse Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ....................................................... 270 Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis Reflexionen zum Forschungsprozess und -ethik Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation? Reflexionen zur Forschungsmethodik und -ethik im Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“.............................. 356 Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis Autor_innenverzeichnis .................................................................................. 396 Einleitung: Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis Das Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ Das durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg geförderte Projekt »Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern« hatte eine Laufzeit von zwei Jahren (01.10.2014 - 30.09.2016) und war an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen angesiedelt. Die vorliegende Veröffentlichung des Forschungsprojektes hat das Ziel, den öffentlichen sowie wissenschaftlichen Diskurs um Partizipationsmöglichkeiten psychiatrieerfahrener Personen aufzunehmen. Dazu versammeln sich hier Beiträge aus erfahrungsgeleiteten, professionsbezogenen und empirischen Perspektiven, die in unterschiedlichen Stadien des Forschungsprojektes gemeinsam gewonnen und diskutiert wurden. Darüber hinaus möchte diese Publikation anhand der Rekonstruktion von Erfahrungen und Wahrnehmungen verschiedener Akteur_innen aus dem Feld der Sozialpsychiatrie den Begriff der Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ausleuchten. Dabei geht es insbesondere darum, den Diskurs zwischen Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen sowie der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit anzuregen und weiterzuführen. Besonderer Dank gilt dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst BadenWürttemberg für die Forschungsförderung, unseren engagierten Forschungs- und Diskurspartner_innen für die vertrauensvolle und eröffnende Zusammenarbeit und Frau Nadjila Nasar für das engagierte und kompetente Lektorat. Möge es weiterhin ein gemeinsames Ringen und Nachdenken aller in und an sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern beteiligten Akteur_innen über Partizipation geben. 11 Einleitung Partizipation als unbestimmter Begriff Die Auseinandersetzung mit der Frage nach Partizipation findet auf mehreren Ebenen statt und wird von verschiedenen, mit unterschiedlicher Handlungs- und Deutungsmacht ausgestatteten, Akteur_innen geführt. So wird u.a. die Bedeutung der Beteiligung von Menschen mit psychischer Erkrankung bei der Gestaltung und Erbringung sozialarbeiterischer Hilfen – also der Teilhabe im Gegensatz zur bloßen Teilnahme – hervorgehoben (vgl. Schnurr 2005; Lenz 2006; Straßburger/Rieger et al. 2014). Zudem werden die positiven Effekte der Beteiligung auf die Behandlung psychischer Erkrankungen thematisiert (vgl. Terzioglu 2006; Grätz und Brieger 2012). Der wissenschaftliche Diskurs um eine Adressat_innen- bzw. Nutzer_innenperspektive hebt explizit die Notwendigkeit der Partizipation der Adressat_innen für das Gelingen bzw. den Gebrauchswert der Praxis der Sozialen Arbeit hervor (vgl. Graßhoff et al. 2012; Bitzan/Bolay/Thiersch 2006; Oelerich/Schaarschuch 2005; Schaarschuch 1999, 2003). Auch die Verbände der Psychiatrie-Erfahrenen, u.a. der Landesverband der Psychiatrie-Erfahrenen Baden-Württemberg (LVPEBW), fordern einen Zuwachs an Partizipationsmöglichkeiten. Damit verbinden sie zugleich die Weiterentwicklung der trialogischen Ausgestaltung von Hilfen mit dem Ziel der Förderung und der langfristigen strukturellen Etablierung der Selbsthilfe unter Betroffenen (vgl. LVPEBW e.V. 2015). Innerhalb des Diskurses lässt sich angesichts der Vielfalt der Deutungen und Interessen der Begriff der Partizipation nicht vereinheitlichen. Auch würden Sozialwissenschaftler_innen ihre Deutungsmacht im öffentlichen Diskurs überschätzen, wenn sie versuchten, verallgemeinerte Begriffsbestimmungen, welche sie in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit herausgearbeitet haben, als »akademische Wahrheit« durchzusetzen. Vielmehr sollte kritisch verstandene Sozialwissenschaft versuchen, auf den dahinter liegenden Sinn der Begriffskonstruktionen bzw. auf die subjektiven Wahrnehmungen der jeweiligen Akteur_innen zu blicken, um sich dem Begriff der Partizipation – mit Erhalt seiner Vielfältigkeit - anzunähern. Die Forschungshaltung des hier zugrunde liegenden Forschungsprojektes war dementsprechend davon geleitet, dass gesellschaftliche wie individuelle Entwicklungen, die Vorstellung von sogenannter Normalität und damit das Verständnis von »Gesundheit« und »Krankheit« zu unterschiedlichen Wahrnehmungen von Partizipation führen. Daraus resultieren verschiedene Forderungen, Inhalte, Vorstellungen und Erwartungen an – bzw. Einschätzungen über – die (politische) Reichweite von Partizipation. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 12 So stellt sich z.B. die Frage danach, woran partizipiert werden soll? Steckt dahinter die Vorstellung der Teilhabe an dem gemeinsamen, demokratischen Projekt »Gesellschaft«, welches entsprechend der Bedürfnisse der Akteur_innen (mit-)gestaltet werden kann und muss? Oder die Vorstellung von Teilnahme an bereits existierenden – und folglich unveränderbaren – Mustern von Vergesellschaftung? Ebenso stellt sich die Frage, ob es genügt, Partizipation nur in das therapeutische Instrumentarium bzw. Setting von Psychiater_innen zu integrieren? Die Auseinandersetzung mit der Frage nach Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern bedarf insbesondere eines sozialwissenschaftlichen Zugangs, der nicht versucht ist, die Spannungsfelder zu verdecken und den Partizipationsbegriff zugunsten einer bestimmten Akteur_innen-Perspektive zu vereindeutigen. Vielmehr scheint es geboten, die Aufgabe Sozialer Arbeit als – nicht endgültig abzuschließenden – Aushandlungsprozess gerade in diesem Spannungsverhältnis zu begreifen, in welchem die institutionelle Verantwortung für den Schutz und zugleich auch die advokatorische Unterstützung und Beförderung von emanzipatorischen Bemühungen ihrer Adressat_innen immer neu und handlungsbezogen zu verorten sind. Normativ orientiert sich ein solches Professionsverständnis an den Menschenrechten, der Menschenwürde und der sozialen Gerechtigkeit. Fragestellungen des Forschungsprojektes Die Frage nach Partizipation als Voraussetzung für die Gewährleistung gelingender Hilfeund Unterstützungsangebote rückt in jüngster Vergangenheit zunehmend in den Fokus des Diskurses Sozialer Arbeit. Vor diesem Hintergrund fordern Vertreter_innen unterschiedlicher theoretischer Paradigmen Sozialer Arbeit einen Perspektivenwechsel von der Professionellenhin zur Adressat_innenperspektive, einen stärkeren Fokus auf eine machtreflexive Vermittlung von Wissensarten und einen Einbezug genealogischer Theorietraditionen (vgl. u.a. Bitzan/Bolay/Thiersch 2006; Dewe 2015; Foucault 1978; Graßhoff 2012 et al.; Hanses 2012; Ralser 2010; Schaarschuch 1999, 2003). Hier setzt das zugrundeliegende Forschungsprojekt an, indem es nach Definitionen, Möglichkeits- und Verwirklichungsräumen für Partizipation im Feld der Sozialpsychiatrie aus der Perspektive der Adressat_innen und weiterer Akteur_innen fragt. Erkenntnisleitende Forschungsfragen sind dabei insbesondere: Einleitung 13 • Was bedeutet Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern aus der Perspektive verschiedener Akteur_innen? • Wie erleben Adressat_innen sozialpsychiatrischer Einrichtungen Partizipation? Was würden sie sich wünschen? • Wie wird Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern thematisiert und umgesetzt? • Welche Machtverhältnisse werden in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern reproduziert, stabilisiert bzw. dekonstruiert? Methodischer Zugang Im Forschungsprozess wurden qualitative Verfahren der Sozialforschung eingesetzt (vgl. Flick 2010; Bohnsack 2007). Das explorativ, d.h. offen und unvoreingenommen ausgerichtete Forschungsdesign wurde damit dem Umstand gerecht, dass es sich um ein weitgehend unerforschtes Untersuchungsfeld handelt. Um den Forschungsgegenstand „Partizipation“ gemäß des im Feld der Sozialpsychiatrie mittlerweile etablierten trialogischen Konzepts hinreichend untersuchen zu können, wurden Psychiatrie-Erfahrene, Professionist_innen (Fachkräfte und Leitungen) und Angehörige in den Untersuchungsprozess gleichermaßen eingebunden. Gerade die systematische Einbindung des sozialen Umfelds bzw. der Angehörigen markiert eine zentrale Forschungslücke und ließ wichtige Erkenntnisse in Bezug auf die praktische Umsetzbarkeit von partizipativen Elementen erwarten (vgl. auch für die hohe Bedeutung des sozialen Umfeldes für Zwangsverhinderung: Kruckenberg 2011, S. 35-37). Wie bei qualitativen Forschungen üblich, war der gesamte Forschungsverlauf iterativ und zirkulär angelegt. Das heißt, dass parallel zur laufenden Datenerhebung die bereits transkribierten Interviews ausgewertet und in Forschungskolloquien oder Fallwerkstätten diskutiert wurden, um den weiteren Forschungsprozess daran auszurichten. In mehrfacher Hinsicht wurden Methoden der qualitativen Sozialforschung triangulierend verwendet, d.h. mehrere Methoden wurden miteinander kombiniert, um den genannten Forschungsfragen und – perspektiven in angemessener Form gerecht zu werden: Der erste Feldzugang erfolgte über ein Experten-Interview mit einem Vertreter eines Interessenverbandes Psychiatrie-Erfahrener auf Landesebene. Im Anschluss daran konnten Vertre- Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 14 ter_innen verschiedener Handlungsfelder der Sozialpsychiatrie für die Teilnahme an der Forschung aquiriert werden, sodass eine Vielfalt an Lebensdeutungen und Lebenslagen in der Sozialpsychiatrie abgebildet werden konnte. Darüber hinaus wurde bei der Datenauswertung einerseits ein halb offenes Kodierverfahren – angelehnt an die Grounded Theory-Methode (vgl. Glaser & Strauss 1998) – eingesetzt, wodurch Lebensbereiche rekonstruiert werden konnten, die der Kategorisierung der Identitätsdimensionen im Identitätskonzept von Heiner Keupp et al (2008) ähneln, jedoch um weitere handlungsfeldspezifische Kategorien – die sich aus dem Datenmaterial heraus aufdrängten und rekonstruiert werden konnten – erweitert wurden. Besonders die Kategorien Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein und Partizipation führten schließlich in bedeutsame zentrale Forschungsergebnisse (vgl. hierzu auch Kapitel 5 dieses Bandes). Mit dem Bewusstsein, dass Identitätenentwicklung einer Dynamik unterliegt, die keinen festen Zustand erheben lässt, brauchte es aus Sicht des Forschungsteam die Ergänzung um eine Analysemethode, welche das Gewordensein bzw. die Gebildetheit des Falls rekonstruieren lässt. Die Methode, die am deutlichsten das Prinzip der Sequenzialität berücksichtigt, die Objektive Hermeneutik (vgl. Oevermann 2002), wurde daher zur Feinanalyse einzelner Interviewpassagen verwendet, um in Interpretationsgruppen der Bedeutungszuschreibung von Partizipation näher zu kommen. Aufbau der Publikation: Wissenschaftliche Reflexionen und Ergebnistransfer im Forschungsverlauf „Wir leben unser Leben“. Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern (Fachtag) Die vorliegende Publikation beginnt im ersten Kapitel mit Beiträgen des Fachtags "Wir leben unser Leben: Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“, welcher am 15. Juli 2016 an der Hochschule Esslingen stattfand. Ziel des Fachtages war es, ein Forum zu bieten, um Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Interessierte sowie Mitarbeitende aus Wissenschaft und Praxis der Sozialpsychiatrie miteinander ins Gespräch zu bringen. Klaus Dörner skizziert in seinem Beitrag „Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe: Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ einen kurzen historischen 15 Einleitung Abriss über die Entstehung der klinischen Psychiatrie. Dabei reflektiert er auch seine wissenschaftliche und praxisbezogene Auseinandersetzung mit der Psychiatrie und mit psychiatrisierten Personen und setzt sich reflexiv mit Fragen von Gesundheit und Krankheit auseinander. Partizipation sieht er einerseits in dem trialogischen Zugang und fragt nach seiner Bedeutung für die Selbstvertretung der Psychiatrie-Erfahrenen und deren Angehörigen und andererseits in einem dyadischen Verhältnis von Hilfs- und Helfensbedürftigkeit. Abschließend warnt Dörner vor einem professionell gedachten, verwässernden und schwachen Partizipationsbegriff. Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf schließen in ihrem Beitrag „Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen: Teilhabe bei psychischen Erkrankungen“ als Vertreter des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg an Dörner an. Es ist den beiden Autoren ein Anliegen aufzuzeigen, welche konkreten Voraussetzungen bzw. Handlungsfelder notwendig sind, damit Psychiatrie-Erfahrene überhaupt in die Lage versetzt werden, um partizipieren zu können. Dabei werden in diesem Beitrag u.a. Selbsthilfefähigkeiten, die EX-IN Bewegung, trialogische Zugänge, psychoedukative Gesprächsgruppen, Psychoseseminare, Recovery-Gruppen, unterstützte Beschäftigung, Planungskreise, kommunale Vernetzungen, Arbeitskreise, Beschwerdewege (IBB-Stellen), empowermentorientierte Zugänge, nachbarschaftliche Hilfe und Interessensvertretungen benannt und konkretisiert. Der Beitrag „Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen“ von Barbara Mechelke-Bordanowicz lenkt den Blick auf Partizipation aus der Perspektive einer Angehörigen einer psychisch erkrankten Person. Aus dieser Perspektive heraus betrachtet plädiert Mechelke-Bordanowicz dafür, die Betroffenen und Angehörigen von Anfang an miteinzubeziehen. Am Beispiel des Psychisch- Kranken-Hilfegesetzes (PsychKHG) und des Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetzes (WTPG) möchte sie verdeutlichen, wie Partizipation wirken kann, aber auch wo Grenzen und vor allem Hemmnisse für Partizipation aufscheinen und welche Rahmenbedingungen notwendig wären, was bereits erreicht wurde und wo Apelle zu verhallen drohen. Michael Tetzer rundet mit seinem Tagungskommentar „Wir leben unser Leben – miteinander“ den Fachtag ab. Darin deutet er aus den Beiträgen des Fachtags heraus an, welche Normativitäten und Fragen nach einer „guten Lebensführung“ an den Beiträgen des Fachtags anschließen könnten. Er konfrontiert die unterschiedlichen Positionen mit aktuellen normativ- Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 16 theoretischen Konzepten des Capabilties Approaches mit seinen emotionstheoretischen Fragestellungen. Dabei kontextualisiert Tetzer das drohende Scheitern/Erschöpfen von Lebenspraxen und Institutionen in einer Leistungsgesellschaft und sucht nach Auswegen durch und in soziale(n) Beziehungen. Menschenrechte und Soziale Arbeit in der Psychiatrie (Forschungskolloquium I) Das zweite Kapitel beinhaltet Beiträgen aus dem „Forschungskolloquium zu Fragen einer Menschenrechtsorientierten Sozialen Arbeit in Handlungsfeldern der Sozialpsychiatrie“, das am 5. Mai 2015 an der Hochschule Esslingen im Rahmen des Forschungsprojektes „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ stattfand. Ziel dieses Kolloquiums war es, ethische und rechtliche Perspektiven einer menschenrechtsorientierten Sozialen Arbeit zusammenzudenken. In seinem Beitrag „Menschenrechte und Soziale Arbeit. Reflexionen im Kontext des Forschungsprojektes ‚Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern‘“ diskutiert Eric Mührel das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Menschenrechten zunächst anhand eines VierEbenen-Modells der Normativität mit Bezug auf zwei Theorien Sozialer Arbeit (Jane Addams/Silvia Staub-Bernasconi) respektive Sozialpädagogik (Natorp), die er jeweils in Bezug auf die Menschenrechte skizziert. Anschließend geht Mührel auf die Bedeutung der Menschenrechte in der Praxis Sozialer Arbeit ein. Die leitende Fragestellung dabei ist: Wie kann die Menschenwürde der Adressat_innen und Klient_innen so bewahrt werden, dass von einer Einhaltung der Menschenrechte in Institutionen unter Beteiligung Sozialer Arbeit überhaupt die Rede sein kann? Hierfür verweist Mührel auf die existenzphilosophische Dimension der Menschenwürde (Peter Bieri). Diese Überlegungen werden anhand abschließender Fragestellungen an das Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ mit Bezug auf die Sozialpsychiatrie fokussiert. Alexander Schmid ergänzt die ethischen Betrachtungen Mührels um die juristische Sicht. Dabei stellt Schmid die Frage, welche Menschenrechte, auf welcher Ebene (Vereinte Nationen, Europäische Menschenrechtskonvention, Rechtsprechungen, Grundrechte, Grundgesetz) für eine wissenschaftliche Fragestellung konkret bedeutsam sind. Für das Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ diskutiert Schmid insbesondere entlang des Menschenrechtes auf Gesundheit und der Fragen der Zwangsbehandlung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Auf das Zusammenspiel zwischen nationaler Rechtsordnung und Menschenrechten, insbesondere der UN- Einleitung 17 Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), wird im Rahmen einer aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) eingegangen. Soziale Diagnostik und sozialpädagogisches Fallverstehen (Forschungskolloquium II) Das dritte Kapitel zeigt Beiträge aus dem Forschungskolloquium zu Fragen sozialer Diagnostik und sozialpädagogischen Fallverstehens, das am 27. April 2015 an der Hochschule Esslingen im Rahmen des Forschungsprojektes „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ stattfand. In diesem Kolloquium wurden aktuelle diagnostische und fallverstehende Zugänge diskutiert. Im Zentrum stand die Auseinandersetzung mit der Bedeutung, Reichweite und Relevanz subsumtionslogischer und rekonstruktionslogischer diagnostischer Zugänge in der Sozialen Arbeit. Dabei waren sich die Akteur_innen grundsätzlich einig, dass auf diagnostisches und fallverstehendes Arbeiten in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern nicht verzichtet werden kann. Julia Gebrande diskutiert in ihrem Beitrag „Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialen Arbeit“ die Bedeutung Klinischer Sozialer Arbeit mit ihrem spezifischen, ganzheitlichen diagnostischen Blick in gesundheitsrelevanten Handlungsfeldern. Am Beispiel der Diagnostik der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) möchte sie das Spannungsverhältnis und die Vor- und Nachteile von Diagnostik in der Sozialen Arbeit verdeutlichen. Dabei nimmt sich Gebrande der Auseinandersetzung klassifikatorischer Zugänge an und fragt danach, welchen Beitrag Klassifikationen für eine Entpolitisierung der Traumatisierungen leisten können. Sie wirbt abschließend dafür, Trauma sowohl als ein individuelles als auch ein gesellschaftliches Problem zu begreifen. In dem Spannungsfeld Subsumtion und Rekonstruktion bieten Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis in ihrem Beitrag „Rekonstruktive Fallwerkstätten als Methode (macht)reflexiver Sozialer Arbeit – am Beispiel der Sozialpsychiatrie“ einen subsumtionslogisches, Zugang zu biomedizinisches Fallmaterial und an, welcher psychosoziales über ein Fallverständnis rein (sog. Biopsychosoziales Modell) hinausweist. Fallkonstellationen werden dabei im Kontext eines biographischen »So-geworden-seins«, der Milieueinbettung, der Frage nach institutionalisierten und nicht institutionalisierten gesellschaftlichen (z. T. neoliberalen) (Macht-)Strukturen, (Träger-)Geschichten und Beziehungen sequenziell aus der festgehaltenen Sprache oder den Ausdrucksgestalten der Adressat_innen rekonstruiert. Diese Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 18 Methode einer „machtreflexiven Fallwerkstatt“ wurde im Rahmen des Forschungsprozesses des Forschungsprojekts „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ herausgearbeitet und ist eines der zentralen Forschungsergebnisse (vgl. hierzu auch Kapitel 5 in diesem Band). In diesem Konzept wurde versucht, Zugänge der Objektiven Hermeneutik (Oevermann) mit Wissensperspektiven des Erfahrungswissens, Professionswissens und wissenschaftlichen Wissens (Dewe) zusammenzudenken und gleichzeitig mit machtreflexiven und gerechtigkeitsambitionierten Überlegungen zu konfrontieren. Hubert Höllmüller hingegen wirbt für eine „Diagnostik in der Sozialen Arbeit“ als Erkenntnisprozess darüber, worin der Fall besteht, wovon er handelt und welches Problem er beinhaltet. Eine solch verstandene Soziale Diagnostik verknüpft sich mit den Bereichen der Methoden und Techniken und mit denen der wissenschaftlichen Theorien und findet in einem Handlungskreis von Diagnose, Interventionsplanung, Interventionsdurchführung und Evaluation statt. Dazu verhandelt Höllmüller den Begriff »Soziale Diagnostik« und plädiert dafür, dass die Soziale Arbeit eine handlungsanleitende Diagnostik innerhalb der eigenen Profession entwickeln muss. Weiter wird in einem kurzen Streifzug angedeutet, welche möglichen diagnostischen Instrumente Sozialer Arbeit bereits zur Verfügung stehen. Anschließend setzt sich Höllmüller mit der Frage auseinander, weshalb innerhalb der Profession Soziale Arbeit diagnostische Instrumente so wenig Anwendung finden und möchte aufzeigen, warum sich bestimmte Konzepte nicht als Diagnoseinstrument für die Soziale Arbeit eignen. Wissenschaftliche Reflexionen zur Sozialpsychiatrie Im vierten Kapitel versammeln sich ausgewählte Beiträge aus Abschlussarbeiten, welche im weiteren Rahmen des Projektes „Partizipation in Sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ entstanden sind. Sie dienten dem Forschungsprojekt als erweiterte wissenschaftliche Reflexionen, Konfrontationen, Konkretisierungen und Kontextualisierungen. In diesem Sinne diskutieren Clarissa Hechler und Claus Melter in ihrem Beitrag „Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen“. Sie möchten sich dabei an den Themenkomplex ‚Psychiat- rie/Sozialpsychiatrie und Migration’ aus einer diskriminierungskritischen und migrationsgesellschaftlichen Perspektive annähern. Hechler und Melter verstehen ihren Beitrag als For- 19 Einleitung schende im Bereich der Sozialen Arbeit sowie der Diskriminierungs- und Rassismuskritik als ein Angebot für Theoretiker_innen und Praktiker_innen der Sozialpsychiatrie, diese Perspektiven auf die spezifischen Aspekte dieses Bereiches reflektiert anzuwenden. Hieran schließt Stefan Schäfferling mit dem Beitrag „Auf der Suche nach der „TIPIKompetenz“ – Eine differenzreflexive Betrachtung der Partizipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit“ an. Zentral ist für Schäfferling eine differenzreflexive Betrachtung von Personen, die sich mit ihren Unterschiedlichkeiten und unterschiedlichen Voraussetzungen im Handlungsfeld der ‚Sozialen Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen‘ begegnen und mit den darin verbundenen Rahmenbedingungen konfrontiert sind. Auf diese Weise werden einige Schwierigkeiten, Hemmnisse, Dysfunktionalitäten und Widersprüche aufgedeckt. Dabei setzt sich der Autor intensiv mit Fragen nach ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘ ‚Inklusion‘ etc. auseinander. Es geht ihm insbesondere darum, Sozialarbeitende zu ermutigen, bei der Umsetzung einer gleichberechtigten ‚Teilhabe‘ bzw. von ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ von Adressat_innen und Menschen mit Beeinträchtigungen eine aktivere Rolle spielen zu können. Mit diesem Ziel wirbt Schäfferling für eine differenzreflexive Perspektive der Praxis Sozialer Arbeit. In ihrer Auseinandersetzung „Psychiatrisierte Personen und Spiritualität - Transzendenz im Lichte philosophischer Diskurse und die Bedeutung für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ geht Johanna Kohler Fragen nach Spiritualität als eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der Deutung der Welt, des Lebens und der Rolle der Menschen nach. Diese Auseinandersetzung zeichnet sich gerade durch ihre Offenheit gegenüber dem Menschsein innewohnender Transzendenz aus. Spiritualität als Reflexionsrahmen über Mensch-sein wird in diesem Beitrag auf philosophische Diskurse von Max Horkheimer, Martin Buber und Gerhard Gamm bezogen, da diese Mensch-sein gerade auch auf seinen Transzendenzgehalt hin dekonstruieren. Daran anknüpfend wird von Kohler diskutiert, welche Bedeutung die Berücksichtigung von Transzendenz für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern einnehmen kann. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 20 Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Dokumentation der Forschungsergebnisse Die Publikation mündet im fünften Kapitel mit der Darstellung der zentralen Forschungsergebnisse des Projektes „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ und einer Reflexion des methodischen Zugangs sowie des Forschungsprozesses. Ein zentrales Ergebnis des Forschungsprojekts ist die Entwicklung eines Partizipationsbegriffs, welcher der Praxis Sozialer Arbeit in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern als Kritikfolie dienen kann. Zusammengefasst ist dieses emanzipatorische Partizipationsverständnis mit folgenden Elementen inhaltlich gefüllt: • Partizipation als Orientierungsfigur im Arbeitsbündnis, welches sich an der Integrität und Autonomie der Adressat_innen orientiert und in dem kontinuierlich um die Angemessenheit zwischen diffusen (subjektiven) und spezifischen (Auftrag) Rollenanteilen gerungen wird. • Partizipation bedeutet, Narrationen zu ermöglichen, in denen Sinnzuschreibungen, Identitätenentwicklung und Bildungsprozesse unterstützt werden. • Partizipation bedeutet folglich, Eigentheorien anzuerkennen und eine Auseinandersetzung damit zu ermöglichen. • Partizipation bedeutet, von Adressat_innen geäußerter Kritik und Wünsche einen Raum zur Verfügung zu stellen (z.B. Hausbesprechungen, Adressatensprecher_innen), zuzuhören und diese nicht zu pathologisieren. • Partizipation ist, in einem Arbeitsbündnis Subjekten die notwendigen Ressourcen (materielles, kulturelles, soziales Kapital) zur eigenen Identitätsarbeit auch stellvertretend zu beschaffen (stellvertretende Krisenbewältigung). • Partizipation bedeutet gleichzeitig, Subjekten dazu zu verhelfen, sich selbst die notwendigen Ressourcen für ihre Identitätenarbeit zu verschaffen. • Partizipation bedeutet darüber hinaus, Subjekten bei der Transformation der Ressourcen für die jeweils eigene Identitätsarbeit zu unterstützen, vom Identitätsentwurf zum Identitätsprojekt zu finden (Ko-Produktion). Einleitung 21 • Partizipation bedeutet, Adressat_innen als Rechtssubjekte anzuerkennen. Dabei reicht es nicht aus, Rechte zu haben oder von ihnen zu wissen, sondern die Anerkennung als Rechtssubjekte muss sich auf mehreren Ebenen zeigen: 1. Menschen müssen das Recht haben, Rechte zu haben. Die UN- Behindertenrechtskonvention konkretisiert die Menschenrechte für Menschen mit Behinderung, die für alle Menschen gelten. 2. Adressat_innen müssen dabei unterstützt werden, einen Raum zu bekommen, in dem sich Gehör verschafft werden kann. 3. Soziale Arbeit muss über Rechte aufklären und ihre Bedeutung für den Alltag der Menschen angemessen übersetzen (z.B. PsychKHG, UN BRK) 4. Partizipation bedeutet eben auch darauf hinzuarbeiten „dass Subjekte aus Freiheit und im Wissen um die Zwänge handeln, welchen sie ausgesetzt sind und die sie wiederum nutzen können, um ihre Freiheit zu wahren." (Winkler 2012, S. 159) 5. Partizipation muss auch die Möglichkeit der Nicht-Teilnahme berücksichtigen, d.h. sich selbst nicht in Rechtskämpfe zu begeben und dennoch politisch berücksichtigt zu werden (vgl. Idee »Rechts auf Gegenrechte«) (vgl. Menke 2015). • Partizipation bedeutet, Subjekten die Möglichkeit zu geben, sich als Teil eines Verhältnisses zu begreifen, das historisch geworden, überindividuell und somit veränderbar ist (Bildung). • Partizipation bedeutet, Subjekten die Möglichkeit zu geben, sich mit anderen zu solidarisieren bzw. zu kollektivieren und sie dabei zu unterstützen, politische Wirkmacht zu entwickeln. • Partizipation bedeutet ebenso, den kollektivierten Subjekten die Selbstdefinition von Identitäten zu übergeben und diese nicht für sie zu übernehmen. • Auf der Grundlage kann dann ein Trialog geführt werden, der sich an einem Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses (vgl. z. B. Habermas 2009) orientiert. Davon unterschieden werden sollte die Notwendigkeit einer eigenständigen und mit mehr Ressourcen ausgestattete Angehörigenberatung, die nicht Bestandteil von Trialog sein sollte. • Partizipation bedeutet, die verschiedenen Hilfesysteme Sozialer Arbeit so miteinander zu integrieren, dass ein falllogisches und nicht ein handlungsfeldlogisches professionelles Handeln ermöglicht wird. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 22 Reflexionen zum Forschungsprozess und -ethik Mit ihrem Beitrag „Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation? Reflexionen zur Forschungsmethodik und -ethik im Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ schließen Josephina Schmidt und Athanasios Tsirikiotis diese Publikation ab. Sie plädieren für eine rekonstruktive Forschungsperspektive in der Sozialpsychiatrie und reflektieren das Forschungsdesign. Nach einer ethischen Reflexion wird eine Idee für eine partizipative und emanzipative Forschung in der Sozialpsychiatrie skizziert. Literatur Bitzan, Maria; Bolay, Eberhard; Thiersch, Hans (Hrsg.) (2006): Die Stimme der Adressaten: Empirische Forschung über Erfahrungen von Mädchen und Jungen mit der Jugendhilfe. Weinheim und Basel: Beltz Juventa Verlag. Bohnsack, Ralf (2007): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 6. Aufl. Opladen u.a.: Budrich. Dewe, Bernd (2015): Soziale Arbeit als „Experten wider Willen“. Zum Phänomen der Reduktion von Beratungswissen auf „Handlungsrezepte“ aufgrund sozialtechnischer Erwartungen ratsuchender Klienten – Ein Fall bedrohter Professionalität von „unten“. In: Becker-Lenz, Roland/ Busse, Stefan/ Ehlert, Gudrun/ Müller-Hermann, Silke (Hrsg.): Bedrohte Professionalität. Einschränkungen und aktuelle Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 317-345. 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Ganz im Gegenteil: Die Etablierung der Psychiatrie fiel in furchtbarer Weise mit der Industrialisierung der Wirtschaft zusammen. Die Industrialisierung brachte mit sich, dass Menschen in „Würdige“ und „Unwürdige“, in „Leistungsstarke“ und „nicht Leistungsstarke“ unterschieden wurden. Die Ideologie der Industrialisierung, „von der Gesellenstube in die Fabrik“, haben auch die damalige Psychiatrie und somit die Psychiater stark geprägt. Viele Psychiater waren damals von der Industrialisierung fasziniert, sodass sie die Position vertraten: Was für die Güterproduktion nützlich ist, nämlich nicht mehr kleine Handwerksbetriebe, sondern möglichst große Fabriken zu betreiben, das wird für die Therapie von psychisch erkrankten Personen wahrscheinlich auch gut sein. Also schufen sie für psychisch erkrankte Personen möglichst große Institutionen, in denen dann möglichst viele „zu versorgende“ Menschen untergebracht werden konnten. 27 Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe Psychiatrie und Menschenwürde – historischer Abriss über die Entstehung der klinischen Psychiatrie Bereits im 18. Jhdt. wurden so genannte psychisch Kranke, Demente und Behinderte in Großeinrichtungen versorgt, denn ihnen wurde ihr „Leistungswert“ abgesprochen. Immanuel Kant ging davon aus, dass der Mensch nicht mit einem Wertmaßstab zu messen sei, sondern er habe Würde. In der Industrialisierung wurde im Menschen vor allem ein Tauschwert bzw. Leistungswert entdeckt, Würde wurde durch Wert ersetzt. 1806 schrieb der Hausarzt von Wolfgang von Goethe, Prof. Christoph Wilhelm Hufeland, in direktem Bezug dazu: „[…] Der Arzt wird [dann zum] gefährlichsten Mensch[en] im Staate.“ Die Medizin war der Ansicht, ohne Philosophie auskommen zu können. 1848 wurde in der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche beschlossen, das Medizinstudium zu revolutionieren, indem das Philosophikum abgeschafft und durch das Physikum ersetzt wurde. Reflektieren wurde als schädlich und vom Fortschritt ablenkend gesehen. Meines Erachtens wäre es jedoch ein echter Fortschritt gewesen, das Philosophikum zu behalten und das Physikum zusätzlich einzuführen. Ein Gesetz zur Zwangssterilisation von Menschen mit psychischen Erkrankungen wurde von den Nationalsozialisten 1933 durchgesetzt; bereits 1920 wurde der Begriff des “lebensunwerten Lebens“ eingeführt. Bereits im ersten Weltkrieg wurden 70.000 psychisch erkrankte Menschen umgebracht. Die Vergasung als psychisch krank bezeichneter Personen wurde im Nationalsozialismus zunächst in Polen durchgeführt. Da der Widerstand in der Bevölkerung gegenüber den Vergasungen von psychisch kranken und beeinträchtigten Personen wuchs, griffen die Ärzte im NS wieder verstärkt auf konventionelle, medikamentöse Tötungsmethoden zurück. Nach 1945 versteckten sich viele Mediziner, viele ärztliche Täter des sogenannten nationalsozialistischen Euthanasieprogramms haben sich später suizidiert. Erst 1968 wurde mit der Aufarbeitung der Verbrechen der Medizin während des Nationalsozialismus begonnen. Zusammenfassend kann man sagen: Die Psychiater, nicht die Chirurgen, Internisten und Neurologen, waren die ersten Profis, die auf die furchtbare Idee gekommen sind, psychisch Erkrankte als „Objekte“ ihrer Behandlungstätigkeiten zu begreifen. Die Art und Weise, wie Psychiater mit ihren „Objekten“, den „Gegenständen ihrer Wissenschaft“, der Psychiatrie, also mit den sogenannten psychisch kranken Menschen, in Berührung kamen, vollzog sich Klaus Dörner 28 dergestalt, dass sie bereits beim Kennenlernen der psychisch kranken Menschen diese aus der Gemeinschaft herausnahmen und sie in möglichst große, möglichst anonyme Anstalten gesteckt und sie so vor der Öffentlichkeit verbargen. Die Psychiater betrieben diese Praxis 200 Jahre lang, also seit Beginn dieser so genannten Professionalisierungsgeschichte, und glaubten immer, dass sie sich damit an der Spitze des Fortschritts befänden. Die klinische Logik war: Erstmal die psychisch Kranken in große Anstalten bringen, in denen sie dann mit wissenschaftlichen Methoden so „bearbeitet“ werden, dass sie dann irgendwann „geheilt“ und „therapiert“ sind und somit keiner Psychiatrie mehr bedürfen; egal wie lange das dauern möge. Das konnte im Extremfall auch mehrere Generationen von Psychiatern andauern. Das wurde hingenommen. Dies war auch eine Folge des Fortschrittbegriffes. Bis in die Berufsordnung der Ärzte hinein hatte sich die Idee durchgesetzt, dass sich der Arzt bei unheilbar kranken Menschen zurückzuziehen habe. Wie man Menschen begleitet, lernten Ärzte nicht. In der Folge kam es im 19. Jhdt. bis in das 20. Jhdt. hinein zu einer systematischen Vereinsamung von so genannten „unheilbar kranken“ Menschen. Diese Vorgänge wurden trotzdem als Fortschritt in der Medizin gewertet, und zwar insoweit sich Psychiater in der Lage sahen, diesen Fortschritt zu beeinflussen. Das Ungeheuerliche dabei ist, dass zunächst niemand thematisiert hatte, dass das eine menschenunwürdige Praxis ist. Kein Mensch hat benannt, dass dabei die Würde von Menschen verletzt wird. Von Menschen, die ohnehin schon das Etikett haben, dass sie beschädigt, dass sie behindert, dass sie beeinträchtigt sind, worin auch immer, also beeinträchtigt werden, vielleicht auch in der Kunst, wie es hier in Ihrer Tagung heißt, in der Kunst, das eigene Leben so weit wie möglich selbstständig leben zu können. Die Psychiatrie fand es über einen langen Zeitraum hinweg völlig richtig, psychisch erkrankte Personen „aus dem Verkehr zu ziehen“ ohne die daraus resultierenden Folgen zu bedenken. Das bedeutete, dass Personen, welche in irgendeiner Form als krank, beeinträchtigt oder behindert galten, die möglicherweise gerade deshalb besonders dringend den Halt ihres sozialen Netzwerks, den täglichen Kontakt mit ihren Angehörigen, Eltern, Geschwistern, Onkeln und Tanten, Nachbarn brauchten usw., um auch von ihnen Unterstützung zu bekommen, gerade aus diesen Netzwerken herausgerissen wurden. Wir Psychiater haben psychisch erkrankten Personen ihren gesamten haltenden sozialen Rahmen weggenommen und sie dadurch zusätz- 29 Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe lich geschädigt. Wenn sie in so einer Anstalt sind, häufig möglichst weit weg im so genannten „gesunden Grünen“ gelegen, ist es bekannt, dass sie nicht alle Tage Zeit haben, ihre Angehörigen und Zugehörigen überhaupt zu sehen. Angehörige psychisch kranker Personen können häufig nur am Wochenende in die Psychiatrie zu Besuch kommen. Dann, wenn wir Ärzte meist zu Hause und damit auch für die Angehörigen verschwunden sind und die Angehörigen dann bestenfalls nur noch auf die Pflegenden, die im Schichtdienst arbeiten, treffen. Wir Psychiater haben gedacht, es sei die Spitze des Fortschritts, wenn wir speziell für psychisch kranke Personen eine eigene Wissenschaft gründen, die Psychiatrie. In diesem Zuge wurden psychisch erkrankte Personen zunächst einmal isoliert, sodass sie nicht mehr in den regulären Krankenhäusern vorzufinden sind, sie bekommen vielmehr eine besondere Anstaltszuwendung. Nach der Uniklinik war ich im Landeskrankenhaus Gütersloh. Diese Landeshäuser gibt es noch überall, obwohl wir eigentlich gelernt haben müssten, dass sie viel zu groß sind, dass sie den psychisch Erkrankten mehr schädigen als helfen. Glücklicherweise hat die Psychiatriereform damit begonnen, das große Netz dieser Anstalten durch kleine psychiatrische Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern zu ersetzen. Das scheint mir eines der wichtigsten Kernelemente der Psychiatriereform zu sein. Wenn psychisch erkrankte Personen schon der Medizin zugeordnet werden, dann ist zumindest eine Normalisierung des medizinischen Angebotes wichtig. Diese Versorgung ist dann die Aufgabe der Landkreise und der Städte. In Allgemeinkrankenhäusern, in denen chirurgische, internistische, gynäkologische und psychiatrische Patient_innen durch dieselbe Tür gehen können. Diese Integration psychisch erkrankter Personen in die Allgemeinkrankenhäuser wird in der Psychiatrie als Gipfel des Fortschrittes verstanden, und das nach 200 Jahren „Anstaltsbevorzugung“. Reflexion meiner wissenschaftlichen und praxisbezogenen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie und psychiatrisierten Personen Mit diesen Fragen habe ich mich jetzt zugegebenermaßen etwas länger aufgehalten. Ich tue das, da diese Geschichte von uns Psychiatern in aller Regel als „Nestbeschmutzung“ geleugnet oder erst gar nicht erwähnt wird. Doch inzwischen zeigen sich auch Schamgefühle, obwohl nicht gerne darüber gesprochen wird. Daher kommt mir der Fachtag „Partizipation in Klaus Dörner 30 sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ gerade recht. Er gibt mir wieder einmal die Gelegenheit, über diese Dinge „nestbeschmutzend“ und daher auch revidierend zu sprechen. Es ist ja auch schwer zu verstehen, warum gerade Psychiater - die ja auch als besonders wissenschaftlich denkend gelten - diese Dinge so spät reflektiert haben. Dabei ist jedoch auch zu bedenken, dass Psychiater zunächst einmal Körpermediziner werden müssen. Und wenn man das dann „durchlitten“ hat, die Körpermedizin, und sich in Chirurgie und Innerer Medizin gut auskennt, dann darf man sich für die Behandlung psychisch erkrankter Personen spezialisieren und Facharzt für Psychiatrie werden. Heutzutage nicht nur für Psychiatrie, sondern auch für Psychotherapie. Letztere wird auf „dem Markt“ zu einer immer stärker gefragten Kunst. Psychiatrie hingegen ist keine gefragte Kunst, war sie eigentlich auch noch nie. Daher möchte am liebsten jeder Psychiater nur noch mit Psychotherapeut angesprochen werden. Denn damit trägt man ja den Anspruch vor, dass man so wie Chirurgen und Internisten in der Lage ist, zu therapieren. Die Seele wird therapierbar und dadurch in ein therapiefähiges Organ verwandelt. Die Seele wurde körperlich eingekleidet. An die Seele kann man sozusagen mit denselben medizinischen Mitteln therapeutisch, diagnostisch herangehen, wie Ärzte das für Leber und Lunge gelernt haben. Und damit fällt die Zuständigkeit für psychisch Erkrankte an den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Hierbei setzt sich „der Wahnsinn“ im Grunde genommen auf andere Weise fort. Zu Beginn meiner akademischen Karriere habe ich mein erstes Buch mit dem Titel Diagnosen der Psychiatrie geschrieben. Der darin enthaltene Sprachwitz Diagnosen der Psychiatrie sollten einmal die medizinischen Diagnosen der Psychiatrie sein, welche auf psychisch kranke, beeinträchtigte Menschen angewendet wurden, aber gleichzeitig sollte damit auch eine kritische Diagnose der Psychiatrie als Wissenschaft angesprochen werden. Ich wollte, dass die Psychiatrie anfängt darüber nachzudenken, was es eigentlich bedeutet, wenn Psychiater psychisch kranke Personen einer medizinischen Diagnose unterwerfen und sie medizinisieren. Nur dadurch, dass die Seele kurzerhand als ein weiteres Organ wie Leber und Lunge betrachtet wurde, haben wir ein wissenschaftliches Renommee erreichen können. Wenn Psychiater keine Mediziner gewesen wären, hätte sie vermutlich niemand ernst genommen. So wurde die Psychiatrie zu einer weiteren Disziplin der Medizin, und Psychiater wurden Ärzte. Für den Umgang mit psychisch kranken Personen bedeutete dies, dass man sie in „psychisch Kranke“ diagnostizierend „verwandelte“. Und das vor allem vor dem Hintergrund: Wenn sie einen solchen diagnostischen Stempel haben, sind wir auch berechtigt, unsere Leistungen mit der 31 Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe Krankenkasse abzurechnen. Das war demnach eine ganz wichtige Operation: erst mal zu diagnostizieren, da haben die Adressat_innen der Psychiatrie den Stempel ‚ich bin psychisch krank‘ und dann darf ich als Psychiater an ihnen Geld verdienen. Mein zweites Buch heißt Hochschulpsychiatrie. Mit dieser Dissertationsschrift bin ich wieder bei den Akademikern gelandet. Nach meinem Medizinstudium habe ich noch Soziologie studiert. Ich konnte bei der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Stipendium dafür beantragen. Ich war der Erste, der diese ungewöhnliche Kombination, Medizin und Soziologie, studierte. Als ob Medizin irgendwas mit Sozialem zu tun hätte? Mit Biologie, mit Leber und Lunge, da hätte sich wohl eher Zoologie und Botanik aufgedrängt, aber doch nicht was Soziales! Das galt als völlig absurd. Ich erstellte meine zweite Doktorarbeit, neben der in der Medizin, in Soziologie und Geschichte. Im Rahmen des Soziologiestudiums in Berlin wurde ich auch bei Prof. Dietrich Goldschmidt mit Themen der Bildungsforschung und Bildungspolitik konfrontiert. So habe ich dann die Doktorarbeit mit dem Titel Hochschulpsychiatrie erstellt. In dieser Zeit wurde deutlich, dass in Amerika Jahrzehnte zuvor bereits jede Uni mit einer Beratungs- und Behandlungsstelle für psychisch kranke StudentInnen ausgestattet war. Diese Idee sollte für Deutschland übernommen werden. Und so habe ich dort das erste Buch für psychisch kranke Studierende geschrieben. Diese interessanten Überlegungen haben mich im weiteren Verlauf furchtbar eingeholt. Mitte der Psychiatriereformära, 1970, gab es noch die letzten Ausläufer der 68er Studentenbewegung. Diese war gegen ihr Ende, wie alle Bewegungen, in ihre Bestandteile zerfallen, meist in kleine Splitterelemente. Eines dieser Splitterelemente war das Heidelberger Sozialistische Patientenkollektiv. Der Psychiater Wolfgang Huber entwickelte eine Behandlungsstelle für Studierende an der Universität Heidelberg. Die Studierenden wollten eigene Räumlichkeiten außerhalb der Universität haben, sie wollten auch in eigenen Wohnungen leben. Die Studierenden ließen sich zwar – auch damit sie Atteste für Prüfungen erhalten konnten - als psychisch krank etikettieren, sie forderten aber gleichzeitig, keinen Unterschied zwischen psychiatrischen Ärzten und psychiatrischen Patienten mehr machen zu wollen. Sie empfanden es als nicht fair, Objekte für einen Facharzt zu sein. Man könnte auch sagen, das verstieß gegen ihre Vorstellungen von Partizipation. Sie bildeten möglichst kleine Gruppen, um eigene Gruppentherapien organisieren zu können. Erfahrene Studenten ernannten sich zu Therapeuten, die Studierenden selbst bezeichneten sich als Sozialistisches Patientenkollektiv. Sie verfolgten dabei auch das Ziel, einen demokratischen Sozialismus in Form einer klassenlosen Gesellschaft in der Bundesrepublik einführen zu wollen. Das brachte nun Klaus Dörner 32 die gesamte Universität auf, sodass alle Fakultäten geschlossen das Sozialistische Patientenkollektiv verboten. Die Studierenden bekamen die Räume gekündigt. Die Studierenden wurden im Anschluss verbal immer radikaler. Etwa die Hälfte der Mitglieder des Sozialistischen Patientenkollektivs schlossen sich der RAF an. Manche wurden Rädelsführer, gehörten also zum inneren Kreis. Im Grunde genommen war das Sozialistische Patientenkollektiv die erste Gruppierung, welche die bisherigen Entwicklungen der Medizin insofern kritisierte, als dass Beeinträchtigungen mit technischen Mitteln, Pillen, Elektroschocks usw. therapiert wurden. Und wer nicht heilbar ist, kann auch nicht krank sein Erst jetzt entwickelte ich für die Teilhabe und Teilgabe von psychisch Erkrankten erste Funken von Verstand und versuchte mit den weiteren Büchern ein bisschen von dem wieder gut zu machen, was ich in der Vergangenheit unkritisch mitgemacht hatte. Ich erkannte, dass Lebenschancen aller Menschen die gleiche Geltung haben, dass alle Menschen ihr Leben leben wollen, wie sie so treffend in Ihrem Fachtag feststellen. Ich begann, den Rest meines Lebens dafür einzutreten, dass das nicht nur eine nette Behauptung ist, sondern dass das auch ganz konkret möglich ist. Ich habe mich dann „aus den wunderbaren Höhen“ der Universitäten, vor allem in Hamburg, verabschiedet und bin in eine alltägliche Anstalt gegangen, nach Gütersloh. Wenn die Medizin, wie eingangs ausgeführt, das Konzept der Heilbarkeit vertrat, so vertrat sie in gleicher Weise die Idee der Unheilbarkeit. In der Anstalt in Gütersloh wagte ich etwas, wofür ich beinahe selbst für verrückt erklärt wurde. Denn in dieser Anstalt interessierten mich am meisten die 435 Menschen, die definitionsgemäß bereits länger als zwei Jahre in der Anstalt lebten und für die festgestellt wurde, dass sie absolut unheilbar seien, sodass die Ärzte aufgrund ihrer Berufsordnung sich gar nicht um diese Patient_innengruppe kümmern durften. Sie sollten vielmehr den Rest ihres Lebens in der Anstalt bleiben und auf den „Anstaltsschutz“ angewiesen sein. Mir war es wichtig, dass diese psychisch kranken Personen genauso als psychisch Erkrankte anerkannt würden wie die so genannten heilbaren Patient_innen, die lediglich drei Wochen oder sechs Wochen oder drei Monate in der Anstalt blieben. Dann wäre allerdings die ganze Anstalt zusammengebrochen, denn so viele Ärzte hatte man nicht und 33 Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe man hatte auch keine Chance, so viele Ärzte zu bekommen. Das galt auch für die Pflegenden. Ich musste auch lernen, dass ich auf diese Weise gegen die Berufsordnung der Ärzte verstieß, die davon ausging, dass chronisch Kranke, also unheilbar Kranke, nicht Gegenstand der Berufsordnung der Ärzte seien. Ich versuchte dafür zu werben, dass chronisch kranke Personen mit akut kranken Personen gleichgestellt werden, doch leider ohne großen Erfolg. Als krank galten weiter nur die so genannten Akutkranken. Bei dieser Gruppe gab es ja Heilungen oder zumindest Heilungschancen. Ich habe versucht, dieses Denken aufzuheben. Das war eine meiner größten Herausforderungen, denn die 435 Patient_innen, welche sich im Durchschnitt bereits 15 Jahre in der Anstalt aufhielten, also von zwei bis 50 Jahren, mussten den Rest ihres Lebens aus Sicherheitsgründen „Anstaltsmenschen“ bleiben. Ich habe für meine Idee nur äußerst wenige Menschen gewinnen können, die sich darauf einlassen wollten, sich neben den Akutkranken auch noch den chronisch Kranken zu widmen, wo doch erklärt wurde, mit den Akutkranken hätte man doch schon genug zu tun. Aber letztendlich konnte ich doch eine ganze Reihe Menschen gewinnen, möglicherweise weil ich Professor war oder weil sie selbst erkannten, dass chronisch Erkrankten in gleicher Weise menschlich begegnet werden muss. Herausfordernd für die Pflegenden, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Ergotherapeuten, Ökotrophologen, usw. war auch die Idee, dass neben den chronisch kranken Personen die Angehörigen auch eine bedeutende Zielgruppe der Anstalt sind. Bis dahin hatte damit überhaupt noch niemand gerechnet. Der trialogische Gedanke und seine Bedeutung für die Selbstvertretung der Psychiatrieerfahrenen und deren Angehörigen In Hamburg hatten wir damit bereits schon sehr früh angefangen. Dort hatten wir damals die erste norddeutsche Tagesklinik gegründet. In dieser führten wir ein, dass alles nur noch in Form von Gruppentherapien angeboten wurde und einige Patienten, auch wenn sie ganz akut krank waren, in dieser Tagesklinik gleichzeitig auch arbeiteten. Die Therapeuten und Patienten begegneten sich gleichermaßen in Gruppen. Wir hatten versucht, uns einige der Ideen des Sozialistischen Patientenkollektivs aus Heidelberg anzueignen. Unser Selbstverständnis war dadurch gekennzeichnet, dass wir die Schulmediziner, die Konservativen, die Erzkonservati- Klaus Dörner 34 ven, die Reaktionäre als unsere Gegner begriffen. Wir verstanden uns als die Reformmediziner und erklärten uns zu den Guten. In diesem Sinne mussten die zuvor angesprochenen Berufsgruppen lernen, dass Angehörige auch Betroffene sind, die eigene Bedürfnisse haben. Eigene Bedürfnisse, die sich von den Bedürfnissen der Patienten unterscheiden. Das gilt beispielsweise für den Zeitpunkt der Entlassung. Hier ist wichtig zu erkennen, dass da nicht nur den psychisch kranken Personen Selbstbestimmung, sondern auch den Angehörigen ein Mitspracherecht eingeräumt werden muss. Wichtig war uns, dass wir die Interessen der Patienten, Angehörigen und „Profis“ zusammenführen können. Von den Angehörigen hatten wir erhofft, dass sie sich zu einer eigenen Interessengruppe zusammenschließen. Heute, viele Jahrzehnte später, beginnen wir diesen Fachtag an der Hochschule Esslingen trialogisch. Es finden Vorträge aus der Perspektive der Psychiatrieerfahrenen und der Angehörigen von Psychiatrieerfahrenen zum Thema Partizipation statt. Das ist meines Erachtens das erste Mal, dass nicht nur über Partizipation gesprochen wird, sondern Partizipation gleichzeitig auch gelebt wird, auch wenn ich den Begriff als Idee von Beteiligung eher unsympathisch finde. Lediglich eine Beteiligung psychisch kranker Personen oder deren Angehörige mit ihren Interessen halte ich eher für ein zu schwaches Konzept. Im Begriff der Partizipation zeigt sich schon wieder so eine „profiverschuldete“ Verharmlosung. Was die Profis in der Tat lernen müssten ist, dass es nicht nur gut ist, wenn Profis sich verselbstständigen und um ihre eigenen professionalisierten Interessen kämpfen. Die psychisch erkrankten Personen sind doch die einzigen, die wissen, was es bedeutet, psychisch krank zu sein. Und natürlich dann auch die Angehörigen Psychiatrieerfahrener, die genauso für ihre Bedürfnisse und Interessen kämpfen können. Historisch betrachtet war es interessanterweise so, dass nicht die psychisch Erkrankten selbst, sondern deren Angehörigen die Ersten waren, die sich zu einem Selbsthilfeverband zusammengeschlossen. Das haben wir in Hamburg in der Tagesklinik als Erstes mit auf den Weg gebracht. Wenn ich auf etwas stolz bin, dann ist es das. Diese zunächst kleine Idee setzte sich sehr schnell flächendeckend für ganz Deutschland durch. Es gab überall Ortsvereine oder eben Landesverbände der Angehörigen psychisch Kranker. Dies zeigt, wie groß der Druck geworden war. Eine solche Entwicklung wäre allerdings schon 200 Jahre früher notwendig gewesen. Bereits 1980 konnten die Angehörigen psychisch Kranker sich zum Selbsthilfever- 35 Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe band auch auf Bundesebene verselbstständigen, die psychisch Kranken waren zehn Jahre später soweit. Diese konnten sich ca. 1990 als Bundesverband zusammenzuschließen. Sie entwickelten sprachschöpferisch die interessante Idee, sich nicht als Bundesverband psychisch Kranker zusammenzuschließen, das war ja eine ideologische Formulierung mit einem medizinischen Anspruch und dem Charakter einer Krankheit. Doch das muss ich genauer ausführen. Zunächst muss hier unbedingt Dorothea Buck genannt werden. Der Vater von Dorothea Buck war Pastor und sie kam, als sie psychisch krank wurde, nach Bethel. Dort wurde sie im Nationalsozialismus als erstes zwangssterilisiert. Und die Pastoren, vor allem die Betheler Pastoren, haben das unterstützt. Dorothea Buck hat unfassbar darunter gelitten. In der Anstaltsbibliothek von Bethel fand sie ein Buch über Suizid, und sie stellte fest, dass man sich ja umbringen kann. Sie dachte sich, jetzt muss ich nicht mehr verzweifelt sein, ich bringe mich einfach um. Und dann hat sie doch gezögert, da das ein schwerwiegender Entschluss ist, den man nicht mehr rückgängig machen kann. Und Dorothea Buck hat festgestellt, es reiche ihr schon zu wissen, dass man sich suizidieren darf. Sie nahm sich vor, noch ein Jahr zu leben, und gab sich sozusagen noch ein Jahr. Sie litt sehr unter der Sterilisation, aber sie wollte gleichzeitig erfahren, ob sie hinreichend viel Sinn im Leben erfahren konnte, auch wenn sie keine Kinder bekommen durfte. Und dabei ging so ein Jahr nach dem anderen ins Land und jedes Mal hatte sie wieder neue Ideen. Sie durfte ja als Zwangssterilisierte im Nationalsozialismus auch keine Ausbildung machen. Sie wurde Künstlerin und begann, Skulpturen anzufertigen. Darin hat sie ihren Sinn gefunden und konnte zum Entschluss kommen, dass sie sich nicht umzubringen brauchte. Stattdessen wollte sie jetzt, dass psychisch erkrankte Personen ihre Interessen selbst vertreten konnten. Und so kam diese Idee der Selbstvertretung dann auch zustande, auch weil Dorothea Buck gleich von Anfang an mit bei dem Selbsthilfeverband der Psychiatrieerfahrenen dabei war. Das Interessante ist: Jetzt gibt es psychisch Kranke, die das Bedürfnis haben, sich auf derselben Ebene zu verstehen wie andere Kranke auch, denn sie erkannten, dass sie in einem Teil ihrer Möglichkeiten beeinträchtigt sind und im Separiertwerden um menschlich notwendige Dinge beraubt werden. Und dass das eigentlich ein Verbrechen ist, gegen das sie sich wehren können. Und so trauten sich psychisch Kranke zu, einen eigenen Selbsthilfeverband zu gründen. Sie nannten sich Verband der „Psychiatrieerfahrenen“, also Personen, die Psychiatrie subjektiv erfahren haben. Das war ein genialer Schachzug, denn dieser Erfahrungsbegriff Klaus Dörner 36 streitet sogleich ja mir und den anderen Profis genau diese subjektive Erfahrung ab. Der Landesverband der Psychiatrieerfahrenen stellt damit an die Profis gerichtet fest, ihr redet über etwas, was ihr nie selbst erfahren habt. Und wir reden über etwas, was wir sehr wohl selbst erfahren haben, deswegen sind wir als Verband so bedeutend. Und dann kam noch der nächste Zug: Partizipation als Beteiligung war nicht ausreichend, sondern jetzt fordern wir, dass zu jedem psychiatrischen Team, stationär wie ambulant, selbstverständlich auch ein Mitglied gehören muss, das als Psychiatrieerfahrener diese subjektive Erfahrung in das professionelle Teamwissen mit einbringt. Auf diese Weise konnten auch Betroffene, also Psychiatrieerfahrene, ihren eigenen bezahlten Erwerbsarbeitsplatz gestalten. Von da an haben wir uns in Hamburg an die Arbeit gemacht, sehr mühselig, in sehr kleinen Schritten, Psychiatrieerfahrene zu beschäftigen. In England wurde das schon sehr lange praktiziert. Und in Hamburg hat mein Neffe, der Psychologe Thomas Bock, begonnen, die ganze Reformbewegung, sehr viel mutiger als ich das je gekonnt hätte, fortzusetzen, und das mit faszinierenden Ergebnissen. 1994 traf sich der Weltverband für Psychiatrie in Deutschland. Es ging dabei vor allem darum, der Weltgemeinschaft zu zeigen, dass Deutschland aus der eigenen barbarischen Geschichte gelernt hatte. Dies wurde besonders an den Angehörigengruppen verdeutlicht. Bei diesem Treffen wurde die trialogische Idee entwickelt. Das bislang letzte Ergebnis ist die von den Vereinten Nationen verabschiedete und seit 2009 von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention. Das bedeutet, dass die Bundesregierung sich jetzt verpflichtet, so lange die Lebensbedingungen psychisch erkrankter Personen zu verbessern, bis alle sagen können „Wir leben jetzt unser Leben.“ So wie alle Menschen ihr Leben leben können müssen, so leben auch wir unser Leben, mit oder ohne Krankheit. Seit 1945 hat nun eine kleine Gruppe von Menschen, dazu gehörte ich auch, also von fortschrittlichen Psychiatern, Reformpsychiatern, nicht Schulbuchpsychiater, lange dafür gekämpft, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten, wie das der Zwangssterilisierung oder auch das der Euthanasie in einer demokratischen Rechtsstaatsgesellschaft wie der Bundesrepublik als Verbrechen anerkannt werden. Das bedeutet auch, dass die Betroffenen als Opfer Nationalsozialistischer Verbrechen anerkannt werden und zumindest eine Entschädigung beispielsweise in Form einer Rente bekommen. Im Bundestag sind wir in jedem Ausschuss gescheitert. Eines Tages haben wir uns dann die Frage gestellt, warum maßen wir Profis uns das eigentlich immer an, für die Interessen von Psychiatrieerfahrenen zu sprechen. Warum sorgen 37 Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe wir nicht dafür, dass die Psychiatrieerfahrenen selbst, auch im Bundestag, in den Ausschüssen für sich und ihre Interessen kämpfen können? Im Zuge dessen haben wir eine Krankenschwester aus Detmold, Klara Novak, dafür gewonnen - sie war auch zwangssterilisiert -, den Vorsitz des Bundesverbands der zwangssterilisierten Euthanasiegeschädigten zu übernehmen. Und nun gingen die Mitglieder des Bundesverbandes der zwangssterilisierten Euthanasiegeschädigten – wie wir Profis vorher – in die Ausschüsse, Bundestagsausschüsse, Finanzausschüsse, Sozialausschüsse und so weiter. Es dauerte kein ganzes Jahr mehr, dann hatten sie ihre Forderungen durchgesetzt. Und wenn Sie eines von diesem Beitrag behalten, dann bitte ich Sie um dieses. Denn dieses Beispiel beweist, dass dann, wenn die Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, Störungen, wie auch immer Sie die Phänomene nennen wollen, die Depressiven, die Stimmenhörer, die Wahnkranken, die Suchtkranken etc., wenn diese Personen anfangen und anfangen dürfen, sich nicht von uns Profis fremdbestimmen zu lassen, sondern für ihre eigenen Interessen mit eigener Stimme einzutreten, für sich zu sprechen, dann können sie wesentlich mehr erreichen, als wenn sie immer auf uns professionelle Fürsprecher warten müssen, bis wir Profis so gnädig sind, uns wieder um die Interessen der Betroffenen zu kümmern. Das ist, was wir immer so professionell Selbsthilfe nennen. Wichtig ist, dass sich die Betroffenen überhaupt nicht mehr davon abhängig machen, sondern die Verantwortung für sich und ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Genau das erhöht die Erfolgschancen ganz erheblich. Und ich finde es so schön, auch in ihrer symbolischen Bedeutung, dass wir das ausgerechnet bei dieser Forderung selbstverständlicher Interessen der Überlebenden der Nationalsozialistischen Verbrechen machen konnten. Es geht doch dabei um die Betroffenen, um Menschen, die diese Verbrechen selbst erlitten haben, und nun für sich selbst sprechen. Daraus kann man lernen und sehen, dass auch in vielen weiteren Bereichen viel möglich ist bzw. wäre. Das variiert zwar von Ort zu Ort, von Bundesland zu Bundesland, von Stadt zu Stadt. Wenn z. B. eine Region beschließt, eine Kommission einzusetzen, die untersucht, ob (eröffnende) Lebensbedingungen von gegen ihren Willen Zwangsuntergebrachten hinreichend beachtet werden, ist es notwendig, dass nicht nur Profis, sondern auch Psychiatrieerfahrene und Angehörige Psychiatrieerfahrener dabei sein und mitmachen können und zu dieser ganz offiziellen Kommission selbstverständlich dazugehören. Dabei setzen sich Menschen nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Interessen anderer Menschen ein. Im Sinne des Philosophen Immanuel Kant ist es notwendig, sich nicht nur für sich selbst, egoistisch, sondern für Klaus Dörner 38 andere (einem begegnende) Menschen einzusetzen. Wenn sich Personen für Interessen anderer einsetzen, vielleicht auch einen Präzedenzfall schaffen, kann in den Blick genommen werden, dass man, als ebenso verletzlicher Mensch, sich immer auch für seine eigenen Interessen einsetzt. Die Interessen der Anderen und meine eigenen Interessen sind dann in einem Schwebezustand, in einem Wechselspiel. Beide können ganz unterschiedlich sein, aber sie sind gleich wichtig. Und man muss beide gleich fördern. Dabei kann sich ein Zustand psychischen Wohlbefindens einstellen. Aktuell sehe ich – was die Integration und Inklusion psychisch kranker und geistig und körperlich beeinträchtigter Personen betrifft – eine Chance, die es die letzten 200 Jahre nicht gegeben hat. Im besten Falle beteiligen sich alle daran, die mutwillige Schädigung von beeinträchtigten Menschen könnte dann zu Ende gehen. Dazu müssen allerdings andere Wege beschritten werden. Diese anderen Wege haben Sie als Forschungsgruppe meines Erachtens mit dem Wort Partizipation nicht radikal genug beschrieben. Es wäre sehr viel angemessener, nicht nur zu sagen, wir wünschen jetzt Partizipation, wir wünschen jetzt, dass alle zu einem bestimmten Prozentsatz beteiligt sind. Es geht vielmehr darum, was sehr viel mutiger die UNBehindertenrechtskonvention mit dem Begriffspaar Inklusion und der Vielfalt zum Ausdruck bringt: um die Vielfalt menschlichen Lebens. Das ist wahrscheinlich, im Sinne eines positiven Menschenbildes, eine emphatischere Formulierung. Wir müssen uns dabei von einem einseitig medizinischen, von einem einseitig naturwissenschaftlichen Menschenbild trennen. Das naturwissenschaftliche Menschenbild ist nicht grundlegend falsch, stellt aber nur einen kleinen Aspekt des Menschseins dar. Wir müssen erkennen, dass jeder Mensch auch eine eigene Psyche hat und am sozialen Miteinander beteiligt ist – erst dann können Menschen ihr eigenes Leben selbstbestimmt und solidarisch zugleich leben. Bereits Thure von Uexküll, der Begründer der psychosomatischen Medizin, hat auf Grundlage der Erkenntnisse seines Vaters, dem Biologen Jakob von Uexküll, festgestellt, dass es für das Menschsein konstitutiv ist, neben körperlichen und psychischen Zuständen, welche auch wissenschaftlich beschreibbar sind, sich als Teil von größeren sozialen Gebilden zugehörig zu fühlen und ein Teil davon zu sein. Das bedeutet, dass kein Mensch berechtigt ist, sich alleine als körperliches, seelisches, psychisches Individuum zu betrachten, da der Mensch immer mehr ist als ein Individuum. Der Mensch ist in erster Linie ein Beziehungswesen. Das 39 Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe Menschliche im Menschen sind vor allem seine mit- und zwischenmenschlichen Beziehungen. Darin begründen sich die Sozialität und die Solidarität des Menschen. Damit wird in der Frage, was das Menschliche am Menschen ist, das Soziale bedeutsamer als das Biologische und Psychologische. Damit beginnt die Menschlichkeit des Menschen. In welchem Maße uns das gelingt, ist noch eine Zukunftsaufgabe. Diese Fragen hat bisher noch keine Universität lösen können. Sie könnten hier an der Hochschule Esslingen die ersten werden, die es wagen, das Menschenbild vom kranken, vom gestörten Menschen in Frage zu stellen und zu erkennen, dass zunächst die Sozialität des Menschen in den Blick genommen werden muss, als ein Soziales, das danach noch weitere Bereiche erfasst. Mein Buch Ende der Veranstaltung ist gewissermaßen die Quintessenz von den interessanten Erfahrungen, die wir in Gütersloh gemeinsam gemacht haben. Wir haben dort innerhalb von 17 Jahren sämtliche 435 lebenslänglich Untergebrachte, weil als unheilbar geltende, in eigene, selbstbestimmte Wohnungen oder allenfalls ambulante Wohngruppen entlassen, und zwar ohne jede Ausnahme. Die meisten wollten alleine leben, was uns sehr überraschte. Jede Form von Institutionalisierung hat sich in diesen 17 Jahren als überflüssig erwiesen, die kriminelle „Freiheitsberaubung im Amt“ war nicht notwendig. Es war allerdings gar nicht einfach, ausreichend Wohnungen zu finden. Auch im Sauerland haben wir etliche, nicht alle, aber etliche Heime aufgelöst. Hierbei zeigte sich, dass die Zusammenarbeit mit Privatträgern noch schwieriger sein kann als mit staatlich Verantwortlichen. Das Buch berichtet sehr intensiv darüber, wie Integration, Inklusion, Partizipation konkret und praktisch umgesetzt werden kann. Dabei war uns auch wichtig darzulegen, wieso im menschlichen Leben, im Sinne des „Wir leben unser Leben“, beispielsweise auch die Möglichkeit, arbeiten zu können, eingeschlossen ist. Dabei kann ein Beitrag geleistet werden, der die Würde eines Menschen gewährleistet und trotzdem niemanden auf diese Weise überfordert. Das ist auch unter heutigen Marktbedingungen realisierbar. Daher haben wir bereits in Gütersloh das Konzept der Zuverdienstfirma entwickelt. Wir haben 12 Zuverdienstfirmen gegründet, in denen ganz leichte Industriemontage, Verpackungsarbeiten, Gärtnerarbeiten gemacht werden können. Niemand musste dort arbeiten, aber jeder konnte, wenn ihm die Decke auf den Kopf fiel, dort hingehen, konnte in die Firma gehen, in keine Tagesstätte, sondern in eine Firma, welche nach Firmenprinzipien organisiert war. Jeder konnte, so lange er wollte, und wenn es nur eine halbe Stunde war, oder drei Stunden am Tag, in der Firma mitmachen. Man konnte aber auch ohne Angabe von Gründen nach einer halben Stunde wieder nach Hause gehen. Es entstand ein völlig Klaus Dörner 40 freier Raum. Arbeit wurde zur Freiheit erklärt. Es stellte sich heraus, dass diese Selbsthilfefirmen einen Teil von dem, was sie kosten, selbst erarbeiten können. Selbst dann, wenn es bei Mitarbeiter_innen mit größerer Beeinträchtigung nur ein kleiner Teil ist, das Prinzip ist auf jeden Fall gewahrt. Jeder kann mit seiner Tätigkeit ein Stück dazu beitragen. Das ist ein Beispiel für Partizipation, die deutlich über die Teilnahme hinausreicht. Und das ist der Grund, warum ich, als das Wort Teilhabegesetz SGB IX entwickelt wurde, festgestellt habe, dass sich darin wieder der „Medizinervorteil“ findet: Die „armen“, „beschädigten“, „leidenden“, „psychisch kranken“ Menschen, die etwas bräuchten, die etwas „haben“ müssten. Nur in dieser Logik müssten wir den „leidenden Menschen“ – aus Barmherzigkeit – etwas geben. Partizipation als dyadisches Verhältnis von Hilfs- und Helfensbedürftigkeit Mit den folgenden Gedanken möchte ich schließen – sie sind vielleicht die wichtigsten Gedanken in diesem Beitrag. Nur wenige sind bisher auf den Gedanken gekommen, dass die Bedürfnisse und Wünsche beeinträchtigter Personen gar nicht zwingend nur darin bestehen, etwas zu bekommen, sie bekommen ja die ganze Zeit schon „Sonderrationen“, in Form von Hilfe, weil sie als hilfsbedürftig gelten. Wir können doch nicht als anthropologische Trennung vollziehen, dass da auf der einen Seite Menschen sind, die etwas nehmen dürfen und wollen, und auf der anderen Seite Menschen sind, die ein großes Bedürfnis haben, den so konstruierten Anderen etwas geben zu können. Nehmen und Geben müssen in ein Gleichgewicht kommen können. Deshalb ist es notwendig, dass Psychiatrieerfahrene Möglichkeiten bekommen, anderen Menschen etwas zu geben. Es geht also nicht darum, Kosten für die Kostenträger zu senken, sondern diese zentral menschliche Möglichkeit, dass es Menschen nicht aushalten können, immer nur etwas zu bekommen und nicht gleichzeitig Gelegenheiten finden können, anderen etwas geben zu können. Dabei spielt das Mengenverhältnis keine Rolle. Es geht darum, dass Menschen grundsätzlich über Möglichkeiten verfügen müssen, nicht nur ihre Hilfebedürftigkeit, sondern auch ihre Helfensbedürftigkeit begegnet zu wissen. Und deswegen haben wir in Gütersloh 12 Zuverdienstfirmen geschaffen, die wir alle als Firmen selbst aufgebaut haben. Dazu gehört auch die Akquise von Aufträgen etc., die wir zunächst irgendwie geschafft haben bzw. irgendwann haben es die Psychiatrieerfahrenen selber gekonnt. Die Psychiatrieerfahrenen konnten etwas dazu verdienen, der Zuverdienst hatte eher eine symbolische Bedeutung. Die Psychiatrieerfahrenen hatten dann die Idee, Veranstaltungen für Sponsoren 41 Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe (z.B. einen Sponsorenlauf) zu organisieren. Von einem Teil des Geldes gründeten sie eine Stiftung mit dem Stiftungszweck, in der Zuverdienstfirma für Menschen mit psychischer Erkrankung oder auch mit geistigen Beeinträchtigungen, Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen und Arbeitsprozesse zu gestalten. Auf diese Weise haben die Psychiatrieerfahrenen selber angefangen, die Firma mit aufzubauen und zu gestalten. Und das ist, glaube ich, eine Idee von Partizipation, die eindeutig mehr als diesen Namen verdient. Für die Zukunft ist es bedeutend, den Schritt von der Industrieepoche zur Dienstleistungsgesellschaft zu wagen. Allerdings ist der Begriff der Dienstleistungsgesellschaft noch in der Schwebe, hat jedoch aktuell noch keinen klaren Rivalen. Im Begriff der Dienstleistung vereinen sich Dienen und Leisten. Dienen wird in der Gesellschaft bereits gewürdigt, das Leisten darf dabei nicht in Abrede gestellt werden. Die Tätigkeiten des Helfens, Unterstützens und Begleitens sind eine Einheit aus Dienen und Leisten. Es wird darum gehen, neue Bereiche für den Arbeitsmarkt zugänglich zu machen. Dazu gehört auch eine Wiederentdeckung der Nachbarschaftsbewegungen, die vor der Moderne noch konkurrenzlos waren. Es geht um die Wiederentdeckung des Bürgerschaftlichen Engagements. Menschen bringen darin im besten Falle Zuwendungszeit und Begleitungszeit ein, und zwar nicht zu viel Zeit und nicht zu viel Hilfe. Dabei ist es notwendig, dass Profis und bürgerschaftlich Engagierte Gesamthilfepakete schnüren. Die Frage wird sein, wie kommen wir an die Zeitressourcen der Engagierten heran, wie können Nachbarschaften aktiviert werden? Die Idee der Nachbarschaft wird für Bewohner_innen mehr und mehr bedeutsam, jedoch verstößt aktuell die Idee des Bürgerschaftlichen Engagements noch gegen den Zeitgeist der Industriegesellschaft. Partizipation ist ein viel zu schwaches Konzept: es geht um Selbsthilfe, die Selbsthilfe selbst mit zu organisieren, um bürgerschaftliches Engagement. Dazu müssen alle auf der Suche nach besseren Alternativen phantasievoll bleiben. Zu den Psychiatrieerfahrenen möchte ich sagen: Lassen Sie sich bitte nicht mit dem viel zu harmlosen Begriff Partizipation von Profis „abspeisen“! Tschüss. Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen: Teilhabe bei psychischen Erkrankungen Bernhard Dollerschell, Martin Ortolf Vortrag im Rahmen des Fachtages „Wir leben unser Leben“. Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern an der Hochschule Esslingen am 15. Juli 2016 In Anknüpfung an den Vortrag von Herrn Prof. Dörner ist es uns ein Anliegen aufzuzeigen, welche konkreten Voraussetzungen bzw. Handlungsfelder notwendig sind, damit PsychiatrieErfahrene überhaupt in die Lage versetzt werden, um partizipieren zu können. Notwendig ist grundsätzlich nicht nur die Stärkung der Selbsthilfe im institutionellen Bereich, sondern auch die konkrete Stärkung der Selbsthilfefähigkeiten eines jeden einzelnen Psychiatrie-Erfahrenen. Nur wenn dies gewährleistet ist, kann es zu einem Genesungsprozess bei psychisch erkrankten Menschen kommen. Neben der Hilfe zur Selbsthilfe braucht es als zweite Voraussetzung unbedingt eine angemessene Hilfe zur Teilhabe. Nur dann ist eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben möglich. Beide Hilfen müssen sich an den Bedürfnissen der Patient_innen orientieren. Als Beispiele für Partizipation von Psychiatrie-Erfahrenen in Baden-Württemberg sind die von Herrn Prof. Dörner bereits angesprochene EX-IN Bewegung (Experience-Involvement), die von seinem Neffen Prof. Dr. Thomas Bock mit initiiert worden ist, und die durch das Sozialministerium geschaffenen IBB (Informations-, Beratungs- und Beschwerdestellen) zu nennen, auf die wir in unserem Vortrag noch weiter eingehen werden. Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen 43 Die sechs spezifischen Handlungsfelder, die wir nun in diesem Vortrag erörtern, sind: • die Stärkung der Selbsthilfe, • die Optimierung der Hilfen zur Teilhabe, • die Verknüpfung von Selbsthilfe und Hilfe zur Teilhabe, • die Experience-Involvement (EX-IN)- Bewegung, • die Informations-, Beratungs- und Beschwerdestellen (IBB-Stellen) und • die Vertretung der Interessen Psychiatrie-Erfahrener. Stärkung der Selbsthilfe Als erstes Handlungsfeld hatten wir die Stärkung der Selbsthilfe identifiziert. Ein wichtiger Aspekt dieses Handlungsfeldes ist das Anliegen der Behindertenrechtskonvention, die bereits angesprochen wurde (von Herrn Dörner, Anm. d. Verf). Hier möchten wir besonders herausgreifen, dass die Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen notwendig ist. Die Aufklärung und Sensibilisierung der Gesellschaft sind hierfür eine grundlegende Voraussetzung. Somit ist die Vernetzung von regionalen Initiativen zur Anti-Stigma-Arbeit zur Förderung seelischer Gesundheit ein unabdingbares Mittel zur Verwirklichung von Inklusion. Damit auch Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen am gesellschaftlichen Leben gleichwertig partizipieren können. Der Leitgedanke, „Nichts über uns und ohne uns“ sollte im gesamten Hilfesystem verankert werden. Denn die trialogische Zusammenarbeit zwischen Betroffenen, professionell Tätigen und Angehörigen ist für die Stärkung der Selbsthilfe besonders wichtig. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass dieser Fachtag trialogisch gestaltet wird, sodass professionell Tätige, Frau Mechelke- Bordanowicz als Angehörige und wir als Betroffene gleichberechtigt zu Wort kommen. Außerdem muss das Hilfesystem einen personenorientierten Ansatz verfolgen. Die Bedürfnisse der Betroffenen und der Angehörigen müssen Grundlage des Handelns sein. Dementsprechend muss der individuelle Hilfebedarf angemessen ermittelt werden. Dabei müssen sowohl die persönlichen Wünsche der Patient_innen und die fachliche Einschätzung der Therapeut_innen gleichberechtigt in die Hilfeplanung einfließen. Denn für die Zufriedenheit der Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf 44 Patient_innen ist auch entscheidend, dass die gewählten therapeutischen Maßnahmen zur gewünschten Wirkung führen. Insbesondere die Konzentration auf die Salutogenese 1, als gleichberechtigter Bestandteil neben der Pathogenese 2, führen zur Reduzierung der Krankheitserscheinungen. Daneben muss die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft verbessert werden. Das Prinzip der Personenzentrierung muss aus unserer Sicht auch bei den weiteren Entwicklungsschritten zur Anwendung kommen. (…) Optimierung der Hilfe zur Teilhabe Das zweite Handlungsfeld, welches wir nun behandeln möchten, ist die Optimierung der Hilfe zur Teilhabe. Da ist es wichtig, dass die Betroffenen die Möglichkeit haben verschiedene Angebote wahrzunehmen. Ein Beispiel hierfür sind psychoedukative Gesprächsgruppen in trialogischer Besetzung. Die in psychiatrischen Kliniken geübte Praxis, nämlich dass sich ein Profi hinsetzt und über die psychischen Probleme doziert, ist unserer Ansicht nach alleine nicht zielführend. Solche Angebote sollten unter anderem durch von Peers – also selbst auch Betroffenen – geführte Gesprächsgruppen ergänzt werden. Hierbei können die Pflegeteams zur Unterstützung der Peers mit einbezogen werden. Im stationären/ambulanten Alltag können Peers gewährleisten, dass die Interessen der Patient_innen gewahrt bleiben. Sei es als Patientenfürsprecher_in, oder als Genesungsbegleiter_in. Denn solche partizipativen Angebote fördern die Auseinandersetzung mit der Krankheit auf Augenhöhe und sind ein wichtiger salutogenetischer Bestandteil im Genesungsprozess. Auch die sogenannten Psychoseseminare sind dazu geeignet, ein Verständnis für die Sichtweisen der daran teilnehmenden Personen zu wecken. Da die Psychoseseminare, wie der Name schon impliziert, sich jedoch ausschließlich auf die Psychosen beziehen, sollte dieses Format auch mit Blick auf andere Krankheitsbilder entwickelt und durchgeführt werden. Besagtes Seminarformat könnte sich dann „Trialogseminare“ nennen. Das Ganze sollte mög- 1 2 Also eher die Konzentration auf die Entstehung von Gesundheit. Anstatt der alleinigen Konzentration auf die Entstehung von Krankheit. 45 Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen lichst auch mit dem Recovery3 Gedanken verbunden werden. Daher plädieren wir auch für den Aufbau landesweiter spezieller Recovery-Gruppen. Patienten und Angehörige sollten zudem auf eine inhaltliche Unterstützung in Form von schriftlichen Ratgebern zurückgreifen können. Es ist wichtig, dass die Menschen, die teilhaben, die partizipieren wollen, mit ihrem Erfahrungswissen nicht alleine gelassen werden, denn, sie könnten damit überfordert sein. Daher sollte man ihnen die Möglichkeit bieten, ihr Erfahrungswissen gezielt anwenden zu können, und weitere Informationen zu erhalten, damit sie dann auf Augenhöhe mit den anderen Akteuren in der Psychiatrielandschaft sprechen können. Wichtig ist für uns außerdem die Teilnahme an Veranstaltungen, wie zum Beispiel an diesem Fachtag: Auf diese Weise sind nicht ausschließlich die Fachliteratur, das Internet usw. diejenigen Medien, die als Informationsquelle dienen; stattdessen gibt man Betroffenen und deren Angehörigen mit dem Besuch und der aktiven Mitgestaltung an Fachtagen, Selbtshilfeveranstaltungen, etc. die Gelegenheit, in den bereits genannten trialogischen Austausch zu treten. Damit die Betroffenen, sich nicht nur zurückziehen und kein Gehör finden, sondern in die Öffentlichkeit hinausgehen und dort mitdiskutieren und mitreden, wo die Entscheidungen getroffen werden. Die Teilhabe an den Vorzügen von Arbeit ist im geförderten Bereich insofern gewährleistet, als dass solch eine Beschäftigung für eine Tagesstrukturierung bei Psychiatrieerfahrenen sorgt. Der Kontakt zu anderen Menschen hat für Psychiatrieerfahrene große Vorteile. Allerdings hemmt der minimale Lohn bei solchen Beschäftigungsverhältnissen die Teilhabe an der Gesellschaft. Das Statusgefälle zu nichtgeförderter Arbeit ist groß und zeichnet sich dadurch aus, dass die meisten im geförderten Bereich Arbeitenden an der Armutsgrenze leben. Finanziell prekäre Lebensverhältnisse verstärken zusätzlich und unmittelbar psychische Erkrankungen. Zudem fehlt es immer noch an flexiblen Angeboten, die die unterschiedliche Leistungsfähigkeit und Bildung berücksichtigen. Moderne Ansätze wie die „unterstützte Beschäftigung“ 4 setzen sich viel zu langsam durch. Auch aufgrund der nach wie vor vorhandenen 3 Verstanden als Fokus auf den Prozess der Wiedergenesung, der bestimmte Prinzipien als Grundlage braucht. 4 Eine Maßnahme zur Teilhabe am Erwerbsleben, bei der Menschen mit Unterstützungsbedarf individuell bei der Integration in eine Arbeitsstelle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt begleitet werden können. Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf 46 Stigmatisierung von psychischen Störungen ist eine Teilhabe von psychisch erkrankten Menschen am ersten Arbeitsmarkt immer noch mit sehr vielen Barrieren versehen. Der Arbeitsmarkt muss flexibler werden, um mehr Inklusion zu ermöglichen. Dann würde auch eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben besser gewährleistet sein. Psychiatrieerfahrene Menschen können oft viel leisten, wenn Arbeitsplätze vorhanden sind, die ihre speziellen Einschränkungen berücksichtigen. Die Teilhabe an der Gesellschaft ist mit jener Form von Arbeit, wie sie in Werkstätten angeboten wird, nur selten möglich, da diese häufig in isolierten und ausgegrenzten Verhältnissen stattfindet. Verknüpfung von Selbsthilfe und Hilfe zur Teilhabe Die Verknüpfung der ersten beiden Handlungsfelder, Selbsthilfe und Hilfe zur Teilhabe, ist das Thema des dritten Handlungsfeldes. Dabei ist es ganz wichtig, dass die Verankerung des Partizipationsgedanken in den Kreisen der Sozialplaner und in den größeren Ballungsräumen auch in den Kreisen der Psychiatriekoordinatoren stattfindet. Es nützt nichts, wenn über Partizipation an der Universität oder in kleinen Kreisen bzw. exklusiven Gruppen nachgedacht wird; vielmehr muss sie gelebte Wirklichkeit sein. Und diese Wirklichkeit wird oftmals ohne Beteiligung der Betroffenen durch die Entscheidungsträger in den Kommunen bzw. Städten bestimmt. Hier muss der Partizipationsgedanke bereits ganz vorne anstehen. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass Partizipation bereits teilweise umgesetzt ist. Es ist nicht so, dass Partizipation eine völlig neue Erfindung ist, die es einzuführen gilt – Sozialplaner und Psychiatriekoordinatoren haben den Gedanken teilweise aufgegriffen. Was uns als Betroffene dabei auffällt ist, dass Partizipation in Ballungszentren, wie hier in Baden-Württemberg, schon weiter fortgeschritten ist, während im ländlichen Bereich oftmals noch Nachholbedarf besteht.. Die Gesamtsituation ist jedoch nicht ausschließlich schwarz-weiß zu sehen: dass etwa alles, was in den Ballungsräumen stattfindet, gut ist und die ländlichen Räume durchweg schlecht dastehen. Aber aus unserer Beobachtung heraus, sind die Ballungszentren in Sachen Partizipation tendenziell weiter fortgeschritten. 47 Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen Unserer Meinung nach wäre die Einrichtung von Arbeitskreisen zur Förderung der partizipativen Praxis in der Gemeindepsychiatrie eine sinnvolle Maßnahme. Ein aus unserer Sicht praktikable Maßnahme wäre zum Beispiel: die Bildung von Arbeitskreisen in den Gemeindepsychiatrien, welche Profis, Angehörige und Betroffene an einen Tisch bringen. Dies wäre ein Schritt in die richtige Richtung, um gemeinsam Themen zu bearbeiten und die Psychiatrielandschaft zu gestalten. Es ist ebenfalls wichtig, dass für Angehörigen und Betroffene ein kreisübergreifender Austausch ihrer Interessen erfolgt. Weiter ist – wie wir bereits ausgeführt haben – die Etablierung von Schulungen für Psychiatrieerfahrene ein elementarer Bestandteil von Partizipation, damit diese überhaupt als Interessenvertreter in den Gemeindespsychiatrien arbeiten können. Das ungeteilte, eigene Erfahrungswissen ist nämlich nur ein Wissen, das für sich selbst genutzt werden kann. Das bedeutet, dass dieses eigene Wissen nicht der Allgemeinheit zur Verfügung steht und nicht allgemeingültig ist, weshalb Psychiatrieerfahrene so nicht mit anderen auf Augenhöhe darüber sprechen können. Diese Weiterbildung könnte z.B. nach dem Vorbild der IBB (Informations-, Beratungs-, Beschwerdestellen)- Schulungen gestaltet werden. Dieses Schulungsprogramm bietet betroffenen Menschen und ihren Angehörigen eine Möglichkeit sich auf einen Wissenstand zu bringen, der ermöglicht, auf Augenhöhe mit den Profis zu arbeiten. So werden sie in die Lage versetzt, sich in den gesamten Reformprozess einbringen zu können, der z.B. in dem neuen Psychiatrieplan verankert ist, und dort adäquat ihre Interessen vertreten zu können. Dabei ist uns auch der Gedanke wichtig, dass die Betroffenen „empowert 5“ und in ihrem Recovery-Weg bestärkt werden. Wenn ich als Betroffener teilhabe, wenn ich partizipiere, wenn ich für meine Sache und Interessen eintreten kann, dann kann dies auch wieder zur Normalität führen und die Krankheit in den Hintergrund rücken. Damit kann ich ein besseres Leben führen, auch wenn die Krankheit durch die Teilhabe an der Gesellschaft bzw. die gelebte Partizipation je nicht komplett verschwinden würde. 5 Bestärkt und befähigt, im Sinne des „Empowerment“-Ansatzes der Sozialpsychiatrie. Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf 48 Experience-Involvement (EX-IN) Das Thema EX-IN behandelt das vierte Handlungsfeld. Ziel der EX-IN- Ausbildung ist die Qualifizierung von Psychiatrieerfahrenen, damit sie als Dozent_innen oder Mitarbeiter_innen in psychiatrischen Diensten tätig werden können. Die EX-IN-Ausbildung ermöglicht das Erfahrungswissen der Betroffenen, seit kurzem auch das Erfahrungswissen der Angehörigen, zu reflektieren und so in einer konstruktiven Art und Weise für die Begleitung von psychisch kranken Menschen zu nutzen. Diese Ausbildung könnte Psychiatrieerfahrenen ermöglichen, im Anschluss in einer Anstellung ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Zurzeit ist EX-IN noch kein Ausbildungsberuf; es ist vielmehr eine Fortbildung, die bisher nicht durch die Agentur für Arbeit in Baden-Württemberg anerkannt wird. Deswegen ist es besonders wichtig, Praktikums- und Arbeitsplätze zu schaffen. Zunächst braucht es genügend Praktikumsplätze, damit die Psychiatrieerfahrenen ihre EX-INAusbildung erfolgreich beenden können. Wie die Erfahrung aus den bisherigen EX-IN- Kursen zeigt, ist der große Teil der Absolvent_innen wieder in der Lage, einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachzugehen und als Genesungsbegleiter zu arbeiten. Leider werden zurzeit oft nur geringfügig bezahlte Beschäftigungsverhältnisse angeboten. Dabei kann ihr Expertenwissen gar nicht wichtig genug eingeschätzt werden. Bezüglich der tariflichen Eingruppierung muss ein sinnvoller Weg gefunden werden. Es widerspricht dem bisherigen System der Tarifpartner, dass eine EX-IN- Ausbildung mit einer „normalen“ Ausbildung gleichgesetzt wird. In diesem Zusammenhang müsste das Erfahrungswissen anerkannt werden, aber das gibt die derzeitige Tariflandschaft einfach nicht her. Dies sollte geändert werden. Wie bei anderen Professionen auch ist es für EX-IN-Absolvent_innen notwendig, ihnen Fortbildungen und Supervisionen anzubieten. Denn das Erfahrungswissen steht nicht still, sondern wächst stetig, und so kann die Arbeit in der Genesungsbegleitung bereichert und weiterentwickelt werden. Fortbildungen und Supervisionen sind für Peers demnach genauso notwendig, wie sie bei den Profis üblich sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Peers nicht nur als Genesungsbegleiter arbeiten sollten, sondern dass sie auch im Qualitätsmanagement von (sozial)psychiatrischen Einrichtungen eingesetzt werden müssten, um so eine Verbesserung der Situation für Menschen mit psychischen Erkrankungen im betrieblichen Alltag der Leistungserbringer zu erreichen. Das Ziel 49 Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen müsste sein, dass in jeder Einrichtung zwei Genesungsbegleiter mitarbeiten - und das nicht zum Nulltarif, sondern zu einer angemessenen Bezahlung. Die SpDi´s (Sozialpsychiatrische Dienste) sind bereits per Verwaltungsvorschrift aufgefordert, Ex-Inler oder Menschen mit einer vergleichbaren Qualifikation einzustellen. IBB-Stellen (Informations-, Beratungs- und Beschwerdestellen) Das fünfte Handlungsfeld betrifft die IBB-Stellen. Auch in diesem Kontext stellt sich die Frage nach einer angemessenen Bezahlung. Es wird eine anspruchsvolle und qualitativ einwandfreie Arbeit seitens des Gesetzgebers von den IBB-Mitarbeiter_innen verlangt. Aber das Psychisch- Kranken- Hilfegesetz (PsychKHG) sieht für die dort Tätigen nur eine Ehrenamtspauschale vor. Wir finden, dass dies ein Widerspruch ist, da sowohl die Art als auch der Umfang der Arbeit eine angemessene Bezahlung erfordern. Genauso erfordert diese Tätigkeit, wie auch bei den Genesungsbegleiter_innen, Möglichkeiten von Fortbildungen und Supervision und zwar für alle IBB-Mitarbeiter_innen. Qualifizierungsangebote sollten hier fortlaufend gewährt werden und nicht nur ein Angebot für den Anfang sein. Die Bereitstellung der Infrastruktur ist eine Aufgabe der Kreise und sollte selbstverständlich sein: Es braucht flächendeckend z.B. Computer, Telefone und angemessene Räumlichkeiten. Niederschwelliger Zugang sollte auch bedeuten, dass nicht lediglich in den Zentren für Psychiatrien Räume zur Verfügung gestellt werden, sondern dass die IBB-Stellen an einem neutralen Ort besser aufgehoben sind, damit mehr Menschen auch außerhalb der stationären Dienste Zugang zu den IBB-Stellen finden können. In der Diskussion zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sind Zwangsmaßnahmen in deutschen Psychiatrien zu Recht verstärkt in die Kritik geraten. Vielerorts gibt es zu viel Zwang: Zwar gehört Baden-Württemberg zu den Bundesländern mit vergleichsweise geringem Umfang an Zwangsmaßnahmen in den Psychiatrien, aber dennoch ist jede solche Maßnahme eine Maßnahme zu viel. Die in Baden-Württemberg eingerichteten Besuchskommissionen sind ein gutes Beispiel für gelebte Partizipation. Laut dem PsychKHG sind die Besuchskommissionen trialogisch zu besetzen. Wie der Name schon sagt, besuchen diese Kommissionen die stationären Einrichtungen und informieren sich z.B. über die Praxis der durchgeführten Zwangsmaßnahmen in Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf 50 den forensischen, geschlossenen und allgemeinen Abteilungen in den Psychiatrien des Landes, um sich ein Bild von den Zuständen vor Ort machen zu können. Interessenvertretung von Psychiatrieerfahrenen Das Handlungsfeld sechs widmet sich der Interessenvertretung von Psychiatrieerfahrenen. Der schon zuvor angesprochene Punkt „Arbeit“ soll hierbei besonders heraus gegriffen werden. Das Thema Arbeit ist für uns Betroffene sehr wichtig. Denn Arbeit bzw. Beschäftigung ist für uns mehr als nur Arbeit. Als Empfänger von Hilfe möchten wir nicht nur als Begünstigte gesehen werden, sondern wir möchten nach unserer Genesung auch wieder etwas zurückgeben, wie z.B. unser Erfahrungswissen, welches wir auf unserem Genesungsweg gesammelt haben. Vielen von uns ist es wichtig, durch diese gesammelten Erfahrungen in diesem Lebensabschnitt, dem Leben insgesamt wieder einen Sinn zu geben. Und die Arbeit als Genesungsbegleiter_inen bzw. IBB-Stellen- Mitarbeiter_innen bietet eine Möglichkeit dies zu tun. Auch helfen diese Tätigkeiten an sich wieder produktiv und strukturiert arbeiten zu können, was dem Leben der Betroffenen automatisch ein Stück weit wieder einen Sinn in ihrem Leben gibt. Deshalb sollen Menschen, die keine Chance haben, in ihren ursprünglichen Beruf am ersten Arbeitsmarkt wieder arbeiten zu können, die Möglichkeit haben, als Genesungsbegleiter_innen oder IBB-Stellen-Mitarbeiter_innen bezahlt arbeiten zu können, um so an der Gesellschaft teilzuhaben. Wie bereits gesagt, eine fortlaufende Förderung und Unterstützung während dieser Tätigkeiten in Form von Fortbildung und Supervision halten wir für unabdingbar. Wir sind der Meinung, dass es ein langfristiges Ziel sein sollte, diese Tätigkeiten im ersten Arbeitsmarkt zu verorten, allerdings müsste der erste Arbeitsmarkt zuerst flexibler gestaltet werden. Außerdem bräuchte es, bezogen auf die Beschäftigungsverhältnisse und Rentenbezüge, insgesamt einen flexibleren Arbeitsmarkt. Denn es gibt eben doch Beeinträchtigungen, die so schwerwiegend sind, dass manche Betroffene im ersten Arbeitsmarkt in eine permanente Überforderungssituation kommen würden und es doch einen geschützten Rahmen braucht, um sich, wie z.B. in einer Selbsthilfefirma, verwirklichen zu können. Zu den Stichworten sozialraumbezogene Förderung, Vernetzung und Koordination von Hilfen durch die Kommunen sei gesagt, dass unter anderem bei den Weiterbildungen eine Haltungs- 51 Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen änderung bei Sozial- und Selbstverwaltung und bei Leistungserbringern angestrebt werden muss. Durch weitreichende Sozialraumaktivitäten sollen Sondermilieus aufgelöst oder zumindest so vernetzt werden, dass hier Inklusion stattfinden kann. Sozialraumnetzwerker_innen und Quartiersarbeiter_innen, die durch die Leistungserbringer und –träger bezahlt werden, müssen dabei seitens der Träger besser unterstützt werden. Zum Abschluss unseres Vortrags sei nochmal betont, dass die Förderung von Selbsthilfe, Familienselbsthilfe und Nachbarschaftshilfe auch ihren angemessen Platz haben sollte, denn diese Art von Hilfe ist unbestritten auch ein Teil des Sozialraumes und darf nicht vernachlässigt werden. Denn auch das ehrenamtliche Engagement trägt seinen Teil für die Förderung von psychischer Gesundheit bei: Es unterstützt das Zusammenleben in der Gesellschaft und hilft psychisch beeinträchtigten Menschen bei der gesellschaftlichen Teilhabe. Dies sollte nicht vergessen werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 6 6 In unserem Beitrag wurde einiges zitiert, die Zitate stammen aus der Publikation „Gleichberechtigt mittendrin – Partizipation und Teilhabe“ Tagungsdokumentation Berlin, 6./7. November 2012 von der Aktion Psychisch Kranker von den Autoren Peter Weiß und Andreas Heinz. Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen Barbara Mechelke-Bordanowicz Vortrag im Rahmen des Fachtages „Wir leben unser Leben“. Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern an der Hochschule Esslingen am 15. Juli 2016 Ich möchte mich für diese Einladung zum Fachtag bedanken: Dass wir als Angehörige hier unsere Sicht der Dinge darstellen können, finde ich richtig und wichtig. Das Thema Partizipation ist in aller Munde. Nicht nur in Tagungen, auch in Fachzeitschriften wird sich mit dem Thema befasst. Herr Dollerschell und Herr Ortolf haben in ihren Ausführungen auch immer wieder auf die Angehörigen hingewiesen. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich: Sie sehen, dass unsere Landesverbände gut zusammenarbeiten. Beginnen möchte ich mit dem Motto des Fachtages: „Wir leben unser Leben“ und in diesem Zusammenhang das Leben, die Situation der Angehörigen kurz schildern. Stellen Sie sich vor, Sie wären selbst Angehörige_r. eines psychisch kranken Menschen. Ihr Sohn, Ihre Tochter oder Ihr_e Partner_in wären psychisch krank. Das Wesen dieses Menschen würde sich verändern. Sie hätten das Gefühl, Sie würden Ihr Kind verlieren und ein ganz anderes Kind wiederbekommen. Oder Ihr Partner würde seinen Arbeitsplatz verlieren und sich so verändern, dass Sie sich fragten, ob Sie diesen Menschen wirklich hätten heiraten wollen. Diese Phasen der Unsicherheit, der akuten Krisen wechseln mit Phasen der relativen Sicherheit. Das Auf und Ab der Krankheit, die Stimmungsschwankungen des psychisch Kranken, die Existenzängste, die Belastungen für die ganze Familie: all das geht zeitweise an die Grenze Ihrer Kräfte. Die Krankheit beherrscht das Familienleben auf Dauer. Würden Sie da an das Thema Teilhabe und Partizipation denken? Bei allen Ausführungen, die ich hier zum Thema mache und bei allen Kontakten, die Sie in Ihrem beruflichen Umfeld mit Angehörigen haben, sollten Sie diesen Aspekt der Familiensituation im Hinterkopf haben. Nur so kann man verstehen, warum es so schwer ist, Angehörige zu motivieren, aktiv zu werden. Und auch die Angehörigen, die aktiv sind, haben diese Familiensituation im Hintergrund. Weiter zur Situation der Angehörigen: Wenn Sie Glück 53 Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen haben, ist der Kranke im sogenannten Hilfesystem erfasst. Das ist bei vielen psychisch Kranken, die zu Hause wohnen, und das sind immerhin mehr als 50%, nicht der Fall. Nehmen wir also an, Ihr psychisch kranker Angehöriger ist krankheitseinsichtig und nimmt Hilfe an: Sie erleben, dass der psychisch Kranke immer im Mittelpunkt steht; dass Sie als Angehörige_r und das soziale Umfeld mit Verweis auf Datenschutz, Schweigepflicht und Selbstbestimmungsrecht des psychisch Kranken nicht immer, aber immer noch viel zu oft nicht mit einbezogen werden. Sie sind mit Ihren Sorgen und Nöten allein gelassen. Irgendwann werden Sie einsehen, dass Sie alleine nicht weiterkommen. Dass Sie auch als Angehörige_r Hilfe und Unterstützung brauchen. Vielleicht finden Sie dann eine Angehörigengruppe, erfahren, wie der Austausch mit der Angehörigengruppe Erleichterung bringt, fühlen sich verstanden und spüren die Solidarität mit den anderen Angehörigen. Das ist der erste Schritt. Über das eigene Leid hinaus zu blicken. Aus den Erfahrungen der anderen Angehörigen zu lernen. Es beginnt ein Prozess des Hinterfragens, ein Prozess des Nachdenkens über die positiven und negativen Erfahrungen, die man mit dem Hilfesystem macht und was man verbessern oder verändern sollte. Der zweite Schritt besteht darin, zu erkennen, dass ich das Hilfesystem nur dann verändern und beeinflussen kann, wenn ich selbst aktiv werde. Nicht allein, sondern mit anderen Angehörigen gemeinsam. Und dass ich damit auf meine eigene Familiensituation Einfluss nehmen kann. Dass jede Verbesserung, die erreicht wird, meinem psychisch kranken Familienmitglied und damit auch mir als Angehörige_r zugutekommt. Die Erkenntnis, dass das nicht alles von alleine geschieht, dass ich mich selbst bewegen muss, wenn ich eine Veränderung möchte, dieser Zusammenhang ist schwer zu vermitteln. Es ist keine Automatik. Aber diese Einsicht, diese Überzeugung ist entscheidend dafür, aktiv zu werden und aktiv zu bleiben, denn die setzt Kräfte frei und lässt mich durchhalten bei der Angehörigenarbeit. Mit dem dritten Schritt gilt es tatsächlich aktiv zu werden: Teilhabe und Partizipation einzufordern, d. h. auch Teilnahme an Entscheidungsprozessen. Dabei geht es um die gleichberechtigte Behandlung der Interessen aller Beteiligten. Die Entscheidungsprozesse müssen transparent gestaltet werden. Die Betroffenen und Angehörigen müssen von Anfang an mit einbezogen werden. Barbara Mechelke-Bordanowicz 54 An zwei Beispielen möchte ich unsere konkreten Erfahrungen darüber aufzeigen, wie Partizipation wirken kann, wo ihre Grenzen liegen, wo es Hemmnisse gibt und dass entsprechende Rahmenbedingungen notwendig sind, wenn Partizipation ernst gemeint ist. Beispiel 1: Das Psychisch- Kranken- Hilfegesetz, kurz PsychKHG genannt. Die Eckpunkte für das PsychKHG wurden vonseiten des Sozialministeriums auf Basis eines demokratischen Prozess entwickelt. Psychiatrieerfahrene und Angehörige waren daran beteiligt. Viele dieser entwickelten Eckpunkte sind in das Gesetz eingeflossen. Seit Inkrafttreten des Gesetzes geht es um seine Umsetzung. Auch dies erfolgt von Seiten des Sozialministeriums in einem demokratischen Prozess. In Bezug auf die verschiedenen Bereiche des Gesetzes wurden Arbeitsgruppen gebildet, in denen die Betroffenen und Angehörigen mitarbeiten. In den Arbeitsgruppen werden Texte erarbeitet, die in den Landespsychiatrieplan einfließen sollen. Allerdings hat der Landespsychiatrieplan nur empfehlenden Charakter. Nun gibt es da auch Grenzen, was die Mitsprache der Selbsthilfe betrifft. Immer dann, wenn es um die Frage der Finanzierung geht, gibt es oftmals intensive Diskussionen. Das führt z.B. dazu, dass Forderungen der Angehörigen, wie das Aufsuchen der Hilfen in Familien, die laut Gesetz keine MussBestimmung ist, nicht in einen Text einfließen; mit dem Argument, man könne den Diensten nicht vorschreiben, wie sie das handhaben. Beispiel 2: Das Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz, WTPG. Mir geht es an dieser Stelle um § 9: Mitwirkung der Bewohner. Da heißt es: „Die Bewohner einer stationären Einrichtung wirken in Angelegenheiten des Betriebes ihrer stationären Einrichtung durch einen Bewohnerbeirat mit.“ Dies ist eine sogenannte Muss-Bestimmung und wird auch eingehalten. In den Wohnheimen gibt es in der Regel Heimbeiräte. Weiter heißt es in dem genannten Gesetz: „Zusätzlich soll in stationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderung ein Angehörigen- und Betreuerrat errichtet werden, der die Leitung und den Bewohnerbeirat bei seiner Arbeit berät und bei Vorschlägen oder Stellungnahmen unterstützt.“ Und weiter: „Die für die Durchführung dieses Gesetzes zuständige Behörde, fördert die Unterrichtung der Bewohner, der Angehörigen und der Betreuer sowie der Mitglieder von Bewohnerbeiräten und Angehörigen- und Betreuerbeiräten über die Ausgestaltung der Mitwirkung.“ D. h., die Errichtung eines Angehörigen- und Betreuerrates ist keine Muss-Bestimmung, sondern eine SollBestimmung. Das führt in der Praxis dazu, dass die Errichtung solch eines Rates nach Belieben der Einrichtung gehandhabt wird. Es gibt einzelne Wohnheime, in denen sich bemüht wurde, die Angehörigen zu informieren und in denen es gelungen ist, einen Angehörigenbei- 55 Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen rat einzurichten. Das ist sehr mühselig und aufwändig und erfordert von der Leitung der Wohnheime auch den Willen und die Überzeugung, dass ein Angehörigenbeirat sinnvoll sein kann. Für die Heimleitung bedeutet solch ein Angehörigenbeirat sicherlich auch eine Form der Kontrolle. Aber dort, wo es gelungen ist, einen funktionierenden Angehörigenbeirat einzurichten, dort gibt es meist eine gute Zusammenarbeit und die Leitung hat bei schwierigen Entscheidungen, die sich für ein Wohnheim immer mal wieder stellen, die Unterstützung des Angehörigenbeirats. Wir Angehörigen müssen jedoch feststellen, dass die Existenz von Angehörigenbeiräten oftmals leider nur Ausnahmen darstellen: In einem Großteil der Heime gibt es keinen Angehörigenbeirat und er wird auch nicht aktiv angestrebt. Die Angehörigen der Bewohner fordern das auch nicht ein, denn selbst wenn Angehörige dazu bereit wären, sie wissen meist nicht von dieser Möglichkeit. Woher auch. Somit wird dieser § 9 des Gesetzes unterlaufen. Das ist nicht im Sinne des Gesetzes und auch nicht im Sinne von Teilhabe und Partizipation. Im Geistig- Behindertenbereich, bei der Lebenshilfe, läuft das ganz anders. Dort ist ein Angehörigenbeirat selbstverständlich. Da gibt es sogar eine Landesarbeitsgemeinschaft der Angehörigenbeiräte. Teilhabe und Partizipation ist nicht einseitig. Von Partizipation profitieren alle Seiten. Betroffene und Angehörige bringen ihre Forderungen, ihre Sicht der Dinge ein. Sie werden angehört und durch die Möglichkeit der Mitsprache werden die Angehörigen ernst genommen. Mitsprache ist noch kein Mitentscheiden, auch wenn das angestrebt werden sollte. Aber die Erfahrung zeigt, dass Mitsprache bereits viel bewegt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob dies trialogisch erfolgt. Unter trialogisch verstehe ich, dass alle drei Seiten, also Psychiatrieerfahrene, Angehörige und Profis, auch zahlenmäßig gleich stark vertreten und gleichberechtigt sind. Das ist, bezogen auf Gremienarbeit, nur sehr selten der Fall: Meist sitzt man als Betroffene_r und als Angehörige_r allein oder zu zweit einem Gremium von 15 Teilnehmern und mehr aus dem professionellen Bereich gegenüber. Das Zahlenverhältnis allein sagt aber wenig aus. Wichtig ist der Geist, der vorherrscht: Ob man eine Alibifunktion hat, was hin und wieder der Fall ist oder ob die Sicht der Angehörigen, der Selbsthilfe ernst genommen wird. Ob die Prozesse überschaubar, d.h. nachvollziehbar sind. Dazu gehört, dass es zu einem echten Austausch kommt und die Position der Selbsthilfe gleichberechtigt neben anderen Positionen festgehalten und beachtet wird. Fachkräfte profitieren auch von der Teilhabe: Die gegenseitige Wahrnehmung verändert sich, man versteht die andere Seite besser; versteht ihre Probleme und Bedenken. So können ein Vertrauensverhältnis und eine Zusammenarbeit ent- Barbara Mechelke-Bordanowicz 56 stehen, die sich für alle Beteiligten und für die Sache im Allgemeinen positiv auswirkt. Natürlich gibt es für Angehörige und auch für die Psychiatrieerfahrenen neben der eingangs erwähnten familiären Belastung weitere Hemmnisse bei der Wahrnehmung von Teilhabe und Partizipation. Hier eine Aufzählung, es handelt sich dabei nicht um eine Rangfolge: 1. Die meisten Gremiumssitzungen finden tagsüber statt. Viele Angehörige sind berufstätig. Das ist für diese Angehörige kaum zu leisten. Die Angehörigenarbeit muss deshalb überwiegend von Angehörigen im Ruhestand oder in der Rente geleistet werden. Auf regionaler Ebene könnte man, ähnlich wie in den Kommunen die Gemeinderatssitzungen, die Gremiumssitzungen auf den Nachmittag verlegen. 2. Es gibt keinen Verdienstausfall oder eine angemessene Honorierung. Fahrtkosten können über Fördermittel erstattet werden, aber über Fördermittel darf kein Verdienstausfall bezahlt werden. Das ist besonders hinderlich bei Sitzungen auf Landesebene, die meist in Stuttgart stattfinden. Das bedeutet für unseren Landesverband lange Anfahrtswege. Für eine Sitzung von zwei Stunden ist man oft den ganzen Tag unterwegs. Berufstätige müssten sich dann jedes Mal Urlaub nehmen. Bei Hauptamtlichen dagegen handelt es sich um Arbeitszeit: Sie haben keine Einbußen. Auch ich als ehrenamtliche_r Richter_in beim Amtsgericht oder Finanzgericht erhalte Verdienstausfall. Eine Gleichbehandlung für Ehrenamtliche im psychisch-sozialen Bereich wäre hier notwendig. 3. Die Themen sind oft sehr komplex und kompliziert. Es ist schwierig, sich als Ehrenamtlicher das nötige Fachwissen anzueignen. Die Profis mit ihren Verbänden und Institutionen haben die entsprechende Ausbildung und meist Büros, Fachleute, Geschäftsführer und ganze Abteilungen hinter sich, die ihnen zuarbeiten. D.h., es gibt in der Regel immer einen Wissensvorsprung der Profis. Dem sind die Angehörigen oft nicht gewachsen. Sie können nur ihr Erfahrungswissen einbringen. 4. Die Fachsprache ist abschreckend und einschüchternd. In der Gremienarbeit sind Hauptamtliche oft kaum fähig, komplexe Sachverhalte so darzustellen, dass sie der Normalbürger versteht. Da kann es vorkommen, dass nur noch Abkürzungen verwendet werden, dass nur noch in Sätzen SGB XI, SGB XII und in Paragraphen gesprochen wird, sodass man das Gefühl hat, dass sich nur die Spezialisten in diesem Dschungel auskennen. Mit einer entsprechenden Sprache kann man auch Macht ausüben. 57 Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen Und ein ganz wichtiger Grundsatz für uns Angehörige ist: Angehörige müssen Angehörige bleiben. Um mitreden zu können, müssen sich Angehörige in die Themen einarbeiten können. Müssen sich Fachwissen aneignen, müssen zu Experten werden. Gleichzeitig müssen sie geerdet bleiben, dürfen den Kontakt zur Basis, zu den Angehörigen in der Selbsthilfegruppe nicht verlieren. Sie dürfen nicht zu Berufsfunktionären werden. Das wäre fatal. Mein Fazit: Die Erfahrung zeigt, dass, wenn wir, die Selbsthilfe, uns entschieden und sachgerecht einbringen, unsere Appelle und Argumente ernst genommen werden. Das hat sich in den letzten Jahren zum Positiven verändert. Die Haltung vieler Profis ist differenzierter und offener geworden und man spürt an vielen Stellen die Bereitschaft, auf unsere Belange einzugehen. Dazu brauchen wir, die Selbsthilfe, ein gesundes Selbstbewusstsein und Mut. Und das haben wir. „Wir leben unser Leben – miteinander“ Michael Tetzer Tagungskommentar im Rahmen des Fachtages „Wir leben unser Leben. Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ an der Hochschule Esslingen am 15. Juli 2016 Sehr geehrte Damen und Herren, zunächst meinen herzlichen Dank an das Organisationsteam, die Tagungsteilnehmer_innen und an die Hochschule Esslingen für die Gestaltung dieser beeindruckenden und anregenden Tagung. Sie haben für sich und uns ein dichtes und anspruchsvolles Programm entwickelt und realisiert. Es beinhaltete Grußworte, Vorträge mit unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema „Partizipation“, ein Worldcafé mit lebendigen Diskussionen und ein Theaterstück am Ende der Tagung. Das Tagungsthema „Wir leben unser Leben“ und die dazu gehaltenen Vorträge, Nachfragen, Kommentare und Diskussionen während des Worldcafés spannen einen weiten Horizont auf. Sie verdeutlichen die Breite und Tiefe des Projektthemas „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ im Allgemeinen und im Kontext von Sozialer Arbeit. Bereits der Titel der Tagung „ Wir leben unser Leben“ lässt erkennen, dass ganz grundsätzliche Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der selbstbestimmten Lebensführung berührt werden. Alle leben ihr eigenes Leben auf unterschiedliche Arten und Weisen, in verschiedenen Bereichen und zu unterschiedlichen Zeiten und Lebensphasen. Wir leben unser Leben in Gemeinschaft, in Beziehung zu anderen Menschen, manchmal auch allein und immer in Beziehung zu uns selbst. Selbstverständlich, wir leben unser Leben und doch deutet der Tagungstitel auch an, dass Menschen gelegentlich auf unterschiedlichen Weisen daran gehindert werden können, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen. 59 „Wir leben unser Leben – miteinander“ Die einzelnen Beiträge dieser Tagung reflektieren jeweils auf ihre Art und aus ihrer Perspektive ermöglichende und behindernde Rahmenbedingungen selbstbestimmter Lebensführung. Dieser Anspruch einer selbstbestimmten Lebensführung als normative Dimension des Projekts bzw. der Tagung wird wiederkehrend und in allen Beiträgen angesprochen. Die Normativität, die sich in den Fragen nach einer angemessenen bzw. guten Lebensführung spiegelt, erfährt gegenwärtig in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Ansätzen neue Aufmerksamkeit. Diese Ansätze beschäftigen sich mit Fragen nach den Bedingungen für ein Leben und ein Miteinander Leben, das sich als gut bezeichnen lässt. In den Grußworten wurde deutlich, dass sich Hochschulen in ihrem Handeln wieder stärker an Werten orientieren sollten. Hier stellt sich die Frage, welche Werte damit gemeint sein könnten. An welchen Werten können und sollen wir unser Handeln innerhalb von Hochschulen, aber ebenso in Beziehungen von Hochschulen und ihren Akteur_innen nach außen orientieren? Darüber hinaus machten Grußworte auf die Bedeutung von Partizipation für die gemeinsame und öffentliche Gestaltung des Gemeinwesens aufmerksam. Dabei wurde die politische Seite von Partizipation betont. Beide Aspekte, die aufgeworfene Frage nach den Werten und die angesprochene Dimension des Politischen werden von der Philosophin Martha Nussbaum in ihren jüngeren Arbeiten zusammengeführt. Zunächst vertritt sie mit ihrer Version des Capabilities Approaches einen Ansatz, der ausdrücklich nicht wertneutral ist. Hier geht es darum, Capabilities – Befähigungen – zu benennen, die Menschen Chancen eröffnen, um ein gutes Leben führen zu können. Zusätzlich geht sie mit ihrem emotionstheoretischen Ansatz der Frage nach der Bedeutung von Emotionen auch für das Politische – das öffentliche Zusammenleben – nach. Sie vertritt die Auffassung, dass Emotionen Informationen darüber beinhalten, was als wichtig und wertvoll angesehen wird. Sie sind damit eine Art Kompass für die eigene Lebensführung. Darüber hinaus vermitteln sie ein Verständnis davon, woran die Gestaltung eines guten öffentlichen Miteinanders ausgerichtet werden kann. Nussbaum spricht in diesem Kontext von Political Emotions (Nussbaum 2013) und vertritt die Ansicht, dass es mehr Raum für die öffentliche Begegnung von Bürgerinnen und Bürgern und die gemeinsame Thematisierung von Werten z. B. über die Auseinandersetzung mit Kunstwerken, Architektur oder auch Festen braucht. So kann sichtbar werden, was Menschen für ein gutes Miteinander „am Herzen Michael Tetzer 60 liegt“, welche Werte es sind, an denen die gemeinsame Gestaltung des öffentlichen Miteinanders ausgerichtet werden kann. Was die Hochschulen im Speziellen betrifft, so lässt sich eine Entwicklung erkennen, die wieder deutlicher die Beziehung von Hochschule und Gesellschaft zum Thema macht. Die derzeitige Diskussion um die third mission von Hochschulen, also ihre Verbindung in die Gesellschaft hinein, aber ebenso Konzepte von transformativer Wissenschaft und Citizen Science weisen dabei in eine ähnliche Richtung. Sie alle betonen den gesellschaftlichen Zusammenhang von Hochschulen und fordern eine Verbesserung der Beziehung zwischen Hochschulen und weiteren gesellschaftlichen Teilbereichen und Akteur_innen ein. Das Tagungsthema Partizipation beziehungsweise Teilhabe gilt hier als eine richtungsweisende Idee zur Gestaltung der Beziehung von Hochschulen mit dem, was sie in ihrem Außen umgibt. Was die Gestaltung der Beziehung von Hochschulen mit sich selbst, also ihr Innenverhältnis, betrifft, ließe sich an die Arbeiten des Philosophen Byung-Chul Han anknüpfen. Er charakterisiert die moderne Gesellschaft als eine Leistungsgesellschaft (Han 2010, S. 20), in der die Subjekte ihren Selbstwert an eine bloß formale Leistungsidee knüpfen. Diese Ausrichtung auf Leistung als Zweck an sich, führt die Leistungssubjekte aber letztlich in eine seelische Erschöpfung. Hochschulen laufen Gefahr, eine vergleichbare Dynamik zu erzeugen. Indem sie ihre Mitglieder dazu veranlassen, ihren Wert vorrangig an Rankings, der Anzahl von Publikationen und der Höhe eingeworbener Drittmittel zu bemessen, entsteht eine Geschäftigkeit, die letztlich in eine unbewegliche, unfreundliche und zudem erschöpfende Leere führt. Insofern kann die Forderung nach einer Rückbesinnung oder auch Neubestimmung von Werten als ein Hinweis auf eine problematische Entwicklung verstanden werden. Eine mögliche Verständigung auf Werte bietet sich durch die Auseinandersetzung mit Geschichte. Herr Dörner erzählte in seinem Vortrag seine Geschichte in und mit Sozialpsychiatrie und veranschaulichte so den Wert von erzählter Geschichte und dem Erzählen von Geschichten. Klaus Dörner unterstrich in seiner Erzählung wiederholt die Bedeutung von Beziehungen und charakterisierte den Menschen als ein Wesen, das ohne soziale Beziehungen nicht zu (über)leben vermag. Er berichtete von seinen Erfahrungen, neue Wege für psychisch belastete und mit ihnen in Beziehung stehenden Menschen zu finden, damit diese ihr Leben leben 61 „Wir leben unser Leben – miteinander“ können. Er forderte das „Ende der Veranstaltung“ (Dörner 2015), eine sehr radikale Sichtweise auf Institutionen, und beklagte, dass dies niemanden interessiere. Vielleicht irrt sich Herr Dörner hier und es sind sogar sehr viele Menschen an einer Deinstitutionalisierung interessiert. Vielleicht sind nur noch zu wenige der guten Beispiele bekannt. In der Sozialen Arbeit gibt es mit der Lebensweltorientierung und ihren Struktur- und Handlungsmaximen eine vergleichbar kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen der Institutionalisierung. Es fällt auf, dass die Forderung nach Alltags- bzw. Lebensweltorientierung Sozialer Arbeit und zentrale sozialpsychiatrische Entwicklungen in den 1970er Jahren parallel stattfanden. In der Sozialen Arbeit, aber auch in der Sozialpsychiatrie, hat hier sicherlich die Analyse totaler Institutionen durch Erving Goffman mit seiner Arbeit „Asyle“ (Goffman 1995) wichtige Impulse zur Auseinandersetzung geliefert. Als Alternative stellte Dörner die Bedeutung der Nachbarschaft heraus. Er hob hervor, dass dort ein gutes Miteinander entstehen kann, wo sich Menschen begegnen, sich kennenlernen und sich gegenseitig unterstützen. In diesem Zusammenhang bezog er sich auf verschiedene Dimensionen von Teilhabe und Teilgabe, also das Einbeziehen von Menschen und die Möglichkeit, dass sich Menschen einbringen und etwas miteinander teilen können. Vor allem die gemeinsam verbrachte Zeit ist ihm dabei wesentlich. Diese abschließend genannten Themen finden sich auch in den Diskussionen um die Commons-Bewegungen und den zahlreichen Sharing-Initiativen. Sie streben nicht nur einen sorgsameren Umgang mit wirtschaftlichen und natürlichen Ressourcen an. Mindestens gleichwertig ist dabei der soziale Aspekt, die Erfahrung des gemeinsamen Tuns. Experience Involvement, also das Einbeziehen der Erfahrungen von Menschen in und mit Psychiatrie, wurde umfassend von Herrn Dollerschell und Herrn Ortolf vorgestellt. In ihrem Vortrag verdeutlichten sie, wie wichtig es ist, dass sich Menschen gegenseitig von ihren Erfahrungen berichten können und dass die Erfahrungen der beteiligten Personen in professionelle soziale Dienstleistungen einbezogen werden. Auf die Frage aus dem Publikum, welche Erfahrung man lieber nicht machen würde, wurde geantwortet, dass man Erfahrungen eben mache, die seien vorhanden und dass sie eben Teil des Lebens, der eigenen Lebensgeschichte, seien. Angesprochen wurde allerdings auch, dass die Bezeichnung chronisch psychisch krank mit Erfahrungen der Hoffnungs- und Mutlosigkeit verknüpft sein könne. Anerkennung Michael Tetzer 62 und Respekt in der Beziehung mit anderen Menschen zu erfahren, hilft dabei, neuen Mut zu fassen. Der Erfahrungsaspekt kam auch in dem darauffolgenden Beitrag zum Tragen. Frau Mechelke-Bordanowicz berichtete von den Initiativen und den Erfahrungen von Angehörigen. Sie forderte dazu auf, deren Perspektive einzunehmen und sich vorzustellen, wie es ist, mit den eigenen Sorgen alleine gelassen zu werden. Dabei wurde deutlich, wie wertvoll ein gutes soziales Netz auch für Angehörige ist, von dem sie sich als gestützt, abgesichert, manchmal auch als herausgefordert erfahren können. Dies bestätigen auch Forschungen zu und mit pflegenden und betreuenden Angehörigen. Sie zeigen auf, dass es nicht darauf ankommt, Angehörigen ihre Aufgaben abzunehmen. Vielmehr ist darauf zu achten, sie in der Bewältigung ihrer Aufgaben im Alltag zu entlasten und zu stützen. Danach präsentierte das Projektteam eine sehr dichte Darstellung seiner Forschungs- und Transferarbeit. Neben den verschiedenen methodologischen Zugängen wurde wiederkehrend die Frage nach der Normativität angesprochen. Problematisiert wurde der Bedarf eines Projekts, welches sich mit den Partizipationschancen im sozialpsychiatrischen Kontext befasst. Die Notwendigkeit des Projekts, so die im Vortrag geäußerte Vermutung, könne auf ein grundsätzliches Partizipationsdefizit in einer Gesellschaft hinweisen, die Menschen eher ausgrenzt als einbezieht. Insofern waren in diesem Zusammenhang Exklusionsprozesse verschiedenster Art Thema – ganz ähnlich zum Vortrag von Herrn Dörner, welcher das Nachlassen von gegenseitiger Hilfe und Solidarität beklagte. Eine zentrale Argumentationslinie des Projekts wurde über die Auseinandersetzung mit Menschenrechten und der Frage nach der Menschenwürde sichtbar. Auch in diesen Vorträgen wurde auf den Beziehungsaspekt von Partizipation verwiesen. Soziale Beziehungen, dieses für die Soziale Arbeit so zentrale Thema, diskutiert derzeit der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Resonanz“ (Rosa 2016). Er möchte damit seinen „Beitrag zu einer Soziologie des guten Lebens leisten“ (Rosa 2016, S. 14). Nach seiner Auffassung leben wir in einer beschleunigten Gesellschaft, die es ihren Mitgliedern erschwert, für sich herauszufinden, wie sie leben wollen. Nicht Entschleunigung ist seine wesentliche Antwort auf die erhöhte Geschwindigkeit der modernen Gesellschaft, sondern Resonanz. Resonanz meint hier etwas, das geschieht, wenn Menschen zu ihrer Umwelt, zu anderen Menschen und zu sich selbst in Beziehung treten. Auch hier braucht es also eine Form der 63 „Wir leben unser Leben – miteinander“ Beziehung zwischen Menschen und ihrer sozialen, kulturellen und natürlichen Umwelt. Es braucht eine Form der Beziehung, die berührt, die etwas auf eine Art zum Schwingen bringt, die es ermöglicht, in einem besseren Kontakt mit sich selbst zu sein. Die normativen Fragen des Projekts und die angesprochenen Themen aus den Grußworten sowie der Vorträge von Herrn Dörner, den Herren Dollerschell, Ortolf und Frau MechelkeBordanowicz spiegeln gegenwärtige sozialwissenschaftliche Diskurse. Die Arbeiten von Martha Nussbaum, Byung-Chul Han und Hartmut Rosa sind Beispiele hierfür, das konvivialistische Manifest (Les Convivialistes 2014) ist ein weiteres. Dieses ist 2014 erschienen und wurde von vorrangig französischsprachigen Wissenschaftler_innen formuliert. Sie akzeptieren und anerkennen durchaus die mögliche Konflikthaftigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen und Begegnungen. Aber sie beschäftigen sich hauptsächlich mit der Frage, wie es gelingen kann, dass Menschen auf eine gute Art und Weise miteinander zurechtkommen. Die Antwort, die die Konvivialisten darauf finden, besagt, dass sich menschliches Wohlergehen nicht ausschließlich an ökonomischen Wachstumskriterien bemessen lässt. Stattdessen richten sie ihre Aufmerksamkeit stärker auf die Qualität von zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Begriff konvivial meint dabei ein gutes, freundliches, sogar ein heiteres Miteinander. Diese Tagung war ein Beispiel dafür, wie Menschen sich auf eine freundliche, zwischendurch auch heitere Art und Weise miteinander über ein ernstzunehmendes Thema verständigen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Literatur Dörner, Klaus (2015): Ende der Veranstaltung. Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie. Neumünster: Paranus-Verlag der Brücke. Goffman, Erving (1995): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 10. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Han, Byung-Chul (2010): Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz. Les Convivialistes (Hrsg.) (2014): Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Bielefeld: transcript. Nussbaum, Martha C. (2013): Political Emotions. Why love matters for justice. Harvard Univ. Press. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. 2. Auflage. Berlin: Suhrkamp. Menschenrechte und Soziale Arbeit in der Psychiatrie (Forschungskolloquium) Menschenrechte und Soziale Arbeit Reflexionen im Kontext des Forschungsprojektes „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ Eric Mührel Soziale Arbeit in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern hat mit Blick auf die Adressat_innen und Klient_innen besonders die Ermöglichung und das Garantieren der menschlichen Würde hinsichtlich eines zumindest in weitestem Maße freien und selbstbestimmten Lebensentwurfes zum Ziel. Normativ gewendet mit Blick auf die Werte sozialpädagogischen Handelns kommt dabei einer Minimalethik der Menschenrechte eine besondere Bedeutung zu. Das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Menschenrechten soll in diesem Beitrag zunächst anhand eines Vier-Ebenen-Modells der Normativität mit Bezug auf Theorien konkretisiert werden. Dafür werden zwei Theorien Sozialer Arbeit respektive Sozialpädagogik mit Bezug auf die Menschenrechte skizziert. Die eine bezieht sich auf die Konzeptionen von Silvia Staub-Bernasconi und (damit) von Jane Addams; die andere auf die Sozialpädagogik und den Sozialidealismus Paul Natorps. In einem zweiten Schritt wird dann auf die Bedeutung der Menschenrechte in der Praxis von Sozialer Arbeit eingegangen. Die leitende Fragestellung dabei ist: Wie kann die Menschenwürde der Adressat_innen und Klient_innen so bewahrt werden, dass von einer Einhaltung der Menschenrechte in Institutionen unter Beteiligung Sozialer Arbeit überhaupt die Rede sein kann? Hierfür wird auf eine existenzphilosophische Dimension (Peter Bieri 2015) der Menschenwürde eingegangen. Diese Überlegungen werden anhand abschließender Fragestellungen an das Forschungsprojekt Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern mit Bezug auf die Sozialpsychiatrie fokussiert. Zunächst stellt sich einleitend und exkursiv im Nachdenken über Psychiatrie auch die Frage, wie es überhaupt zu der Idee kam, dass so genannte wahnsinnige Menschen als eben solche erkannt wurden. Die Geschichte dieser Idee der Trennung zwischen Vernunft und Wahnsinn, Normalität und Abweichung, kann bei Michel Foucault (hierzu Foucault 1973) sehr gut nachvollzogen werden. Sie beginnt bereits mit René Descartes, wenn er ausführt: „Ich denke, also bin ich.“ (Descartes 2011, S. 55 ) Mit diesem Satz wird implizit das Reich der Vernunft des Menschenrechte und Soziale Arbeit 67 Denkens, das vernünftige Denken, was auch immer darunter verstanden werden mag, vom Reich des Wahnsinns – in den Dimensionen des Unbewussten, Unterbewusstseins und damit eher Unkontrollierbaren – abgegrenzt. Die Auswirkungen dieser Trennung von normaler Vernunft und abnormalem Wahn sind bis heute nicht überwunden. Dies obwohl der Psychoanalytiker Jacques Lacan menschheitsgeschichtlich bedeutsam später die These Descartes genau umdreht, wenn er feststellt: „Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke!“ (Lacan zitiert nach Pagel 1989, S. 48). Es bleibt daher festzuhalten, dass im Bereich der psychischen und seelischen Erkrankungen sozial konstruierte Normalitätstheorien und konzepte im Hintergrund wirksam sind, die einer permanenten kritischen Reflexion bedürfen. 1. Soziale Arbeit und Menschenrechte in theoretischen Kontexten Soziale Arbeit und Menschenrechte: Vier-Ebenen-Modell Die aktuelle Definition Sozialer Arbeit der International Federation of Social Workers (IFSW) rekurriert mit Bezug auf die Normativität in der Sozialen Arbeit auf die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie der Achtung und Bewahrung der Vielfalt menschlichen Lebens, was auch mit Diversität und Heterogenität bezeichnet werden kann. Diese Definition zeigt bereits die Relevanz für eine Soziale Arbeit im Kontext der Sozialpsychiatrie. Menschenrechte werden also in der Definition der ISFW explizit genannt. Es ist notwendig, diese zusammen mit weiteren normativen Maßstäben der Sozialen Arbeit insgesamt zu denken. Wenn wir über eine Konzeption oder eine theoretische Position der Sozialen Arbeit im Kontext von Menschenrechten sprechen, müssen wir uns zunächst über die Bedeutung der Normativität in der Sozialen Arbeit vergewissern. Die Frage der Normativität stellt sich in der Sozialen Arbeit in folgenden vier Dimensionen: • der professionellen Gegenstandsbestimmung, • der begründeten Zielbestimmung professioneller Praxis, • der Legitimation Sozialer Arbeit und ihrer professionellen Handlungen • sowie der Theoriebildung (vgl. Feldhaus/Oelkers 2011, S. 73). Eric Mührel 68 Ohne an dieser Stelle die Interdependenzen von Theorie und Praxis in den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten thematisieren zu wollen (siehe z.B. Mührel 2009), erscheint es evident, dass jegliche Theorie(bildung) Sozialer Arbeit die drei erstgenannten Dimensionen der Normativität in irgendeiner Art und Weise reflexiv und vielleicht kritisch-reflexiv mit behandeln wird. Die Ausgangslagen der Personen (Sitz im Leben) in der Theoriebildung der Sozialen Arbeit werden sich in den jeweiligen Ergebnissen widerspiegeln. Zudem wird eine Theorie nicht auf die Verwendung von Begriffen verzichten können, die normative Prämissen zumindest mit transportieren – und eine gute Theorie wird sich durch den reflexiven Umgang mit diesen verwendeten Begriffen auszeichnen (dazu Dollinger 2013). Die von Feldhaus und Oelkers (Feldhaus/Oelkers 2011) aufgestellte These eines vernachlässigten Normativitätsproblems in der Sozialen Arbeit erscheint auf diesem Hintergrund ambivalent. Zu konzedieren ist, dass die sozialwissenschaftliche Wende der 1970er Jahre in den Wissenschaften der Sozialen Arbeit und den Erziehungswissenschaften eine Zurückdrängung der normativen Fragestellungen zugunsten deskriptiven Vorgehensweisen begünstigt hat, wobei besonders mit Blick auf die Zielsetzungen und Legitimation professionellen Handelns die normativen Aspekte jedoch nie in Gänze – auch in der Theoriebildung – unbeachtet bleiben konnten. Die konstatierte Vernachlässigung der normativen Fragestellungen ist vielleicht eher auf das ab den 1980er Jahren bis zu Beginn des neuen Jahrhunderts weite Teile der Profession Soziale Arbeit dominierende Handlungskonzept der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch zurückzuführen. Die Konzentration auf das Beschreiben und Verstehen – und eben nicht des bis dahin dominierenden Normieren – der Alltags- und Lebenswelten der Klient_innen Sozialer Arbeit in einem etablierten Wohlfahrtssystem der Bundesrepublik zwischen 1970 und 1990 bekam erste Risse nach den Wendejahren um 1990 und der einsetzenden Globalisierung und Ökonomisierung. Wie auf der einen Seite das Wohlfahrtssystem im ökonomistischen Sinne nach Effizienz- und Effektivitätszielen Richtung einer Entsolidarisierung und der Eigenverantwortung für Lebensrisiken von Menschen sukzessive umgebaut wurde, so führte auf der anderen Seite die Pluralisierung der Lebensweisen letztlich zu entfremdeten Sozialräumen und desorientierten Lebenswelten, die mit dem lebens- und alltagsorientierten Handlungsansatz nicht mehr zu erreichen waren (vgl. Mührel 2007). Beide Phänomene dieser veränderten Wirklichkeit evozierten und evozieren eine verstärkte Beschäftigung mit normativen Fragestellungen in individual- wie sozialethischen als auch damit verbundenen gesellschaftstheoretischen wie -politischen (Theorie-)Diskursen der Sozialen Arbeit. Menschenrechte und Soziale Arbeit 69 Welche Bedeutung kommt in diesem Kontext den Menschenrechten und den Demokratieverständnissen zu? Mit Blick auf diese Fragestellung werden im Folgenden zwei Theoriestränge der Sozialen Arbeit behandelt, die beide – auf historische Wurzeln aufbauend – vor dem Hintergrund der dargestellten wieder erstarkenden Normativitätsproblematiken in der jüngsten Theoriegeschichte höchst aktuell sind. Zum einen handelt es sich dabei um den an Menschenrechten und einer Demokratie als Lebensform orientierten Strang ausgehend von Jane Addams Democracy and Social Ethics aus 1902 bis hin zu einer Reformulierung durch Sylvia Staub-Bernasconis Entwurf einer horizontal und vertikal verankerten Demokratie aus 2013. Zum anderen wird auf die Konzeption einer Theorie der Sozialen Demokratie in Paul Natorps Werken Sozialpädagogik (1899) und Sozialidealismus (1922) eingegangen. Diese Konzeption erlangte in aktuellen theoretischen Entwürfen der Sozialpädagogik respektive Sozialen Arbeit eine Wiederaufnahme (vgl. Müller 2005, Mührel 2013, Mührel/Hundeck 2015). Eine Theorie Sozialer Arbeit mit einer starken normativen Setzung – von Jane Addams zu Sylvia Staub-Bernasconi 1 In der folgenden Perspektive stellen sowohl die Menschenrechte als auch ein Verständnis von Demokratie als Lebensform einen integralen Bestandteil der Sozialen Arbeit in Theorie und Handlungskonzeption dar. Jane Addams beschreibt in Democracy and Social Ethics ein Programm einer Demokratie als Lebensform in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen, gerade auch in den Bereichen der Wirtschaft sowie der Bildung und Erziehung. In ihrer Programmatik sind deutliche Übereinstimmungen mit sozialethischen Fundierungen der Sozialen Arbeit, beispielsweise dem Capability Approach als Grundlage eines gelingenden Lebens aller Menschen (vgl. Ziegler et al 2010), zu finden. Hier wie dort geht es um eine Beteiligungs- und Befähigungsgerechtigkeit. Schon in der Einleitung von Democracy And Social Ethics beschreibt Jane Addams ihr zentrales Anliegen einer Verknüpfung von demokratischer Lebensform und Sozialer Ethik. Es geht ihr um die Gestaltung einer individuell wie gesellschaftlich solidarischen Lebensweise. Sie führt aus: „We know, at last, that we can only discover truth by a rational and democratic interest in life, and to give truth complete social expression is the endeavour upon which we are entering. Thus the identifica- 1 Im Folgenden greife ich in Teilen auf meinen Beitrag Menschenrechte als integraler Bestandteile der Sozialen Arbeit zurück. Siehe hierzu Mührel 2012. Eric Mührel 70 tion with a common lot which is the essential idea of Democracy becomes the source and expression of social ethics.” (Addams 1964, S. 11) Nur eine demokratische Lebensform in ihrer sozialethischen Ausprägung ist nach Addams imstande, die individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen, welche der gesellschaftliche Wandel hervorbringt, zu bewältigen. Dabei betont sie die sich stets erweiternde Notwendigkeit der Sicherung der Würde der einzelnen Menschen, was sich aus den andauernden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen ergibt. Soziale und gesellschaftliche Teilhabe in einer Demokratie als Lebensform bedürfen der Befriedigung von Grundbedürfnissen, um die Menschenwürde zu schützen. Implizit ist damit eine Forderung nach Fundierung und stetiger Erweiterung der Menschenrechte zum Schutz der Menschenwürde ausgedrückt. Aus der gesellschaftlichen Programmatik Addams lässt sich daher aus heutiger Sicht ableiten: Demokratie als Lebensform, solidarische Lebensweise und Menschenrechte sind untrennbar miteinander verbunden. Die Überschriften der einzelnen Kapitel in Democracy and Social Ethics verdeutlichen ihre programmatische Ausrichtung. So bearbeitet Addams in den letzten drei Kapiteln die Themen Industrial Amelioration (Verbesserungen), Educational Methods und Political Reform. Ihr geht es um die solidarisch und demokratisch ausgerichteten Gesellschaftsbereiche Wirtschaft, Erziehung und Bildung sowie Politik. Darüber hinaus thematisiert sie in einzelnen Kapiteln besonder die notwendigen Veränderungen im System der Wohltätigkeit, in den Beziehungen zwischen den Generationen und in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern; auch in diesen Kontexten bedarf es nach Addams einer Demokratisierung. Sie weist dabei eine Ethik des individuellen Erfolgs gemäß des American Dream als Grundlage für eine lebendige Demokratie energisch und eindeutig zurück und fordert dagegen eine solidarische Lebensweise im Sinne einer Demokratie als Lebensform (vgl. Addams 1964, S. 221, S. 255-256 u. S. 269). Zugespitzt formuliert hängt von der weiteren Demokratisierung der Lebens- und Gesellschaftsbereiche nach Addams die Überlebensfrage der Demokratie ab: „This is the penalty of a democracy, - that we are bound to move forward or retrograde together. None of us can stand aside; our feet are mires in the same soil, and our lungs breathe the same air.” (Addams 1964, S. 256) Die Aktualität der gesellschaftlichen Programms Addams ist offensichtlich. Der Penalty of democracy wird heute in der aktuellen politischen und sozialen Krise an der Demokratisie- 71 Menschenrechte und Soziale Arbeit rung der Finanz- und Wirtschaftsmärkte sowie der fortzusetzenden Demokratisierung weiterer Lebens- und Gesellschaftsbereiche ausgespielt. Für Addams ergibt sich die Entwicklung der Moralität und einer individuellen wie gesellschaftlichen, sozial und solidarisch ausgerichteten Lebensweise aus empirischen Fakten, die es über eine Politisierung in der öffentlichen Meinung – de facto induktiv – zu sozialen Haltungen der Gesamtgesellschaft zu transformieren gilt. „Morality certainly develops earlier in the form of moral fact than the form of moral ideas (…)“ (Addams 1964, S. 227). Von idealistischen Gesellschaftsentwürfen, die deduktiv gesellschaftliche Programmatiken von philosophischen Idealen aus erschließen, ist sie dagegen nicht zu überzeugen. In dieser Methodik stimmt Addams überein mit der Konzeption der von Hans Joas entwickelten Affirmativen Genealogie der Menschenwürde im Sinne einer Sakralisierung der Person (dazu Joas 2011). Was ist damit gemeint? Kurz und damit verkürzend gefasst beschreibt Joas die historische Entwicklung der Menschenwürde und Menschenrechte als einen Prozess der Sakralisierung der Person, indem die Heiligkeit Schritt für Schritt von Gott auf den Menschen übertragen wird (vgl. ebenda, S. 81-89). Diese Humanisierung basiert auf einer fortschreitenden Expansion der Empathie mit ausgeschlossenen oder von Ausschluss bedrohten Menschen im Rahmen von gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Diese Expansion der Empathie führt zur Forderung der Artikulation jeweils bisher nicht berücksichtigter individueller wie gemeinschaftlicher Leidenserfahrungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Solche kontinuierliche Aufarbeitung Kultureller Traumata (vgl. ebenda, S. 123-124), beispielsweise die Sklaverei oder aktuell die sexuelle Gewalt gegen Frauen, Kinder und Jugendliche in häuslich-familiären oder auch kirchlichen und pädagogischen Bildungseinrichtungen, zieht eine sich fortsetzenden Brechung kultureller Selbstzufriedenheit nach sich. Dies evoziert eine veränderte individuelle Ethik im Sinne von Welthaltungen und eine veränderte soziale Ethik im Verständnis von Gerechtigkeit durch gesellschaftliche Institutionen. Ethische Werte sind daher nach Joas kulturell und historisch bedingt; sie sind damit aber auch nicht zeitlos an bestimmte Kulturen gebunden. Dennoch unterliegen sie trotz einer fehlenden Anbindung an eine metaphysische Wahrheit nicht der Beliebigkeit, da sie in ihrer Entwicklungsgeschichte zu einem individuell und gesellschaftlich akzeptierten Evidenzgefühl führen (vgl. Joas 2011, S. Eric Mührel 72 163-164). Damit aber besitzen sie einen affirmativen, bejahenden Charakter eines historisch verkörperten Sinns (vgl. ebenda S. 190). 2 Im Rahmen einer solchen empirisch und zugleich normativ fundierten, affirmativen Genealogie der Menschenwürde und der Menschenrechte lässt sich die Konzeption des gesellschaftlichen Programms einer Demokratie als Lebensform von Jane Addams verstehen. Ausgehend von einer Polemisierung und Politisierung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit kann über eine Empathieerweiterung für und Artikulation von jeweils bisher nicht genügend berücksichtigten Leidenserfahrungen von Menschen und Gruppen von Menschen ein Fortschreiten der Demokratie als Lebensform und die Weiterentwicklung der Menschenrechte im Sinne einer Ausdifferenzierung und Erweiterung ihres Gegenstandsbereiches initiiert werden (siehe hierzu auch Braches-Chyrek 2013, S. 163-169). Den theoretischen Ansatz einer Demokratie als Lebensform von Addams hat StaubBernasconi in ihrer Beschreibung einer horizontalen und vertikalen Demokratie (vgl. StaubBernasconi 2013; dazu auch Hundeck 2013) aufgenommen und weiterentwickelt. Wie Addams beurteilt sie dabei eine Demokratie als reine Regierungsform als nicht hinreichend für die Entwicklung einer solidarischen und demokratischen Lebensform. Daher gilt es die Demokratie als Regierungsform horizontal auf alle gemeinschaftlichen wie gesellschaftlichen Lebensbereiche hin zu einer „integralen, sozialen Demokratie“ (ebenda, S. 173) auszuweiten – so wie Addams es in ihrem Entwurf schon ausführte. Darüber hinaus ist nach StaubBernasconi jedoch auch eine vertikale Erweiterung notwendig. Hierzu führt sie aus: „Es braucht deshalb ihre Erweiterung in die soziale Vertikale: gemeint ist ein sozialer Ort, wo man über soziale Regeln und Machtstrukturen sowie die Legitimität, im Unterschied zur Legalität, von Verfassungen, Gesetzgebungen, Policies und Verfahren debattieren kann. Dazu leisten (…) die Menschenrechte als Minimalethik, ihre Begründung durch eine Philosophie / Philosophien der Menschenwürde und die damit zusammenhängenden institutionalisierten periodischen Überprüfungsverfahren der Vereinten Nationen einen weltweiten Beitrag.“ (Ebenda, S. 173) In ihrem Verständnis garantiert nur eine solche internationale Institutionalisierung von Legitimitätsdebatten vor dem normativen Hintergrund der Menschenrechte und der Menschenwürde eine umfassende Demokratie als Lebensform. Daran anschließend lässt sich somit auch 2 Zu einer vertiefenden Diskussion eines transkulturellen Ansatzes einer Genealogie der Menschenrechte siehe Brunozzi et al 2013. 73 Menschenrechte und Soziale Arbeit eine Soziale Arbeit im Sinne einer Menschenrechtsprofession (vgl. hierzu Staub-Bernasconi 1995, 2008 und Prasad 2011 u. 2013) begründen. Denn über diese internationalen Legitimitätsdebatten sind nationalstaatlich legale Menschenrechtsverletzungen und einhergehende Verbrechen gegen die Menschenwürde zu politisieren. Soziale Arbeit kann somit in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen ihren eigenen professionellen Auftrag finden und ausführen, indem sie als Katalysator der Menschenrechtsentwicklung im gesellschaftlichen Wandel fungiert. Abschließend sei festgehalten, dass die Theorie Staub-Bernasconis aufbauend auf dem Entwurf von Addams die vier von Feldhaus und Oelkers benannten Dimensionen der Normativitätsfrage – professionelle Gegenstandsbestimmung, begründete Zielbestimmung professioneller Praxis, Legitimation Sozialer Arbeit und ihrer professionellen Handlungen sowie Theoriebildung – einschließt. Ohne der noch im Weiteren folgenden Kritik substanziell vorgreifen zu wollen, kann diese Theorie mit ihrer starken normativen Gewichtung der Menschenrechte und eines umfassenden Demokratieverständnisses als Lebensform als wissenschaftstheoretischund methodisch fundiert sowie pragmatisch und identitätsstiftend in ihrer Ausgestaltung für die Profession Soziale Arbeit insgesamt betrachtet werden. Eine Theorie der Sozialpädagogik als gesellschaftspolitisches Programm für eine Soziale Demokratie 3 Fast zur gleichen Zeit, in der Addams ihren Entwurf einer Demokratie als Lebensform in Democracy and Social Ethics formuliert, verfasst Paul Natorp eine erste systematisch erarbeitete Theorie der Sozialpädagogik in seinem Werk Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft (1899). Seine Theorie basiert auf einer Deduktion der Erziehung und Bildung aus der Individual- und Sozialethik Platons. Am Ende des zweiten Teils der Sozialpädagogik beschreibt er dabei die Grundlage einer Konzeption eines gesellschaftspolitischen Programms einer Sozialen Demokratie mit den Paradigmen soziale Erziehung, soziale Wirtschaft und soziale Politik (vgl. Natorp 1904, 210-213). Auf seinem platonisch orientierten Bildungssozialismus fußend fordert er eine „Bildung für alle“ (vgl. ebenda, 3 Im Folgenden greife ich in Teilen auf meinen Beitrag Menschenrechte und Demokratie als soziale Ideale. Zur Aktualität der Sozialpädagogik und des Sozialidealismus Paul Natorps zurück. Siehe hierzu Mührel 2013. Eric Mührel 74 S. 210). Diese dient als Grundlage für die Entwicklung einer Sozialen Demokratie, deren Ziel- und Umsetzung Natorp später in seinem Werk Sozialidealismus. Neue Richtlinien sozialer Erziehung von 1920 präzisiert. Ausschlaggebend hierfür waren sicherlich u.a. die unermessliche Tragödie des ersten Weltkrieges und das Ende des Kaiserreichs und die damit einhergehende Gründung der Weimarer Republik als erste Demokratie in Deutschland. Ganz im wissenschaftstheoretischen und -methodischen Gegensatz zu Addams empirisch-induktiver Vorgehensweise bleibt er dabei seinem platonisch-deduktiven Verfahren treu. „Sozial-Idealismus: Das Wort will besagen, dass die Idee sich wieder finden muß zur Gemeinschaft, die Gemeinschaft zur Idee, wenn dies beides, Idee und Gemeinschaft, in der Menschheit noch ferner bestehen soll. Ein gesunder Idealismus darf nicht in den Weiten lebensferner Ideen hinausschweifen, er muß mitten im Leben, im härtesten Leben der ringenden Menschheit heimisch werden.“ (Natorp 1922, III) Um die Idee einer Sozialen Demokratie als ein zu erreichendes Sollen in der Wirklichkeit umzusetzen, ist eine Sozialpädagogik als gesellschaftspolitisches Programm der Erziehung und Bildung ausschlaggebend. „Das soziale Leben aber der Idee zu unterwerfen, gibt es nur den einen Weg der sozialen Erziehung“ (ebenda, IV). Die soziale Erziehung bildet somit das Fundament seines Ideals einer Sozialen Demokratie, womit nichts anderes gemeint ist als eine – wie von Addams anvisierte – Demokratie als Lebensform, die sich in einer Demokratisierung aller Lebensbereiche einer Gesellschaft niederschlägt. Ziel des gesellschaftspolitischen Programms einer Sozialen Demokratie ist die Gewährleistung eines menschenwürdigen und gelingenden Lebens! So formuliert Natorp: „Aber die Forderung der menschenwürdigen inneren Lebensgestaltung, nicht für irgendeine schmalere oder breitere bevorrechtete Schicht, sondern für das ganze Volk bis zum letzten Gliede, muß unbedingt obenan stehen und für die Gestaltung der wirtschaftlichen und politischen Ordnungen selbst, unter voller Beachtungen ihrer eigenen Bedingungen, immer grundlegend und letztbestimmend sein. Denn der Mensch lebt nicht, um zu wirtschaften und politisch zu raten und taten, sondern Wirtschaft und Politik haben als lediglich dienende Organe dem Menschen, d.h. der inneren Lebensgestaltung sich unterzuordnen“ (Natorp 1922, S. 11). 4 Die Beschreibung innere Lebensgestaltung kann mit Selbstbestimmung in den heutigen Sprachgebrauch übersetzt werden. Grundlage der Sozialen Demokratie ist demnach die Gewährleistung solcher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in Erziehung und Bildung, Wirt- 4 Zur aktuellen Diskussion hinsichtlich der wechselseitigen Beziehung von Menschenrechten Demokratieverständnissen siehe Bornmüller et al 2013, Kapitel 2. 75 Menschenrechte und Soziale Arbeit schaft und Politik, die ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben im Sinne eines gelingenden Lebens ermöglichen. Es geht also auch Natorp – wie Addams – um Beteiligungs- und Befähigungsgerechtigkeit. Die Konzeption des gesellschaftlichen Programms basiert auf dem Ineinandergreifen der drei Gesellschaftsbereiche Erziehung und Bildung, Wirtschaft und Politik. Das Strukturprinzip dieser drei Bereiche ist gemäß einer Demokratie als Lebensform die Genossenschaft als das „in die Praxis eingelegte Prinzip der Gemeinschaft“ (vgl. Natorp 1922, S. 15 u. S. 57-58)! Erst dadurch kann der Demokratie insgesamt sowie den drei Gesellschaftsbereichen das Attribut sozial zukommen. Alle jeweils im Handlungsprozess Beteiligten sollen – in dezentraler Autonomie – gleichberechtigt an allen zu treffenden Entscheidungen beteiligt werden. Eine solche solidarische Handlungsweise ermöglicht erst die Voraussetzungen für ein gelingendes Leben aller, die eine bloße Demokratie als Regierungsform bei Beibehaltung feudaler Strukturen in Wirtschaft, Politik sowie Erziehung und Bildung eben nicht oder nur begrenzt garantiert und gewährleistet. 5 Wie greifen nun die drei Bereiche der sozialen Erziehung und Bildung, sozialen Wirtschaft und sozialen Politik ineinander? Die soziale Wirtschaft und die soziale Politik bauen auf der sozialen Erziehung und Bildung auf, denn „nicht sie können den Menschen, der Mensch kann nur sie schaffen; der Mensch, das heißt aber: die Erziehung“ (ebenda, S. 11-12). Und diese solidarische und demokratische Gestaltung der Gesellschaft können nur Menschen bewirken, die mit Kopf, Herz und Hand sich so umfassend bilden durften und dürfen, dass sie in die Lage versetzt sind, ein selbstbestimmtes, gelingendes Leben zu führen und sich solidarisch mit anderen gegen jede Bedrückung und Ausbeutung in der Gesellschaft zu wehren verstehen (vgl. ebenda, S. 53). 6 Die Theorie Natorps der Sozialpädagogik als gesellschaftspolitisches Programm zur Entwicklung einer Sozialen Demokratie findet eine Aktualisierung in dem problemgeschichtlichen Theorieaufriss von Carsten Müller in seinem Verständnis der Sozialpädagogik als Erziehung zur Demokratie (Müller 2005, auch 2013). Hierbei greift Müller auch auf weitere Quellen und Bezüge einer ersten Traditionslinie der Sozialpädagogik zurück. Hervorzuheben sind dabei die Konzeptionen einer Gesellschaftserziehung bei Karl Mager aus der Mitte des 19. Jahrhun- 5 Mit seiner Konzeption eines genossenschaftlichen und dezentralisierten Aufbaus der Sozialen Demokratie setzt sich Natorp zudem deutlich von zentralistischen Auffassungen des Sozialismus ab, der mittels „unsozialer und antisozialer Wirtschaft und Politik, mit dem Hauptmittel äußerer Zwangsgewalt wirkend denkt“ (Natorp 1922, 16) 6 Zu einer detaillierten Beschreibung der Teilbereiche soziale Erziehung und Bildung, soziale Wirtschaft und soziale Politik siehe Mührel 2013. Eric Mührel 76 derts und die Theorie einer sozialen Erziehung von John Dewey; prägnant benannt sei hier dessen Werk Democracy and Education von 1916. Müller folgert aus der Wiederbelebung der ersten Traditionslinie der Sozialpädagogik neben einer theoretischen Selbstreflexion und vergewisserung der Sozialen Arbeit besonders deren Repolitisierung, denn: „Sozialpädagogik und Politik gehören untrennbar zusammen! Ihrem Wesen nach ist Sozialpädagogik politisch. Sie betrifft das gesellschaftliche und gemeinschaftliche Leben der Polis.“ (Müller 2005, S. 289). Soziale Arbeit insgesamt könnte sich daher in ihrem Selbstverständnis eher als Arbeit mit Menschen und nicht als Arbeit für Menschen verstehen und verorten. In erkennbarer inhaltlicher Nähe zur Theorie der Sozialpädagogik von Müller nimmt eine weitere Aktualisierung der Sozialpädagogik Natorps über einen Umweg dessen gesellschaftspolitische Programmatik für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen wieder auf (Mührel/Hundeck 2015, dazu auch Mührel 2013). Hierbei handelt es sich um das Verständnis der Sozialpädagogik als politisches Programm in einer Ausführung des spanischen Philosophen Ortega y Gassets in einem Vortrag von 1910 in Bilbao. Ortega bezieht sich dabei im Besonderen auf die theoretischen Konzeptionen Natorps, bei dem er Jahre zuvor in Marburg studiert hatte. Der Vortrag Ortegas kann als Gründungsakte der Sozialpädagogik in Spanien betrachtet werden. Die sich an den damaligen gesellschaftlichen und politischen Umständen Spaniens orientierende Version Ortegas der Sozialpädagogik Natorps gewinnt besonders in der Verbindung mit dem von Ortega anvisierten Ziel einer politischen Integration Europas hohe Aktualität. Denn eine Sozialpädagogik als politisches Programm könnte in der heutigen, politisch eher als regressiv zu beurteilenden Situation Europas einen wesentlichen Baustein für die Entwicklung einer Sozialen Demokratie im Prozess einer verstärkten politischen Integration darstellen. Zusammenfassend wird erkennbar, dass die Theorie Natorps einer Sozialpädagogik als gesellschaftspolitisches Programm zur Entwicklung einer Sozialen Demokratie – auch in ihren aktuellen Reformulierungen – Menschenrechte und Demokratie als soziale Ideale im Sinne einer deutlich erkennbaren normativen Dimension transportiert. Die Dimension der professionellen Gegenstandsbestimmung tritt dabei zugunsten einer eher allgemein formulierten Aufgabe politischen und pädagogischen Handelns in den Hintergrund. Indessen erhalten die Dimensionen der begründeten Zielbestimmung professioneller Praxis, der Legitimation Sozialer Arbeit in einem gesellschaftspolitischen Kontext und der Theoriebildung eine deutliche Konturierung. 77 Menschenrechte und Soziale Arbeit Reflexion beider normativer Modelle Ein Vergleich der beiden dargestellten Theorien bestätigt zunächst, dass beide insgesamt gesehen einen starken normativen Begründungszusammenhang in der Verbindung eines Verständnisses von Demokratie als Lebensform respektive einer Sozialen Demokratie und der individuellen Menschenwürde im Schutz der Menschenrechte aufweisen. Der sich auf Natorps Entwurf berufende und aufbauende Ansatz fokussiert mit seiner stark idealistischen Konturierung auf Zielsetzungen in den Bereichen der Erziehung und Bildung, der Wirtschaft sowie der Politik. Der besonders von Staub-Bernasconi vertretene und auf Jane Addams’ Entwurf einer Demokratie als Lebensform aufbauende Ansatz umfasst dagegen deutlich mehr Aspekte des gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens; hier sei besonders an das Verhältnis der Generationen und Geschlechter erinnert. Mit Bezug auf eine GenderPerspektive mag diese unterschiedliche Fokussierung zu erklären sein. Gerade vor dem Hintergrund der normativen Dimension der Gegenstandsbestimmung und Legitimation professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit erscheint der auf Addams aufbauende Ansatz mit der von Staub-Bernasconi eingebauten vertikalen Dimension praktikabler und über – sicherlich stets notwendige – theoretische Grundsatzdebatten hinausgehend zugänglicher. Der induktive Zugang wirkt beweglicher als sein deduktives Pendant, wird sich aber dabei seiner normativen Begründungszusammenhänge ggf. immer wieder eingehender zu versichern haben. Festzuhalten ist, dass beide Theoriestränge insgesamt gesehen eine hinreichende normative Dimension beinhalten. Eine zukünftige Herausforderung könnte darin bestehen, beide Theoriestränge in einer neuen, erweiterten Theorie Sozialer Arbeit zu integrieren. Es stellt sich weiterhin die grundlegende Frage, ob die normative Dimension der Menschenrechte und Demokratieverständnisse überhaupt eine theoretisch-disziplinäre wie auch professionelle integrale Bedeutung beanspruchen kann und soll. Ist diese normative Dimension nicht viel eher als ein Kritisches Korrektiv zu betrachten, welches die Theorien und Konzeptionen der Sozialen Arbeit immer wieder neu aus der externen Perspektive der Demokratieverständnisse und Menschenrechte zu hinterfragen hat (vgl. Cremer-Schäfer 2008)? Bedeutet diese normative Implikation letztlich nicht auch eine Überforderung und Selbstüberschätzung der Sozialen Arbeit als wissenschaftliche Disziplin und Profession? Silke Müller-Hermann und Roland Becker-Lenz (2013) argumentieren in diesem Zusammenhang mit einer Orientierung der Sozialen Arbeit an bestehenden nationalen sozialrechtlichen Rahmenbedingungen, damit Soziale Arbeit generell ihre gesellschaftliche Wirksamkeit auszuweisen versteht. In Eric Mührel 78 diesem Zusammenhang wäre eventuell schon ein großer Schritt getan, wenn die Menschenrechte und ein demokratisches Selbstverständnis innerhalb der Handlungsfelder der Sozialen Arbeit beherzigt würden (dazu Winkler 2013). Ein darüber hinausgehender Anspruch könnte eben korrektiv wirken, jedoch in seiner normativen Verabsolutierung kontraproduktiv sein. Dieser Einwand kann sich m. E. aber nur auf eine Soziale Arbeit des (globalen westlichen) Nordens beziehen, die überhaupt über solche sozialrechtlichen Rahmenbedingungen verfügt; er läuft aber bei der gesamten Sozialen Arbeit des Südens ins Leere, da dort solche Rahmenbedingungen meist gänzlich fehlen. Ein weiterer Einwand gegen eine normative Dimension eines Verständnisses von Demokratie als Lebensform und Menschenrechten erhebt sich mit Blick auf die vertikale Dimension Staub-Bernasconis. Es bestehen erkennbare Ambivalenzen in den internationalen Institutionen, auf welche eben diese vertikale Dimension rekurriert. So gibt es immer noch keine einvernehmliche Übereinstimmung über verschiedene Interpretationsweisen der Menschenrechte in den Vereinten Nationen. Zudem wird dort – wenn überhaupt – von einem Minimalkonsens bzgl. eines Verständnisses der Demokratie als Regierungsform – und nicht als Lebensform – ausgegangen (vgl. Mührel, L. und Mührel, E. 2013). Scheitert dann also eine selbstbestimmte disziplinär wie professionell verankerte normative Dimension an den Paradigmen einer Sozialen Demokratie und der Menschenrechte nicht letztlich auch an den harten Realitäten der Institutionen, auf die eine solche Dimension sich vermeintlich zu berufen versucht? In diesem Kontext weisen dann auch neuere philosophische Diskurse zu den Menschenrechten und einem Verständnis der Demokratie als Lebensform (siehe hierzu Bieri 2013, Joas 2011, Schweidler 2013, Misrahi 2013) eine Richtung, dieselben in ihrer Genealogie eher im Sinne eines schwachen Denkens (vgl. Vattimo 1990) als Ermöglichungskultur zur Förderung eines selbstbestimmten Lebens – in einer normativ völlig heterogenen Weltgesellschaft – zu verstehen. Eine starke normative Pointierung könnte daher letztlich kontraproduktiv ins Leere laufen. Auch mit Blick auf die zuletzt genannten Ambivalenzen und reflexiv-kritischen Einwände bezüglich einer normativen Dimension der Menschenrechte und des Verständnisses einer Demokratie als solidarischer Lebensform – einer Sozialen Demokratie – in der Theoriebildung der Sozialen Arbeit ist festzuhalten, dass diese eine starke normativ kohäsive Bedeutung für die weitere Entwicklung eines globalen Selbstverständnisses der Sozialen Arbeit als Profession und wissenschaftliche Disziplin beinhaltet. Menschenrechte und Soziale Arbeit 79 2. Menschenrechte in der Praxis Sozialer Arbeit Mit Blick auf die dritte Dimension des Vier-Ebenen-Modells der Normativität mit Bezug auf die Soziale Arbeit, der Legitimation Sozialer Arbeit und ihrer professionellen Handlungen, ist hinsichtlich der Menschenrechte als einer normativen Minimalethik zu fragen, ob die Menschenrechte in Institutionen der Sozialen Arbeit (z.B. Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe) und Institutionen, in denen sie professionell beteiligt ist (z.B. Gefängnisse, psychiatrische Einrichtungen), eingehalten werden. Dies wird dann der Fall sein, wenn in diesen Institutionen die Menschenwürde der Adressat_innen und Klient_innen gewahrt wird. Dabei stellt sich gleich eine anschließende Frage, was denn unter Menschenwürde überhaupt verstanden werden kann. Abgesehen von der Berechtigung der eher theoretischen autonomen wie heteronomen Konzeptionen der Menschenwürde (siehe hierzu Mührel/Röh 2013) und der mit Joas schon angeführten Konzeption der Sakralität der Person könnte gerade für eine praktische Orientierung in Handlungskontexten der Sozialen Arbeit auf die Beschreibungen Peter Bieris in Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde aus 2013 rekurriert werden. Bieri erörtert Würde anhand der nachzeichnenden Perspektive einer weitläufigen Landkarte menschlicher Existenz. Hierbei soll nicht stark normativ vorgegeben werden, was unter menschlicher Würde zu verstehen ist, sondern eine reflexive Sensibilisierung für alltägliche Lebensweisen in all ihrer Vielfalt ermutigt werden. Genau diese von Bieri vorgeschlagene Perspektive ermöglicht eine reflexive Beobachtung und Thematisierung der Lebensweisen und Lebenswelten der Adressat_innen und Klient_innen der Sozialen Arbeit. Dabei stehen gerade keine Wertungen im Sinne von Zertifizierungen und Akkreditierungen im Fokus, sondern alltägliches Feingefühl, Intuition und Reflexion. Darauf aufbauend kann ein Dialog der Mitarbeiter_innen untereinander und der Adressat_innen und Klient_innen beginnen. Der Dialog kann dann auf Augenhöhe und in gegenseitiger Würdigung zwischen allen Beteiligten fortgeführt werden. Dies alles geschieht mit dem Ziel: Wie können wir in unserer Institution so zusammenarbeiten und ggf. zusammenleben, dass wir alle in einem seelischen Gleichgewicht zu leben vermögen, dass uns die Gefährdungen unseres Lebens als Herausforderungen bewältigen lässt? Genau hierfür ist jegliche diskreditierende Entwürdigung einer Person zu vermeiden und gemeinsam dafür zu arbeiten, dass Menschen sich in ihrer Lebensweise gewürdigt fühlen. Würde erweist sich nach Bieri – immer zerbrechlich und gefährdet – in drei Dimensionen: der würdevolle Umgang anderer Menschen mit mir, der mich würdigende Umgang meinerseits Eric Mührel 80 mit anderen Menschen, Würde in der Selbstachtung. Diese drei Dimensionen sind stets bei der Beschreibung der Landkarte menschlicher Existenz mit zu bedenken. Folgende fiktive Korridore in dieser Landschaft der Würde als Lebensform benennt Bieri: • Würde als Selbständigkeit: Wie kann die Selbständigkeit der Adressat_innen und Klient_innen und deren Partizipation an Gemeinschaft und Gesellschaft gewährleistet und gefördert werden? Gibt es Möglichkeiten einer Bewahrung einer Inneren Selbständigkeit in sozialpädagogischen, medizinischen und therapeutischen Zwangskontexten? Auf welche Art und Weise können Demütigung und Abhängigkeiten reflektiert und auf ein Mindestmaß reduziert werden? • Würde als Begegnung: Wie können sich alle Beteiligten in einem Dialog mit gegenseitiger Wertschätzung und Anerkennung begegnen? Welche Orte und Gelegenheiten werden für eine Begegnung mit sich selbst eröffnet? Und welche (sozial)pädagogischen und andere pädagogische Methoden werden hierfür angeboten? • Würde als Achtung der Intimität: Wie ist zu gewähren, dass zu jedem Zeitpunkt die Intimität und persönliche Integrität gewahrt werden? Wie können Beschämung und Demütigung verhindert werden? • Würde als Wahrhaftigkeit: Wie kann in der Zusammenarbeit und dem Zusammenleben jede_r Beteiligte sein Gesicht wahren? Wird auch das Gesicht des bzw. der Anderen gewahrt? Und können dabei auch trotzdem die wesentlichen Dinge und Punkte thematisiert werden? • Würde als Selbstachtung: Wie können Menschen mit zerrissener und gebrochener Selbstachtung wieder aufgerichtet und in ihrer Selbstwerdung begleitet werden? Wie gestaltet sich eine Institution, in der Menschen sich als Person in ihrem Selbstsein wahrnehmen und achten aber auch ausprobieren und spielen können? Was bedeutet es, Verantwortung für sich und seine Lebensweise zu übernehmen? • Würde als moralische Integrität: Wie kann ein Dialog aller Beteiligten aussehen, der auf Augenhöhe stattfindet und keine Scham oder Unterwerfung hervorbringt? Kann jede_r noch morgens in den Spiegel schauen? Erhalten die moralischen Haltungen der einzelnen Akteure genügend Raum und Gewicht? • Würde als Sinn für das Wichtige: Wird überhaupt gewollt und ggf. auch unterstützt, dass die Adressat_innen und Klient_innen eine eigene Stimme ihres Lebens suchen und erfahren dürfen? Erhalten Sie ggf. Unterstützung bei dieser Erkundungsreise nach Menschenrechte und Soziale Arbeit 81 dem eigenen Lebensgespür und dem eigenen Lebenssinn? Was könnte das Glück für alle Beteiligten bedeuten? Wie sieht es aus mit dem Zugang zur sinnlichen, ästhetischen und intellektuellen Schönheit der Welt? Welche Medien und Ansprechpartner_innen stehen hierfür zur Verfügung? • Würde als Anerkennung der Endlichkeit: Wie gestaltet sich der Umgang mit der eigenen Sterblichkeit und der Sterblichkeit der anderen Menschen? Was bedeutet die Endlichkeit im sich oder auch andere Loslassen in der Demenz? Wie können wir umgehen mit Suizid und Suizidversuchen? Wie können Menschen in Würde sterben? Die Perspektive Bieris könnte für das Forschungsprojekt Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern als Hintergrundfolie und Matrix dienen, um daraus Fragen zu entwickeln, wie menschenwürdige Lebensweisen und -verhältnisse in den sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ermöglicht werden können. Eine herausfordernde und sensible Aufgabe im oben angeführten Dialog. 3. Abschließende Fragestellungen an das Forschungsprojekt Partizipation in sozial- psychiatrischen Handlungsfeldern • Soziale Arbeit kann als eine Partizipationswissenschaft verstanden werden, die Prozesse von Teilhabe und Teilnahme in Gesellschaften analysiert und Wege zu deren Realisierung und Verbesserung aufzeigt. Es geht dabei um eine (sozial-)pädagogisch reflektierte und organisierte Sozialisation von Menschen (vgl. Mührel 2006). Dies ist ein interessanter und lohnenswerter Ansatz. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass nicht kleine Teile in der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit davon ausgehen, dass Partizipation ein Konzept der Vergangenheit sei. Aktuell wird sehr viel häufiger der Begriff der Beteiligungsgerechtigkeit und Befähigungsgerechtigkeit verwendet. Die Frage, die sich hieraus für das Forschungsprojekt ergibt, ist die folgende: Können die die Erkenntnis leitenden Fragestellungen des Forschungsprojektes sowie dessen Durchführung und Evaluation aktuellen Bezügen in der Sozialen Arbeit gerecht werden? • Weiter ist mit Bezug zur vertikalen Dimension sozialer Demokratie von Jane Addams und Silvia Staub-Bernasconi anzumerken, dass sozialpsychiatrische Handlungsfelder regelmäßiger Überprüfungsverfahren von außen bedürfen. Die Frage ist, ob es diese in Eric Mührel 82 der Sozialpsychiatrie gibt. Blicken NGOs und Menschenrechtsorganisationen in die Einrichtungen hinein? Ziehen die Einrichtungen die Menschenrechtsorganisationen bei rechtlichen Fragen und Fragen nach einem würdevollen Leben der Adressat_innen und Klient_innen in den Einrichtungen hinzu? • Werden in der Folge des vorherig Gefragten in dem Forschungsprojekt transdisziplinär Akteure der Zivilgesellschaft mit eingebunden? Dient das Forschungsprojekt somit auch einer Demokratisierung der Wissenschaft und Praxis? • Die Einführung der gemeindenahen Psychiatrie und die damit gesellschaftliche Öffnung der beteiligten Institutionen seit den 1980er Jahren haben viele Impulse zur Einhaltung der Menschenrechte und damit Bewahrung der Würde der Adressat_innen und Klient_innen hervorgebracht. Wie lässt sich aber der Ambivalenz von (konstruierten) psychisch beeinträchtigten Menschen in einer kranken Gesellschaft begegnen? Die Sozialarbeiter_innen beispielsweise in ambulant betreuten Wohnformen sollen ja ambitionierte Ziele einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft und damit Steigerung der Partizipation verfolgen. Aber die Frage ist doch, in welche Gesellschaft die psychiatrisierten Menschen nach Beendigung der Hilfe wieder hineingeraten? Es ist zu konstatieren, dass große Teile der gesellschaftlichen Wirklichkeit Menschen krank machen. Wie kann daher mit einer Psychiatrisierung gesellschaftlicher Probleme professionell wie zivilgesellschaftlich umgegangen werden? Solche Ambivalenzen sind beispielhaft an Phänomenen wie Depression und ADHS erkennbar. Teile der Gesellschaft sowie professionelle Praxen der Sozialen Arbeit wie beispielsweise die Kinderund Jugendhilfe entfernen sich ggf. vermehrt von sozialen wie individuellen Problemdefinitionen und psychiatrisieren gesellschaftliche Probleme. Das bedeutet wiederum nicht, dass die Gestaltbarkeit Sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie dethematisiert werden darf. Wird das Forschungsprojekt diese Ambivalenzen thematisieren und analysieren? Literatur Addams, Jane (1964): Democracy And Social Ethics. Cambridge: Harvard University Press. (Erstveröffentlichung 1902). 83 Menschenrechte und Soziale Arbeit Bieri, Peter (2013): Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. München: Carl Hanser Verlag. Braches-Chyrek, Rita (2013): Jane Addams, Mary Richmond und Alice Salomon. Professionalisierung und Disziplinbildung Sozialer Arbeit. Opladen: Verlag Barbara Budrich. Bornmüller, Falk; Hoffmann, Thomas; Pollmann, Arnd (Hrsg.) (2013): Menschenrechte und Demokratie. Freiburg/München: Verlag Karl Alber. Brunozzi, Philippe; Dhouib, Sarhan; Pfannkuche, Walter (Hrsg.) (2013): Transkulturalität der Menschenrechte. Arabische, chinesische und europäische Perspektiven. Freiburg/München: Verlag Karl Alber. 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Ein einführendes Handbuch. Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden: VSVerlag, S. 297-310. Menschenrechte und Gesundheit Alexander Schmid Das Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ 1 spricht auch die Bedeutung von Menschenrechten an. Dies ist für ein Projekt der Sozialen Arbeit als menschenrechtsorientierter Profession 2 zwingend. Neben der von Mührel vorgenommenen ethischen Betrachtung ist es ergänzend notwendig, die Bedeutung der Menschenrechte aus juristischer Sicht zu würdigen. Im Rahmen dieses Beitrages 3 können die für dieses Projekt relevanten menschenrechtlichen Fragestellungen allerdings nicht umfassend oder gar abschließend erörtert werden. Jedoch kann hier ein erster Zugang zur Arbeit mit Menschenrechten aus juristischer Perspektive geboten werden, welcher den Studierenden ermöglichen soll, die Bedeutung der Menschenrechte in den angesprochenen Fragestellungen selbständig weiter zu bearbeiten. 4 Im Unterschied zu einer allgemeinen Orientierung an Menschenrechten muss aus rechtlicher Sicht immer die Frage gestellt werden, ob Menschenrechte konkrete und rechtlich durchsetzbare Ansprüche gewährleisten (Justiziabilität der Menschenrechte). 5 Somit ist es wichtig zu prüfen, inwieweit Deutschland völkerrechtlichen Verträgen zum Schutz von Menschenrechten beigetreten ist. Sind die darin genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen bereits in die nationale Rechtsordnung integriert worden? Tragen diese Rechtsvorschriften den völkerrechtli- 1 Siehe Beiträge von S. Bliemetsrieder, K. Maar, J. Schmidt und A. Tsirikiotis. Staub-Bernasconi, Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession. In: F. Hochstrasser et. al. (Hrsg), Die Fachhochschule für Soziale Arbeit. Bildungspolitische Antwort auf soziale Entwicklungen, Haupt. 1997, S.3. 3 Dieser Beitrag stellt die überarbeite und aktualisierte Fassung des Vortrages im Rahmen eines Forschungskolloquiums „Menschenrechte und Soziale Arbeit in der Psychiatrie“ vom 05.05.2015 dar. 4 Eine Übersicht über die verschiedenen Menschenrechte bieten beispielsweise: Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl., Kapitel 8, Individualschutz im Völkerrecht, S. 817-859; Herdegen, Völkerrecht, 14. Aufl., Kapitel X, Menschenrechte, § 47-50, S. 368-396; Kau, in: Vitzthum/Proeß, Völkerrecht, 7. Aufl., Dritter Abschnitt, III. Der Einzelne im Völkerrecht, S. 209-227; Prasad/Rabe, Mit Recht gegen Gewalt: die UN-Menschenrechte und ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit. 5 Schneider, Die Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte, 2004, www.institut-fuer--menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/studie_die_justiziabilitaet_wirtschaftlicher_sozialer_u_kultureller_menschenrechte.pdf [19.10.2017]. 2 89 Menschenrechte und Gesundheit chen Vorgaben ausreichend Rechnung? Diese Fragen sind als Vorfragen zu beantworten, um dann zu bestimmen, welche Fragestellungen mithilfe der Bezugnahme auf die Menschenrechte weiterer Bearbeitung bedürfen. Diese Arbeit mit Menschenrechten kann auf der einen Seite darin bestehen, dass die Bezugnahme auf Menschrechte hilft, den vorgegebenen nationalen rechtlichen Rahmen zu füllen. 6 Auf der anderen Seite kann die Arbeitsaufgabe die Sichtbarmachung der Umsetzungsdefizite menschenrechtlicher Vorgaben sein. Bei einer Bezugnahme auf Menschenrechte muss daher an erster Stelle immer die Frage stehen, welches Menschenrecht konkret für die zu untersuchende Ausgangslage Bedeutung haben soll. Menschenrechte finden sich zunächst auf Ebene der Vereinten Nationen 7 und im Rahmen von regionalen menschenrechtlichen Schutzsystemen. Für Europa ist in erster Linie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 8 und die damit verbundene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu nennen. 9 Schließlich finden sich Menschenrechte in Form von Grundrechten auch im Grundgesetz. 10 Zur Einführung in die juristische Arbeit mit Menschenrechten bietet sich bei einem Projekt in einem sozialpsychiatrischen Handlungsfeld das Menschenrecht auf Gesundheit an (Teil I.). Die Frage der Partizipation kann anschließend am konkreten Beispiel der Voraussetzungen der Zwangsbehandlung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) dargestellt werden (Teil II). Auf das Zusammenspiel zwischen nationaler Rechtsordnung und Menschenrechten, insbesondere der UN- Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) kann im Rahmen einer aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) eingegangen werden. 6 Menschenrechte als Auslegungsmaßstab des nationalen Rechts: Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, GG Art. 1 Abs. 2, Rn. 47 ff., 79. EL Dezember 2016. 7 Siehe: www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereintenationen/menschenrechtsabkommen/uebersicht/ [19.10.2017]. 8 www.menschenrechtskonvention.eu [19.10.2017]. 9 Daneben existieren auch die Amerikanische Menschenrechtskonvention von 1969 (American Convention on Human Rights) und die Afrikanische Charta der Menschen- und Völkerrechte (African (Banjul) Charter on Human and Peoples' Rights) oder auch die Arabischen Charta der Menschenrechte, siehe: www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/entwicklungspolitik/oft-gestelltefragen/warum-gibt-es-regionale-menschenrechtsvertraege/ [19.10.2017]. 10 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 Abs. 2, Rn. 8, 79. EL Dezember 2016. Alexander Schmid 90 I. Menschenrechte und Gesundheit 1. Geltung und Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen Auch aus menschenrechtlicher Sicht kann die Frage gestellt werden, welches Maß an staatlicher Unterstützung im Bereich der Gesundheit erforderlich ist. In diesem Kontext ist jedoch immer zwingend zwischen der innerstaatlichen Geltung eines Menschenrechts und der unmittelbaren Anwendung zu unterscheiden. Geltung erlangt ein Menschenrecht im Regelfall, wenn der entsprechende völkerrechtliche Vertrag in Deutschland ratifiziert ist. Dies kann am Beispiel der Umsetzung der UN-BRK erläutert werden. Ausgehend von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR)11 ist in der UN-BRK eine international verbindliche Auslegung und damit eine Präzisierung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderung in einen völkerrechtlichen Vertrag aufgenommen worden. Die UN-BRK ist in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 ratifiziert, also in geltendes deutsches Recht überführt worden. 12 Durch die Ratifikation hat die UN-BRK allerdings nur die Form eines einfachen Bundesgesetzes erhalten. Die UN-BRK steht damit zunächst neben den anderen Bundesgesetzen. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers alle anderen Bundesgesetze darauf zu prüfen, ob diese zur Umsetzung der UN-BRK geändert werden müssen. Ebenso ist es Aufgabe der Landesgesetzgeber die Landesgesetze nunmehr so zu gestalten, dass diese der UN-BRK entsprechen. In der juristischen Literatur ist es umstritten, ob darüber hinaus einzelnen Bestimmungen der UN-BRK schon vor der Umsetzung des Gesetzgebers unmittelbare Wirkung zukommt, diese somit unmittelbar anwendbar sind. 13 Zumindest das Diskriminierungsverbot des Art. 5 Abs. 2 UN-BRK hat nach der Rechtsprechung unmittelbare Wirkung. 14 Das BSG sieht dieses Dis- 11 Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar; GG Art. 3 Abs. 3, Rn. 1, 79. EL Dezember 2016. 12 Nettesheim, in: GG Art. 59, Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar 67. Ergänzungslieferung 2013, Rn. 70. -77. 13 Degener, in: Degener et al. (Hrsg.), Menschenrecht Inklusion: 10 Jahre UNBehindertenrechtskonvention - Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Umsetzung in Sozialen Diensten und diakonischen Handlungsfeldern, S. 24; Riedel, Arend: Im Zweifel Inklusion: Zuweisung an eine Förderschule nach Inkrafttreten der BRK, NVwZ 2010, 1346; siehe hierzu auch: Dokumentation der Fachtagung „Menschenrechte in der sozialgerichtlichen Praxis“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte am 6. März 2015 im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin: http://www.felix-welti.de/MR%20und%20Sozialrecht.pdf [19.10.2017]. 14 BSG, Urteil vom 06. März 2012 – B 1 KR 10/11 R –, juris, Rdnr. 29. 91 Menschenrechte und Gesundheit kriminierungsverbot allerdings nicht als weiterreichend als das bereits in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG enthaltene Diskriminierungsverbot an. Dennoch ist es für das BSG besonders bedeutsam, dass die UN-BRK generell als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann und dies auch speziell für das Verständnis des Art 3. Abs. 3 S. 2 GG gilt. 15 2. Menschenrecht auf Gesundheit? Die eben genannte Entscheidung des BSG hatte das in Art. 25 S. 1, 2 und 3 Buchst b UNBRK aufgenommene Recht auf Gesundheit zum Gegenstand: "Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation, haben. Insbesondere… b) bieten die Vertragsstaaten die Gesundheitsleistungen 16 an, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden, soweit angebracht, einschließlich Früherkennung und Frühintervention, sowie Leistungen, durch die, auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst gering gehalten oder vermieden werden sollen; [...]" Weitere in Deutschland verbindliche Menschenrechte auf Gesundheit bestehen in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen aufgrund des UN-Sozialpaktes, der UN- Antirassismuskonvention, der UN-Konvention zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau und der UN-Kinderrechtekonvention. 17 In der AEMR findet sich das Recht auf Gesundheit nur als Teil des Rechts auf einen allgemeinen Lebensstandard aufgenommen: 15 BSG, Urteil vom 06. März 2012 – B 1 KR 10/11 R –, juris, Rdnr. 31,33. Hervorhebungen durch den Verf.. 17 Siehe hierzu im Einzelnen: Kennerich, Das Menschenrecht auf Gesundheit, in: Frewer, Bielefeldt (Hrsg.) Das Menschenrecht auf Gesundheit, S. 60-62. 16 Alexander Schmid 92 „Artikel 25 AEMR 1. Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. 2. (...) 18 Als Erklärung ist die AEMR nicht unmittelbar völkerrechtlich verbindlich. In der Literatur wird untersucht, ob die AEMR Völkergewohnheitsrecht darstellt und demnach nachvollziehbar die These vertreten werden kann, dass der AEMR in jedem Falle eine höhere Verbindlichkeit als einer bloßen Erklärung zukommt. 19 Welche Bedeutung haben diese in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen aufgenommenen Menschenrechte auf Gesundheit nun für den einzelnen Bürger? Wie oben schon bei der Umsetzung der UN-BRK erwähnt, enthalten völkerrechtliche Verträge in der Regel keine unmittelbaren Ansprüche für den Bürger. Die Vertragsstaaten eines völkerrechtlichen Vertrages verpflichten sich zur Umsetzung der darin enthaltenen Menschenrechte. Eine genaue Darstellung, wie das Recht auf Gesundheit in den einzelnen Völkerrechtsverträgen ausgestaltet ist, kann hier nicht erfolgen. Keiner der völkerrechtlichen Verträge gewährleistet jedoch ein absolutes Recht auf Gesundheit. Vielmehr wird dieses Recht in unterschiedlicher Ausprägung festgelegt. Beispielsweise dient im Rahmen des UN-Sozialpaktes das im jeweiligen Vertragsstaat verfügbare Höchstmaß an gesundheitlicher Versorgung als Maßstab. 20 18 www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf [19.10.2017]. Nettesheim, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band VI/2: Europäische Grundrechte II, ftp://85.199.66.17/cfmueller/texte/leseprobe/9783811475021_leseprobe_02.pdf [19.10.2017], § 173, insbesondere Rdnr. 44. 20 Rixen, Zwischen Hilfe, Abschreckung und Pragmatismus: Gesundheitsrecht der Flüchtlingskrise – Zu den Änderungen durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20.10.2015, in: NVwZ 2015, 1640 (1643); ders., Gestaltungsspielräume bei der Gewährung von Leistungen an Geflüchtete – Verfassungsrecht, EU-Recht, Völkerrecht –, in: Der Landkreis – Zeitschrift für kommunale Selbstverwaltung 2016, 268 (272). Siehe auch: ders., Recht auf Gesundheit – Konturen eines wenig bekannten Menschenrechts, S. 6: www.justitia-et-pax.de/jp/aktuelles/data/20161209-10-Rixen.pdf [19.10.2017]. 19 93 Menschenrechte und Gesundheit Somit wäre nun als nächster Arbeitsschritt eine genauere Untersuchung darüber notwendig, welche unterschiedlichen Maßstäbe in den einzelnen völkerrechtlichen Verträgen enthalten sind. Dies kann in diesem Beitrag nicht erfolgen und es kann nur auf weiterführende Literatur 21 und besonders auf die Diskussion über den Menschrechtsansatz im Gesundheitswesen verwiesen werden. 22 An dieser Stellte muss auch die Frage der Unteilbarkeit der Menschenrechte beachtet werden. Damit ist gemeint, dass Menschenrechte sich in ihrer Wertigkeit nicht unterscheiden dürfen, sondern einander bedingen und aufeinander verweisen. 23 Beispielsweise hat das Menschenrecht auf Gesundheit einen starken Bezug zu den Menschenrechten in Bezug auf Bildung. Die Vertragsstaaten müssen die beiden eben genannten Verpflichtungen in einem angemessenen Umfang berücksichtigen und dürfen nicht das eine Menschenrecht zu Lasten eines anderen Menschenrechts umsetzen. Auf der Ebene der konkreten Umsetzung dieser menschenrechtlichen Verpflichtungen, beispielsweise in einzelstaatliche Normen, muss jedoch oft eine Abwägung erfolgen, welches Menschenrecht in der konkreten Norm Vorrang genießt. 24 Der Grundsatz der Unteilbarkeit der Menschenrechte darf somit nicht zur Argumentation führen, die Umsetzung sei nicht möglich, da in einer konkreten Norm nicht beide Menschenrechte verwirklicht werden könnten. Es ist somit wichtig, die Umsetzung der menschenrechtlichen Verpflichtungen in einer Rechtsordnung insgesamt zu beurteilen. Der Grundsatz der Unteilbarkeit bedeutet auch, dass die mangelnde Umsetzung eines Menschenrechtes nicht mit der Umsetzung eines anderen Menschenrechtes kompensiert werden kann. Im Einzelfall kann somit das Menschenrecht auf Gesundheit verletzt sein und insoweit hat der Vertragsstaat auch seine entsprechende völkerrechtliche Verpflichtung verletzt. Er könnte sich insoweit nicht damit rechtfertigen, dass er umfassende Bildungsleistungen erbracht habe. Auch wenn hier keine umfassende Darstellung der einzelnen Menschenrechte auf Gesundheit erfolgen konnte, kann dennoch festgestellt werden, dass die Menschenrechte auf Gesundheit 21 Kennerich, Das Menschenrecht auf Gesundheit, in: Frewer, Bielefeldt (Hrsg.) Das Menschenrecht auf Gesundheit, S. 60 ff.; Rixen, Recht auf Gesundheit – Konturen eines wenig bekannten Menschenrechts, www.justitia-et-pax.de/jp/aktuelles/data/20161209-10-Rixen.pdf [19.10.2017]. 22 Bielefeldt, Der Menschenrechtsansatz im Gesundheitswesen, in: Frewer, Bielefeldt (Hrsg.) Das Menschenrecht auf Gesundheit, S. 19 ff. 23 Fremuth, Menschenrechte, S. 48 f. Mahler/Weiß: Zur Unteilbarkeit der Menschenrechte; S. 41, In: Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig? / Lohmann; Gosepath; Pollmann; Mahler; Weiß: https://publishup.unipotsdam.de/frontdoor/index/index/docId/1435 [19.10.2017]. 24 Alexander Schmid 94 eine starke völkerrechtliche Verankerung besitzen. Wie oben erwähnt, sind die von Deutschland ratifizierten völkerrechtlichen Verträge für die Auslegung des innerstaatlichen deutschen Rechts zu beachten. 25 Dies gilt auch für diejenigen innerstaatlichen Regelungen, die einem Bezug auf das Menschenrecht auf Gesundheit aufweisen. 26 3. Recht auf Gesundheit und das deutsche Grundgesetz Im Gegensatz zur Verfassung anderer Staaten kennt das Grundgesetz kein ausdrücklich formuliertes Recht auf Gesundheit. 27 In Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist zwar als Abwehrrecht formuliert: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Daraus ergibt sich jedoch nicht unmittelbar ein Leistungs- oder Teilhaberecht. 28 Die Rechtsprechung des BVerfG verdeutlicht jedoch, dass auch aufgrund des deutschen Grundgesetzes über das bloße Abwehrrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Verpflichtungen des Gesetzgebers zum Gesundheitsschutz bestehen. Ausgehend vom Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG fordert das BVerfG das Bestehen von Regelungen zum Schutz der Bevölkerung vor Erkrankungen. 29 Im Zusammenhang mit den aktuellen verfassungsrechtlichen Fragen der Zwangsbehandlung wird zudem deutlich, dass das BVerfG den Gesundheitsschutz stark in Bezug zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG setzt. Der Staat habe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen.30 Besondere Erwähnung verdient zudem das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, welches das BVerfG aus der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 25 2 BvR 2365/09; 2 BvR 740/10; 2 BvR 2333/08; Rn 89; 1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11; Rn. 92, 94. Als weiterführendes Beispiel kann auf die völkerrechtliche Argumentation von Rixen verwiesen werden, welcher belegt, dass die Regelungen zur Gesundheitsversorgung im Asylbewerberleistungsgesetz aufgrund deren Unbestimmtheit den völkerrechtlichen Vorgaben nicht genügen: Rixen, Recht auf Gesundheit – Konturen eines wenig bekannten Menschenrechts, S.9: www.justitia-etpax.de/jp/aktuelles/data/20161209-10-Rixen.pdf [19.10.2017]. 27 Rixen, Recht auf Gesundheit – Konturen eines wenig bekannten Menschenrechts, S. 2 ff.: www.justitia-et-pax.de/jp/aktuelles/data/20161209-10-Rixen.pdf [19.10.2017]. 28 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, 79. EL Dezember 2016, GG Art. 2 Nr. 1 Rn. 51. 29 BVerfGE 123, 186 (242). 30 BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 69 ff., juris. 26 95 Menschenrechte und Gesundheit Abs. 1 GG hergeleitet hat. 31 Die Relevanz für die handlungsfeldübergreifende Soziale Arbeit wird anhand der folgenden Ausführungen des BVerfG deutlich: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. 2. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu." (Rdnr. 135) Zum menschenwürdigen Existenzminimum gehört auch ein Mindestmaß an gesundheitlicher Versorgung: „Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit 32 [...], als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen [...]." (Rdnr. 135 a.a.O.) Obwohl das Grundgesetz somit kein ausdrückliches Recht auf Gesundheit enthält, wird deutlich, dass insbesondere aufgrund der verbindlichen Auslegung des Grundgesetzes durch das 31 32 BVerfG, Urteil vom 9.2.2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09. Hervorhebung durch den Verf.. Alexander Schmid 96 BVerfG deutliche verfassungsrechtliche Vorgaben zum Schutz der Gesundheit bestehen. Diese sind auch im Rahmen von Verwaltungsverfahren zu berücksichtigen, 33 besonders bei der Ausübung des verwaltungsrechtlichen Ermessens. 34 Darüber hinaus gilt hier auch der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, mit welcher das BVerfG die Verbindung zwischen dem nationalen Verfassungsrecht und dem internationalen Recht stärkt. Ein Beispiel findet sich in der Entscheidung des BVerfG im Jahr 2012 zur Sicherungsverwahrung: „Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ist damit Ausdruck eines Souveränitätsverständnisses, das einer Einbindung in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht nur nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet.“ 35 Aufgrund dieser Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes sind jedoch auch bei der Auslegung des Mindestmaßes an Gesundheit auch die oben erwähnten verschiedenen Menschenrechte auf Gesundheit zu berücksichtigen. Insbesondere kann die UN-BRK als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der hier erwähnten Grundrechte herangezogen werden. 36 Aufgrund des Rückgriffs des BVerfG auf die Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auch im Bereich der Gesundheit lässt sich gut belegen, dass die Menschen- und Grundrechte heute als Mehrebenensystem gesehen werden müssen. 37 Im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz wird die Menschenwürde 38 zwar zu Recht als Voraussetzung für viele Menschenrechte angesehen, findet sich aber selbst kaum in Völkerrechtsverträgen und ist ausdrücklich nur in der Charta der Grundrechte der EU aufgenommen. Die verschiedenen Menschenrechte werden daher als Ausprägungen 33 Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG | VwVfG § 1 Rn. 45 - 51 | 8. Auflage 2014. Aschke, VwVfG § 40 Ermessen, in: BeckOK VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, 35. Ed., Stand: 01.04.2017, Rn. 52. 35 2 BvR 2365/09; 2 BvR 740/10; 2 BvR 2333/08; Rn 89. 36 BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 88, (juris) mit Verweis auf vgl. BVerfGE 111, 307, 317. 37 Viellchner, Berücksichtigungspflicht als Kollisionsregel. In: Matz-Lück N., Hong M. (eds) Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen, S. 109 ff. 38 Zur weiteren Auslegung vom Begriff „Würde“, aus verschiedenen Professionen betrachtet, empfiehlt sich folgende Publikation: Gröschner; Kapust; Lembcke. (Hrsg.) (2013): Wörterbuch der Würde. München, Paderborn: Fink. 34 97 Menschenrechte und Gesundheit besonderer Würdeaspekte gesehen. 39 Insofern schließt das BVerfG den Kreis, indem es bei der Anwendung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimums ausdrücklich auf das Asylbewerberleistungsgesetz verweist: „Zu den Regeln über das Existenzminimum, die in Deutschland gelten, gehören auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPwskR, in Kraft getreten am 3. Januar 1976, UNTS Bd. 993, S.3; BGBl. II 1976, S. 428), dem der Deutsche Bundestag mit Gesetz vom 23. November 1973 (BGBl. II S. 1569) zugestimmt hat. Der Pakt statuiert in Art. 9 ein Recht auf Soziale Sicherheit und in Art. 15 Abs. 1 Buchstabe a das Menschenrecht auf Teilhabe am kulturellen Leben.“ 40 Im Ergebnis hat das BVerfG die seit dem Jahr 1993 unveränderte Höhe der Geldleistungen als evident unzureichend angesehen und darauf hingewiesen, dass das im Urteil von 2010 entwickelte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums 41 einen Anspruch als Menschenrecht vermittelt. 42 4. Das baden-württembergische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz, das Grundgesetz und die Menschenrechte auf Gesundheit Unter Betrachtung der menschenrechtlichen Grundlagen und den grundgesetzlichen Verankerungen zum Gesundheitsschutz ist zu erwarten, dass bei Gesetzesvorhaben hierauf Bezug genommen wird und insbesondere in der Gesetzgebungsbegründung eine Auseinandersetzung mit den darin enthaltenen Verpflichtungen erfolgt. Dies ist allerdings beim PsychischKranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG BW) nicht erfolgt. Auf das Völkerrecht wird im Gesetz und in der Begründung nur im Zusammenhang mit § 22 PsychKHG-Entwurf verwiesen, in welchem der Schriftverkehr der untergebrachten Person auch aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen geschützt ist. Da die Umsetzung der in der UN-BRK enthaltenen Rechte im PsychKHG BW durch den zuständigen Landesgesetzgeber erfolgen muss, verwundert es be- 39 Maunz/Dürig/Herdegen GG Art. 1 Rn. 6-8, beck-online; (Meyer-Ladewig EMRK Art. 8 Rn. 7-9, beck-online. 40 1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11; Rn. 92, 94. 41 BVerfGE 125, 175. 42 1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11; Leitsatz 2. Alexander Schmid 98 sonders, dass in der Begründung des Entwurfes die UN-BRK nicht erwähnt wird. 43 Im Entwurf aus dem Jahr 2013 zur Änderung der Regelungen zur Zwangsbehandlung nach § 8 im Rahmen des - bis zum Erlass des PsychKHG BW 44 - gültigen Unterbringungsgesetzes BadenWürttemberg finden sich hingegen Verweise auf die UN-BRK. 45 Eine solche Auseinandersetzung wäre jedoch auch im ein Jahr später erarbeiteten Entwurf zum PsychKHG BW insgesamt erforderlich gewesen. Mit dieser Feststellung alleine ist noch keine Kritik an den Inhalten des PsychKHG BW verbunden. 46 Weiter zu untersuchen wäre beispielsweise, ob die im PsychKHG aufgenommenen „Soll“-Verpflichtungen zum Aufbau von Versorgungsstrukturen eine Ungleichbehandlung beinhalten können, da unmittelbare Rechtsfolgen bei deren Verletzung nicht im PsychKHG aufgenommen sind. 47 Es könnten somit örtlich sehr unterschiedliche Versorgungsstrukturen entstehen, die dem Schutzzweck des PsychKHG nicht entsprechen. Genügt der Landesgesetzgeber in diesem Fall den durch das BVerfG festgelegten Schutzpflichten, die zudem unter Beachtung der Menschenrechte auf Gesundheit ausgelegt werden müssen? Jedenfalls muss sich auch der Landesgesetzgeber zukünftig mehr mit den menschenrechtlichen Vorgaben auseinandersetzen. 48 Damit kann zum heutigen Zeitpunkt nur auf die Verantwortung der mit der Anwendung des PsychKHG befassten öffentlichen Stellen verwiesen 43 Landtags-Drucksache 15 / 5521 vom 22. 07. 2014, www.landtagbw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP15/Drucksachen/5000/15_5521_D.pdf [19.10.2017]. 44 Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (Psychisch-Kranken-HilfeGesetz – PsychKHG). Gesetzesbeschluss des Landtags 12.11.2014. Drucksache 15 / 6129. Verfügbar unter: https://www.landtagbw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP15/Drucksachen/6000/15_6129_D.pdf [19.10.2017]. 45 Drucksache 15 / 3408 vom 23. 04. 2013; www.landtagbw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP15/Drucksachen/3000/15_3408_D.pdf [19.10.2017]. 46 Siehe insgesamt zum PsychKHG: Meyder, Wiedwald, Stolz, Warmbrunn, Juchart, PsychischKranken-Hilfe-Gesetz Baden-Württemberg, Praxiskommentar und Arbeitshilfen, 2015. 47 Siehe beispielsweise § 6 Abs. 2 PsychKHG: „Die sozialpsychiatrischen Dienste sollen daher insbesondere eng mit den Hausärztinnen und -ärzten, (...) zusammenarbeiten.“ Weitere Bsp.: § 3 Abs. 3 S. 1; § 7 S. 3, § 8 PsychKHG. 48 Siehe hierzu die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, Drucksache 18/11259, Die Ausübung von Zwang in psychiatrischen Einrichtungen vom 22.03.2017, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/116/1811619.pdf [19.10.2017]. 99 Menschenrechte und Gesundheit werden, bei der Auslegung im Rahmen des bestehenden Rechtes auch die menschenrechtlichen Vorgaben zu beachten. 49 Die fehlende Auseinandersetzung des Entwurfes des PsychKHG BW mit der UN-BRK zeigt die Bedeutung der in der UN-BRK enthaltenen Verpflichtung der Vertragsstaaten zu regelmäßiger Berichterstattung über die Umsetzung der UN-BRK auf. Hierauf soll im Folgenden eingegangen werden. II. 1. Aktuelle Fragen der Umsetzung der UN-BRK Bedeutung der Staatenberichte an den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Committee on the Rights of Persons with Disabilities, CRPD) Deutschland hat den nach Art. 35 Abs. 1 UN-BRK notwendigen ersten Staatenbericht zur Umsetzung der UN-BRK im Jahr 2011 vorgelegt. 50 Darin wird der deutsche „Weg zu mehr Inklusion“ beschrieben und sowohl über die bisherigen Umsetzungsmaßnahmen als auch über den Nationalen Aktionsplan berichtet. Hierzu hat das Deutsche Institut für Menschenrechte in einem Parallelbericht auf weiterhin ungelöste Fragen in Bezug auf die Rechtstellung von Menschen in psychiatrischer Versorgung aufmerksam gemacht. Der Umfang der Partizipation nimmt dabei großen Raum ein. Insbesondere im Rahmen der Aufgabe als Monitoring-Stelle hat das Deutsche Institut für Menschenrechte folgende Forderung aufgestellt: „Die Monitoring-Stelle regt an, dass der CRPD-Ausschuss dem Vertragsstaat (Bund und Länder) empfiehlt, Maßnahmen zur grundlegenden Fortentwicklung der psychiatrischen Versorgung von Menschen mit Behinderungen einzuleiten. Das System muss in allen Teilen praktisch befähigt werden, Zwang im Zusammenhang mit Unterbringung und Behandlung zu vermeiden und stattdessen die freie und selbstbestimmte Entscheidung der Person durch geeignete Unterstützung zu fördern. Der Vertragsstaat (Legis- 49 Siehe zur vergleichbaren Fragestellungen innerhalb des Betreuungsrechtes im BGB: Bühler; Stolz; Ärztliche Behandlung und „unterstützte Entscheidungsfindung“ – Betreuung entbehrlich?, BtPrax 2017, 167-172. 50 www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/staatenbericht-2011.pdf?__blob=publicationFile [19.10.2017]. Alexander Schmid 100 lative) sollte eine vom Bundestag veranlasste und getragene Initiative durchführen (etwa in Form einer Enquete mit Empfehlungen) mit dem Ziel, den erforderlichen Strukturwandel einzuleiten.“ 51 Aufgrund der Prüfung des ersten Staatenberichtes Deutschlands und des Parallelberichtes hat der zuständige UN-Ausschuss Fragen an die Bundesrepublik Deutschland gestellt. Die Antworten auf die Fragen aus der „List of Issues“ 52 wurden vom UN-Ausschuss geprüft und waren Grundlage für dessen „Abschließende Bemerkungen“ vom 13. Mai 2015. Beispielhaft soll eine Bemerkung zur Zwangsbehandlung in der Originalfassung auszugsweise wiedergegeben werden 53: „Protecting the integrity of the person (art. 17) 37. The Committee is concerned about: (a) the use of compulsory and involuntary treatment, in particular for persons with psychosocial disabilities in institutions and older persons in residential care; (b) the lack of data on involuntary placement and treatment; (c) (...) 38. The Committee recommends that the State party take the measures, including of a legislative nature, necessary to: (a) (...) (b) Ensure that all psychiatric treatments and services are always delivered with the free and informed consent of the individual concerned; 51 Rdnr. 105 zu: Rechte von Menschen in psychiatrischer Versorgung. Parallelbericht an den UNFachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen anlässlich der Prüfung des ersten Staatenberichts Deutschlands; www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDFDateien/Parallelberichte/_Parallelbericht_an_den_UNFachausschuss_fuer_die_Rechte_von_Menschen_mit_Behinderungen_150311.pdf.pdf#H1_ARTIKEL_14_22 [19.10.2017]. 52 www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDFDateien/Parallelberichte/Beantwortung_der_Fragen_aus_der__List_of_Issues.pdf [19.10.2017]. 53 www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDFDateien/Pakte_Konventionen/CRPD_behindertenrechtskonvention/CRPD_Concluding_observations_on_th e_initial_report_of_Germany_May_2015.pdf [19.10.2017]. 101 Menschenrechte und Gesundheit (c) Investigate human rights violations in psychiatric and older persons care settings in all Länder; (d) (...) Eine weitere wichtige Funktion dieses UN-Ausschuss besteht in der Möglichkeit eine Individualbeschwerde an ihn zu richten. Eine erste Individualbeschwerde aus Deutschland war im Jahr 2014 erfolgreich. 54 Die Arbeit des UN-Ausschusses und der Monitoring-Stelle findet in Deutschland Eingang in die fach- und zivilgesellschaftlichen Diskurse und auch in die Arbeit der Parlamente. 55 Auch hier findet sich damit ein Beispiel für die Mobilisierung von Menschenrechten im Wechselspiel zwischen Völkerrecht, (Zivil-)Gesellschaft und Gesetzgeber. 56 Als Modell zur Beschreibung dieses Vorganges bietet sich das Bild einer Diffusionsspirale an. 57 Dieses in der Rechtssoziologie verwendete Bild erläutert, wie Menschenrechte in eine Gesellschaft diffundieren. Durch die Arbeit verschiedener gesellschaftlicher Kräfte mit Menschenrechten wird ein Anpassungsprozess des nationalen moralischen Bewusstseins ermöglicht. Im besten Fall kommt es zu einer Internalisierung und die von diesem Prozess betroffenen Menschenrechte werden Teil der nationalen Rechtsordnung. 2. Auswirkungen der UN-BRK auf die deutsche Rechtsprechung Allgemein findet sich in der Fachdiskussion der Wunsch, die UN-BRK würde in der Rechtsprechung mehr Beachtung finden. 58 Es besteht jedoch ein besonders erwähnenswerter Be- 54 http://juris.ohchr.org/Search/Details/2005 [19.10.2017]. Siehe beispielsweise eine Suche mit dem Begriff „CRPD“ auf der Seite: http://pdok.bundestag.de; aber auch: Dokumentation der Fachtagung „Menschenrechte in der sozialgerichtlichen Praxis“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte am 6. März 2015 im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin: www.felix-welti.de/MR%20und%20Sozialrecht.pdf. [19.10.2017]. 56 Hierzu: Schmid, Das Landeshochschulgesetz Baden-Württemberg und die Verpflichtung gem. Art. 13 des UN-Sozialpaktes, 3. b. bb)., in: Bliemetsrieder, Gebrande, Jaeger, Melter, Schäfferling (Hrsg.), Bildungsgerechtigkeit und Diskriminierungskritik, 2016. 57 Risse; Ropp; Sikkink (1995): The socialization of international human rights norms into domestic practices: introduction. In: Risse; Ropp; Sikkink (1995): The Power of Human Rights. International Norms and Domestic Change. Cambridge: Cambridge University Press, S. 1 ff.; Baer, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung 2011, S. 222. 58 www.felix-welti.de/MR%20und%20Sozialrecht.pdf. [19.10.2017]. 55 Alexander Schmid 102 schluss des BVerfG vom 26. Juli 2016, welcher konkret auf die UN-BRK eingeht. 59 Dieser Beschluss baut auf einer früheren Entscheidung aus dem Jahr 2011 auf, in welcher das BVerfG die Zwangsbehandlungen im rheinland-pfälzischen Landesgesetz über den MaßregelVollzug für nichtig erklärt hat und dabei auch kurz auf die UN-BRK eingegangen ist. Nach Ansicht des BVerfG kann die UN-BRK als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden. 60 In der neueren Entscheidung aus dem Jahr 2016 prüft das BVerfG nunmehr ausführlich die Frage, ob die UN-BRK der vom BVerfG festgestellten Pflicht des Staates entgegensteht, dem eines freien Willens nicht fähigen Betreuten in hilfloser Lage Schutz zu gewähren und ihn unter den genannten Voraussetzungen notfalls einer medizinischen Zwangsbehandlung zu unterziehen. Dieser Entscheidung kommt besondere Bedeutung zu, da anhand dieser gezeigt werden kann, wie die Umsetzung der UN-BRK durch das Wechselspiel zwischen nationalen, deutschen Grundrechten und Völkerrecht geprägt ist. Der Entscheidung lag die Situation einer 63-jährige Patientin zugrunde, welche unter anderem wegen einer schizoaffektiven Psychose behandelt wurde und körperlich stark geschwächt war, nicht mehr gehen und sich auch nicht selbst mittels eines Rollstuhls fortbewegen konnte. Einen freien Willen, welcher für die Einwilligung der Patientin in ärztliche Maßnahmen notwendig ist, konnte die an Krebs erkrankte Patientin nicht mehr bilden. Sie konnte jedoch im Rahmen des sogenannten „natürlichen Willens“ ihren Widerstand gegen eine Operation und eine Chemotherapie kundtun. Der in § 1906 Abs. 3 BGB verwendete Begriff des „natürlichen Willens“ ist schwierig zu greifen 61 und hat besondere Relevanz in Hinblick auf die Vereinbarkeit der Zwangsbehandlung mit den Vorgaben der UN-BRK. 62 Dieser Begriff wird in der Literatur wie folgt um- 59 1 BvL 8/15, NJW 2017, 53-60. BVerfG, Beschluss vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09 –, Rn. 52, juris. 61 Beckmann: Der "natürliche Wille" - ein unnatürliches Rechtskonstrukt, JZ 2013, 604. 62 Hierzu: Masuch, Gmati: Zwangsbehandlung nach dem Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme und UN-Behindertenrechtskonvention NZS 2013, 521. Siehe auch Information der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention zur Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen; www.institut-fuermenschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Weitere_Publikationen/Informationen_zu_General_Comm ent_Nr_1_MSt_2015.pdf. [19.10.2017]. 60 103 Menschenrechte und Gesundheit schrieben: „Es geht wohl um eine reflektierte (nicht rein reflexhafte), ausdrückliche oder konkludente Willensäußerung unterhalb der Schwelle der Einwilligungs- oder Geschäftsfähigkeit.“ 63 Da die o.g. Patientin ihren natürlichen Willen gegen die aus medizinsicher Sicht erforderliche Krebsbehandlung geäußert hatte, musste geprüft werden, ob die Behandlung gem. § 1906 Abs. 3 BGB a.F. unter Zwang durchgeführt werden kann. § 1906 Abs. 3 BGB a.F. sah jedoch eine solche Zwangsbehandlung nur für Patient_innen vor, die gem. § 1906 Abs. 1 BGB „untergebracht“ waren. Die Patientin konnte sich jedoch nicht aus eigener Kraft fortbewegen und damit konnte sie nach den Vorgaben des Betreuungsrechtes nicht untergebracht werden, da ja kein Erfordernis für irgendeine freiheitsbeschränkende Maßnahme bestand. Vor diesem Hintergrund hat das BVerfG zunächst deutlich gemacht, dass das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in diese Rechtsgüter gewähre. Sondern dieses Grundrecht stelle zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründe. Danach habe der Staat die Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen: „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber, ein System der Hilfe und des Schutzes für unter Betreuung stehende Menschen vorzusehen, die in diesem Sinne die Erforderlichkeit einer medizinischen Behandlung zur Abwehr oder Bekämpfung erheblicher Erkrankungen nicht erkennen oder nicht danach handeln können. Ärztliche Untersuchungs- und Heilmaßnahmen müssen dann in gravierenden Fällen als ultima ratio auch unter Überwindung des entgegenstehenden natürlichen Willens solcher Betreuter vorgenommen werden dürfen. (...) Steht einer in Wahrnehmung dieser Schutzpflicht medizinisch gebotenen Behandlung der natürliche Wille einer nicht einsichtsfähigen Person entgegen, gerät diese Maßnahme allerdings in Konflikt mit ihrem Selbstbestimmungsrecht und mit ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Dieser Konflikt zwischen den hier in ihrer Freiheits- und in ihrer Schutzdimension kollidierenden Grundrechten desselben Grundrechtsträgers ist möglichst schonend aufzulösen. Drohen Betreuten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen und überwie- 63 Spickhoff, Medizinrecht, § 1906 BGB, Rn. 14, 2. Auflage 2014. Alexander Schmid 104 gen die Vorteile eines medizinischen Eingriffs eindeutig gegenüber den damit verbundenen Nachteilen und Risiken, geht jedoch die Schutzpflicht vor, so dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung oder Untersuchung auch gegen den natürlichen Willen der Betreuten vorsehen muss.“ 64 Das BVerfG kommt in dieser Entscheidung zum Ergebnis, dass eine Zwangsbehandlung auch dann zulässig sein muss, falls eine Person nicht untergebracht werden konnte, da sie sich nicht mehr fortbewegen kann, aber ansonsten dieselben Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung wie bei einer untergebrachten Person vorliegen. Nach dieser auf das deutsche Verfassungsrecht bezogenen Argumentation geht das BVerfG auf völkerrechtliche Verpflichtungen ein. Insbesondere untersucht das BVerfG, ob die UNBRK dem eben genannten Ergebnis entgegensteht: „Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 23. März 2011 entschieden, dass die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), (...), kein anderes Ergebnis nahe legt (vgl. BVerfGE 128, 282, 306 f.). Es hat den Konventionsbestimmungen, die auf Sicherung und Stärkung der Autonomie behinderter Menschen gerichtet sind - insbesondere dem Art. 12 BRK - kein grundsätzliches Verbot für Maßnahmen entnommen, die gegen den natürlichen Willen Behinderter vorgenommen werden und an eine krankheitsbedingt eingeschränkte Selbstbestimmungsfähigkeit anknüpfen. Denn der Regelungszusammenhang des Art. 12 Abs. 4 BRK, der sich gerade auf Maßnahmen bezieht, die Betroffene in der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit beschränken, belegt, dass die Konvention solche Maßnahmen nicht allgemein untersagt, sondern ihre Zulässigkeit unter anderem dadurch beschränkt, dass Art. 12 Abs. 4 BRK die Vertragsstaaten zu geeigneten Sicherungen gegen Interessenkonflikte, Missbrauch und Missachtung sowie zur Gewährleistung der Verhältnismäßigkeit verpflichtet (vgl. BVerfGE 128, 282, 307). Die zwischenzeitlichen Berichte (Art. 39 BRK), Leitlinien (Art. 35 Abs. 3 BRK) und Empfehlungen (Art. 36 Abs. 1 BRK) des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen nach Art. 34 BRK zur Auslegung der Konventionsbestimmungen und insbesondere zur Rechtslage in Deutschland führen zu keiner abweichenden Beurtei- 64 BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 69 ff., juris. 105 Menschenrechte und Gesundheit lung. Den Äußerungen des für die Abgabe solcher Stellungnahmen zuständigen Ausschusses zur Auslegung eines Menschenrechtsabkommens kommt erhebliches Gewicht zu, sie sind aber für internationale und nationale Gerichte nicht völkerrechtlich verbindlich (...). Eine Kompetenz zur Fortentwicklung internationaler Abkommen über Vereinbarungen und die Praxis der Vertragsstaaten hinaus kommt diesen Ausschüssen nicht zu (...). Es kann dahingestellt bleiben, ob die zu anderen völkerrechtlichen Vereinbarungen ergangenen Aussagen für alle Stellungnahmen des Ausschusses für die Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung in gleicher Weise gelten. Jedenfalls ist dem Ausschuss in den Art. 34 ff. BRK kein Mandat zur verbindlichen Interpretation des Vertragstextes übertragen worden. Bei der Vertragsauslegung sollte sich ein nationales Gericht aber mit den Auffassungen eines zuständigen internationalen Vertragsorgans in gutem Glauben argumentativ auseinandersetzen; es muss sie aber nicht übernehmen (vgl. - allerdings für Entscheidungen internationaler Gerichte - BVerfGE 111, 307,317 f; 128, 326,366 ff.,370; stRspr; Christian Tomuschat, Human Rights Committee, The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Bd. IV, 2012, S. 1058 ,1061, Rn. 14). Auch in der Sache stehen die Stellungnahmen des Ausschusses der nach deutschem Verfassungsrecht notfalls gebotenen ärztlichen Zwangsbehandlung nicht entgegen. Soweit der Ausschuss in seinen Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands vom 13. Mai 2015 (UN Doc. CRPD/C/DEU/CO/1) allgemein die Regelungen des Betreuungsrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch beanstandet und unter Verweisung auf seinen Allgemeinen Kommentar Nr. 1 (2014) (UN Doc. CRPD/C/GC/1 vom 19. Mai 2014) zu Art. 12 BRK fordert, alle ersetzenden Entscheidungen abzuschaffen und ein System der unterstützenden Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen (ebenda Nr. 25 f.), bleibt seine Kritik im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Fälle medizinischer Zwangsbehandlung unspezifisch. Insbesondere verhält sie sich nicht zu der im vorgelegten Fall maßgeblichen Frage eines gänzlich fehlenden freien Willens des Behinderten in einer medizinischen Notsituation. Entsprechendes gilt für die Leitlinien des Ausschusses zur Auslegung des Art. 14 BRK vom September 2015 (abrufbar unter www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CRPD/GC/Guidelines Article14.doc, zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2016). In ihnen betont der Ausschuss, dass bei Menschen mit Behinderungen keine Maßnahme der Gesundheitsversorgung vor- Alexander Schmid 106 genommen werden darf, wenn sie nicht auf dem freien und informierten Einverständnis der betroffenen Person beruht (ebenda Nr. 11). Der Ausschuss fordert die Staaten deshalb auf, jede Form der Zwangsbehandlung aufzugeben (ebenda Nr. 12). Auch hier gibt der Ausschuss keine Antwort auf die Frage, was nach seinem Verständnis des Vertragstextes mit Menschen geschehen soll, die keinen freien Willen bilden können und sich in hilfloser Lage befinden. Es spricht auch unter Berücksichtigung der Stellungnahmen des Ausschusses nichts dafür, dass diese Menschen nach Text und Geist der Behindertenrechtskonvention ihrem Schicksal überlassen werden sollten und die Konvention auch unter den hier von Verfassungs wegen geforderten strengen Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung entgegen steht, zumal auch nach den vorstehend dargelegten Forderungen des Verfassungsrechts und den geltenden Regeln des Betreuungsrechts das nationale Recht in Übereinstimmung mit der Behindertenrechtskonvention dem Grundsatz des Vorrangs des - gegebenenfalls unterstützten - Willens des Behinderten folgt.“ 65 Nachfolgend zu dieser Argumentation geht das BVerfG auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein: „Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt sich aus Art. 8 EMRK ein Recht, sein Leben so zu leben, wie man es selbst bestimmt hat. Das schließt auch die Möglichkeit ein, Dinge zu tun, die körperlich schädlich oder gefährlich sind. Die ärztliche Behandlung gegen den Willen von erwachsenen Patienten, die im Besitz ihrer geistigen Kräfte sind, würde selbst dann in die körperliche Integrität eingreifen und damit in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte, wenn die Ablehnung der Behandlung den Tod zur Folge hätte (...Hinweise auf Rspr. EGMR...). Voraussetzung dafür, dass Staat und Gesellschaft auch eine nach objektiven Maßstäben unvernünftige und eventuell zum Tod führende Entscheidung akzeptieren müssen, ist danach jedoch stets, dass diese auf dem Willen einer erwachsenen Person beruht, die im Besitz ihrer geistigen Kräfte ist. Trifft eine Person aber die Entscheidung nicht freien Willens und bei vollem Verständnis der Umstände, nimmt der Europäische Ge- 65 BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 88 ff., juris. 107 Menschenrechte und Gesundheit richtshof für Menschenrechte eine aus Art. 2 EMRK abgeleitete Verpflichtung des Staates an, diese Person davon abzuhalten, ihr Leben zu riskieren (...). Lehnt ein Patient eine medizinisch indizierte Behandlung ab, mit der Folge, dass sein Leben dadurch gefährdet wird, hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Staat für verpflichtet, hinreichende Vorkehrungen zu treffen, damit die behandelnden Ärzte beim Vorliegen von Indizien, die auf einen fehlenden freien Willen hindeuten, die Entscheidungsfähigkeit der betroffenen Person weiter aufklären (...). Ein Widerspruch der Europäischen Menschenrechtskonvention zu dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unter den dargelegten Bedingungen folgenden Gebot einer medizinischen Zwangsbehandlung hilfsbedürftiger Betreuter (oben a bb, Rn. 71 ff.) kann Art. 2, 8 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof danach nicht entnommen werden.“ 66 Aufgrund dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber § 1906 BGB im Juni 2017 so geändert, dass nunmehr auch Personen, die nicht untergebracht sind, sich aber im Rahmen einer stationären Einrichtung nicht selbst fortbewegen können, einer Zwangsbehandlung unterzogen werden können. 67 Sowohl in § 1906 Abs. 3 BGB a.F. als auch in der Neureglung ist eine Zwangsbehandlung nur als ultima ratio zulässig. 3. Zwischenstand auf dem Weg zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland Damit ist in der juristischen Diskussion durch die Rechtsprechung und die eben erwähnte Gesetzesänderung 68 ein Zwischenstand auf dem Weg zur Umsetzung der UN-BRK in deutsches Recht erreicht. Die an der UN-BRK orientierte fachwissenschaftliche, insbesondere juristische und medizinische Diskussion über die Zulässigkeit der Zwangsbehandlung und deren konkrete Umsetzung ist damit nicht zu Ende. 69 Wir befinden uns vielmehr auf einer weiteren 66 BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 99 ff., juris. http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/795/79586.html [19.10.2017]. 68 Siehe hierzu auch: Antwort der Bundesregierung auf eine „Kleine Anfrage“ zu „Die Ausübung von Zwang in psychiatrischen Einrichtungen“, BtDrs. 18/11259, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/116/1811619.pdf [19.10.2017]. 69 Siehe beispielsweise die Tagungen des Betreuungsgerichtstages und die Stellungnahmen des BGT: www.bgt-ev.de/fileadmin/Mediendatenbank/Stellungnahmen/201567 Alexander Schmid 108 Windung der oben erwähnten Diffusionsspirale. Dieser Gewindegang wird durch den nächsten Staatenbericht über die Umsetzung der UN-BRK, den Parallelbericht der MonitoringStelle und nicht zuletzt durch die Empfehlungen und Berichte des UN-Ausschusses beeinflusst werden. Ziel dieses aus einem Vortrag entstandenen Beitrages kann es daher auch nicht sein, die eben angesprochenen Fragen abschließend zu bearbeiten. Vielmehr sollte an diesem Beispiel die Bedeutung der konkreten Arbeit mit Menschenrechten für die Weiterentwicklung der Rechtsprechung und Gesetzgebung sein. In sehr erfreulicher Weise hat das BVerfG in der o.g. Entscheidung die zentrale Bedeutung der UN-BRK und die Arbeit des UN-Ausschusses herausgestellt. Zumindest bei der Auslegung des deutschen Rechts muss auch die Praxis diese Vorgaben beachten. 4. Weitere Fragestellungen Gerade in der Praxis der Zwangsbehandlung werden aber von der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer Mängel benannt. 70 In diesem Zusammenhang ist auch die Stellungnahme eines Chefarztes im Rahmen des o.g. Gesetzgebungsverfahrens zur Neuregelung der Zwangsbehandlung beachtenswert. Darin wird belegt, dass mit ausreichenden Ressourcen Zwangsbehandlungen tatsächlich nur noch in wenigen Einzelfällen vorgenommen werden. 71 Allgemein stellt sich auch hier die Frage, in wieweit § 630 e Abs. 5 BGB in der Praxis angewendet wird: „Im Fall des § 630d Absatz 1 Satz 2 (Hinweis d.Verf: einwilligungsunfähiger Patient) sind die wesentlichen Umstände nach Absatz 1 auch dem Patienten entsprechend seinem Verständnis zu erläutern, soweit dieser aufgrund seines Entwicklungsstandes und 2017/170416_Aenderung_materieller_Zulaessigkeitsvoraussetzungen.pdf; www.bgtev.de/unterbringung.html [19.10.2017]. 70 www.bgtev.de/fileadmin/Mediendatenbank/Themen/Unterbringung/Stellungnahme_Zentrale_Kommission.pdf, [19.10.2017] Dt. Äbl. 2013, A 1335. 71 Zinkler, Kliniken Landkreis Heidenheim gGmbH Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Stellungnahme zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten - BT-Drucksache 18/11240, 20.04.2017; www.bundestag.de/blob/504234/da0474e0d034610f8ff4ec87ba87b43f/zinkler-data.pdf [19.10.2017]. 109 Menschenrechte und Gesundheit seiner Verständnismöglichkeiten in der Lage ist, die Erläuterung aufzunehmen, und soweit dies seinem Wohl nicht zuwiderläuft. (...)“ Das BVerfG hat zudem die Aufgaben benannt, die für die weitere Entwicklung der Menschenrechte im Bereich der Zwangsbehandlung wichtig sind. Zwar hat der UN-Ausschuss betont, dass bei Menschen mit Behinderungen keine Maßnahme der Gesundheitsversorgung vorgenommen werden darf, wenn sie nicht auf dem freien und informierten Einverständnis der betroffenen Person beruht, im Text des Ausschusses gibt es jedoch keine Antwort auf die Frage, was nach seinem Verständnis des Vertragstextes mit Menschen geschehen soll, die keinen freien Willen bilden können und sich in hilfloser Lage befinden. 72 Eine der Fragen, die sich hier stellen, ist diejenige nach den Möglichkeiten der unterstützten Entscheidungsfindung im Betreuungsrecht. 73 Eine weitere Frage erforscht, welchen Stellenwert Vorausplanung und Vorausverfügungen in der Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen haben und damit Zwangsbehandlungen vermieden oder zumindest eingeschränkt werden können. 74 Keinesfalls vergessen werden dürfen dabei die Sicht und die Erfahrungen der Betroffenen. 75 III. Ausblick Auch wenn der Menschenrechtsschutz in Deutschland einen hohen Standard besitzt, darf die Arbeit mit den Menschenrechten nicht vernachlässigt werden. Gerade das Verfahren zu den Staatenberichten zeigt, wie wichtig der Austausch der nationalen Sichtweise mit der internationalen Ebene ist. Es bleibt zu hoffen, dass die wichtige Auseinandersetzung des BVerfG mit den Vorgaben der UN-BRK zu Zwangsbehandlungen fortgeführt und damit sowohl national als auch international die Rechtsentwicklung vorangebracht wird. Es muss zudem darauf geachtet werden, dass Menschenrechte in allen relevanten Gesetzgebungsprozessen Beachtung 72 Siehe oben und: BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 99 ff., juris. Mayrhofer, Modelle unterstützter Entscheidungsfindung Beispiele guter Praxis aus Kanada und Schweden, www.irks.at/assets/irks/IRKS_WP16_Unterstützte-Entscheidungsfindung.pdf; Siehe auch: Unterstützen und Vertreten, Positionspapier des Betreuungsgerichtstages e. V; Bühler; Stolz; Ärztliche Behandlung und „unterstützte Entscheidungsfindung“ – Betreuung entbehrlich?, BtPrax 2017, 167-172 https://btdirekt.de/images/dateien_pdf/Unterstuetzen_Vertreten_140915.pdf [19.10.2017]. 74 Borbé, Behandlungsvereinbarungen, Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen, in: Zinkler (Hrsg.); Laupichler (Hrsg.); Osterfeld (Hrsg.); Prävention von Zwangsmaßnahmen (2016), S. 199 ff. 75 www.psychiatrie-erfahrene-nrw.de/politisches/abschaffung_zwangsbehandlung.html [19.10.2017] www.bpe-online.de [19.10.2017]. 73 Alexander Schmid 110 finden und in die Begründung von Gesetzesentwürfen aufgenommen werden. Sinnvoll wäre ein regelhaft zu berücksichtigender Gliederungspunkt in Gesetzesbegründungen, ob und in wieweit Menschenrechte vom aktuellen Gesetzesvorhaben berührt werden. In der Praxis ist darüber hinaus die Bedeutung der Menschenrechte sowohl für die Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften als auch für die Ermessensentscheidungen der Verwaltung zu stärken. Soziale Diagnostik und sozialpädagogisches Fallverstehen (Forschungskolloquium) Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit Julia Gebrande 1. Klinische Sozialarbeit Die Soziale Arbeit ist – wie in diesem Band deutlich wird – eine wichtige Profession und Disziplin in der Sozialpsychiatrie und in vielen weiteren Arbeitsfeldern des Gesundheitswesens. Allgemeine Konzepte Sozialer Arbeit bedürfen für ihre Praxis im Umgang mit Gesundheit und Krankheit der Entwicklung einer besonderen fachlichen Spezialisierung, um den Anforderungen einer psychosozialen Beratung, Behandlung und Prävention gerecht zu werden. Aus diesem Grund wurde analog zur ‚Klinischen Psychologie‘ der Begriff der ‚Klinischen Sozialarbeit‘ entwickelt, um eine Fachsozialarbeit zu beschreiben. Es handelt sich also nicht (einem verbreiteten Missverständnis zur Folge) um eine Soziale Arbeit in der Klinik, sondern um jede „direkt beratend-behandelnde Tätigkeit in der Fallarbeit, unabhängig davon, ob dies in Praxen, ambulanten Beratungsstellen, in Tageseinrichtungen oder in Kliniken und Langzeiteinrichtungen stationär erfolgt“ (Pauls 2013, S.16). Von Klinischer Sozialarbeit wird ganz allgemein also dann gesprochen, „wenn die Soziale Arbeit in Behandlungskontexten erfolgt und eigene Beratungs- und Behandlungsaufgaben wahrnimmt. Ausgehend von einem bio- psycho- sozialen Grundverständnis von Gesundheit, Störung, Krankheit und Behinderung liegt ihr Fokus auf der psychosozialen Diagnostik, Beratung und Behandlung von Personen im Kontext ihrer Lebenswelt.“ (Sektion Klinische Sozialarbeit, 2017) Klinische Sozialarbeiter_innen handeln dabei in einem breiten Spektrum von gesundheitsrelevanten Themen: Zielgruppen Klinischer Sozialarbeit sind Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie mit chronischen körperlichen Krankheiten und Behinderungen, Gewaltopfer und Gewalttäter, traumatisierte Personen (z. B. nach Gewalterfahrung oder Missbrauch) bzw. ganz allgemein Menschen in schweren Belastungen und Krisen, deren Be- 113 Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit dürfnisse nach Zuwendung und Unterstützung, nach Aufklärung, Begleitung, Beratung und Behandlung im Zentrum stehen. 1 „Nötig sind dafür Wissen, Können und eine professionelle Haltung; diese muss ‚klinisch‘ in dem Sinne sein, dass der diagnostische Blick und eine therapeutische ‚Awareness‘ zum Habitus wird, – ohne die Person zum Objekt zu machen und ohne ihre soziale Einbettung zu vernachlässigen.“ (Sektion Klinische Sozialarbeit, 2017) Nach Pauls (2013, S. 16) bestehen die Ziele der Klinischen Sozialarbeit in der Förderung sowie der Verbesserung oder Erhaltung der psychosozialen Funktionsfähigkeit von Individuen, Familien und Gruppen. Durch ihren Fokus auf „lebenspraktische Hilfen, die zu einer positiven Veränderung von Wohn-, Arbeits- und Beziehungsverhältnissen beitragen“ (Mosser & Schlingmann 2013, S.14) können, stellt die Soziale Arbeit im Gesundheitswesen und insbesondere die Klinische Sozialarbeit eine wichtige Ergänzung zu den traditionellen Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit dar, die sich allerdings bislang nicht in der gesellschaftlichen Anerkennung und entsprechenden Bezahlung im Vergleich zu den offiziell anerkannten Heilberufen (wie Arzt/Ärztin, Psychiater/Psychiaterin, Psychotherapeut/Psychotherapeutin) niederschlägt. Hintergrund sind die traditionell tendenziell unterschiedlichen Logiken, Herangehensweisen, Methodologien und Forschungstraditionen der Handlungsfelder der Sozialen Arbeit im Vergleich zu den Handlungsfeldern von Psychiatrie und Psychologie. Während die psychiatrischpsychologische Forschung eher komplexitätsreduzierend, symptom- und ergebniszentriert vorgeht, versucht die sozialarbeiterische bzw. sozialpädagogische Forschung eher, die Komplexität zu erhalten, den Einzelfall zu berücksichtigen sowie system- und prozessorientiert zu handeln (Schmid 2012, S. 110ff; Gebrande 2017c, S. 316ff), wie nachfolgende pointierte Gegenüberstellung verdeutlicht. 1 Es existieren viele Begrifflichkeiten und Definitionen, die die Zugänge, Arbeitsansätze, Konzepte und Methoden der Klinischen Sozialarbeit konkretisieren, wie beispielsweise Sozialtherapie, Soziale Therapie, Soziotherapie oder soziale Interventionen. In manchen Arbeitsfeldern haben sich bestimmte Bezeichnungen stärker durchgesetzt (wie z.B. in der Behandlung von Sucht und Abhängigkeit, in der die Soziale Arbeit mit der Sozialtherapie traditionell stark verankert ist), teilweise werden sie aber auch synonym verwandt. Julia Gebrande 114 Tabelle 1: Sozialpädagogische und psychiatrisch-psychologische Forschungstradition (Schmid 2012, S. 111) Daraus leitet sich meines Erachtens auch direkt die erweiterte Mandatierung der Sozialen Arbeit ab, die sowohl die personenzentrierte Hilfe für den Einzelnen (im Sinne einer Fokussierung des Verhaltens) als auch die Änderungen der Lebensbedingungen und der Gesellschaft (im Sinne einer Fokussierung der Verhältnisse) beinhaltet. Soziale Arbeit findet sich somit in einem Spannungsverhältnis unterschiedlicher Aufträge: Einerseits soll sie gesellschaftliche Befriedung herstellen, gesellschaftliche Funktionen stabilisieren und Menschen in die Gesellschaftsverhältnisse einpassen. Andererseits geht es um Teilhabe und faire Bedingungen, indem die Gesellschaft diskriminierungs-, herrschaftskritisch, gerechtigkeits- und menschenrechtsorientiert verändert wird (Gebrande/Melter/Bliemetsrieder 2017, S. 390ff). Silvia StaubBernasconi hat dieses berufliche Doppelmandat zum professionellen Tripelmandat erweitert. Das dritte Mandat Sozialer Arbeit stellt den wissenschaftlichen und politischen Anspruch, dass Soziale Arbeit für eine gerechtere Welt und für die Entfaltung der Menschen agieren soll. Es umfasst daher einerseits eine Wissenschaftsbasierung ihrer Arbeitsweisen sowie andererseits den gesetzlichen Auftrag in Grundgesetz und den Sozialgesetzen sowie dem internationalen Code of Ethics, dessen Kern die Menschenwürde, die Menschenrechte und das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit bilden (vgl. Staub-Bernasconi 2010, S. 198 ff.). Eine Klinische Sozialarbeit benötigt daher Wissen und Fertigkeiten, die eine kritische Nutzung von phänomenologischen, deskriptiven Verfahren der klassifikatorischen Diagnostik mit 115 Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit dialogisch orientierten Aspekten von Biographie und Lebenswelt kombinieren (vgl. auch Gahleitner u. a. 2014, Gebrande 2017b). Ein Beispiel für die klassifikatorische Diagnostik ist die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme in der 10. Revision (ICD-10). Zu Recht wird sie für Normalitätskonstruktionen, Ethnozentrismen sowie für die Prägung durch Macht- und Lobbyinteressen kritisiert. Nichts desto trotz stellt sie aber eine wichtige Grundlage für relevante Hilfeentscheidungen und Finanzierungsprozesse im deutschen Gesundheitssystem und damit auch für die Soziale Arbeit mit Menschen mit Erkrankungen dar (vgl. Gahleitner u. a. 2014, DIMDI 2016). Sozialarbeitende benötigen für Kooperationen im Gesundheitswesen auf Augenhöhe Grundkenntnisse über diagnostische Verfahren und Klassifikationssysteme, gleichzeitig sollten sie aber auch einen kritischen Blick auf die Gefahren einer Vereindeutigung und Stigmatisierung durch Diagnosen werfen und ihre ergänzende, ganzheitliche Perspektive auf die Menschen in ihren sozialen Beziehungen und in ihren gesellschaftlichen Verwobenheiten einbringen. Es ist in der Klinischen Sozialarbeit zentral, ganzheitlich vorzugehen und unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen, um einen umfassenden Bewältigungs- bzw. Heilungsprozess in die Wege zu leiten. Dabei sollten fachliche Aspekte eines biopsychosozialen Gesundheitsmodells ebenso einfließen wie die Perspektive der Betroffenen selbst als auch die ihres sozialen Umfeldes. Im Folgenden möchte ich am Beispiel der Diagnostik der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) das Spannungsverhältnis und die Vor- und Nachteile von Diagnostik verdeutlichen. 2. Die Geschichte der Anerkennung der Folgen von Traumatisierung Ein Blick in die Geschichte zeigt das Wechselspiel zwischen der Thematisierung und der Tabuisierung von Traumatisierungen. Die amerikanische Psychiaterin und Professorin an der Harvard Medical School Judith Lewis Herman beschrieb schon in den 1990er Jahren eine „periodische Amnesie“, wonach auf „Zeiten intensiver Forschungstätigkeit […] immer wieder Zeiten [folgten], in denen das Thema in Vergessenheit geriet“ (Herman 1994, S.17). Ihren Ausführungen zufolge lassen sich diese Wellenbewegungen auf die zentrale Dialektik des psychischen Traumas zurückführen. Sie besteht aus dem Konflikt „zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen“ (Herman 1994, S.9); dieser Konflikt wirkt nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene. Bereits Sigmund Freud, der Pionier der Psychoanalyse, entdeckte beispielsweise Julia Gebrande 116 in seinen frühen Jahren die Ursachen der Hysterie aufgrund der Erfahrungen mit seinen (meist weiblichen) Patientinnen und postulierte sie als Folge von realer sexueller Traumatisierung. Er stellte „die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich […] ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören.“ (Freud 1896, S.439) Aufgrund der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Ablehnung sowie den „drastischen sozialen Konsequenzen“ (Herman 1994, S. 26) nahm er seine Überlegungen aber wieder zurück und entwickelte stattdessen seine Theorie, wonach die Berichte seiner Patientinnen Produkte inzestuöser, frühkindlicher Phantasien seien. Mit dieser Abkehr von der Behauptung, dass sexuelle Übergriffe Realität und Alltag sind, konnte er seine Reputation retten und „aus den Trümmern seiner Theorie zur Entstehung der Hysterie durch frühe Traumatisierung“ die Psychoanalyse und seine Triebtheorie schaffen (Herman 1994, S. 27). In der Folge waren Traumatisierungen durch sexualisierte Gewalterfahrungen wieder ein Tabu. Genauer gesagt: Nicht der sexuelle Missbrauch, sondern die Thematisierung desselben war ein Tabu (Enders 2014, S.11; Gebrande 2017a, S. 301). Auch die Traumatisierungen durch Opfer- und Tätererfahrungen von Soldaten, die durch die Kriege im 20. Jahrhundert entstanden sind, wurden lange Zeit geleugnet. Obwohl die Männer, die in den Schützengräben die Schrecken des Krieges erlebt hatten, in erschreckend hoher Zahl zusammenbrachen und „ein der Hysterie sehr ähnliches neurotisches Syndrom“ (Herman 1994, S. 35) entwickelten, wurden Soldaten mit Symptomen posttraumatischer Belastung (sogenannter „Kriegsneurosen“) sowohl im ersten und zweiten Weltkrieg als auch später im Vietnamkrieg als „Drückeberger“, „Feiglinge“ oder „Rentenjäger“ verunglimpft und es wurde der Zusammenhang von körperlichen und psychischen Verletzungen infrage gestellt. Die Folge dieser Tabuisierung männlicher Schwäche war, dass psychisch verwundete Soldaten eher als „Deserteure“ und „Verräter“ betrachtet wurden und ihnen eine Anerkennung als „Patienten“ verwehrt wurde. Gegen diese Vorstellungen und Praktiken gab es aber zunehmend Widerstand: Die Vereinigung der Vietnamveteranen verschaffte sich in den USA mehr und mehr Gehör (Herman 1994, S. 34 ff). Ebenso stellte die Forschung zu Überlebenden der Shoah den linearen Zusammenhang der psychischen Zerstörung durch die Erfahrung von realem Horror in den Konzentrationslagern der Nazis dar. Unter dem Begriff des sogenannten „survivor-syndrome“ konnte der Nachweis einer Kausalbeziehung zwischen traumatischen Erfahrungen und psychischen Folgen ein- Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit 117 drücklich belegt werden. In der Wissenschaft und insbesondere im Gesundheitswesen wurden diese Forschungen allerdings ignoriert oder bestritten. Gutachten konservativer deutscher Psychiater sahen die Gründe für psychische Auffälligkeiten eher in der „schwachen Konstitution” der Überlebenden als in den traumatisierenden Erlebnissen. (Niederland 1980; Kestenberg 2016) Eine gemeinsame Initiative der amerikanischen Frauenbewegung, die seit den 1970er Jahren auf die traumatischen Folgen der alltäglichen häuslichen, körperlichen und sexualisierten Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam gemacht hat und der Vereinigung der Vietnamveteranen kämpfte für die Anerkennung der „Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)“ 2 als psychische Störung. Für sie war klar: „Vergewaltigungsopfer und Kriegsveteranen, mißhandelte Frauen und politische Gefangene, Inzestopfer und Geiseln, Menschen, die in Konzentrationslagern überlebt haben oder Menschen, die dem privaten Terror eines allmächtigen Familiendespoten ausgeliefert waren – sie alle haben etwas gemeinsam. Sie alle leiden an den Folgen ihrer traumatischen Erfahrungen, und sie weisen – so unterschiedlich sie im einzelnen [sic!] die Gewalteinwirkung auch erlebt haben mögen – eine große Anzahl identischer Symptome auf: ein Leidensmuster, das geprägt ist von Angst und Hilflosigkeit, von Alpträumen, Depression und Selbstverlust, von Schlaflosigkeit und Panikattacken und vor allem von einem fast unüberwindlichen Scham- und Schuldgefühl.“ (Herman 1994, Umschlagtext) Der griechische Begriff Trauma, der zunächst einmal einfach „Wunde“ bedeutet, kann nicht nur körperliche, sondern auch seelische Verwundungen (Psychotrauma) beschreiben. Doch erst 1980 fand die Diagnose erstmals Eingang in das international bedeutsame amerikanische Diagnose-Manual DSM III, das von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben wird und 1991 zog die International Classification of Diseases (ICD-10) der WHO nach. In beiden Manualen ist sie die einzige Störung, in der die Ätiologie zur Diagnose dazugehört: Eine PTBS kann nur dann diagnostiziert werden, wenn ein traumatisches Erlebnis (AKriterium nach F 43.1, ICD 10) vorliegt, das als „ein Ereignis außergewöhnlicher hung 3“ definiert wird, „das bei nahezu jedem Menschen tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde“ (DIMDI 2016). 2 Posttraumatic Stress Disorder (PTSD). Herman stellt in diesem Zusammenhang klar, dass traumatische Ereignisse nicht deshalb außergewöhnlich sind, „weil sie selten sind, sondern weil sie die normalen Anpassungsstrategien des Menschen überfordern“ (Herman, 1994, S. 53). 3 Julia Gebrande 118 Damit wurde „endlich anerkannt, dass Ereignisse wie Krieg, Verfolgung und Naturkatastrophen – selbst bei physischer Unversehrtheit – schwerwiegende psychische Folgen nach sich ziehen können. Behandlungszentren für Traumaopfer existieren inzwischen in fast allen reichen Ländern. Aber auch in den Kriegs- und Krisengebieten sind im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit unzählige Projekte entstanden, die versuchen, den Traumatisierten zu helfen.“ (Becker 2014, S.7) Die Psychotraumatologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit den Folgen und Behandlungsmöglichkeiten eines psychischen Traumas befasst. Dabei ist die Haltung der Fachkräfte ganz entscheidend für die Unterstützung des Heilungsprozesses. Eine zentrale Botschaft sollte die Arbeit mit traumatisierten Menschen prägen: Traumatisiert worden zu sein, ist an und für sich keine Störung oder Krankheit. Menschen, die eine traumatische Situation erleben mussten, die überlebt haben, brauchen in ihrem Verarbeitungsprozess kritisch ambitionierte Unterstützung durch ein Netzwerk von unterschiedlichen Berufsgruppen (Gebrande 2017b, S. 65). „Viele Menschen erholen sich von alleine oder mit pädagogischer, beraterischer und/oder medizinischer sowie therapeutischer Unterstützung. Wenn sie aber mit ihrer traumatischen Erfahrung alleine gelassen werden und ihr Leid nicht als Unrecht anerkannt wird, dann steigt die Missachtung und Gefährdung ihrer physischen, psychischen, kognitiven, moralischen, sozialen und rechtlichen Integrität.“ (Gebrande 2017b, S. 65) Alle Berufsgruppen im Gesundheitswesen sind hier in der Pflicht, ihren Beitrag für die Versorgung, Behandlung und Anerkennung traumatisierter Menschen zu leisten. Entgegen der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit erfüllt die Klinische Sozialarbeit mit ihren Handlungsansätzen, Konzepten und Methoden der traumasensiblen, psychosozialen Beratung, der Traumapädagogik und der Stabilisierung in den breitgefächerten Arbeitsfeldern des Gesundheitswesen, der Sozialpsychiatrie und der Beratungs- und Anlaufstellen einen Hauptanteil an der Arbeit mit traumatisierten Menschen. 4 (Gahleitner 2011) 4 Lange Zeit standen die Psychiatrie und Psychotherapie für die Arbeit mit Traumatisierten weitgehend alleine in der Verantwortung und bis heute existiert die Vorstellung, dass alleine eine Traumatherapie „wirklich helfen“ könne, aber durch die Erkenntnis des hohen Stellenwertes des Alltags für die Stabilisierung rückte nach und nach die Soziale Arbeit und die (Trauma-)Pädagogik in den Fokus. Denn nach Handtke (2012) könne Stabilisierung überall stattfinden, und mit jeder Stabilisierung im Alltag würde auch die Integration der Traumaerinnerungen vorangetrieben. Es ist daher an der Zeit, „sich von einer Sichtweise zu verabschieden, der zufolge sozialarbeiterische Hilfen dem medizinischen System ‚zuarbeiten‘ müssen“ (Mosser & Schlingmann 2013). Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit 119 3. Vor- und Nachteile von Klassifikationen An dieser Geschichte um den langwierigen Kampf für die Anerkennung von Leiden, die durch Krieg, Verfolgung, Folter, Gewalt oder andere von Menschenhand absichtlich herbeigeführte Verletzungen entstanden sind 5, kann deutlich abgelesen werden, wie wichtig für Überlebende die gesellschaftliche Anerkennung für den individuellen Heilungsprozess ist. Fischer und Riedesser weisen in diesem Zusammenhang auf die soziale Dimension von Traumata hin: „Unterliegen diese [die traumatischen Erfahrungen, Anmerkung JG] der gesellschaftlichen Verdrängung, Ausgrenzung oder gar Missachtung, weil sie durch ihr Leid an die „Katastrophe“ erinnern, so ist für sie die traumatische Situation noch keineswegs beendet“ (Fischer & Riedesser 2009, S. 65f.). Daher können auch Diagnosen zur Anerkennung von Leid beitragen, wenn sie nicht benutzt werden, um die traumatischen Erfahrungen und das daraus entstandene Leid zu individualisieren, zu pathologisieren und zu entpolitisieren. Folglich ist die Diagnose zunächst einmal ein wichtiger Bezugspunkt, denn „nur über sie gibt es eine ‚offizielle‘ Anerkennung für Leiden durch Gewaltfolgen“ (Brenssell 2013, S.6). Zudem sind an Diagnosen entlang der internationalen Klassifikationssysteme mögliche Leistungsansprüche im Sozial- und Gesundheitsrecht gekoppelt und entscheiden beispielsweise über Kostenübernahmen von (Trauma-)Therapien durch die Krankenkassen oder Rententräger. Weitere Vorteile können in der Orientierung und Reduktion von Komplexität und der (scheinbaren) Eindeutigkeit von Diagnosen bestehen, was zu einer Minderung von Angst und Verunsicherung beitragen kann (Ningel 2011). Die Vermittlung von Wissen und Informationen, um ein Verständnis und einen besseren Umgang mit einer Krankheit oder einer aktuellen Belastungssituation zu fördern und die Bewältigung zu unterstützen, wird als „Psychoedukation“ bezeichnet. Symptome, Reaktionen oder Verhalten nach Traumatisierungen werden häufig als beängstigend, unverständlich oder auch beschämend empfunden. Dieses zu verstehen 5 Diese Verletzungen (sogenannte man-made-Traumata) hinterlassen aktuellen Forschungen zufolge auch tiefere psychische Wunden als akzidentelle, unabsichtliche Traumatisierungen wie sie beispielsweise durch einen Unfall oder eine Naturkatastrophe entstehen können (DeGPT, o.J.). Die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) hat gemeinsam mit der Elfriede-DietrichStiftung ein dreiteiliges Filmprojekt erstellt, der Betroffene und Angehörige, professionelle Helfende und die Öffentlichkeit über Traumata sensibilisiert und informiert (http://www.e-dietrichstiftung.de/das-filmprojekt.html). Julia Gebrande 120 und richtig einzuordnen, wird deshalb oft als hilfreich und entlastend erlebt 6 (vgl. Liedl/Schäfer/Knaevelsrud 2013, Gebrande 2017c). Genaue Diagnosen ermöglichen zudem die Ableitung von Behandlungsmaßnahmen, die Berücksichtigung von Kontraindikationen sowie die Bestimmung möglicher Prognosen. Last but not least stellen sie eine Verständigungsbasis zwischen Expert_innen und Adressat_innen sowie dem Umfeld (Institutionen/Forschung) her und ermöglichen internationalen Austausch und Forschung. Sie sind damit eine wichtige Grundlage für Lehre, Wissenschaft und Forschung (Ningel 2011). Gleichzeitig müssen aber auch die Grenzen und Gefahren durch Klassifikationen betrachtet werden: Die scheinbare Eindeutigkeit psychischer Störungen wird der Komplexität psychischer Erkrankungen nicht gerecht und suggeriert eine Abgrenzung der Störungen untereinander und vom "Normalen", die in dieser Form gar nicht existieren kann, da die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung immer fließend sind und stark durch gesellschaftliche Werte und Normen beeinflusst werden, die sich immer wieder verändern. 7 Hinzu kommt ein bis heute mangelndes Wissen über die Entstehung (Ätiologie) psychischer Abweichungen. Insgesamt werden auch die Qualitätskriterien von Diagnostik kritisch beurteilt: So können eine mangelnde Validität und Zuverlässigkeit sowie eine mangelnde (Interrater-)Reliabilität zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen und Interpretationen führen (Ningel 2011). Die medizinisch orientierte Diagnosepraxis von traumatischen Belastungen führt in mehreren Dimensionen zu einer Reduktion und diagnostische Instrumente können die Komplexität des Zusammenspiels von (traumatischen) Lebensereignissen, subjektiver Belastung und daraus entstehenden Auswirkungen gar nicht erfassen. Ein Trauma wäre demzufolge das, „was die Erhebungsinstrumente zur Erfassung der posttraumatischen Belastungsstörung messen“ (Mosser & Schlingmann 2013, S.7). Auch die allgemeine Ausrichtung und einseitige Perspektive der (Psycho-)Pathologie wird angefragt – wo bleibt der Blick auf die Stärken und Ressourcen, wenn immer nur auf das Fehlende, Abweichende, Mangelhafte oder gar Gestörte gerichtet wird? So müssen natürlich auch 6 Gleichzeitig kann aber auch diese Intervention zu einer Hierarchisierung beitragen und birgt „die Gefahr einer Art ‚Entmündigung‘ hilfesuchender Menschen“ (siehe dazu auch Mosser & Schlingmann 2013; Gebrande 2017c). 7 Beispielsweise wurde Homosexualität bis 1973 von der American Psychiatric Association (APA) in ihrem Manual der psychischen Störungen (DSM) und sogar bis 1992 von der WHO in der International Classification of Diseases (ICD) als Diagnose einer psychischen Störung geführt. Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit 121 Prozesse der Stigmatisierung und mögliche Auswirkungen im Sinne sich selbsterfüllender Prophezeiungen in den Blick genommen werden, wenn über Sinn und Zweck von Diagnostik verhandelt wird. Gerade durch die (scheinbar) eindeutige Klassifikation kann es zu einer Verschärfung von Vorurteilen, Diskriminierung und Exklusion für Betroffene kommen und daher kann eine Diagnose auch Angst und Verunsicherung verstärken (Ningel 2011). Zudem hat es natürlich auch Folgen für die Beziehung im Sinne hierarchischer Machtgefälle. Wer hat die Expertise und die Macht, abweichendes Verhalten zu diagnostizieren? Was macht diese Etikettierung mit Betroffenen? (Ningel 2011) So pointiert Weber seine Forderung nach Selbstbestimmung und Autonomie: „Wer die ganz auf das professionelle Handeln zugeschnittene Klinik betritt, begibt sich in die Obhut der Ärzte und vertraut sich fast von selbst deren Handlungsvollzüge und Intentionen an, statt auf die eigene Kompetenz, Selbstbestimmung und die eigenen Vorstellungen und Wünsche zu vertrauen.“ (Weber 2005, S.98) Hinzu kommen – insbesondere bei Traumatisierungen – das Problem der Individualisierung und bestimmte Ausblendungen und Entnennungen. Ariane Brenssell benennt in ihrem Vortrag „Trauma als Prozess – Wider die Pathologisierung struktureller Gewalt und ihrer innerpsychischen Folgen“ (2013) 8 eine Kette von Ausblendungen, die der alleinige Bezug auf psychiatrische Trauma-Diagnosen zur Folge haben kann:  Menschen, die Gewalt erlebt haben, werden zu traumatisierten Menschen.  Mit ihnen werden Bilder von Störung und Krankheit verbunden.  Die Diagnose-Sprache verschiebt soziale, gesellschaftliche Probleme zu klinischen.  Sie werden an die Medizin delegiert.  Probleme werden herausgelöst aus der gesellschaftlichen Situation.  Das geschieht „Guten Gewissens“, denn es ist ja jemand ‚anderes‘ dafür zuständig.  Damit bleiben die gewaltförmigen Verhältnisse ,quasi‘ normal.  Der Normalzustand, der Gewalt produziert und fortsetzt, bleibt unangetastet 8 Das Manuskript des Vortrages auf der Fachtagung „Trauma und Politik“ am 24. Januar 2013 in Frankfurt am Main ist im Internet verfügbar https://www.medico.de/fileadmin/_migrated_/document_media/1/trauma-als-prozess.pdf [16.02.2018]. Julia Gebrande 122 Die Folgen von Gewalt werden also als etwas Individuelles betrachtet. Während die Symptome und deren Bewältigung im Vordergrund stehen, werden der Kontext und die Auslöser für diese Reaktionen häufig vernachlässigt. Viele Traumatisierungen sind zwar die Folge von gesellschaftlich bestimmten Machtverhältnissen und Dominanz und Ungleichheitsstrukturen in Form von struktureller Gewalt und Diskriminierung, werden aber als „Einzelschicksal“ individualisiert und entkontextualisiert (Gebrande 2017b, S. 51ff). So kann es zu einer Entpolitisierung der Traumatisierung kommen, weshalb David Becker (2014) der scheinbaren Anerkennung der Traumathematik sehr kritisch gegenüber steht. „Statt mehr vom Leid der Subjekte in verschiedenen Kulturen und Kontexten zu erfahren, hören wir eigentlich immer einheitlichere und gleichförmigere Klischees. Trauma wird adjektivistisch gebraucht, gleichbedeutend mit schlimm oder schrecklich. Statt dass der Bezug zwischen sozialpolitischen und intrapsychischen Prozessen deutlicher geworden und besser verstanden worden wäre, gibt es heute eine im Wesentlichen eng psychiatrisch, ausschließlich symptomorientiert argumentierende Traumaforschung und eine damit verknüpfte Behandlungspraxis, die ihren extrem reaktionären Charakter hinter einer angeblich apolitischen Haltung verbirgt.“ (Becker 2014, S. 8) Er fordert ein Umdenken in Bezug auf den Umgang mit sozialpolitischen Traumatisierungsprozessen, einen radikalen Veränderungsprozess in Theorie und Praxis sowie neue Wege der Reflexion über traumatische Prozesse, um Traumaforschung nicht länger als Krankheitslehre weiterzuentwickeln und die „Flüchtlingsproblematik in Deutschland“ nicht länger zu psychologisieren. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Traumadiagnose als ein politisches Problem und die daraus resultierende Forderung nach einer kontextualisierten Beschreibung traumatischer Prozesse unter Berücksichtigung der spezifischen politischen Verhältnisse sowie der verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexte statt einer universellen, weltweiten Traumadefinition. Diese Überlegungen münden in die Frage, ob wir eine Sprache finden können, die das Leid der Menschen anerkennt, ohne sie deshalb zu Verrückten zu stempeln. (Becker 2014) Dabei ist inzwischen klar erwiesen, dass die äußeren Bedingungen einen wesentlichen Einfluss auf die Verarbeitung von Traumafolgen haben. Mit Bezug auf Hans Keilsons Theorie der sequentiellen Traumatisierung kann Trauma als ein mehrstufiger Prozess beschrieben werden. Er hat in seiner Langzeitstudie über das Schicksal von niederländischen Kriegswaisen ein Prozessverständnis von Traumatisierung entwickelt: Eine Traumatisierung kann nach Keilson nicht als ein einzelnes singuläres Ereignis mit pathologischen Folgen angesehen werden, sondern als ein Prozess, auf den viele Faktoren Einfluss nehmen. Hans Keilson fand da- Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit 123 bei heraus, dass die Zeit nach den ursprünglichen Gewalterfahrungen entscheidend ist für den weiteren Verlauf der kindlichen Entwicklung und die Schwere der traumatischen Folgeschäden. Es sind also nicht einfache Folgereaktionen auf Ereignisse, sondern der Blick wird auf die Folgezeit und das umgebende Milieu gerichtet. (Keilson 2005) Es wurde also deutlich, dass Trauma einerseits als individueller und sozialer Prozess eine Realität darstellt und andererseits als wissenschaftliches Konstrukt eine Erfindung. „Das theoretische Konzept und die sich daraus ableitenden Behandlungsmethoden können traumatisierten Menschen sowohl helfen als auch ihren Zustand verschlimmern. […] Behandelt man Trauma als rein intrapsychischen Prozess, verleugnet man die gesellschaftlichen Dimensionen. Spricht man ausschließlich von den politischen und kollektiven Aspekten, verleugnet man die reale individuelle Wunde.“ (Becker 2014, S. 165/166). Ausblick Angesichts der (deutschen) Geschichte im Umgang mit Menschen mit psychischen und körperlichen Erkrankungen ist eine kritische Auseinandersetzung mit diagnostischen Verfahren, Beratungs- und Behandlungszugängen sowie Stigmatisierungs- und Exklusionsprozessen dringend erforderlich. Dennoch wäre eine Verteufelung und Dramatisierung von Diagnostik und entsprechender Behandlung wenig hilfreich. Traumatisiert worden zu sein, ist an und für sich keine Störung oder Krankheit. Statt eine Traumatisierung reduziert als einen biologischen Stressvorgang im Gehirn, der durch Neurotechniken behandelt werden kann, zu betrachten, sollten auch die soziale und politische Ebene in den Blick genommen werden, die eine Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse einschließt (Brenssell 2014). „Trauma […] ist etwas Individuelles und Gesellschaftliches, etwas Politisches und Persönliches zugleich.“ (Brenssell 2014, S. 123) Nur wenn Menschen mit ihrer traumatischen Erfahrung nicht alleine gelassen werden und ihr Leid als Unrecht anerkannt wird, kann die Gefährdung ihrer biopsychosozialen Gesundheit reduziert werden (Gebrande 2017b, S.65f). Die klinische Sozialarbeit ist aktuell (noch) eine wenig bekannte und anerkannte Disziplin und Profession, könnte aber durch ihre Spezialisierung als Fachsozialarbeit neben der Psychiatrie und der Psychotherapie eine wichtige dritte Säule in der Versorgung traumatisierter Menschen darstellen, die traumatisierte Menschen nicht individualisiert und pathologisiert, sondern eine ambitionierte parteiliche, soziale und politische Unterstützung anbietet. Julia Gebrande 124 Literatur Becker, David (2014): Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Neuauflage der 2. Aufl. Gießen: Psychosozial Verlag. Brenssell, Ariane (2014): Traumaverstehen. In: Brenssell, Ariane; Weber, Klaus (Hrsg.): Störungen. Hamburg: Argument Verlag. S. 123-150. Brenssell, Ariane (2013): Trauma als Prozess – wider die Pathologisierung struktureller Gewalt und ihrer innerpsychischen Folgen. Verfügbar unter: https://www.medico.de/fileadmin/_migrated_/document_media/1/trauma-als-prozess.pdf [11.05.2017]. 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Rekonstruktive Fallwerkstätten als Methode (macht)reflexiver Sozialer Arbeit - am Beispiel der Sozialpsychiatrie Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis Vom „ärztlichen Blick“ zum Subjekt Neben der Diskussion eines handlungsfeldspezifischen Partizipationsbegriffs, ist es ein Anliegen des Projekts „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“, die zunächst zur Datenerhebung geplante und durchgeführte »rekonstruktive Fallwerkstatt« ebenfalls als fallanalytischen Zugang für die sozialarbeiterische Praxis fruchtbar zu machen und mit machtreflexiven Dimensionen zu konfrontieren. Eine rekonstruktive Fallwerkstatt ermöglicht, dass sich Fachkräfte der Strukturiertheit von Wissen bewusst werden sowie die Genese der Strukturiertheit nachvollziehen können, um weitere Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten sichtbar zu machen und dadurch auch eine kritische Professionalisierung anzustoßen (Bliemetsrieder/ Maar/ Schmidt/ Tsirikiotis 2016; Stumpf/ Bliemetsrieder 2017). Insgesamt wurden im Rahmen des Forschungsprojekts fünf Fallwerkstätten durchgeführt, davon drei mit unterschiedlich großen Teams (3-15 Fachkräfte) in ambulanten bzw. stationären sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Zwei Fallwerkstätten wurden als Workshops an Fachtagungen (ca. 5-15 Teilnehmer_innen) angeboten. Das Konzept einer kritischen Professionalisierung scheint vor allem für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen bedeutsam zu sein, weil in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Ausstattung mit Wissen deutlich die Machtverhältnisse unter den Akteur_innen bestimmt. »Gesundheit« ist ein Bereich, der längst nicht mehr allein von medizinischen Professionen abgedeckt werden kann, wie beispielsweise Andreas Hanses (2012) aufzeigt. Gesundheit, so Hanses, ist in zweierlei Hinsicht soziale Praxis geworden: Zum einen ist die Bearbeitung des eigenen Körpers bzw. die „‚Gesundheitsarbeit‘ produktiver Teil einer gesellschaftlichdiskursiv ‚animierten‘ Subjektivierungspraxis“ (Hanses 2012, S. 35), zum anderen gilt die „Krankheitsbearbeitung“ von Fachkräften im Gesundheitswesen in Interaktion mit den ihnen 129 Rekonstruktive Fallwerkstätten begegnenden Subjekten, den Nutzer_innen gesundheitsbezogener Dienstleistungen (vgl. Hanses 2012, S. 35). Dabei ist das Gesundheitswesen in mehrfacher Hinsicht von wesentlichen Veränderungen und Widersprüchen betroffen, in welchen Fachkräfte und Nutzer_innen handeln. Das Krankheitsspektrum hat sich nach Hanses mit der Zunahme von chronischen Erkrankungen, Alterserkrankungen, Multimorbidität, sowie psychischen und psychosozialen Problemen wesentlich verändert, so dass die in der Medizin hauptsächlich vertretene biomedizinische Ausrichtung bei der Krankheitsbearbeitung an ihre Grenzen kommt (vgl. Hanses 2012, S. 36). Neben den veränderten Krankheitserscheinungen haben gesundheitspolitische Aspekte einen großen Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten im Gesundheitswesen. Die Einschätzung der begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten in diesem Bereich führt zu einer Veränderung von Finanzierungsmodellen und damit zu massiven Anpassungen der Abläufe in Organisationen, welche sich hauptsächlich an ökonomisierenden Prinzipien orientieren. Vor diesem Hintergrund ist „Gesundheitsarbeit“ (Hanses 2012, S. 37) als soziale Praxis vor die Herausforderung von „Ordnungsfigurationen und (Aus-)Handlungsnotwendigkeiten“ (Hanses 2012, S. 37) gestellt, welche die Analyse von Interaktions- und Wissensordnungen notwendig macht. Doch professionelles Handeln, vor allem im klinischen Bereich des Gesundheitswesens, ist laut Hanses neben dem begründeten Wissen gleichzeitig von einem impliziten Wissen geprägt, dessen Strukturiertheit den Handelnden nicht ständig reflexiv zugänglich ist: „Handeln ist in diesem Sinne immer auch Ausdruck von sozialen Ordnungsstrukturen“ (Hanses 2012, S. 39). Die medizinische Ausrichtung des Wissens, derer sich im sozialpsychiatrischen Handlungsfeld nicht nur die Psychiater_innen bedienen, sondern auch professionelles Handeln von Sozialarbeiter_innen manifest oder latent strukturieren kann, zeichnet sich nach Hanses unter Bezug auf Michel Foucault durch einen „ärztlichen Blick“ (Hanses 2012, S. 40) aus. Dieser „ärztliche Blick“ ist ein an Begriffen aus dem theoretischen Wissen ausgerichteter Blick, welcher nicht dialogisch Begriffe zwischen Akteur_innen aushandelt, sondern eine distanzierte Haltung und Beurteilung gegenüber den als krank bezeichneten Menschen einnimmt. Hanses und Peter Richter haben in ihrer Studie „Biographische Konstruktion von Brustkrebs“ (vgl. Richter und Hanses 2009, nachzulesen in Hanses 2012) rekonstruiert, dass es im klinischen Kontext vor allem darum geht, Passung zwischen den verschiedenen Wissensordnungen zu erreichen. In der Herstellungspraxis dieser Passung wird deutlich, dass es sich um eine subtile, implizite Praxis handelt, bei der Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 130 Patient_innen vorwiegend die medizinische Sicht übernehmen und eine eigene Positionierung fast nicht möglich erscheint. Dies ist im klinischen Kontext deshalb sinnstrukturiert, da „eine Reflexion über diesen Sachverhalt die soziale Situation des professionellen Arrangements gefährden würde.“ (Hanses 2012, S. 41) So würden Patient_innen eher schweigsam und ihre soziale Situation wenig in die Gesundheitsarbeit einbezogen. Partizipation wird dabei strukturell erschwert. Mit dem Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ im multiprofessionellen sozialpsychiatrischen Handlungsfeld des Gesundheitswesens möchten wir Diskurse für den Gesundheitsbereich anbieten, dabei vor allem Psychiatrie-Erfahrene in ihrem Subjekt-Sein stärken und sie als Akteur_innen der sozialen Praxis bei ihrer Selbstbestimmung und Bemächtigung in einem gesellschaftlichen Bereich (Gesundheitswesen) unterstützen, in dem Deutungsmächte zwischen den Akteur_innen sehr unterschiedlich verteilt zu sein scheinen. Reflexive Soziale Arbeit und rekonstruktive Zugänge Angesichts gegenwärtiger gesellschaftsstruktureller Transformationsprozesse, welche sich neben Endtraditionalisierungs- und Pluralisierungsprozessen auch in einer Ökonomisierung in nahezu sämtlichen (Lebens-)Bereichen zeigt, sieht sich der Wohlfahrtsstaat im Allgemeinen und die Soziale Arbeit im Besonderen neuen Herausforderungen gegenübergestellt. Soziale Arbeit wird zunehmend mit von außen an sie herangetragenen Anforderungen, beispielsweise in Form der Implementierung managerial ausgerichteter Abläufe oder der Etablierung von an quantifizierbaren Effizienzkriterien ausgerichteten Instrumenten zur Messung von Erfolg und Qualität der angebotenen sozialen Dienstleistungen, konfrontiert. „Gleichzeitig finden sich Hinweise dafür, dass die durch den erwähnten Strukturwandel hervorgerufenen Steigerungen Kompetenzstrukturen der erforderlich Komplexität machen, die sozialer in Risiken den bisher erweiterte Wissens- gehandelten und Varianten sozialarbeitsspezifischer Professionalität nicht in ausreichendem Maße entfaltet sind“ (Dewe 2013, S. 95). Ausgehend von den skizzierten Veränderungsprozessen und Herausforderungen plädieren Bernd Dewe und Hans-Uwe Otto für eine Reformulierung Sozialer Arbeit als reflexive Sozialpädagogik. „Das zentrale Interesse richtet sich dabei auf die Vermittlung differenter Rekonstruktive Fallwerkstätten 131 Wissensstrukturen mit den Strukturmerkmalen professioneller Interaktionsprozesse“ (Dewe/ Otto 2005, S.179). Zentral ist dabei auch die Erkenntnis, dass professionelles Handeln in komplexen und nur schwer bis kaum steuerbaren Handlungsvollzügen stattfindet. „In diesem Sinne ist professionelles Handeln immer auch durch den Umgang mit Ungewissheit gekennzeichnet“ (Dewe 2013, S. 96). Die Perspektive der Adressat_innen professionell erbrachter Sozialer Arbeit gewinnt vor diesem Hintergrund des (Noch-)Nicht-wissen-könnens der Fachkräfte an besonderer Relevanz. Ein solches reflexives Professionsverständnis widerspricht einer gegenwärtig im hohen Maße beobachtbaren Normierung Sozialer Arbeit insbesondere durch wirkungsorientierte bzw. evidenzbasierte Forschungszugänge. Diese Zugänge können zwar den Erreichungsgrad eines vorab definierten Ziels quantitativ messen, Aussagen darüber, warum die Ziele erreicht wurden bzw. welchen individuellen Gebrauchswert die Hilfen für die Adressat_innen haben, sind jedoch kaum möglich. „Weder können ForscherInnen und Professionelle aus den empirischen Ergebnissen ableiten, aufgrund welcher Handlungsweisen die Ziele erreicht wurden und wie diese variiert / kombiniert werden können, noch wird deutlich, welchen Einfluss die Kontextbedingungen auf die Ergebnisse hatten, womit auch die Frage der Übertragbarkeit ungeklärt bleibt“ (Albus/ Micheel/ Polutta 2011, S. 246). Vor dem Hintergrund des Kontextes bestehender Professionalisierungsbedürftigkeit Sozialer Arbeit, plädiert das Team der Autor_innen für einen verstehenden Fallbezug als Grundlage professionellen Handelns. Rekonstruktiv-verstehende Zugänge im Kontext kritischer Professionalisierung Forderungen nach rekonstruktiv-verstehenden Zugängen, wie z.B. der Objektiven Hermeneutik, finden sich nicht nur im Kontext einer Professionalisierungs- und Akademisierungsdebatte in der Schulpädagogik (wie z. B. Universität Hannover) oder der Sozialen Arbeit (insb. im Bereich des Kinderschutzes), sondern auch in therapeutischen Settings und Supervisionen und zunehmend auch in den Pflegeprofessionen wieder (vgl. Peter 2006; vgl. Kersting 2011, S. 10). 1 In diesen professionalisierungsbedürftigen Feldern geht es 1 Kasuistisch gewonnener Wissenszuwachs und die Einübung von Handlungspraxen als professionelle Habitualisierung sind nichts Neues an Hochschulen und Professionalisierungspraxen: Im Medizinstu- Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 132 um Fragen nach dem Fallverständnis, einem spezifischen Krisenbegriff, der Rolle einer notwendigen, aber meist – im besten Falle – zeitlich befristeten Stellvertretung und einer (wenn nötig unbefristeten) Nutzer_innenpartizipation. Eine Fallwerkstatt möchte nicht pathologisieren; sie versucht stattdessen die besondere Lebensbewältigung von Adressat_innen in den Blick zu nehmen. Ebenso werden Fragen nach der Einrichtung und Ausgestaltung eines ermöglichenden Arbeitsbündnisses mit rollenförmigem Handeln und Handeln als ganzer Person, in widersprüchlicher Einheit, zugleich verhandelt (vgl. Peter 2006, S. 10). Eine diffuse Sozialbeziehung zeichnet Ulrich Oevermann (2008), Sigmund Freud rekonstruierend, nach: Der Arzt oder die Ärztin nimmt „nicht nur eine geschäftliche Dienstleistungsbeziehung auf (…), also eine spezifische rollenförmige Sozialbeziehung, sondern [geht] gleichzeitig eine diffuse Sozialbeziehung zwischen ganzen Menschen, ein Arbeitsbündnis mit dem Patienten“ (Oevermann 2008, S. 184), ein, damit Selbstheilungskräfte mobilisiert werden können. Im Hinblick auf diese Selbstheilungskräfte spielen die Selbstwirksamkeitserfahrungen und eigene Lebensentwürfe eine große Rolle: Ohne ihre Ermöglichung, würde die Stellvertretung Menschen paradoxerweise paternalistisch abhängig machen und Autonomieprozessen entgegenlaufen und dadurch Integrität verletzen (vgl. Oevermann 2005, S. 25). Die Kritikfolie so verstandener Fallwerkstätten liegt vor allem in der Rekonstruktion der Qualität der Arbeitsbündnisse und der Nutzer_innenperspektiven, der dabei ermöglichten Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der somato-psycho-sozialen und kognitiven Integrität (vgl. Oevermann 2005, S. 23) und der Autonomie der Adressat_innen. Auf diese Weise erleben die Adressat_innen den/die Andere/n in der widersprüchlichen Einheit „zwar als professionelles Gegenüber, aber doch als Mensch (…), der, genauso wie ich, von Verletzlichkeit durchzogen ist“ (Bliemetsrieder/ Dungs 2013, S. 288). 2 Dies wird aus der Nutzer_innenperspektive heraus immer wieder als unterstützend und eröffnend geschildert. dium (Fragen nach somatischer Integrität) und Jurastudium (Gewährleistung von Gerechtigkeit und Mediation als rechtliche Integrität) sind fallrekonstruierende Zugänge genauso üblich, wie in einer Approbation zum/zur PsychotherapeutIn (Fragen nach psychischer Integrität) (vgl. Peter 2006, S. 4; vgl. Oevermann 2005, S. 26). 2 Dabei darf das Postulat der widersprüchlichen Einheit jedoch nicht instrumentell verkürzt werden und im Sinne einer Handlungsanweisung für eine gelingende, »Wirkung versprechende« Praxis umgedeutet werden, welche, sich scheinbar am psychoanalytischen Paradigma orientierend, Wärme auf Kommando [und ( …)] [p]ersönliche Sympathie für den Patienten […] als Mittel zur Herstellung einer guten Übertragung verordnet“ (Adorno 2003: 38). Rekonstruktive Fallwerkstätten 133 Fallwerkstätten gehen dabei über ein rein subsumtionslogisches, biomedizinisches und psychosoziales Fallverständnis (sog. Biopsychosoziales Modell) hinaus, indem sie einen Fall im Kontext seines biographischen So-geworden-seins, seiner Milieueinbettung, der Frage nach institutionalisierten und nicht institutionalisierten gesellschaftlichen (z. T. neoliberalen) (Macht-)Strukturen, (Träger-)Geschichten und Beziehungen sequenziell aus der festgehaltenen Sprache oder den Ausdrucksgestalten der Adressat_innen zu rekonstruieren versuchen (vgl. Peter 2006, S. 8). Aber auch die Analyse von Sekundärmaterial (z. B. vorhandene Studien, Akten usw.) Professionalisierungsprozesse in Bildungsgeschehen Auch eröffnen. kann gewinnbringend managerialisierten die Verhältnissen teilnehmenden für sein Fachkräfte kritische und dabei evaluierten im Forschungsprojekt, dass sie neue Erklärungsmuster finden konnten. Diese zeigten sich in „Aha-Erlebnissen“ und im positiv gedeuteten Irritiert-werden, was zu einer Veränderung der bisherigen Deutungsmuster führte. So stellt Karin Kersting (2011) beispielsweise auf Grundlage der sog. Kältestudie (19952000) fest, wie viel Zeit und Muße es im Zeitalter bürgerlicher Kälte, als gesellschaftliche Struktur und Reaktionsform, auch von (angehenden) Pflegefachkräften braucht, bis z. B. fraglose Übernahmen (z. B. Handlungsstandards) oder Idealisierungsstrategien der eigenen oder fremden Praxis überwunden werden können. Hier geht es insbesondere um die Frage, wie der eben skizzierte normative Anspruch (Autonomie und Integrität) in ökonomischen Anpassungszwängen (Managerialisierung des Sozialen) aufrechterhalten werden kann bzw. wie die Widersprüche thematisierbar, bearbeitbar und aushaltbar sind, ohne gleichzeitig in fatalistisches oder radikal paternalistisches Denken (zurück) zu fallen, sondern Fachkräfte handlungsfähig und Praxisfelder als gestaltungspflichtige und bildsame Orte erscheinen zu lassen. Die schrittweise Interpretation der Kältestudie ermöglichte es bei den Pflegestudierenden, ein Interesse für qualitative Forschung zu wecken und gleichzeitig konnte die Rekonstruktion Bildungsprozesse initiieren. Bildung wird hierbei verstanden als Selbstund Weltreflexion sowie als Verstehen von Zusammenhängen. Ein forschendes Lernen in dieser Weise kann im Zeitalter bürgerlicher Kälte zur Empathieentwicklung (angehender) Fachkräfte beitragen und krisenlösend wirken, ohne dabei in eine Bewältigungseuphorie hineinzufallen (vgl. Kersting 2011, S. 5-12). Ein in diesem Sinne gebildetes Gesundheitsverständnis könnte dabei dann nicht mehr nur als das Gegenteil von Krankheit gedeutet werden, sondern als die Möglichkeit des Gesundbleibens und -werdens, das sich eine Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 134 konkrete Lebenspraxis vor dem Hintergrund der Bewältigung kritischer Lebensereignisse und ungleichheitserzeugender Strukturen maximal sowohl ermöglichen als auch (wenn notwendig stellvertretend) ermöglicht werden kann (vgl. Oevermann 2008, S. 25). Fachkräfte, Studierende und Wissenschaftler_innen neigen immer wieder dazu, ihren vorentworfenen (manchmal auch latenten) Gedankengängen zu folgen. Auch diese können durch Fallwerkstätten reflektiert werden. Peter Schallberger (2008) rekonstruierte beispielsweise in einer Studie in einem Schulheim für so genannte „verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche“ kulturalistisch, behaviouristisch, biologistisch und ressourcentheoretisch inspirierte Deutungsmuster der Fachkräfte, welche tendenziell das Ideal des Zuwachses an Autonomie und Integrität der Kinder und Jugendlichen aus dem Blick geraten lassen (vgl. Schallberger 2008, S. 304). Konfrontationen mit gesellschaftlichen Kontexten, wissenschaftlichem Wissen, Aktenmaterial, Fallgeschichten und Stegreiferzählungen von Adressat_innen können im Sinne einer „positiven Verunsicherung“ (Keupp 2002, S. 26) schmerzhaft irritieren. Die Gefahr ist, dass in diesen Momenten der Irritation immer wieder vereindeutigende Erklärungsversuche gefordert werden. Analysen gelten jedoch nur auf Zeit in bestimmten Kontexten und gestatten nur in wenigen Fällen Eindeutigkeiten (außer z. B. in klaren Gefährdungslagen) (vgl. Bliemetsrieder/ Dungs 2011, S. 209f.). Deshalb ist es notwendig, um möglichst widerspruchsarme, triftige Argumente in der Fallwerkstatt zu ringen, ohne sich dabei völlig sicher fühlen zu können, „nicht in den Strudel der Unbestimmtheit hineingerissen zu werden“ (Gamm 1996, S. 7). In dieser Reflexion würde die kritische Theorie dann dreifach kritisch: in der Kritik von Verhältnissen, von Verhalten, aber auch der Selbstkritik. Rekonstruktion und Ungewissheiten Kritisch wird rekonstruktive Sozialforschung auch dadurch, dass sie sich selbst einer kritischen Betrachtung stellt. Zunächst einmal kann kein methodischer Zugang die Lebenspraxen und Verhältnisse voll aufklären. In jeder sozialwissenschaftlichen Analyse wird es immer latente Reste („das innere Ding an sich“ (Oevermann 2008, S. 171)) geben, die sich durch rationalisierende Deutungsversuche nicht vollständig einholen lassen. Dieses Unbewusste kann aber auch gleichzeitig als Ringen um eine „unverzichtbare Quelle von Lebendigkeit und der Utopie eines guten Lebens“ gelesen werden (Oevermann 2008, S. 170). Rekonstruktive Fallwerkstätten 135 Die in der rekonstruktiven Analyse entstehenden Fallstrukturhypothesen, welche idealerweise in rationalisierenden Diskursverhältnissen entwickelt werden und gleichzeitig um ihre Grenzen der unausdeutbaren, idealistischen Fragen, der notwendigen Mythen im Kontext des Irgendwoherkommens und Irgendwohingehens (vgl. Wagner o.A., S. 5) informiert sind. Bei entsprechender Kontrastierung von Fällen sind jedoch darüber hinaus theoretische Annahmen möglich: „Theorien sind daher nicht das andere der Praxis, sondern ein dem praktischen Handeln vorausgehender und [zugleich dialektischer] hinterhereilender Erkenntnisprozess“ (Bliemetsrieder/ Dungs 2011, S. 222). Das Interessante an Fallwerkstätten ist nun, dass sich Studierende, Fachkräfte und Wissenschaftler_innen dem Ungewissheitsraum, dem Handlungsdruck und der offenen und unabschließbaren Zukunft der Praxis gemeinsam aussetzen, aus dem sie sich gleichzeitig versuchen herauszudrehen und während der Analyse unaufhaltsam zeitlich zurückfallen. Die Fallanalyse hat demnach ein unauflösbares Zeitproblem, sie kann die Praxis zeitlich nicht einholen. Die Fallrekonstruktion kann auch als ein kritischer Diskurs für eine vor allem auf die Zukunft gerichtete Praxis sein. Die Krise der Lebenspraxis (z. B. Verlust an Selbstbestimmungsmöglichkeiten) wird in dem gemeinsamen Deuten zum Normalfall erklärt (vgl. Oevermann 2005, S. 22). In der Praxis stellvertretenden Krisendeutens stellt sich eine Annäherung von Theorie und Praxis her, welche sich nicht zur technokratischen Bevormundung (z. B. radikale Evidenzbasierung) pervertieren darf (vgl. Oevermann 2008, S. 188). „Eine wirklich folgenreiche Einheit von Theorie und Praxis wäre dann im Vorfeld als bloß scheinhafte dekretiert und »pädagogisierend« in Regie genommen, bevor sie sich in der Praxis des professionellen Arbeitsbündnisses erst ergeben kann“ (Oevermann 2008, S. 188). In der Informiertheit über Evidenzen und Verfahren lässt sich Forschung und Fallverstehen dann als „widersprüchliches Zusammenspiel von standardisierten Methoden, Techniken und theoretischen Wissenselementen einerseits und nicht-standardisierbaren Komponenten des Erahnens, der Gestalterfassung und der erfahrungsgesättigten Strukturerkenntnis andererseits fassen“ (Oevermann 2005, S. 30). Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 136 Rekonstruktion und Macht In dieser knappen Darstellung zeigen sich viele konstruktive Momente von Fallwerkstätten in professionalisierungsbedürftigen Praxen und akademischen Orten und das darin innewohnende Bildungspotential für die Akteur_innen. Das dabei zu Grunde liegende Professionalisierungsverständnis der stellvertretenden Deutung geht davon aus, dass sich diese Selbst- und Fremdzuschreibungen der klassischen Professionen noch als gesellschaftlich tragfähig erweisen (vgl. Somm 2001, S. 675). Gerade in einigen sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Diskursen hat die unreflektierte und machtunkritische Übernahme der stellvertretenden Deutung dazu geführt, dass die eigene Involviertheit der professionellen Praxis in gesellschaftliche Machtverhältnisse dethematisiert und vernebelt wurde (vgl. Somm 2001, S. 677). Irene Somm spricht sich 2001 für eine machttheoretische Revision der von Ulrich Oevermann formulierten Professionalisierungstheorie aus. Sie möchte dabei an Pierre Bourdieus Machtbegriff anschließen: „Macht verweist demnach auf eine bestimmte Position in einem „sozialen Feld“, deren Inhaber_innen aufgrund einer ungleichen Verteilung von Machtmitteln soziale Autorität für sich beanspruchen können und – meist unbewusst – die Anerkennung der Unterlegenen finden [können, S.B.]“ (Somm 2001, S. 677). Keine professionelle Praxis kann sich, wie Oevermann es implizit fordert, nur auf eine Gemeinwohlverpflichtung hin ausrichten und sich autonom handelnd ökonomischen und administrativen Kontrollen entziehen (vgl. Somm 2001, S. 678). Es gibt kein Außerhalb aus ökonomischen und verwaltungslogischen (Rechts-)Verhältnissen und die Fragen nach Macht können nie ausgespart werden. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Verhältnisse nicht kritisierbar sind. Macht ist nicht immer legitim, sondern kann auch in Gewalt umschlagen. Genauso wie es kein Außerhalb von ökonomischen Prozessen geben kann, kann es auch kein Außerhalb von normativen Ansprüchen geben. So geht es in professionellen Kontexten um die Stärkung der Autonomie, der Integritäts- und Teilhabeansprüche (Menschenrechte) der Adressat_innen in ökonomisch machtvoll strukturierten Feldern (vgl. Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2018). In diesem Sinne stellt Somm fest, dass das Strukturproblem der Sozialpädagogik „in der widersprüchlichen Einheit von gesellschaftslegitimierender, teilhabeorientierter und entlegitimierender, emanzipatorischer Praxis“ (Somm 2001, S. 682) liegt. Soziale Arbeit muss sich daher sowohl gesellschaftsstabilisierend, als auch in der widersprüchlichen Einheit von Effizienz und Rekonstruktive Fallwerkstätten 137 Legitimität institutionalisierungskritisch ausrichten (vgl. Somm 2001, S. 682). Daraus ergeben sich auch normative Orientierungspunkte Sozialer Arbeit, die über eine Individualisierungstendenz der Fallwerkstätten hinausgehen: in der Rationalisierung von Gerechtigkeitsempfinden, Achtung der Menschenwürde aller und gesellschaftlicher Teilhabe sowie Möglichkeiten demokratischer Partizipation (vgl. Somm 2001, S. 683). Es geht demnach um die Relationen von relativer Autonomie, somato-psycho-sozialer Integrität, sozialer Gerechtigkeit und Machtstrukturen als Verbindung von Professionalisierung einschließlich ihrer ethischen Orientierungen (Menschenrechte) und einer Repolitisierung der Professionen (vgl. Somm 2001, S. 685). Fallwerkstätten nehmen das So-geworden-sein des Menschen, mit seiner einzigartigen Menschenwürde, in den Blick. Die darin liegenden Widersprüche müssen von den Professionen und Disziplinen gleichermaßen bearbeitet werden. Die stellvertretende Deutung kann im Kontext eines Mittelschichtshabitus der forschenden Akteur_innen prekarisierte Personen einseitig pathologisieren und praktische Rationalitäten mit subjektiven Handlungsgründen und Entscheidungen absprechen oder eine unreflektierte Deutungshoheit kann Kompensationsmöglichkeiten von Anerkennungsfragen Sozialer Arbeit versprechen (vgl. Somm 2001, S. 687). Daher bedarf es eines hohen Maßes an Reflexivität durch die forschenden Personen, und zwar ohne latente Arroganz oder eine Hermeneutik des Sich-permanent-verdächtig-Machens (vgl. Bude 1994, S. 118), sondern gerade auch mittels Reflexion der eigenen Emotionen der Forscher_innenpersonen, damit diese psychodynamisch nicht verdrängt werden. Die Objektive Hermeneutik in diesem Sinne reflexiv betrachtet, ist unter Bezugnahme der sehr eindrücklichen Rezension von Susanne Friese (2003) ein Analyseverfahren unter vielen, welche den Vorteil der radikalen Sequenzialität aufweist und in einer sequenziellen feinanalytischen Untersuchung interessante Momente zu Tage fördern kann (vgl. Friese 2003). Die Fallstrukturhypothese sollte dabei jedoch, anders als von den Gründer_innen vorgeschlagen, nicht als objektive Sinnstruktur, sondern als Ergebnis von triftigen Aushandlungsprozessen und rationalen Entscheidungen im forscherischen Tun erkannt werden, welche an gesellschaftliche Machtstrukturen rückgebunden werden. Das Ergebnis kann dabei vielmehr als intersubjektive Objektivität verstanden werden, wenn verschiedene Forscher_innen zu vergleichbaren Einschätzungen kommen (vgl. Bliemetsrieder/ Dungs 2011, S. 217). Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 138 Für die stellvertretende Deutung im Sinne machtsensibler und gerechtigkeitsorientierter rekonstruktiver Sozialer Arbeit schlägt Somm folgende Revision vor: „Stellvertretende Deutung kann nicht mehr in einem quasi machtfreien, außergesellschaftlichen Raum gedacht werden, sondern ist als gesellschaftliche Tätigkeit zu begreifen, die zwar situativ auf der Grundlage eines entsprechenden Settings (Arbeitsbündnis) ein symmetrisches Anerkennungsverhältnis zu realisieren vermag, aber in ihrem Anspruch auf stellvertretende, gesellschaftlich zugebilligte Autorität gleichzeitig immer Teil eines Systems symbolischer Klassifikationskämpfe ist“ (Somm 2001, S. 689). Kritik an den Verhältnissen und Praxen kann in Fallwerkstätten im Sinne Adornos zu einer immanenten Kritik werden und muss sich von einer kritiklosen, arroganten Kritik verabschieden, in der Praxen ohne Kenntnis der in ihr eingelagerten Widersprüche angegriffen werden (vgl. Wagner o.A., S. 3). Dazu braucht es vor allem eine Stärkung der Sichtweise der Adressat_innen. Für die Fallwerkstätten kann dies bedeuten, die in einer Sequenzanalyse gewonnene Strukturhypothese gesellschaftskritisch plausibel zu machen (vgl. Bliemetsrieder/ Dungs 2014, S. 103). Fallwerkstätten könnten dann mit Konrad Paul Liessmann als kritische Hermeneutik konzipiert werden, „in der Vernunft und Einsicht, Abwägen und Vorsicht, langfristiges Denken und kluge Überlegungen, wissenschaftliche Neugier und kritische Selbstreflexion, das Sammeln von Argumenten“ (Liessmann 2012, S. 26) induktiv und deduktiv zugleich machtreflexiv gemeinsam erprobt werden und die gesellschaftsstabilisierenden als auch institutionalisierungskritischen Aspekte herausgearbeitet werden können. Dabei ist eine Koppelung von Fallverstehen und Aushandlung mit den Adressat_innen notwendig, da der Verstehensprozess sonst nicht intersubjektiv verhandlungsfähig wäre. Gerade Aushandlung kann – anders als Verhandlung – einen konstruktiven Umgang mit Ungewissheit darstellen, als Prozess der Vergewisserung der Triftigkeit der Diagnose (vgl. Fendrich/ Lange/ Witte 2004, S. 313). Methoden an sich geben zunächst erst einmal keine Auskunft darüber, ob sie per se gesellschaftskritisch sind oder nicht. Doch gerade Verfahren, welche der kritischen Theorie entspringen, zeigen mehr Spielräume und Optionen für eine Gesellschaftskritik (vgl. Freikamp et. al., S. 10). So können konkret und reflexiv sowie demokratisch behutsam Machtstrukturen, herrschaftslegitimierende Ideologien, Ausschluss- und Diskriminierungsprozesse, postkoloniale oder sexistische Praxen analysiert werden. Es geht hierbei um eine Rekonstruktive Fallwerkstätten 139 heterogene und umkämpfte emanzipatorische (Gesellschafts-)Kritik (vgl. Freikamp et. al., S. 12). In diesem Sinne versteht Matthias Leanza (2008) das gesellschaftskritische Potential der Objektiven Hermeneutik paradoxerweise darin, gesellschaftliche und wirkmächtige Latenzen zu reflektieren und aufzudecken (vgl. Leanza 2008). Auch wenn die Objektive Hermeneutik weniger der Subjektperspektive stellvertretend eine Stimme geben möchte (wofür sie zu kritisieren wäre), nimmt sie (hegemoniale) Sinnstrukturen in den Blick, welche die Handlungspraxen der Subjekte erst erklärbar machen (vgl. Leanza 2008, S. 86). Die Objektive Hermeneutik versteht es, „gesellschaftlich produzierte Möglichkeiten von Lebenspraxis sichtbar zu machen“ (Leanza 2008, S. 87) und danach zu fragen, aus welchen Möglichkeiten des Handelns die prinzipiell autonome Lebenspraxis ausgewählt hat (vgl. Leanza 2008, S. 87). Abschließend stellt Leanza fest, dass Strukturen erst dann kritikfähig werden, wenn sie rekonstruiert und begrifflich gefasst wurden und nicht nur faktisch wirksam sind. „Das kritische Potenzial der Objektiven Hermeneutik besteht genau darin: Latente Organisationsprinzipien von Sozialität können mithilfe dieser Methodologie sichtbar gemacht werden und als Selektion aus einem Raum von Möglichkeiten begreifbar werden“ (Leanza 2008, S. 103). Diesen Überlegungen einer stellvertretenden Deutung steht Joachim Ludwig (2015) sehr viel skeptischer gegenüber. Er vergleicht, allerdings im Kontext von Beratung, strukturalistische Ansätze (Objektive Hermeneutik) mit subjektwissenschaftlichen Ansätzen (Kritische Psychologie). Dabei kritisiert Ludwig, dass Krisen in den strukturalistischen Ansätzen das individuelle Handeln ermöglichen und verunmöglichen. Er wirbt dafür, neben diesen latenten auch die manifesten Sinnstrukturen herauszuarbeiten, damit die relative Autonomie von Ratsuchenden gewahrt wird (vgl. Ludwig 2015, S. 300f.). Die Objektive Hermeneutik neigt dazu, zu vergessen, dass Personen nicht nur von Latenzen des Feldes durchdrungen sind, sondern gesellschaftliche Verhältnisse durch Verhalten prinzipiell selbst mit herstellen. Das deutungsfähige Subjekt läuft Gefahr, im Kontext der Objektiven Hermeneutik vernebelt zu werden. Das Subjekt droht, unter eine Struktur subsumiert zu werden. „Der Subjektstandpunkt ist der soziale und biographische Ort, an dem der Mensch mit seiner Lebenslage und sozialen Position sich aktuell befindet und von dem aus er sich selbst und die Welt betrachtet, seine personale Situiertheit findet“ (Ludwig 2015, S. 303). Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 140 Dabei müssen hermeneutisch die Handlungsgründe des/der Anderen herausgearbeitet werden, worin über die Latenzen hinausweisend der darin verortete Selbstverständigungsprozess (innere Gesetzgebungen und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten) nachgezeichnet werden könnte (vgl. Ludwig 2015, S. 304f.). Drei Wissensperspektiven als Beitrag emanzipatorischen Fallverstehens Der vorangegangene Blick auf die Diskurse um eine Professionalisierung Sozialer Arbeit stellt die Bedeutung einer rekonstruktiven (Forschungs-)Perspektive heraus. Zugleich werden kritikwürdige Stellen des Paradigmas deutlich, die gerade das Verschleiern von Machtverhältnissen, eine – verkürzte – Pathologisierung der Adressat_innen oder eine Entpolitisierung ihrer Anliegen begünstigen könnten. Diese Hinweise aufnehmend, soll es daher nun darum gehen, die Methode der Fallwerkstätten kritisch zu akzentuieren. 1. Die professionelle Perspektive und widerständiges Erfahrungswissen der Nutzer_innen Wie bereits herausgearbeitet, folgt eine rekonstruktionslogische Perspektive der im Fall eingebetteten Sinnstrukturen und stößt dabei notwendig an die Grenzen des Rationalisierbaren und theoretisch Fassbaren (vgl. Oevermann 2008, S. 170-171). So kann Theorie – bzw. rekonstruktive Forschung – nicht als der Schlüssel der handlungsleitenden Erkenntnis für die Praxis Sozialer Arbeit verstanden werden. Vielmehr kann das gemeinsame Ringen um stellvertretende Krisendeutungen, in Fallwerkstätten zusammen mit Wissenschaflter_innen, Fachkräften und Studierenden, die „konsequente Erweiterung der professionellen Perspektive“ (Hanses 2007, S. 57) befördern. Das Postulat der Erweiterung leitet Hanses aus der Praxis Sozialer Arbeit ab, welche durch die Notwendigkeit der Vermittlung zwischen professionellem – in sozialwissenschaftlichen Diskursen eingebettetem – Wissen und dem lebenspraktischen Erfahrungswissen der Adressat_innen bestimmt wird. Die Fachkräfte, so Hanses, stehen vor der Aufgabe, die jeweiligen Fälle „in ihrer Komplexität, Kontextualität und Eigensinnigkeit“ (ebd., S. 49, Hervorhebungen im Original) zu erfassen, ohne sie gänzlich „auf ein biomedizinisches, psychologisches oder juristisches Paradigma, wie es andere Professionen zur vermeintlich exakten Problemdefinition nutzen“ (ebd.) zu reduzieren. Rekonstruktive Fallwerkstätten 141 Praktiker_innen der Sozialen Arbeit stehen dabei nicht vor der Aufgabe, den Fall auf dem Feld theoretischer Diskurse über eine – wie auch immer definierte – Wahrheit exakt zu erfassen. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion des jeweiligen Einzelfalles unter Berücksichtigung dessen „biographische[r] Anschlussfähigkeit“ (ebd. S. 50, Hervorhebung im Original) an die Lebenspraxis der konkreten Person. Zwar sind die Angebote der Sozialen Arbeit interventionspraktisch, „an die Einsicht eines Klienten appellierend, klärend, beratend“ (Oevermann 2008, S. 58) angelegt. Sie unterstützen die tatsächliche Bewältigung der jeweiligen Krise durch professionelle Hilfestellung zur (Wieder-)Herstellung der relativen Autonomie der Adressat_innen. Dennoch wäre herauszustellen, dass bereits in dem Konzept der stellvertretenden Deutung die Möglichkeit der Überformung des lebenspraktischen Diskurses der Adressat_innen durch die Soziale Arbeit eingelagert ist. Schließlich bleibt das Erbringungsverhältnis Sozialer Arbeit (vgl. Schaarschuch 2006, S. 86-87) im »medicopädagogischen Feld« Beziehungskonstellation Deutungsmacht. So (Ralser zweier entscheiden 2010) eingelagert Akteur_innen, zwar die in ausgestattet Adressat_innen eine mit asymmetrische unterschiedlicher darüber, ob sie ihr Bewältigungshandeln an der Deutung der Fachkräfte orientieren, jedoch determinieren die professionellen Deutungen das Feld der Praxis – z.B. einer Tagestätte, eines Wohnheims usf. – dahingehend, dass sie bestimmte Handlungsoptionen eher verunmöglichen bzw. ausschließen. Innerhalb der professionellen Arrangements sind die Adressat_innen der »symbolischen Herrschaft« 3 (vgl. Bourdieu 2012) der Praxis unterworfen, welche das Feld – und die darin möglichen, erwünschten, mit Sanktionierung bedrohten usf. Handlungsoptionen – strukturieren. Konsequent wäre eine „Erweiterung der professionellen Perspektive“ (Hanses 2007, S. 57) nach Hanses daher gerade dann, wenn sie den Versuch unternähme, jene Erfahrungen der verunmöglichten Subjektivität der Adressat_innen in den Blick zu bekommen: also die „disqualifizierten Wissensarten (das Wissen des Psychiatrisierten, des Kranken, des Krankenwärters, das des Arzets [sic.] – das jedoch parallel und marginal zum Wissen der Medizin besteht-[…])“ (Foucault 1978, S. 60). Die von Hanses, unter Berufung auf die Genealogie Foucaults, geforderte Erweiterung bezieht sich also auf jenes Wissen der Adressat_innen, welches abseits der herrschaftlichen Diskurse der (Natur-)Wissenschaft und 3 „Von symbolischer Herrschaft oder Gewalt sprechen heißt davon sprechen, dass der Beherrschte, von einem subversiven Aufruhr abgesehen, der zur Umkehrung der Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien führt, dazu tendiert, sich selbst gegenüber den herrschenden Standpunkt einzunehmen.“ (Bourdieu 2012, S. 202) Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 142 der Fachkräfte im medico-pädagogischen Feld besteht. Es speist sich aus den Erfahrungen der Widerständigkeit gegen eine vereindeutigende Vorstellung von Normalität. Foucaults Konzept der Genealogie sollte jedoch keineswegs als Disqualifizierung des Wissens der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit gedeutet werden. Vielmehr befürwortet Foucault explizit „genealogische Forschungen, die zugleich gewissenhafte Wiederentdeckungen der Kämpfe und verschwommene Erinnerungen der Zusammenstöße“ (ebd., S. 61-62) sind. Diese skizziert er „als Verbindung von gelehrtem Wissen und Wissen der Leute“ (ebd., S. 62), deren normative Legitimation in der Forderung gründet, dass „die Tyrannei der globalisierenden Diskurse mit ihrer Hierarchie und sämtlichen Privilegien der theoretischen Avantgarde beseitigt würde.“ (ebd.) 2. Professionalisierung als die Vermittlung unterschiedlicher Wissensperspektiven Die Kritik an der bereits formulierten privilegierten Position der Fachkräfte und der Wissenschaftler_innen erscheint nicht nur aus einer radikalen Adressat_innenorientierung als problematisch. Die sozialtechnisierte Reduktion der Fachkräfte auf „die Rolle von Experten und Expertinnen, die Entscheidungen übernehmen“ (Dewe 2015, S. 324, Hervorhebung im Original) bedroht die Professionalität selbst. Dies ist vor allem dann zu befürchten, wenn die Fachkräfte nicht als „'Vermittler und Vermittlerinnen' sozialwissenschaftlichen Wissens“ (ebd.), sondern als „Lieferanten von Rezepten“ (ebd., S. 338) zur Krisenbewältigung herangezogen würden. Mit Bernd Dewe lässt sich sowohl die Ausgestaltung eines Angebots Sozialer Arbeit als auch die Übersetzung der darin enthaltenen Deutungen in konkretes Bewältigungshandeln durch die Adressat_innen als Transformationsprozess verstehen (vgl. ebd., S. 319-320). Wie Dewe hervorhebt, erfordert professionelles Handeln in sozialen Berufen „kein Verwischen der Unterschiede von Wissenschaft/Profession und Lebenspraxis, sondern vielmehr umgekehrt deren Anerkennung in den gegenseitigen Erwartungen beider 'Parteien'“ (ebd., S. 320). Der Profession kommt dabei die Aufgabe eines „verwendungsnahen Vermittlungsdiskurse[s]“ (ebd., S. 326) zu, welcher theoretische Erkenntnisse lebenspraxisrelevant konkretisieren soll. Diese Vermittlungsaufgabe versteht Dewe, im Anschluss an Jürgen Habermas (vgl. z.B. Habermas 1984, S. 164), als praktischen Diskurs, dessen Maßstab, im Gegensatz zu theoretischen Diskursen, nicht der Erklärungsgehalt der Aussagen ist, sondern die Angemessenheit der professionellen Deutungen, als „sachlich Rekonstruktive Fallwerkstätten 143 richtig als auch emotional erträglich“ (Dewe 2015, S. 330) im Sinne der „situativen und biographisch vorgeprägten Bedürfnispositionen der Klientel“ (ebd., S. 326). Wissenschaft Profession Wissen Können Lebenspraxis wissenschaftliches Deutungs- Professionswissen praktisches wissen wissen Wahrheit Entscheidungs- Wahrheit und Angemessenheit Angemessenheit Steigerung von Begründungskompetenz Steigerung bzw. Wiederherstellung von Handlungskompetenz und Autonomie stellvertretende Problemdeutung eigenverantwortliche Entscheidung/ Problemlösung Tabelle 1: Dewe 2015, S. 330 Wie sich in dieser Abbildung von Dewe (2015, S. 330) zeigt, befinden sich Professionen zwischen den Stühlen der Vermittlung von wissenschaftlicher »Wahrheit« und lebenspraktischer »Angemessenheit«. Die weiter oben skizzierte, an Foucault anschließende Kritik fokussiert genau dieses einseitige Weiterreichen der wissenschaftlichen Diskurse in die Lebenspraxis, wodurch die Deutungshoheit der Wissenschaft und somit auch der Professionen tendenziell gefestigt wird. In medico-pädagogischen Feldern (vgl. Ralser 2010) wird jedoch noch eine weitere Problematik deutlich: Die sozialwissenschaftliche bzw. sozialphilosophische Grundlage dieser Kritik an der Praxis Sozialer Arbeit steht u. U. durch die Vermittlung von wissenschaftlichen Wissensbeständen selbst in Frage, wenn Fachkräfte zur Legitimation von professionellem Handeln in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern verstärkt auf naturwissenschaftliches – also medizinisches – Deutungswissen rekurrieren. Matthias Nauerth (2014) führt dies auf die unzureichende »Methodisierung« sozialer Verfahren des Fallverstehens zurück: Die eingeforderte genealogische Perspektive drohe selbst ein abseitiger Diskurs im Kampf um Deutungshoheit gegenüber anderen Wissensbeständen – z.B. der Medizin, der Verwaltung usf. – zu bleiben, wenn die Fachkräfte ihrer Expertise, zugunsten der anderen – z.B. medizinischer, juristischer usf. – Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 144 Bezugswissenschaften, einen geringeren Stellenwert einräumten oder ihre Praxis nicht genügend nachvollziehbar herleiteten bzw. darstellten. Die Möglichkeit einer Stärkung ihres Diskurses sieht Nauerth in der »Methodisierung« ihrer Verfahren, wodurch Transparenz und Nachvollziehbarkeit professionellen Handelns gegenüber Adressat_innen, Kostenträger_innen, Kooperationspartner_innen und Öffentlichkeit hergestellt werden könnten (vgl. Nauerth 2014). In dieser Stärkung des sozialarbeiterischen Diskurses läge dann zugleich eine Schwächung der professionellen Deutungsmacht gegenüber ihren Adressat_innen. Diese würde faktisch den Schutz vor willkürlichen Diagnosen, aber auch die Einführung transparenter und nachvollziehbarer „Überprüfungs- und Einspruchsmöglichkeiten“ (ebd., S. 318) befördern. Sollen die Angebote Sozialer Arbeit, ihrer Rolle als Profession entsprechend, in Form von „verwendungsnahen Vermittlungsdiskurse[n]“ (Dewe 2015, S. 326) erbracht werden, ohne dabei die Subjektivierung der Adressat_innen zugunsten eines verkürzten Normalisierungsdiskurses zu vereindeutigen und dabei subjektive Wissensbestände zu marginalisieren, bietet sich aus unserer Sicht eine Methodisierung in Form von Fallwerkstätten, entlang eines rekonstruktionslogischen Paradigmas an. Die darin – von Fachkräften und Wissenschaftler_innen – rekonstruierte Qualität der Arbeitsbündnisse und der Nutzer_innenperspektiven, mit Fokus auf die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der somato-psycho-sozialen und kognitiven Integrität (vgl. Oevermann 2005, S. 23), bieten die Möglichkeit der transparenten Darstellung der sozial-diagnostischen Herleitung der Hilfen. 3. Die Methode „machtreflexive Fallwerkstatt“ Die Begründung einer notwendigen Kombination rekonstruktiver und subsumtionslogischer Perspektiven führt an dieser Stelle zur Darstellung der Methode ‚machtreflexive Fallwerkstatt’. Dabei wird die Methode der Objektiven Hermeneutik (Oevermann) mit den drei Wissensperspektiven (Dewe) zusammengebracht und mit den machtreflexiven und gerechtigkeitsambitionierten Überlegungen konfrontiert. Zur möglichen Erprobung wird im Folgenden die Methode handhabbar in Form einer (vagen) Anleitung dargestellt: Rekonstruktive Fallwerkstätten 145 Vorbereitung einer Fallwerkstatt • Aus einem individuellen unterschiedlichen Anlass heraus, bestimmt eine Gruppe von Fachkräften (z.B. ein Team) ein bis zwei Personen, die eine Fallvignette und eine Fragestellung für die Fallwerkstatt vorbereiten. Die Fallauswahl ist durch das Erkenntnisinteresse/ und oder die Praxiskrise der Fachkräfte bestimmt. Geht es um die Reflexion allgemeiner Handlungsstrukturen der Gruppe, eignet sich ein routinierter Fall, um auf allgemeine Sinnstrukturen zu stoßen. Die Methode ist auch für die Besprechung eines krisenhaften Falles geeignet, mit dem konkrete professionelle Handlungsoptionen erarbeitet werden sollen. • Die Fallvignette ist eine eigens für die Fallwerkstatt angefertigte Fallbeschreibung im Umfang von einer DIN A4-Seite. Eine so verstandene Fallwerkstatt kann in erster Linie die Deutungsmuster des Helfer_innenteams rekonstruieren, die den Fall in dieser Weise herstellen. In dem Textmaterial verbirgt sich auch die Fallstruktur der Adressat_innen. Mit authentischen Interviewsequenzen der Adressat_innen wäre es möglich, die Sinnstrukturiertheit des Falls zu rekonstruieren. Günstigerweise wird die Konstruktion des Falles aus Sicht der Fachkräfte mit der Fallstrukturhypothese des Einzelfalles – unter Einbezug wissenschaftlichen Wissens - miteinander vermittelt. • Die Form der Fallbeschreibung bestimmen die Falleingebenden; sie sollte auf die Fragestellung abgestimmt sein (z.B. biografischer Verlauf, institutionsbezogene Interaktionen, Hilfeverlauf gesamt, detaillierte Beschreibung einzelner Handlungsabläufe). Die Angaben zu Namen und Orten müssen anonymisiert werden. • Die Fallvignette wird allen anderen Teilnehmer__innen erst zum Termin der Fallwerkstatt vorgelegt, jede_r erhält ein gedrucktes Exemplar. • Es sollten eine Gesprächsleitung und ein_e Protokollant_in bestimmt werden. Die Gesprächsleitung ist für die Einhaltung der Arbeitsschritte und –prinzipien zuständig. Die Ideen und Aushandlungsergebnisse sowie widersprüchliche Lesarten werden für alle lesbar (z.B. auf einem Flipchart) dokumentiert. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 146 Interpretationsphase der Fallwerkstatt • Für die Fallwerkstatt sollten drei Zeitstunden eingeplant werden. • Die Gesprächsleitung eröffnet die Fallwerkstatt, es wird allen Anwesenden eine Fallvignette ausgeteilt. Die Interpretation beginnt, ohne eine einsteigende Erklärung des Falls. • Die Fragestellung an die Fallwerkstatt wird im Vorhinein kommuniziert und diskutiert und wenn möglich niedergeschrieben und gut lesbar im Raum platziert. • Alle Anwesenden können sich an der Interpretation beteiligen. Die Person, welche die Frage an den Fall formuliert hat, sollte sich die wesentlichen Lesarten protokollieren. • Bei Fallwerkstätten sollten folgende fünf Prinzipien der Textinterpretation eingehalten werden (vgl. Wernet 2009, S.21-38): • Kontextfreiheit: Dies meint einen gedankenexperimentellen ersten Zugriff auf den Text, in dem Kontexte konstruiert werden, in denen der vorliegende Text angemessen sein könnte. Das Kontextwissen darf nicht zur Begründung der Lesarten herangezogen werden. Die Konfrontation mit dem Kontext und die vorgenommene Kontrastierung ermöglichen es, die Besonderheit des Falls zu verstehen. (Vgl. Wernet 2009, S. 21-23) • Wörtlichkeit: Die wörtliche Interpretation des Textes ermöglicht es, zwischen der Bedeutungsintention, also dem Inhalt, den der/die Sprecher_in deutlich machen wollte, und der Textrealisierung, also den dafür verwendeten Wörtern, zu differenzieren. Da der Text die wissenschaftliche Datenbasis für die Interpretation ist, muss auch wörtlich vorgegangen werden. Somit unterscheidet sich die wissenschaftliche wörtliche Interpretation auch von lebenspraktischer Interpretation, weil sie distanzierter analysiert. (Vgl. Wernet 2009, S. 23-27) • Sequenzanalyse: Die Analyse der „mit jeder Einzelhandlung als Sequenzstelle sich von neuem vollziehende, durch Erzeugungsregeln generierte Schließung vorausgehend eröffneter Möglichkeiten und Öffnung neuer Optionen in eine offene Zukunft“ (Oevermann 2002, S. 7, Hervorhebungen im Original) ist unerlässlich. Damit wird der sequentiellen Logik des menschlichen Handelns und Bildungsprozesses gefolgt. Eine Sequenz ist erstens davon bestimmt, dass eine bestimmte Lebenspraxis nach Erzeugungsregeln einen gewissen Spielraum möglicher Anschlüsse zunächst eröffnet und sie zweitens eben aus diesen Rekonstruktive Fallwerkstätten 147 Anschlüssen nach ihren eigenen Auswahlprinzipien auswählt. Die Ganzheit dieser Logik der Auswahl in dem Spielraum bestimmt die Fallstruktur. (Vgl. Oevermann 2002, S. 7, 8,12) • Extensivität: Dieses Prinzip besagt, dass alle im ausgewählten Text vorliegenden Textelemente vollständig bei der Interpretation zu beachten sind und alle möglichen Lesarten der Textelemente beleuchtet werden sollen (vgl. Wernet 2009, S. 32-35). • Sparsamkeit: „Das Sparsamkeitsprinzip verlangt nicht mehr und nicht weniger, als nur diejenigen Lesarten zuzulassen, die textlich überprüfbar sind. Es behauptet nicht, dass die unüberprüfbaren Lesarten falsch sind. Es behauptet aber, dass sie für einen Akt der überprüfbaren interpretatorischen Erschließung wertlos und hinderlich sind.“ (Wernet 2009, S. 37) • Folgende Arbeitsschritte (Sequentielle Feinanalyse, Fallstrukturhypothese) werden bei der Interpretation vorgenommen (vgl. Wernet 2009, S. 39–52): a) Text in Sinneinheiten (einzelne Wörter, zusammenhängende Ausdrücke oder Teilsätze) einteilen und jeweils pro Sinneinheit folgende Schritte durchführen: b) Geschichten erzählen, in denen der Text vorkommen könnte und sprachlich angemessen ist, die jedoch den tatsächlichen Kontext verlassen. Zur Hilfe können auch kontrastive Gedankenexperimente gemacht werden oder Geschichten gesucht werden, welche die Lesart falsifizieren würden. c) Lesarten bilden und dabei Strukturgemeinsamkeiten der Geschichten finden und zu Typen gruppieren. Das Angerührt-sein und die Emotionalität der Fachkräfte kann hierbei gleichzeitig reflexiv in den Blick genommen werden (vgl. Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. 303). Im Forschungsprojekt beschrieben Fachkräfte, dass sie das Verfahren als Empathie fördernd erlebt haben. Die gefundenen Lesarten sollen strukturiert in die verschiedenen Wissensperspektiven (praktisches Handlungswissen der Adressat_innen, Professionswissen der Praxis, wissenschaftliches Deutungswissen mit theoretischen Hintergründen) eingeordnet werden. Dabei kann reflektiert werden, ob die interpretierende Gruppe alle Wissensperspektiven berücksichtigt oder bestimmte auslässt. Dabei muss kein Konsens erzwungen werden, sondern unterschiedliche Lesarten können am Text überprüft werden. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 148 d) Lesarten mit tatsächlichem Kontext konfrontieren mit der Fragestellung, welche Bedeutung die gefundenen Lesarten für den besonderen Fall haben könnten. e) Formulierung einer Fallstrukturhypothese, indem die gefundenen Lesarten zu einer für die Ausgangsfrage beantwortenden Fallstrukturhypothese zusammengefasst werden. Hierbei ist zu reflektieren, dass gleichzeitig geltende konstitutive Regeln sozialen Handelns, „auch in machtkritischer Kontextualisierung, die in realen Lebensverhältnissen und ihren gesellschaftlichen, milieu- und schichtspezifischen Normalitätserwartungen ihren historisch-kulturellen Ausdruck finden (Latenter Sinn)“ (Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. 303) und gleichzeitig auch die manifesten Gründe für Handlung oder Nicht-Handlung mitverhandelt werden können und rechtfertigbar sein müssen (vgl. Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. 303). Wo sehen sich die Fachkräfte mit Ungewissheiten und (Noch-)Nicht-wissenkönnen konfrontiert? In den rekonstruktiven Fallwerkstätten im Forschungsprojekt zeigten sich beispielsweise folgende, hier unsystematisch dargestellte Themenkomplexe auf den unterschiedlichen Wissensebenen: Wissensperspektive der Adressat_innen • Thematisierung eigener Sehnsucht nach Unverletzlichkeit • Ohnmachtserfahrungen • Thematisierung des Zwangskontextes • Selbstsorgetätigkeiten • Wehren gegen diagnostische Zuschreibungen • Konstruktionen von „Drinnen und Draußen“ • Forderungen nach Rechtfertigungen • Ringen um Regeln • Forderung nach Beschwerdemöglichkeiten • Ernstnehmen von Selbstadressierungen • Gerechtigkeitssuche • Sich als selbstbestimmte Person erleben können Professionswissen Wissenschaftliches Deutungswissen • Herstellung von therapeutischen Settings • Bildungsbiographien ermöglichen • Aufträge benennen können • Gefahr, dass klinische Diagnosen Sinnbegriff für Praxis werden • Gefahr der Infantilisierung und Regressivität durch das System • Umgang mit psychiatrisierenden Vorerfahrungen der Adressat_innen • Organisationsstrukturen nicht vernachlässigen • Unterschiedliche Adressierungen: Nutzer_innen, Patient_innen, Besucher_innen • Normative Bewertungen • Werben für die Anerkennung des professionellen • Konzepte von Integritäten und Selbstbestimmung als Idee von Menschenwürde • Beachtung soziologischer, theoretischer Positionen (Ungleichheiten, totale Institutionen, Anerkennung etc.) • Gefahr der Verschleierung von Machtverhältnissen • Gefahr der Konstruktion von Linearitäten und Eigentheorien, die nicht haltbar sind • Rechtfertigung und Alterität • Bedeutung und Kritik unterschiedlicher Klassifikationsmuster • Gefahr, pathologisierende Verhältnisse zu reproduzieren • Bedürfnistheoretische Vergewisserung • Gefahr, Symptome psychischer Rekonstruktive Fallwerkstätten 149 • Wünsche nach „Leben können“ statt nur „Wohnen müssen“ (zu Hause haben) • Normalisierungswunsch nach einem „Draußen sein dürfen“ • Sich auch entziehen und Konflikte vermeiden dürfen • Das eigene Leben, die eigenen Identitäten erzählen dürfen • Traumatisches Erzählen können • Sehnsucht nach Normalitäten z. B. Partnerschaften, Lohnarbeit • Sehnsucht nach Anerkennung und auch anerkennende freundschaftliche Beziehungen • Gefühle, Bilder und Emotionen zum Ausdruck bringen dürfen • Eigene mythische Vorstellungen behalten dürfen • Kreativität entfalten dürfen • Einen Umgang mit eigener Elternrolle finden können • Einen Umgang mit Ungewissheiten erproben können • Selbstmedikationen thematisieren können • Verhältnis zur eigenen Herkunftsfamilie thematisieren können Erfahrungswissens • Strukturen anbieten • Hilfeplanung und Institutionalisierung • Fachsprache in den Hilfeplankonferenzen • Erfahrungsgesättigte Erklärungen, warum eine Person biographisch so und nicht anders geworden ist • Anamnesen erstellen • Ausbalancieren von Nähe und Distanz, Eingehen von Arbeitsbündnissen • Räume für Entwicklungen bereit stellen • Umgang mit Krisen und Suizidalität • Historische Kontextualisierung der „Fälle“ • Umgang mit traumatischen Erfahrungen der Adressat_innen • Umgang mit Datenschutzbestimmungen • Standardisierungen, Aktenführung • Umgang mit Spannungsfeldern • Paradoxie des Trialoges erkennen Erkrankung zu pathologisieren • Verstehen von Kontexten • Rechtssubjekte und Recht auf Rechte • Verstehen von entgrenzten Lebensläufen und (Bildungs-) Biographien sowie Lebenslagen • Pluralisierung von Lebensstilen • Identitätskonstruktionen • Gefahr der Objektivierung der Nutzer_innen • Bedeutung von neoliberalen Strukturen • Erkennen der widersprüchlichen Einheit von diffuser und formaler Sozialbeziehung in Arbeitsbündnissen • Erkennen der widersprüchlichen Einheit von Selbstbestimmung und reflexiver Stellvertretung auf Selbstbestimmung hin • Traumabegriff wissenschaftlich klären • Gefahr der Biologisierung und Subjektivierung von kritischen Lebensereignissen • Verstehen von Adoleszenzkrisen • Bedeutung von Regressionen erkennen Partizipation braucht Exploration und eine gleichwertige Anerkennung und/oder Privilegierung der Wissensperspektive der Nutzer_innen Sozialer Arbeit. Dabei steht die Normalisierungssehnsucht der Nutzer_innen im Vordergrund. Die Profession muss den Nutzer_innen Deutungsangebote machen. Wissenschaft muss das Erfahrungswissen der Profession kritisch würdigen und dort machtreflexiv anfragen, wo Praxis gewaltvoll repressiv handelt und Machtverhältnisse reproduziert. Dabei darf die Wissenschaft den Handlungsdruck der Profession nicht vergessen. Sie muss sich selbst permanent einer Selbstkritik unterziehen. Tabelle 2: Themenkomplexe der Fallwerkstätten im Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“, eigene Darstellung Diskussionsphase nach der Interpretation • In der nachträglichen Rekonstruktion ist es bedeutend, machtreflexiv über die gewonnenen Fallstrukturen hinaus das Verhältnis der eigenen Adressat_innen zur Gesamtgesellschaft anhand der Rekonstruktionen zu deuten und auch (kollektive) Integritätsverletzungen (z.B. Diskriminierungen und Exklusionen) der psychiatrisierten Personen herauszuarbeiten (vgl. Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 150 304). Welches wissenschaftliche Wissen findet sich über die Zusammenhänge von psychischer Diagnose und Exklusion und Diskriminierung? Die Fachkräfte berichteten, wie erkenntnisgewinnend es für sie war, theoretische Bezüge zu den Fallkonstellationen herstellen zu können. Daran anschließend stellt sich nun die Frage, wie das Erfahrungswissen der Adressat_innen privilegiert oder zumindest gleichwertig gewürdigt werden kann? Wird beispielsweise das Wissen von Widerstands- und Selbsthilfebewegungen im Sinne eins „Nicht über uns ohne uns“ einbezogen? Welche Partizipations- und Selbstbestimmungswünsche lassen sich ableiten? • Die Fallwerkstatt zeigt einerseits die vielfältigen Wissensbestände von Helfer_innenteams, andererseits haben Teamkonflikte einen großen Einfluss auf die Ergebnisse der Fallwerkstatt. Dagegen wirkt unterstützend, sich stark an der Methode zu orientieren, damit die Deutungen am Text überprüft werden können und auch die weiteren Prinzipien eingehalten werden. Irritationen von Deutungsmustern brauchen einen sicheren Rahmen, in dem sich Fachkräfte und Wissenschaftler_innen revidieren können. Das Ringen um Deutungen kann daher durch Konflikte erschwert werden, weil es nicht mehr um das widerspruchsfreiste Argument geht, sondern eher um die weitere Stärkung machtvoller Sprecher_innenpositionen. Eine machtreflexive Fallwerkstatt muss die teaminternen Machtverhältnisse berücksichtigen. • Das kann auch als Diskussionsgrundlage für professionstheoretische und professionsethische Handlungsroutinen für die Fachkräfte (Professionswissen) dienen. Eine Frage ist, wo Deutungsmuster, herangezogenes empirisches Wissen (ärztlicher Blick) und Eigentheorien auch in Gefahr stehen, selbst Diskriminierendes und Gewaltförderndes zu beinhalten oder Gewalt strukturell zu legitimieren? Wann droht die widersprüchliche Einheit von notwendiger Stellvertretung und echter Partizipation, in eine abhängigkeitserzeugende Weise vereindeutigt zu werden? (vgl. Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. 304) • Wie kann aus diesen Erkenntnissen die eigene Institution gerechtigkeitsambitioniert weiter entwickelt werden und Selbstbestimmung und die Förderung der somatopsycho-sozialen und kognitiven, rechtlichen, moralischen und räumlichen Integrität der Adressat_innen(-gruppen) hinsichtlich v.a. der Unverletzbarkeit ihrer Körperlichkeit, seelischen Gesundheit, Bildung, Gerechtigkeit, Sinnsuche und Rekonstruktive Fallwerkstätten 151 Unterkunft (vgl. Oevermann 2008: 59 f.) (wieder) ins Zentrum gerückt werden (vgl. Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. 304)? Deutungskonflikte zeigten sich in den Fallwerkstätten zwischen den Fachkräften, zwischen Fachkräften und Leitung, zwischen Wissenschaft und Praxis und zwischen Kliniken und sozialpsychiatrischen Einrichtungen. • Was könnte diese Erkenntnis (auch zur konstruktiven Konfliktbearbeitung) für eine induktive (Gerechtigkeitsorientierung) und zugleich deduktive (Institutionen-)Ethik (Menschenrechtsorientierung) bedeuten? (vgl. Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. 303) • Wie können diese Wissensperspektiven nun relationalisiert werden? Wie können die nun gewonnenen Erkenntnisse mit den Adressat_innen machtreflexiv – im Bewusstsein der Begegnung von Personen mit unterschiedlicher Verletzbarkeit – ausgehandelt werden? Welche Bedeutungen haben diese Erkenntnisse für eine trialogische Professionalität? • Im Nachhinein könnte das Protokoll zur Reflexion des methodischen Vorgehens und zur Ergebnissicherung allen zugänglich gemacht und evtl. nachbesprochen werden. In einer Fallwerkstatt im Rahmen des Forschungsprojektes zeigte sich beispielsweise, dass ein Konzept eines so genannten „Traumamodus“, in welchen sich Adressat_innen hineinbegeben würden, zum handlungsleitenden Motiv wurde. In der Lesart des Teams zeigte sich ein Traumaverständnis als eine biologisch determinierte Reaktion eines „überforderten Gehirns“. Dieses Deutungsmuster der Fachkräfte diente auch zur Entlastung und Entstigmatisierung der Adressat_innen. Gleichzeitig wurde den Adressat_innen jegliche Selbstbestimmungsmöglichkeit und Handlungsfähigkeit abgesprochen, genauso wie die Möglichkeit, kritische Lebensereignisse versprachlichen zu können. Weiter wurde die Soziale Arbeit von dem Team als nicht diagnostizierend konstruiert. Hierbei zeigte sich, wie Soziale Arbeit in Gefahr steht, sich im Kontext von Komplexitätslagen einerseits durch „Hype“ zu technisieren („vom systemischen Arbeiten über psychoanalytische Ansätze bis hin zu traumapsychologischen Ansätzen“) und gleichzeitig Komplexität massiv zu reduzieren: Das eben skizzierte Team sah gleichzeitig die Hauptaufgabe der Sozialen Arbeit in dem sozialpsychiatrischen Handlungsfeld in der so genannten „Beziehungsarbeit“, ohne dabei eine Idee zu entwickeln, wie Lebensverhältnisse, Lebensvollzüge und Lebensdeutungen der Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 152 Adressat_innen positiv mitgestaltet werden könnten. Die Teilnehmenden der Fallwerkstatt traten über diese Fragen – entlang der Arbeitsbündnistheorie – in einen interessantkonfliktreichen Aushandlungsprozess ein. Rekonstruktives Fallverstehen im Kontext eines trialogischen Professionsideals Einerseits stellten einzelne Fachkräfte die Praktikabilität der im Forschungsprojekt gemeinsam erprobten Fallwerkstätten in Frage, da sie dafür nicht genügend Zeitressourcen sehen. Andererseits stellten Fachkräfte positiv heraus, dass das Verfahren Deutungsprozesse entschleunigen und gegen unangemessenen „Aktionismus“ helfen kann. Dabei würden bisherige eingefahrene Handlungsroutinen sichtbar und ein biographischer Blick hinsichtlich der Adressat_innen eingenommen. Hier schließt die Frage an, welche Möglichkeiten eine solche machtreflexive Fallwerkstatt für eine reflexive Soziale Arbeit in der Sozialpsychiatrie haben kann? Interessant wäre es unseres Erachtens, zwischen den manifesten (Partizipation) und latenten Bedeutungsstrukturen (Advokatorik) zu unterscheiden und beides in der Rekonstruktion zugänglich zu machen. Dabei ist wichtig, dass die stellvertretenden Deutungen (Fallverstehen) in einem Aushandlungsprozess mit den Adressat_innen auch verworfen werden können (müssen), wenn sie nicht rechtfertigbar sind oder die Sinnstruktur für die Adressat_innen keinen (Eigen-)Sinn stiftet (vgl. Ludwig 2015, S. 310). Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Adressat_innen im Sinne einer advokatorischen Ethik den latenten Sinnstrukturen vollständig entziehen können und Institutionen sich manifesten Sinnstrukturen nicht konfrontieren müssten. Hierin liegt doch die Widersprüchlichkeit professionellen und institutionellen Zusammenhängen Handelns. als Dadurch widersprüchliche würde Einheit Professionalität von in institutionellen advokatorischer Ethik und Nutzer_innenpartizipation anerkannt. Idealtypisch wäre es, alle drei beschriebenen Wissensperspektiven mit der gleichen Macht auszustatten, um somit eine „ideale, herrschaftsfreie Sprechsituation [herzustellen,] mit optimalen Chancen, für das jeweilige Problem die richtige Lösung, das Gute zu finden, da der je gefundenen Lösung alle zwanglos zustimmen können“ (Dörner 2003, S. 38). Klaus Dörner verweist darauf, dass sich hierfür das Konzept des Trialogs im sozialpsychiatrischen Kontext 153 Rekonstruktive Fallwerkstätten im deutschsprachigen Raum seit 1989 etabliert hat. Mit dem Begriff des Trialogs werden Foren bezeichnet, in welchen sich Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Fachkräfte auf Augenhöhe begegnen können, um „sich über Fragen der Angemessenheit psychiatrischer Praxis, Versorgung und Wissenschaft so zu verständigen, dass die Belange aller drei Gruppen gleichermaßen Berücksichtigung finden“ (ebd., S. 37). Zugleich thematisiert Dörner auch die notwendigen Voraussetzungen für einen Trialog, die, im Sinne eines Habermas'schen idealen Sprechaktes, dazu beitragen sollen, eine „systematisch verzerrte Kommunikation“ (Habermas 1984, S. 252) unter den Teilnehmer_innen zu verhindern. So ist neben der Wahl von neutralen Orten, zu welchen Dörner u.a. „Rathaus, Volkshochschule, Kirchengemeinde, Universität oder Bürgerzentrum“ (Dörner 2003, S. 38) zählt, auch auf eine neutrale Zeit zu achten (vgl. ebd., S. 40). Klingen diese Bedingungen voraussetzungsvoll, lassen sie sich immerhin noch als idealtypische Orientierungspunkte verstehen. Ein zentraler Punkt allerdings, der in der Auseinandersetzung mit der Forderung nach Partizipation in der Sozialpsychiatrie die Idee der stellvertretenden Deutung durch Fachkräfte interessant macht, ist eher pragmatisch. Um sicher zu stellen, dass alle beteiligten Personen am Trialog nicht nur ihre partikularen Interessen vertreten, sondern auch als Vertreter_innen der jeweiligen Interessens-Gruppen fungieren können, „gehört [es] daher wohl zu den notwendigen Voraussetzungen des Trialogs, dass die beteiligten Gruppen sich in Selbsthilfegruppen organisiert haben“ (ebd.). Diese Forderung steht jedoch im Gegensatz zur Realität der Angehörigen- und Psychiatrie-Erfahrenen-Initiativen: „So ist festzustellen, dass es nicht in allen Kreisen überhaupt organisierte Psychiatrieerfahrene und organisierte Angehörige gibt, ferner gibt es die Erfahrung, dass manche Gruppen nicht stabil sind oder keine Resonanz mehr finden. Die eigentlich wünschenswerte Mitwirkung auch in Arbeitsgruppen u.ä. im GPV [Gemeindepsychiatrischer Verbund, Anm. d. V.] personell sicherzustellen ist vielen Selbsthilfegruppen von Angehörigen wie von Psychiatrieerfahrenen kaum möglich.“ (LVPEBW 2015, S. 1) Folglich fordert der Landesverband der PsychiatrieErfahrenen auch die Unterstützung der Fachkräfte beim (Wieder-)Aufbau solcher Strukturen. „Solange es keine stabilen Formen organisierter Selbsthilfe gibt, in denen das in Eigenregie sichergestellt wird, liegt hier eine unverzichtbare Aufgabe der Professionellen.“ (ebd., S. 3) Vor diesem Hintergrund wären die Voraussetzungen für Partizipation erst herzustellen. Die Soziale Arbeit wird durch den Landesverband der Psychiatrie-Erfahrenen gleich doppelt angefragt. Zum einen als Unterstützer_in und Ansprechpartner_in für den Aufbau von Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 154 Selbsthilfestrukturen. Zum anderen aber – und hierbei können rekonstruktive Fallwerkstätten eine sinnvolle Methode sein – als parteiliches und solidarisches Gegenüber im Prozess der Selbstartikulation der Adressat_innen. (Vgl. Bliemetsrieder/Maar/Schmidt/Tsirikiotis 2016) Auf der Seite der Sozialen Arbeit eröffnet das Ringen um eine fallangemessene Deutung Professionalisierungs-Räume für die Teams in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Im Aushandlungsprozess mit den Adressat_innen durchlaufen die erarbeiteten Deutungen weitere Schleifen und ermöglichen es die Möglichkeits-Räume konkreter auszuleuchten, Selbst- und Fremddeutungen zu prüfen, zu verwerfen oder - in Ansätzen – zu übernehmen. Auf der Seite der Adressat_innen können die Aushandlungsprozesse um die Deutungen machtreflexiver Fallwerkstätten einen Anlass bieten, um Selbst- und Weltverhältnisse zu reflektieren und die auf Möglichkeiten für Transformationsprozesse hin anzufragen. Literatur Adorno, Theodor W. (2003): Schriften 1. 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Es genügt nicht zu verstehen, worin der Fall besteht, oder zu wissen, wie ihm gegenüberzutreten ist, welche Methoden die erfolgversprechenden sind oder welche Theorie hier am besten zum Einsatz kommt: Soziale Arbeit ist ein komplexer Prozess, der mehrere Grundelemente beinhaltet, von denen keines für ein Gelingen verzichtbar ist. Professionist_innen müssen alle Bereiche beherrschen: die Diagnose, die Interventionsplanung, die Interventionsdurchführung, die Evaluation, die mitlaufende Reflexion für eine mögliche Korrektur all dieser Schritte und die Rückbindung dieser Schritte an Theorien. Und eben diesen Zusammenhang legt der Begriff Diagnose nahe. In der Disziplin wird dem meines Erachtens zu wenig entsprochen. Ganz im szientistischen Gestus verfangen, ‚zerlegen’ wir unsere Gegenstandsbereiche so weit, dass der Zusammenhang verschwindet und vergessen die notwendige Kehrseite jeder Analyse, die Kontextualisierung. Zunächst wird in diesem Beitrag der Begriff ‘Soziale Diagnostik‚ verhandelt und dafür plädiert, dass die Soziale Arbeit eine handlungsanleitende Diagnostik innerhalb der eigenen Profession entwickeln muss. ‘Soziale Diagnostik‘ ist hierbei nicht mit Anamnese gleichzusetzen. Weiters wird in einem kurzen Streifzug angedeutet, welche möglichen diagnostischen Instrumente Sozialer Arbeit bereits zur Verfügung stehen. Anschließend setze ich mich mit der Frage auseinander, weshalb innerhalb der Profession Soziale Arbeit diagnostische Instrumente so wenig Anwendung finden und ich möchte aufzeigen, warum sich bestimmte Konzepte nicht als Diagnoseinstrument für die Soziale Arbeit eignen. Im dritten Abschnitt finden sich drei Interviewpassagen mit Jugendlichen im Kontext einer Jugendnotschlafstelle, aus denen heraus ich andeuten möchte, wie in ihnen spezifische 161 Diagnostik in der Sozialen Arbeit Wahrnehmungen, Prozesse der Selbstbeschreibung sowie Selbstwahrnehmungen zum Ausdruck kommen und wie Fachkräfte häufig pädagogisierend in bestimmten Systemlogiken darauf reagieren. Abschließend möchte ich ein Diagnoseinstrument darstellen, das ich mit engagierten Programmierschüler_innen entwickelt habe und welches kostenfrei der Profession Sozialer Arbeit zur Verfügung steht. I. Soziale Diagnostik Der Begriff ‘soziale Diagnostik‚ mag problematisch erscheinen, weil ‘Diagnostik‚ einem naturwissenschaftlich-technischen Verständnis entlehnt ist und damit Linearität postuliert und suggeriert, die in der Sozialen Arbeit nicht zu haben ist. Das naturwissenschaftliche Verständnis besagt, dass es zuerst einmal einen objektiv feststellbaren Gegenstand, – in unserem Fall eine Problemlage – gibt. 1 Mit dem richtig eingesetzten Werkzeug lässt sich dieser Gegenstand erfassen und beschreiben. Diese technische Vorstellung betrifft des Weiteren die Behandlung der Problemlage und damit ihre Lösung. Bei richtiger Diagnose folgt in einer Art professioneller Automatik die richtige Hilfe/Behandlung und infolgedessen die (Auf)lösung der Problemlage. In der sozialen Arbeit ist jedoch weder die Diagnostik 2 selbst noch der gesamte Hilfeprozess linear:. Soziale Diagnostik ist zirkulär, Selbstbeschreibungen und Zuschreibungen von Außen interagieren mit Selbst – und Fremdbeobachtungen und Beobachtungen zweiter Ordnung. In ihrer Zirkularität ist Soziale Diagnostik zugleich fortschreitend, weil Kommunikation neue Realitäten schafft, jede Frage bereits eine Intervention darstellt und so aus Möglichkeiten Wirklichkeiten entstehen oder Unmöglichkeiten. Für dieses Modell der Sozialen Diagnostik als fortschreitend zirkulären Prozess der Analyse und Kontextualisierung – es gibt auch 1 „Objektiv“ meint, dass dieser Gegenstand unabhängig von einer Beobachtungsperspektive existiert. 2 Meines Erachtens gleichbedeutend ist der Begriff des „Verstehens“ eines Falles. Der Verstehensbegriff schließt an die Diskussion in der Wissenschaft über die eigene Erkenntnismethodik der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften an. Diese Diskussion ist nicht abgeschlossen, aber de facto haben die Geisteswissenschaften sich längst im Wissenschaftssystem behauptet. Wissenschaftstheoretisch halte ich den Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften für überholt und die Relativität jeder Erkenntnis für wissenschaftlich belegt und grundlegend. Dazu erscheint es mir auch nicht sehr schlüssig, Verstehensprozesse objektiv setzen zu wollen. Hubert Höllmüller 162 andere Modelle, die an Linearitäten festhalten – bestehen ethische und theoretische Voraussetzungen: die Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Sichtweisen, die prinzipielle Relativität der eigenen Bewertung, die Eingebundenheit von Individuen in ihre sozialen Systeme. (also nicht ‚person in environment’ sondern ‚person in systems’). Die Zirkularität der sozialen Diagnostik steht im Widerspruch zum Handlungsdruck in der Sozialen Arbeit. Dieser Handlungsdruck drängt wieder Linearität auf: Es gilt zunächst das Problem zu benennen, um in einem nächtsen Schritt einen Hilfeplan zu verfassen und damit die vermutete richtige Hilfeform einzusetzen. Im günstigen Fall werden bei der Hilfeplanerstellung gemeinsam mit den Betroffenen Ziele formuliert, mit deren Erreichen auf das Problem Einfluss genommen wird – im erfolgreichen Fall ist es gar gelöst. Und in der Hilfeform werden bestimmte Methoden und Techniken eingesetzt, um die Ziele erreichen zu können. Der ganze Prozess ist gerahmt von berufsethischen Positionen und theoretisch rückgebundenen Haltungen. In gleicher Weise ist er darüber hinaus auch von Organisationsdynamiken und psychischen Dispositionen der handelnden Personen gerahmt. Was für Wirtschaftsunternehmen gilt, gilt auch für soziale und wissenschaftliche Unternehmungen. Obgleich wir besonders wenig darauf achten: Es geht auch in der Sozialen Arbeit bisweilen um Macht, den Zugang zu Entscheidungspositionen oder den Willen, Recht zu haben, alles verbunden mit mangelnder Selbstreflexion. Diesem Widerspruch zwischen fortschreitender Zirkularität der Diagnose und Linearität nahelegendem Handlungsdruck kann die Soziale Arbeit nur pragmatisch begegnen, will sie nicht einerseits im komplexen Fallverstehen verharren und anderseits Problemlagen nur verwalten. Es bedarf also einer handlungsanleitenden Diagnostik, die für die Profession anwendbar ist. Dabei ist klar, dass das alte Konzept der Anamnese nicht ausreicht: Daten zu sammeln und zu strukturieren bzw. zu filtern ist kein diagnostischer Akt, denn dazu müssten diese Daten auch bewertet werden. Dieser Bewertungsschritt wird jedoch gerne vermieden oder nur implizit ausgeführt; das Motto lautet vielmehr: Die Fakten sprechen für sich (allerdings wirken bereits Bewertungsprozesse darauf ein, welche Daten wie gesammelt werden und welche nicht). Die Aufzählung all dessen, was ich als Sozialarbeiter bei einem Hausbesuch beobachte, ist keine Diagnose. Der Satz „Im Vorzimmer riecht es unangenehm nach Zigarettenauch“ kann vieles bedeuten. Die Tatsache, dass ich diesen Satz in die Stellungnahme an das Familiengericht Diagnostik in der Sozialen Arbeit 163 schreibe, die im Rahmen einer Verhandlung über einen Obsorgeentzug zur Entscheidungsfindung herangezogen wird,, macht daraus eine tendenziell negative Aussage im Bezug auf die Kompetenzen der Eltern. Die reale Verfasstheit der Profession stellt sich mir dergestalt dar, dass hochkomplexe Lebensgeschichten in der Profession schnell zu dünnen Fäden gerinnen, die mit einigen Knoten versehen sind und versehen werden, wobei für lange (meines Erachtens oft zu lange) Zeit festgelegt wird, welche Hilfeformen zum Einsatz kommen und welche nicht. An diesen wenigen Knotenpunkten werden langfristige Entwicklungen entschieden, die kaum revidierbar sind. Hier spielt zwar die de facto Diagnostik die entscheidende Rolle, aber ohne explizite Ausformung. Damit bleibt sie intransparent und wird immer wieder als willkürlich erlebt und beobachtet. Uneingelöst bleibt so auch der Anspruch der Profession, zu wissen und erklären zu können, was sie tut. Die Disziplin hat es bislang nicht geschafft, Instrumente zu entwickeln, die nicht nur hohe reflexive Qualität ermöglichen, sondern auch zu verpflichtenden Standards werden. Die Profession reagiert auf Vorschläge interessiert; die immer wieder gesetzten Initiativen sind zwar meist auch sehr ambitioniert, jedoch zu isoliert vom Gesamtprozess innerhalb und außerhalb der jeweiligen Organisation. II. Was hat es für einen Nutzen, keine Instrumente sozialer Diagnostik einzusetzen? Ich stelle diese Frage, weil mir bisher bis auf wenige Ausnahmen keine angewandten Instrumente der Diagnose in der Profession begegnet sind. Das bewusste Vagehalten der Lebens- und Leidensumstände der Klient_innen, die zugleich den Ausgangsgrund jeglicher sozialarbeiterischer Aktivität (und damit den Einsatz von öffentlichen Geldern) darstellen, ermöglicht viel persönlichen und organisatorischen Spielraum. Anything goes. Ich kann im Hilfeprozess trotz dieser Unbestimmtheit Ziele ins Auge fassen – allerdings mit wenig partizipativer Ausprägung –, Interventionen setzen und meine persönlichen Erfolgsvorstellungen verfolgen. Als Organisation kann ich meine Ressourcen freier lenken und mich dadurch mehr mit mir beschäftigen als mit dem Lösen von Problemen meiner Klient_innen. Zu Hilfe kann ich dann psychologisch/psychiatrische Diagnosen nehmen, denn wenn meine Klient_innen ‘krank‚ sind, ist unbezweifelbar Hubert Höllmüller 164 klargelegt, dass Handlungsbedarf besteht. 3 Ohne explizite eigene Diagnose bleibt Soziale Arbeit im psychologisch/psychiatrisch/psychotherapeutischen Feld nur eine Hilfsprofession. Das Konzept der psychologischen Norm ist für die Soziale Arbeit dabei wenig fruchtbar. Zum Beispiel weicht die Kinder- und Jugendhilfe selbst grundlegend ab: Während junge Erwachsene in Österreich im Durchschnitt mit 24 Jahren aus dem Elternhaus ausziehen, vollzieht das die Kinder- und Jugendhilfe per Gesetz im stationären Bereich mit 18 Jahren, bei einigen wird bis zum 21. Lebensjahr verlängert: nach wie vor deutlich abweichend von der Norm. ‘Fremd‘unterbringung bedeutet in Deutschland und Österreich zum größerenTeil ‘Platzierung‚ in Einrichtungen, in denen Kinder nicht-familiär betreut und erzogen werden. Auch dieser Sachverhalt beschreibt eine Normabweichung. Die Psychiatrische Diagnostik (ICD10) bescheinigt dies auch in ihrem multiaxialen Klassifikationsschema auf der 5. Achse, „Abnorme psychosoziale Umstände“ unter „abnorme unmittelbare Umgebung“: „Erziehung in einer Institution“. Für ebendiese Diagnostik sind allerdings auch alleinerziehende Elternteile, Patchworkfamilien und behinderte Geschwister ‘abnorme Umstände‚. Diese Normperspektive widerspricht meines Erachtens dem zentralen Ansatz der sozialen Arbeit, Abweichungen zu normalisieren. Abweichungen sind Verhaltensweisen, die von den Personen zu trennen sind. Und sie sind nicht per se ein Problem oder gar ein Mangel. Das bedeutet zugleich, dass Personen nach ihren Möglichkeiten Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen müssen. Der erste Schritt besteht jedoch darin, das Verhalten so zu akzeptieren (akzeptieren, nicht gutheißen), wie es nunmal ist. Peter Pantucek-Eisenbacher, einer der zentralen Autor_innen im Bereich der Sozialen Diagnostik sprach deshalb beim letzten Fachkongress in Hamburg 2016 auch von der Notwendigkeit einer ‘Speerspitze‘ gegen die dominierende Diagnostik der Psychologie und Psychiatrie. Wie angebracht diese martialische Metapher ist, hängt von den multidisziplinären und multiprofessionellen Einblicken ab, die zur Verfügung stehen. Tatsache ist, dass die Soziale Arbeit aus der Psychologie (z. B. Psychosziale ressourcenorientierte Diagnostik (PREDI) oder Person in Environment (PiE)) und der damit kombinierten Familientherapie mit 3 Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe habe ich bisher noch keine plausible Erklärung gefunden, worin der Unterschied zwischen einer Störung und einer Krankheit liegt. Bedeutet Störung Normabweichung, wodurch die Umwelt und/oder die Klient_innen selbst belastet bis hin zu verletzt werden? Und Krankheit den Ausschluss von Verantwortung für eben diese Belastungen und Verletzungen? 165 Diagnostik in der Sozialen Arbeit ihren sozialpädagogischen Familiendiagnosen (SOFA) bedient wird und damit eher freundlich umgeht. Die Dominanz der Nachbardisziplinen ist zwar systemlogisch und folgt dem Ausdifferenzierungsprinzip des Wissenschaftssystems, allerdings ist die Soziale Arbeit selbst allzu oft in einer sich unterordnenden Haltung. Eine Speerspitze müsste sich also nicht nur nach außen richten, sondern auch uns selbst auf die Sprünge helfen. Zwei weitere Erklärungen im Hinblick auf die Abwesenheit von Diagnoseinstrumenten sind meiner Ansicht nach denkbar: Jene Diagnoseinstrumente fanden bisher schlicht weder in die Ausbildungs-/ Studienpläne der Ausbildungsinstitutionen noch in die Organisationen der Profession Eingang. Oder aber die Akteur_innen möchten es gar nicht so genau wissen. Denn alles, was genau gewusst wird, macht eine Intervention nötig. III. Betroffene Die sprachlich geglätteten Interviewpassagen dreier Jugendlicher wurden im Kontext einer Jugendnotschlafstelle geführt. Das bedeutet, sie waren aktuell von Obdachlosigkeit betroffen und außerhalb des regulären Hilfesystems. Die Interviews wurden in den dortigen Aufenthaltsräumen geführt. Die Jugendlichen wurden nach ihrer Jugendhilfebiographie gefragt, d.h., folgende Fragen wurden insbesondere gestellt: In welchen Einrichtungen waren die Jugendlichen (inklusive Psychiatrie) untergebracht?. An wen können sich die Jugendlichen erinnern? Was hat ihnen der Aufenthalt ihrer Ansicht nach gebracht?. Statt einer klassischen psychologisierenden Textanalyse kombiniere ich Aussagen mit Substantiva, die in erster Linie die Plausibilität der Erzählungen dokumentieren sollen. Ich habe die drei Passagen ausgewählt, um die relative Reflektiertheit zu zeigen, mit der die Jugendlichen von massiven Vorfällen berichten: III.1 J: Ahm… jetzt fällt's mir wieder ein. In (nennt eine Einrichtung) kann ich mich an meine Betreuerin erinnern. Die heißt (nennt einen Vornamen). Immer wenn ich schlimm war, hat sie mich aufgehoben und irgendwo in mein Zimmer getragen. Ich weiß nicht ob es auch ein Grund war wo sie weg… wo sie zugeschlossen haben, aber es war einmal da wo ich (...) Hubert Höllmüller 166 regelmäßige Wutanfälle gehabt hab. Da haben sie mich in einen Raum eingeschlossen. Seit dem zuck' ich aus, wenn irgendwer mich irgendwo einschließt. Ich flipp' aus. Komplett. Ich krieg' Panikattacken. Wenn mich jetzt zum Beispiel da wer einschließen tät', alleine, ich tät' ausrasten, ich tät' komplette Angstzustände kriegen. Des war aber meist, da war eine Matratze am Bett für eine Nacht, für einen Tag und eine Nacht. Dann, wenn ich brav geworden bin und mich gelernt hab zu benehmen, kann ich wieder 'rauskommen. Das war schlimm. Spezifische Wahrnehmung: „da war eine Matratze am Bett für eine Nacht“ Selbstbeschreibung: schlimm sein, Wutanfälle, nicht brav sein, sich nicht benehmen können Pädagogisierung: „Wenn ich gelernt hab mich zu benehmen“ Es wird nicht nur das Wohlverhalten verlangt, sondern das Erlernen desselben, um es dauerhaft zu gewährleisten. Selbstdiagnose: „Seit dem zuck ich aus, wenn irgendwer mich irgendwo einschließt.“ Systemwahrnehmung: Akteurin zuerst die konkrete Betreuerin, dann Wechsel in Mehrzahl: „sie haben mich in einen Raum eingeschlossen.“ In diesem Fall wurde eine „Heimholung“ durchgeführt, d.h., die/der Jugendliche wurde aus einer stationären Einrichtung eines anderen Bundeslandes in das Familiensystem zurückgeführt. Ohne adäquate Unterstützung scheiterte dies. III.2 I: Wieso bist du da hinein gekommen? J: .. weil ich von klein auf schon ziemlich aggressiv war und mir war alles einfach scheiß egal. Ich hab auf Autorität nichts gegeben und das war halt als Kind schon so. Ich bin immer ausgezuckt und da war dann halt so ein Vorfall, dass ich daheim ausgezuckt bin und da hab ich dann halt angefangen mit meinem Vater zu raufen, halt meinen Vater zu attackieren und halt auch noch andere Leute was dort waren. Sie haben mich mit der Rettung und mit der Polizei in die Psychiatrie gebracht … und dann war ich da drinnen. Also zuerst war ich knappe 3 Monate geschlossen und den Rest war ich offen. I: Also 8 Monate insgesamt. 167 Diagnostik in der Sozialen Arbeit J: Ja. I: Und kannst du dir im Nachhinein erklären warum du da 8 Monate drinnen warst? J: Ja das hab ich mir eigentlich also ja ... weil ich in der Woche sicher fünf Mal ausgezuckt bin. Also ich bin jeden Tag ausgezuckt. So viel wie ich im Gurtenbett verbracht hab, da hätt ich einiges erreichen können. Es war halt einfach ... weiß ich nicht. Ich hab auf alles geschissen, zu mir hat einer „nein“ gesagt und ich bin ausgezuckt. Es waren einfach Kleinigkeiten. (…) (lacht) Ich hab der (nennt einen Namen) da ... der hab ich das Waschbecken nachgesalzen, das was bei mir im Zimmer war. I: Also zuerst hast es herausgerissen und ihr dann nachgeschmissen. J: Ja und dann ihr nachgehauen. Also .. wenn man aus'zuckt hat man einfach viel, viel, viel mehr Kraft. (…) I: Was würdest du jetzt so sagen, hast du etwas gelernt von diesen Zwei Betreuern in den WGs, an die du dich erinnern kannst? J: Nein .. aber ich sag auch immer … die WGs und die Heime haben mir nichts gebracht. I: Wieso haben sie dir nichts gebracht? J: Weil ich war nach den WGs und nach die Heimen immer noch immer gleich wie wo ich 8 war und in die Psych gekommen bin … nur älter. (…) Also ..gebracht hat es mir direkt glaube ich nichts … also nicht so was dass was es direkt was gebracht hat… aber ich glaube schon, dass es mir a bissl geholfen hat … weil ich eben nicht weiß wie es gewesen wäre weil Italien ist das einzige was geholfen hat, finde ich. (…) I: Und die Psychiatrie? Hubert Höllmüller 168 J: Die hat mich meiner Meinung nach noch fertiger gemacht wie ich vorher schon war. Weil 8 Monate da drinnen zu sein und danach noch gleich drauf zu sein wie vorher ist irgendwie auch nicht so der Sinn der Sache.//Mh. Gleich drauf war ich war ja .. ein bisschen ruhiger weil sie mir - weiß ich nicht - Betäubungsmittel gegeben haben wo du ein Pferd niederstrecken kannst. (…) Ja das hat sich einfach nicht vermeiden lassen würde ich sagen. Also es war bei mir immer so wenn ich ausgezuckt bin, bin ich dann in das Gurtenbett gekommen ...und dann haben sie dann ewig lang gebraucht bis sie mich da drinnen gehabt haben...Und ich habe halt Beruhigungsmedikamente bekommen meistens Spritzen und Tabletten weil … am Anfang waren es halt immer Tabletten weil sie haben mir immer die Wahl gestellt, entweder nimm ich jetzt die Tabletten oder sie kommen mit der Spritze. //Mh. Und ich bin dann halt ausgezuckt und dann hab ich halt in dem Moment gesagt ich scheiß auf die Tabletten und dann sind sie halt mit der Spritze gekommen. Und wenn ich das dann bekommen habe //boa, drei vier Stunden hab ich dann schon gepennt. Und ja danach haben sie mich dann so eine Stunde eineinhalb drinnen gelassen, dass sie sicher sein können, dass ich komplett ruhig bin … also nach dem Aufwachen. Ja und dann haben sie sich mich irgendwann eh herausgelassen. (…) Nein geholfen eigentlich nicht .. weil inwiefern sollte das helfen? Das ist ja nicht da dass es hilft sondern einfach dass es im Moment dass der Moment unter Kontrolle ist. Finde ich. (…) Also geholfen hat mir das jetzt nicht nein...Es war halt einfach so. I: Aber es beschäftigt dich auch nicht mehr oder so? J: Nein...mittlerweile muss ich ehrlich sagen ... hab ich das schon soweit dass zum Beispiel wie's beim (nennt einen Vornamen) ist ...dass ich ihm Ratschläge und Tipps geben kann dass er so etwas vermeiden kann. Er nimmt sie eh nicht an aber das ist ein anderes Thema ja.//Jaja das ist ein anderes Thema ja. Aber mittlerweile hab ich es schon so drauf, also ich bereue es nicht, ich schäme mich auch nicht dafür... aber ich bin nicht stolz drauf. Aber ich gebe es halt einfach wenn einer will gebe ich ihm halt Ratschläge weil ich es einfach durchgemacht habe.//Mh. Und das ist es eigentlich. Das ist das einzige was gut dabei war.//Mh. 169 Diagnostik in der Sozialen Arbeit Spezifische Wahrnehmung: Waschbecken aus der Halterung reißen und einer Ärztin nachwerfen. Ohne den Film zu kennen, wird damit eine Schlüsselszene aus „Einer flog über das Kuckucksnest“ wiederholt. Für alle, die diesen Film kennen ergibt sich eine Kaskade an Assoziationen, die nichts mit dem Fall zu tun haben. Selbstbeschreibung: aggressiv sein, auszucken, auf Autorität nichts gegeben Kontrolle: „Inwiefern sollte das helfen? Das ist ja nicht da dass es hilft sondern einfach dass der Moment unter Kontrolle ist. Finde ich.“ Selbstdiagnose: Das hat sich nicht vermeiden lassen Pädagogisierung: „So viel wie ich im Gurtenbett verbracht hab, da hätt' ich einiges erreichen können.“ Reflexion: „also ich bereue es nicht, ich schäme mich auch nicht dafür... aber ich bin nicht stolz drauf.“ Systemwahrnehmung: „wenn einer will gebe ich ihm halt Ratschläge weil ich es einfach durchgemacht habe.“ Selbstbehandlung: weil Italien ist das einzige was geholfen hat, finde ich. Kritische Reflexion: „aber ich glaube schon, dass es mir a bissl geholfen hat … weil ich eben nicht weiß wie es gewesen wäre“ In diesem Fall wurde die zuletzt eingesetzte Hilfe, ein Auslandsprojekt in Italien, gegen den Wunsch des/der Jugendlichen mit 18 beendet, worauf nach einem kurzen Intermezzo zu Hause die Obdachlosigkeit folgte. III.3 I: Kannst dich da an die Betreuer erinnern? J: Ja schon. I kann mi an den Chef erinnern, weil der immer so gewalttätig zu mir war. Ja wenn i durchgedreht bin, hat er immer meine Händ' g'halten und so und dann wollt ihn meine Mutter anzeig'n, weil i schon so blau war und dann hat die Sozialarbeiterin immer g'sagt, wir kennen ihn nicht anzeig'n und so weil er einfach so Argumente bringen kann, weil i Hubert Höllmüller 170 durchgedreht bin und so. Er hat mich einmal in die Dusch' gstellt einfach mit Gewand, hat mich abgeduscht. I: Du hast blaue Flecken g'habt hast am Anfang g'sagt. J: Ja überall voll, weil er immer so fest gezwickt hat, also so g'nommen hat und gegen Stuhl gedruckt. Ja, dann hab i`s meiner Mama gezeigt und sie hat's halt der Sozialarbeiterin g'sagt, Bezugsbetreuerin eben, aber sie hat halt g'sagt des wird nichts bringen anzeig'n. (..) I: Dann bist aber trotzdem mit an positiven Abschluss von dort heim gekommen? J: Ja, des versteh i auch net. Mein' Mama versteht's auch net weil i hab mich irgendwie voll aufg'führt und dann hab'n sie g'sagt i darf heim. Wahrnehmung spezielles Ereignis: mit Gewand geduscht werden Selbstbeschreibung: bin durchgedreht Kontrollverlust: „hat er immer meine Händ' g'halten und so und gegen Stuhl druckt“ Selbstdiagnose: „i hab mich irgendwie voll aufg'führt“ Pädagogisierung: „wir kennen ihn nicht anzeig'n und so weil er einfach so Argumente bringen kann, weil i durchgedreht bin und so“ Systemwahrnehmung: „i hab mich irgendwie voll aufg'führt und dann hab'n sie g'sagt i darf heim.“ Julia Sewing führt im qualitativen Teil der Studie über Abbrüche in stationären Erziehungshilfen (ABIE-Studie) an, was die Jugendlichen selbst als Gründe für einen Abbruch angeben: „Die Hilfe wird als Schaden wahrgenommen/Erneute Verletzungen durch die Maßnahme anstatt Unterstützung und Schutzraum, Enttäuschung über die Hilfeleistung, Kommunikationsprobleme, Isolation von Freunden, Beziehung und Familie, Ungerechtigkeit im Hilfealltag, Anschlussprobleme an Abläufe und Mitbewohner.“ (Sewing, 2012, S. 132f) Es finden im stationären Bereich der Kinder- und Jugendhilfe Übergriffe statt, von Jugendlichen zu Jugendlichen, von Jugendlichen zu Betreuer_innen und von Betreuer_innen Diagnostik in der Sozialen Arbeit 171 zu Jugendlichen. Und daran anschließend entstehen ‚stille Katastrophen‘ die weder dokumentiert noch analysiert sind. Die Kinder- und Jugendhilfe hat lange Zeit für diese Jugendlichen sehr viel Engagement eingesetzt und sehr viel Geld ausgegeben und zeigt danach massives Desinteresse daran, die Wirksamkeit 4 von Interventionen und die Passung von impliziten und expliziten Diagnosen zu überprüfen um diese Katastrophen zukünftig zu reduzieren. IV. Es wird einmal in einem österreichischen Bundesland Nach mehrjährigen Diskussionen in einer eigens für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe eingerichteten Arbeitsgruppe eines österreichischen Bundeslandes bestand eine der Empfehlungen in dem Vorschlag, die verschiedenen Hilfeformen zuerst einmal zu evaluieren. Zunächst wurden die ambulanten Hilfen analysiert. Ein Ergebnis dieser Analysen und der damit verbundenen Durchsicht der amtlichen Fallunterlagen war, dass keinerlei Instrument sozialer Diagnostik verwendet wurde. Ein ausführliches Seminar zum Thema Sozialer Diagnostik mit rund der Hälfte aller Jugendamtssozialarbeiter_innen führte zu keiner Klärung darüber, welches Instrument eingeführt werden sollte (Es wurden die komplexen ‘Klassiker‘ vorgestellt, von PREDI und PiE über die sozialpädagogischen Diagnosetabellen bis zur Inklusionschart und signs of safety. Darüber hinaus wurden die einfachen tools von Genogramm bis Ecomap präsentiert). Zusätzlich wurde ein Modell diskutiert, dass ein Jugendamt in engagierter Eigenarbeit entwickelt hatte und selbst als zu komplex und nicht praxistauglich ansah. Aber für keines dieser Instrumente ließ sich eine deutliche Mehrheit finden – alle betonten die Sorge, dass es sich um ein Instrument handeln müsste, dass mit sehr wenig zusätzlichem Aufwand den sonst impliziten Diagnoseprozess strukturieren sollte. Auch ein anschließendes Forschungsprojekt zur umfassenden Diagnostik (also sozial und psychologisch/psychiatrisch) vor einer Fremdunterbringungsentscheidung ergab den Bedarf 4 Wobei hier das Gegenteil nicht Unwirksamkeit ist, sondern Schaden, der durch die Intervention angerichtet wird. Die ursprünglichen Problemlagen verschwimmen hinter den weiteren Belastungen, die der „Hilfe“prozess produziert. Hubert Höllmüller 172 eines Diagnoseinstruments, insbesondere an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Psychiatrie. Eine Arbeitsgruppe erstellte auf Grundlage eines Vorschlags meinerseits mit Hilfe eines engagierten Programmierschülers ein Instrument, das inzwischen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eingesetzt wird. Die Behörde weigerte sich aus Sicherheitsbedenken dieses – kostenlose – externe Programm zu übernehmen und stellte in Aussicht, es nach zu programmieren. Allerdings mit weitem Zeithorizont. Für die Übergangszeit wurde nun eine Papierform gestaltet, die von testenden Sozialarbeiter_innen als sehr geeignet betrachtet wird. Derzeit ist offen, ob die zuständige Behörde dieses „Systemblatt“ (Die elektronische Version ist als freeware gratis unter http://www.systemblatt.at herunterzuladen.) verpflichtend für alle Jugendämter einführt oder nicht. Die probeweise Einführung verzögert sich aktuell aufgrund der Tatsache, dass von der Fachabteilung eine fachliche Befürwortung des „Systemblatts“ durch den österreichischen Grand Seigneur der sozialen Diagnostik verlangt wird – dessen erster Kommentar liegt vor, ist aber wenig deutlich. Bereichernd dabei ist der Hinweis, die Perspektive von Kindern und Eltern ebenso sichtbar zu machen wie die der professionellen Sozialen Arbeit. Andere Diskussionspunkte bleiben derzeit offen. Deutlich werden in der Auseinandersetzung zwei Grundkategorien sozialer Diagnoseinstrumente: Einerseits diejenigen, die auf verbale Einschätzungen abzielen und damit ergebnisorientiert sind und andererseits die, die in erster Linie Systeme und Strukturen abbilden wollen und damit prozessbezogen sind. Die Überlegungen zum „Systemblatt“ sind einfach: Es muss ein Instrument sein, das mit wenig Aufwand einen Fallaufriss ermöglicht. Im Zentrum steht die Darstellung des sozialen Systems des Falles 5, wobei es neben der Familie in mehreren Generationen genauso um andere wichtige Personen geht. Diese Systemdarstellung soll nach Möglichkeit mit den Betroffenen gemeinsam erarbeitet werden. Die strukturierenden biographischen Felder sollen vergangene Beziehungen, Partnerschaften etc. abbilden. (Erläuterungen dazu in der „Anleitung“) Durch die Aktenanalyse wurde deutlich, dass des Öfteren wichtige Personen innerhalb und außerhalb der Familie ‚übersehen’ wurden und dadurch nicht als Ressource oder Restriktion benannt, geschweige denn aktiviert bzw. überwunden werden konnten. Links und rechts von diesem Systemfeld befinden sich ein Ressourcenbalken und ein Balken für Hemmnisse, also 5 Passend erscheint mir hier der Ausdruck „service user“, also diejenige Person, die den Dienst, die Hilfe in Anspruch nimmt. „Service user“ reicht weit über den Begriff Klient_in hinaus, hat aber im Deutschen bisher keine verwendbare Übersetzung gefunden. 173 Diagnostik in der Sozialen Arbeit Restriktionen. An dieser Stelle soll verdeutlicht werden, dass diesbezügliche Nennungen die Beurteilungen von Sachverhalten im Hinblick auf Problembeschreibungen und Sorgeformulierungen abbilden, also die diagnostischen Schritte sichtbar machen, die sonst nur implizit passieren und damit zumindest zum Teil intransparent bleiben. Oberhalb liegen die Felder ‚Problem(e)’, ‚Erklärungshypothese(n)’, ‚Sorge(n)’ und ‚Intervention(en)’, in denen die Ausgangslage der Sozialen Arbeit dargelegt werden soll und ein (erster) Blick auf bereits laufende und mögliche zukünftige Hilfen gezeigt wird. Auch hier geht es darum, nicht umfangreichere Verfahren zu ersetzen, sondern einen klaren Überblick zu geben. Zusätzlich sollen auch die Perspektiven der Kinder und Eltern abgebildet werden. Ein zentraler Schritt zur Transparenz des diagnostischen Prozesses ist die Festlegung des Gefährdungsgrades am Blattende. In der elektronischen Version wird jede neue Einschätzung mitvermerkt und ist damit nachvollziehbar. Die Grundprinzipien des Systemblattes sind Transparenz, Partizipation und die rasche Nachvollziehbarkeit des Falles in seiner Grundstruktur. Das sind Aspekte, die leicht zu benennen, Hubert Höllmüller 174 aber schwer einzulösen sind. Eine zentrale Problematik in der Aktenanalyse waren verdeckte Ziele der Sozialarbeiter_innen, deren Wirkungen sich zum Teil als sich selbst erfüllende Prophezeiungen erwiesen: Den Eltern wurde mangelnde Kooperation und Uneinsichtigkeit unterstellt und die Eltern wurden aufgrund der widersprüchlichen Vorgehensweise der Sozialarbeiter_innen immer skeptischer und weniger kooperativ. Die Partizipation gilt auch für den Entstehungsprozess und die Weiterentwicklung des Instruments. Sinnvoll sind deshalb regelmäßige Reflexionsschleifen über die tatsächliche Verwendung und Nützlichkeit für die Betroffenen auf beiden Seiten der Hilfe. Veränderungen und Ergänzungen sind erwünscht, auch wenn das „one-page“ Format erhalten bleiben sollte. 175 Diagnostik in der Sozialen Arbeit Hubert Höllmüller 176 177 Diagnostik in der Sozialen Arbeit Literatur: Höllmüller, Hubert (2015): „Geh dich ritzen, Elefant“ - Jugendhilfebiographien In: Soziales Kapital, on-line-Journal für Soziale Arbeit in Österreich. Sewing, J. (2012): „Da hatt‘ ich keinen Bock mehr drauf, weil…“ Eigene Sichtweisen Jugendlicher auf Abbrüche in der Heimerziehung – Ergebnisse einer Interviewstudie in: Tornow, Harald; Ziegler, Holger (2012): Ursachen und Begleitumstände von Abbrüchen stationärer Erziehungshilfen (ABiE). EREV-Schriftenreihe, 3/2002, 119-164. Hannover: SchöneworthVerlag. Wissenschaftliche Reflexionen zur Sozialpsychiatrie Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen Clarissa Hechler, Claus Melter Einleitung Dieser Text versteht sich als Annäherung an den Themenkomplex ‚Psychiatrie/ Sozialpsychiatrie und Migration’ aus einer diskriminierungskritischen und migrationsgesellschaftlichen Perspektive. Als Forschende im Bereich der Sozialen Arbeit sowie der Diskriminierungs- und Rassismuskritik ist dies somit ein Angebot für Theoretiker_innen und Praktiker_innen der Sozialpsychiatrie, diese Perspektiven auf die spezifischen Aspekte dieses Bereiches reflektiert anzuwenden. Insbesondere im Bereich der Sozialpsychiatrie zeigt sich, dass dieser Arbeitsbereich sowohl von Theorie- und Praxis-Traditionen der Psychiatrie als auch der Sozialen Arbeit beeinflusst ist. Historisch gemeinsam ist diesen Bereichen in diskriminierungskritischer Perspektive die Praxis des Unterscheidens auf den Ebenen von Normalität, Arbeit sowie Gesundheit in sogenannte ‚Normale’ und ‚Nicht-Normale’, in ‚Gesunde’ und ‚psychisch Kranke’, in ‚Arbeitsfähige’ und ‚Nicht-Arbeitsfähige’ (vgl. Ralser 2010, S. 143). Auf den Ebenen von Nation, Kultur, Religion oder rassistischen Unterscheidungen finden ebenfalls Einteilungen in ‚Wir’ und ‚die Anderen’ statt, was im Englischen ‚Othering’ (zu ‚Anderen’ machen) und ‚Selfing’ (zu Angehörigen der ‚Wir’-Gruppe machen) genannt wird (vgl. Markom 2014, S. 184). Im Rahmen von Psychologie/Psychiatrie und Sozialer Arbeit gibt es seit Ende des 19. Jahrhunderts, über Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus sowie auch in BRD und DDR Theorien von ‚Eugenik’ und ‚Rassen’-Biologie. Beides war mit Gruppenkonstruktionen, Abwertungen, Diskriminierung und teils mit Verfolgung und Tötung verbunden (vgl. Kappeler 2000, S. 706ff.). Soziale Arbeit, Psychologie und (Sozial-)Psychiatrie sind fundamental mit Praxen der Differenz-Herstellung, des Unterscheidens verbunden: Für welche Personen ist eine Einrichtung territorial (Fragen von Staatsbürger_innenschaft und Aufenthaltsstatus sowie regionalem Einzugsgebiet) und personal (was sind die Kriterien/ Diagnosen von bezahlten Unterstützungsbe- Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen 181 darfen?) zuständig und mit welchen Konzepten sowie zu welchen Zielen werden unterschiedliche Personengruppen begleitet, versorgt und interveniert? Im Folgenden sollen nach einer historischen und aktuellen Skizzierung des Arbeitsfeldes historische Praxen des Unterscheidens dargestellt sowie die Perspektiven Migrationsgesellschaft und Rassismuskritik vorgestellt werden und auf Studien sowie Texten im Themenfeld Sozialpsychiatrie bezogen werden. Historische Schlaglichter zu Psychiatrie und Rassismus 1 „Darstellungen der Differenz des »Anderen« gehören seit Jahrtausenden zu den durch Warenproduktion, Handel und Kriegsführung hervorgerufenen Migrationsbewegungen in Europa. In diesen Darstellungen wurde der »Andere«, sein Aussehen, seine Eigenschaften und Verhaltensweisen als different zum eigenen Selbst gezeichnet, wobei sich fiktive Elemente mit den beobachteten Verhaltensweisen, Traditionen und dem Erscheinungsbild des »Anderen« verflochten.“ (Adams 2013, S. 33) Möchte man_frau die Geschichte der Konstruktion und des Umgangs mit psychischen Erkrankungen in der Psychiatrie erfassen, lassen sich Berichte hierzu seit der frühe Antike finden. Für so genannte Wahnzustände wurden dabei anfangs übernatürliche Kräfte wie Götter oder Dämonen verantwortlich gemacht (vgl. Porter 2007, S. 16-17). Dementsprechend kamen als so genannte Heilmittel gegen Zauber und Besessenheit Beschwörungen, Amulette, Rituale und Mischungen aus Heilpflanzen, Ölen, Früchten sowie Honig zum Einsatz (vgl. Brückner 2010, S. 11-12). „Mit der frühen Philosophie im athenischen Stadtstaat im 4. Jahrhundert v. Chr. begann eine Wandlung von einem Denken in religiösen Dimensionen hin zu einer Erkenntnisgewinnung durch Gebrauch von Vernunft.“ (Reuter 2014, S. 45) So führten Sokrates’ und Platons Annahmen zur menschlichen Seele dazu, dass mit Platon schließlich rationale Individuen (als gebildet, männlich, angesehen) zum politischen, ethischen und gesundheitlichen Normalitäts-Maßstab erklärt wurden. Der Vernunft und Rationalität stand das Irrationale (beispielsweise das Schicksal oder Verlangen) entgegen. Platon verknüpfte weiter das Rationale mit dem Geist sowie das Irrationale mit dem Körper und behauptete somit die Überlegenheit des Geistes (vgl. Porter 2007, S. 38-39). Christian Mürner 1 Vgl. Hechler 2016a. Clarissa Hechler / Claus Melter 182 weist in seinem Buch „Philosophische Bedrohungen“ (1996) bei den genannten und vielen anderen Philosophen von der Antike über das Mittelalter und die Aufklärung bis hinein in die Gegenwart die Abwertung von Menschen ‚mit Behinderungen’ nach. Das so genannte Temperament wurde in späteren Jahrhunderten in den Konzepten von Veranlagung und Persönlichkeit begriffen (vgl. Porter 2007, S. 43-44). Mit einem als vernünftig angesehenem Lebensstil und/oder mit medizinischen Maßnahmen konnten die Säfte im Falle des Ungleichgewichts, der diagnostizierten Krankheit, wieder ausgeglichen werden. Neben der Diagnose Wahnsinn beziehungsweise Manie rückte, als gegensätzlicher Zustand, die Melancholie (vgl. Ebd., S. 46-47). Alle skizzierten Verständnisse von Gesundheit und Krankheit bestanden die folgenden Jahrtausende hinweg (teilweise) weiter, was allein an noch heute gebräuchlichen Begriffen wie ‚Manie’‚ ‚Wahnsinn’, ‚Melancholie’ oder ‚Choleriker_innen’ eindrücklich deutlich wird. „Die Zuschreibung pathologischer Andersartigkeit war ebenso wie diejenige somatischer, charakteristischer oder kultureller Unterschiede Teil von Differenzkonstruktionen. Bereits im Mittelalter griffen Repräsentationen des »Anderen« häufig Vorstellungen auf, die darin bestanden, dem »Anderen« einen kranken oder abnormen Körper oder Geist zu bescheinigen.“ (Adams 2013, S. 35) So griff beispielsweise der französische Mönch Bernard de Gordon in seinem 1305 erschienenen Buch „Lilium Medicinae“ auf die hippokratische Medizin zurück, um Stereotype und angebliche Andersartigkeiten von Menschen jüdischen Glaubens zu erläutern (vgl. Adams 2013, S. 35-36). „Ferner findet sich hier auch schon die Vorstellung einer andersartigen psychopathologischen Beschaffenheit der Juden, die hier noch als Melancholie und Manie beschrieben wird, später dann als Nervosität oder generelle Disposition zu psychischen Erkrankungen.“ (Adams 2013, S 36) Bernard de Gordons Buch galt bis ins 17. Jahrhundert als Standardwerk der Medizin in Europa (vgl. Adams 2013, S. 35-36). Ab den 1690 Jahren kam es durch John Locke zu einer weiteren Sichtweise auf psychische Erkrankungen. Locke bildete eine Theorie, die davon ausgeht, dass der Geist zu Beginn leer ist und psychische Störungen durch Fehler bei der Deutung von Sinneseindrücken entstehen (vgl. Locke 2000). Lockes Annahmen wurden in die Medizin integriert und von William Cullen ab etwa 1750 zu einem psychologischen Paradigma ausgearbeitet. Er sah zwar die übermäßige Reizung des Nervensystems als Reaktion einer erhöhten Hirnaktivität, betrachtete den Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen 183 so diagnostizierten Wahnsinn dabei aber auch als vorschnelle Verknüpfung von Ideen, welche den Betreffenden falsch urteilen ließe und somit schließlich ungewöhnliche Gefühle zur Folge hätten. ‚Nervenkrankheiten’ oder ‚Neuroses’ wurden als neue Kategorien eingeführt (vgl. Brückner 2011: 8; Porter 2007: 125-126). Mit und durch die Aufklärung zunehmend verbreiteten Werten wie beispielsweise Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit oder auch der so definierten Vernunft wurde zeitgleich immer häufiger auch die Kolonialisierung, welche diesen Werte entgegen stand, in Frage gestellt (vgl. Arndt 2012, S. 15, 59). „Um Sklaverei zu rechtfertigen, wurden Afrikaner_innen als außerhalb vom Menschlichen stehend deklariert. In der Aufklärung wurde das nicht erfunden, aber theoretisch abgesichert. «Rassen» wurden wissenschaftlich konturiert, um Afrika jeden Beitrag zu sozialer Dynamik und Fortschritt sowie jedes Verständnis für Moral, Verstand und Freiheit abzusprechen.“ (Arndt 2012, S. 60-61) Neben dem Code Civil, der für die männlichen Bürger in Frankreich galt, wurde der Code Noir (vgl. Taubira 2015, S. 38ff.) beschlossen, der die kolonisierte Bevölkerung in den von Frankreich unterworfenen Kolonien systematisch entrechtete. Begleitet wurde dies von philosophischen und naturwissenschaftlichen Behauptungen der Existenz und Hierarchie von erfundenen menschlichen ‚Rassen’. So wurden verschiedene ‚Rassen’ aufgrund äußerer Merkmale (genauer der Pigmentierung), ähnlich wie in der Zoologie und Botanik, gebildet. Die als ‚weiß’ oder auch ‚kaukasisch’ deklarierte ‚Rasse’ wurde dabei allen anderen gegenüber als überlegen dargestellt. Zu den deutschen Begründern der ‚Rassentheorie‘ zählen unter anderem Immanuel Kant und Johann F. Blumenbach (vgl. Arndt 2012, S. 59-61). Schnell wurden die verschiedenen ‚Rassen’ auch mit mentalen Unterschieden, die als natürlich und unveränderlich eingeordnet wurden, versehen (vgl. Arndt 2012, S. 62). Die afrikanische Bevölkerung wurde dadurch beispielsweise als ‚primitiv’ und ‚unzivilisiert’ konstruiert (vgl. Rommelspacher 2009, S. 25). „Psychiatrisches Wissen über die »eingeborenen Rassen« half den Kolonialherren bei der Legitimation von Herrschaft, denn kolonialpsychiatrische Diskurse, die die kolonialisierte Bevölkerung als minderwertig, schwach oder unzivilisiert darstellten, wurden als Rechtfertigung für die Vorherrschaft der Weißen in den Kolonien angeführt.“ (Adams 2013, S. 22) Um sich als eigenständige Disziplin etablieren zu können wurde Ende des 19. Jahrhunderts versucht, der Psychiatrie ein wissenschaftliches Fundament zu geben, wobei sowohl Darwins biologistische Theorien, als auch eine experimentelle psychiatrische Forschung verfolgt wurden. Clarissa Hechler / Claus Melter 184 Eine wichtige Rolle im Kontext von Psychiatrie und Diskriminierung spielt auch Emil Kraepelin. „Kraepelin gehörte zu den rassenhygienisch interessierten Psychiatern der Frühzeit der Eugenik in Deutschland.“ (Kappeler 2000, S. 382) Er war seit 1891 Professor an der Universitätsklinik Heidelberg und schrieb beispielsweise detailliert die Krankheitsverläufe und Symptome seiner Patient_innen nieder (vgl. Brückner 2010, S. 110-111; Porter 2007, S. 177178). Kraepelin sicherte zudem etliche Eingangs- sowie Entlassungsdiagnosen, was ihm über die Jahre hinweg ermöglichte, gewisse Ähnlichkeiten festzustellen und damit auch Prognosen geben zu können (vgl. Brückner 2010, S. 111). Er erstellte ein grundlegend neues Klassifikationssystem von psychischen Erkrankungen. Seine Aufteilung liegt in überarbeiteter Form auch den heutigen Klassifikationssystemen psychischer Erkrankungen (ICD/DSM) zugrunde (vgl. ebd., S. 111). Kraepelin beobachtete die Klient_innen und erstellte Diagnosen, in der Regel ohne mit ihnen zu kommunizieren und vertrat die Auffassung, dass es ‚rassische‘ und ‚völkische‘ Eigenarten gäbe, die das Wesen der Menschen bestimmen würden (vgl. Adams 2013, S. 232). Zudem war Kraepelin mit anderen Psychiatern ein Befürworter ‚eugenischer’ Ideologien, die im Sinne eines Nutzens eines bestimmten ‚Volkes’ Menschen nach ihrer diagnostizierten vorhandenen oder nicht vorhandenen ‚Nützlichkeit’ und ‚Wertigkeit’ einstuften (vgl. Kappeler 2000, S. 700ff.); Halmi 2008; Klee 2013) Diese Auffassungen wurden zunehmend verbreitet. „Ab den 1910er Jahren etabliert sich auch an der Innsbrucker Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie eine neue Rede über die ‚Kranken’ und ihre ‚Krankheiten’. [...] Als krank werden ab diesem Zeitpunkt auch jene bezeichnet, die eine Disposition zur Krankheit aufweisen, deren Anlagen auf vererbungs- und evolutionstheoretischer Grundlage diagnostisch-prognostisch eine aktuell bloß verdeckte, aber zukünftig mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretende Nervenkrankheit voraussagt, und schließlich all jene, welche als ‚psychopathisch Minderwertige’ vom Gesundheitsdurchschnitt der Gesellschaft abweichen [...]“ (Ralser 2010, S. 137-138). Auch Kraepelin war dieser Ansicht und vertrat weiter die These, dass dieses einer ‚natürlichen Auslese‘ entgegenstünde und somit ‚eugenische‘ Maßnahmen relevant machen würde (vgl. Brückner 2010, S. 114, 121). Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen 185 „Ideen des Sozialrassismus und der ‚Eugenik’ wurden während des Ersten Weltkrieges und in der Weimarer Republik trotz vieler Gegenstimmen populär und fanden ihren Niederschlag sowohl im Bereich der Forschung als auch in der Sozialpolitik. So begründete der angesehene Arzt und Sozialdemokrat Alfred Grotjahn (1869-1931) die Lehre von der Sozialhygiene, die den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und Krankheiten der Bevölkerung untersuchte.“ (Mecheril/ Melter 2010, S. 119) Die Menschen verachtende Ideologie und vermeintliche ‚Lehre der Eugenik‘ bezeichnet das gezielte Einordnen und Selektieren von Menschen entsprechend der Diagnose ihres Erbguts (vgl. Brückner 2010, S. 125) 2. Im Juli 1933 wurde schließlich das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, welches die Sterilisation von etwa 400.000 Personen nach sich zog (vgl. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2016, S 2). „Wer an Schizophrenie, manisch-depressiven Erkrankungen, an erblichen Formen von Fallsucht, Chorea Huntington, Blindheit, Taubheit und schwerer körperlicher Missbildung sowie schwerem Alkoholismus litt, konnte auch gegen seinen Willen unfruchtbar gemacht werden.“ (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2016, S. 2). 1939 spitzte sich die Situation weiter zu. Mit der Erfassung und Zwangssterilisierung von als ‚behindert‘ und ‚krank‘ eingestuften Personen begann die fälschlicherweise ‚Euthanasie‘ (dies bedeutet wörtlich: schöner Tod) genannte Ermordung von als ‚unwert‘ deklariertem, Leben. In diesem Zusammenhang wurde das Kürzel ‚T4’ bekannt, was für die Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin (seit 1940 dort ansässig) steht (vgl. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2016, S. 2). Im Juni 1940 wurden von der Zentraldienststelle Meldebögen an alle Anstalten verschickt, welche diese wiederum (mit wenigen Ausnahmen) bis im August desselben Jahres ausgefüllt zurückschickten (vgl. Debus/ Kalkowsky/ Schmidt-v. Blittersdorf 2003, S. 84). „Mit den zum Symbol für die ‚Euthanasie-Aktion’ gewordenen grauen Bussen wurden die durch ein rotes Plus-Zeichen auf ihrem Meldebogen zur Ermordung bestimmten mehr als 70 000 Patienten aus den Heimen abgeholt und zwischen Januar 1940 und August 1941 nach einem kurzen Aufenthalt in ‚Zwi- 2 „Alfred Grotjahn (1869-1931), neben Alfons Fischer (1871-1936) Begründer der modernen Sozialhygiene und erster Lehrstuhlinhaber auf diesem Gebiet in Deutschland, setzte Schwerpunkte seines Wirkens auch auf dem Feld der Eugenik. Sozialhygiene und Eugenik standen für ihn in einem besonders engen Verhältnis zueinander.“ (Kaspari 1989, S. 306) Clarissa Hechler / Claus Melter 186 schenanstalten’ in den sechs Tötungszentren Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna-Sonnenstein, Bernburg und Hadamar im Gas erstickt.“ (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2016, S. 2) In diesem Bereich besteht weiterhin großer Forschungsbedarf (vgl. Hochmuth 1997). So spricht Barbara Degen 2014 davon, dass in der Bielefelder Anstalt Bethel mehr als 2.000 Personen durch bewusste Tötungen, medizinische Versuche und durch Verhungern in der NSZeit getötet wurden (vgl. Degen 2014, S. 26ff.). Bethel kritisiert die Forschungen massiv (vgl. Bethel 2014), legt jedoch – ebenso wie andere Forschungen – keine andere, schlüssige Erklärung für die überdurchschnittlich hohe Zahl von Sterbefällen vor. Die Argumentation, dass sehr viele Kinder in Bethel bereits unterernährt eingeliefert wurden, überzeugt angesichts der Versorgungssituation in Bethel nicht. Auch die Soziale Arbeit wirkte in diesem System der Vernichtung mit. „Im Nationalsozialismus stand die Jugend- und Wohlfahrtspflege insgesamt sowohl unter dem Primat der ‚Volksgemeinschaft’ als auch der vorherrschenden Vorstellung von Gesundheit. Aufgabe sozialer Einrichtungen war es, die als ‚wertvoll’ und dazugehörig (‚arisch’) definierten Kinder und Jugendlichen zu fördern, die ‚Gestrauchelten’ zu bessern und in die ‚Volksgemeinschaft’ einzugliedern. Die als ‚nicht mehr besserungsfähig’ oder nicht zugehörig (‚nicht arisch’) Definierten wurden ausgesondert, isoliert, diszipliniert und verwahrt [...]“ (Mecheril/ Melter 2010, S. 120). In den so genannten Kinderfachabteilungen fielen mindesten 5.000 psychisch und/oder physisch erkrankte Kinder beziehungsweise Jugendlichen der Euthanasie zum Opfer (vgl. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2016, S. 3). Letztlich waren demnach sowohl Psychiatrien, als auch Krankenhäuser und Heimeinrichtungen an den Zwangssterilisierungen und Tötung beteiligt (vgl. Mecheril/ Melter 2010, S. 121). Die Schätzungen, wie viele Menschen Opfer der Euthanasie-Morde in Deutschland, Österreich, Polen und anderen von Deutschland überfallenen Ländern wurden, gehen bis zu 250.000 Personen (vgl. Degen 2014, S. 12). Auch nach der Beendigung der T4-Aktion und dem zweiten Weltkrieg war kaum Besserung in Sicht. „Einen traurigen Höhepunkt erreichten die Sterberaten jedoch nach dem Einmarsch der Alliierten: Sie stiegen 1945 auf rund 50 Prozent; in einigen Anstalten ergriff fast das gesamte Personal die Flucht und überließ die Patienten ihrem Schicksal, Todesmärsche Halbverhungerter waren an der Tagesordnung.“ (Bühring 2001, S. 2) 187 Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen Erst ab den 1960er Jahren entstand eine Anti-Psychiatriedebatte und erste Reformversuche fanden statt. Vertreter_innen der Anti-Psychiatrie kritisierten, dass ‚psychische Störungen‘ als krank etikettiert wurden und betrachteten sie stattdessen als eine Folge von sozialen Prozessen wie beispielsweise Diskriminierungen und Ablehnungen. Mit der Student_innenenbewegung 1968 entwickelte sich eine gute gesellschaftliche Atmosphäre für umfassende Reformen in der Psychiatrie (vgl. Bühring 2001, S. 2). Kritische Auffassungen gegenüber Psychologie und Psychiatrie verbanden sich in dieser Zeit, beispielswiese durch den kolonialismus- und rassismuskritischen Psychiater Frantz Fanon, zu einer rassismuskritischen Sozialpsychologie (vgl. Fanon 1952/1980). Auch die Studien von Horkheimer und Adorno zur Autoritären Persönlichkeit vor, während und nach dem Faschismus verbinden Gesellschaftsanalysen mit sozialpsychologischen Erklärungen (vgl. Adorno 1950/1973). 1971 wurde vom Parlament eine Kommission einberufen, um die Lage der Psychiatrie in Deutschland zu untersuchen und zu bewerten. Im November 1975 legte diese Kommission ihren Bericht, die Psychiatrie-Enquete, mit strukturellen Forderungen vor (vgl. Finzen 2015, S. 2). „Diese hatte es mit der Forderung nach einer regionalen gemeindenahen psychiatrischen Versorgung durch psychiatrische Abteilungen Allgemeinkrankenhäusern und teilstationären Einrichtungen – vor allem Tageskliniken – und umfassenden ambulanten Diensten allerdings in sich. Damit schuf sie Voraussetzungen für eine Reform [...]“ (Finzen 2015, S. 2). Diese ließ zwar noch recht lange auf sich warten, brachte aber bis heute bundesweit unter anderem Organisationen wie etwa die ‚Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. (DGSP), den Dachverband Gemeindepsychiatrie, den Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker oder den Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen hervor (vgl. Elgeti 2011, S. 19). Diskriminierungs- und rassismuskritische Perspektiven auf und in Psychologie und Psychiatrie (vgl. Oberzaucher-Tölke 2014) sowie auf und in Sozialer Arbeit (vgl. Hamburger 2016) stehen vielfach kulturalisierende und diskriminierend-stereotypisierende Konstruktionen von Menschengruppen in diesen Disziplinen und Professionen gegenüber. Die Verantwortung Sozialer Arbeit und der (Sozial-)Psychiatrie, welche aus den historischen Schlaglichtern auf diskriminierende Praxen sowie aktuellen professionellen Qualitätskriterien heraus entwächst, wurde in den vorangegangen Ausführungen dargestellt. Die Reflexion historisch gewachsener Strukturen, Begrifflichkeiten und Verantwortungen den Adressat_innen Clarissa Hechler / Claus Melter 188 gegenüber, so kann gefordert werden, ist unumgänglich und sollte stets die Partizipation sowie Integritäten 3 aller beteiligten Personen im Blick behalten. Sozialpsychiatrie „Die Sozialpsychiatrie befasst sich mit der Häufigkeit psychischer Störungen sowie deren soziokulturellen Bedingungen und richtet sein Augenmerk auf die Beziehung zwischen Krankheit und Gesellschaft. Im besonderen Blickfeld des Interesses stehen die Auswirkungen von Familienstrukturen, Gewalt oder sozioökonomischen Verhältnissen auf die seelische Entwicklung.“ (Paulitsch/ Karwautz 2008, S. 14) Ein im Kontext von Migration und Sozialpsychiatrie bedeutsamer Schritt waren die Sonnenberger Leitlinien. „Die »Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde « hat bereits 2006 als erste medizinische Fachgesellschaft mit ihrer Sonnenberger Erklärung Standards gesetzt, die für uns als Herausgeber [des Handbuches Transkulturelle Psychiatrie (Anm. der Verf.)] leitend sind.“ (Hegemann/ Salman 2010, S. 14) „Die 12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migranten in Deutschland (Machleidt 2002) 1. Erleichterung des Zugangs zur psychosozialen und therapeutischen Regelversorgung 2. durch Niederschwelligkeit, Kultursensibilität und Kulturkompetenz 3. Bildung multikultureller Behandlerteams aus allen in den Diensten tätigen Berufsgruppen unter bevorzugter Einstellung von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund und zusätzlicher Sprachkompetenz 4. Organisation und Einsatz kulturell und psychologisch geschulter FachdolmetscherInnen als zertifizierte Übersetzer und Kulturmediatoren »face to face« oder als TelefondolmetscherInnen 5. Kooperation der Dienste der Regelversorgung im gemeindeorientierten Verbund untereinander und mit Schlüsselpersonen der unterschiedlichen Migrantengruppen, -organisationen und -verbände. Spezielle Beratungs- und Behandlungserfordernisse können Spezialeinrichtungen notwendig machen. 6. Beteiligung der Betroffenen und ihrer Angehörigen an der Planung und Ausgestaltung der versorgenden Institutionen 7. Verbesserung der Informationen durch muttersprachliche Medien und Multiplikatoren über das regionale Versorgungsangebot 8. Aus-, Fort- und Weiterbildung für in den Regeldiensten tätige MitarbeiterInnen unterschiedlicher Berufsgruppen zu interkulturellen Fachthemen unter Einschluss von Sprachfortbildungen 3 Nähere Erläuterungen hierzu folgen am Ende des Artikels. Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen 189 9. Entwicklung und Umsetzung familienbasierter primär und sekundär präventiver Strategien für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien 10. Unterstützung der Bildung von Selbsthilfegruppen mit oder ohne professionelle Begleitung 11. Sicherung der Qualitätsstandards für die Begutachtung von Migranten im Straf-, Zivil- (Asyl-) und Sozialrecht 12. Aufnahme interkultureller Fachthemen in die Curricula des Unterrichts für Studierende und Auszubildende 13. Initiierung von Forschungsprojekten zu Fragen der interkulturellen Versorgung.“ (zit. in Hegemann/ Salman 2010, S. 13) „Und diese Thesen setzten nicht nur für die Psychiatrie notwendige Standards. Es reicht aber nicht, Standards zu definieren! Professionelle – jeder Einzelne – stehen vor der Aufgabe, sich verstärkt darum zu bemühen, soziale Distanzen zu mindern und mehr Verständnis für die unterschiedlichen Kulturen, die Lebensweisen, die Wertvorstellungen und das Gesundheitsverhalten der ihnen fremd erscheinenden Patienten aufzubringen. Dieser Weg kann nur gemeinsam, multidisziplinär und praxisorientiert gemeistert werden. Transkulturelle Psychiatrie ist aber auch ein Appell an eine stärkere Patienten- oder Kundenorientierung. Was wollen und brauchen diese Patienten?, so lautet die zentrale Frage. Dazu ist der Aufbau von Versorgungsstrukturen notwendig, was die Möglichkeiten der einzelnen Mitarbeiter – auch der engagiertesten – deutlich übersteigt. Dieser Prozess kann nur gelingen, wenn sich Einrichtungsleitungen eine transkulturelle Psychiatrie zum Anliegen machen. Wir stehen jedoch nicht am Anfang! Wie die Beiträge von Kolleginnen und Kollegen in diesem Buch beweisen, können wir auf Erfahrungen, Wissen und Arbeitsweisen aufbauen, die andere vor uns entwickelt haben. Wir können uns auf die »Schultern dieser Riesen« stellen, um einen neuen Überblick zu gewinnen, und müssen nicht alles neu erfinden. Es gilt, diesen interessanten, spannenden und herausfordernden Weg individuell und institutionell zu gehen, wenn wir unserem Ziel »Gesundheit und Chancengleichheit für alle« näher kommen wollen Damit sehen wir Transkulturelle Psychiatrie als eine Dimension einer sozialen Psychiatrie an. Diese scheint in der gesundheitspolitischen und der fachlichen oder gar wissenschaftlichen Diskussion ihre große Zeit hinter sich zu haben; die klammen öffentlichen Haushalte bieten auch nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine stärker gemeindeorientierte Ausrichtung der psychiatrischen Versorgung, die für eine transkulturelle Ausrichtung unumgänglich ist.“ (Hegemann/ Salman 2010, S. 13-14) 4 Neben der alleinigen Verwendung der männlichen Benennungsform wird im Ansatz der transkulturellen Psychiatrie die Trennung in Menschen mit Migrationshintergrund und Men4 Irritierend ist, dass sich Autor_innen der transkulturellen Psychiatrie maßgeblich auf den Psychiater E. Kraepelin beziehen, der an ‚eugenischen’ und völkisch-rassistischen Publikationen beteiligt war (vgl. Kappeler 2000, S. 382). Lediglich seine teils eurozentrischen Krankheitsverständnisse werden kritisiert (vgl. Littlewood 2010, S. 22). Clarissa Hechler / Claus Melter 190 schen ohne Migrationshintergrund sowie eine Zuschreibung von homogen verstandenen ‚Kulturen’ als gegebene Tatsache behandelt. Thematisierungen von Migration in der (Sozial-)Psychiatrie Einhellig wird beschrieben, dass Personen ‚mit Migationshintergrund’ in Angeboten der Sozialpsychiatrie und besonders präventiven Maßnahmen unterrepräsentiert sind – obwohl sie im Durchschnitt mehr ökonomischen, rechtlichen und rassistischen Belastungen ausgesetzt sind. „In Deutschland leben derzeit mehr als 15,7 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die etwa 19,3 % der Bevölkerung der Bundesrepublik repräsentieren. Trotz vielfältiger Bemühungen ist das psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgungssystem unseres Landes bisher dennoch nicht ausreichend in der Lage, diese Gruppe angemessen zu versorgen. Informationsbedingte, kulturelle und kommunikative Barrieren führen zu den seit langem bekannten Problemen von Unter-, Über- und Fehlversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund mit dadurch erhöhten Kosten für Therapie und Pflege. Eine Versorgung, die die besonderen Bedürfnisse der Menschen mit Migrationshintergrund berücksichtigen will, benötigt klare strukturelle Rahmenbedingungen. Die DGPPN [Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde] möchte erwirken, dass die für die Versorgung verantwortlichen Träger des Gesundheitswesens in ihren Institutionen das Amt eines Migrations-/Migranten-/Integrationsbeauftragten schaffen, um dadurch wirksame und nachhaltige Verbesserungen in der Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund einzuleiten. Eine erfolgreiche Arbeit ist nur dann möglich, wenn die Migrations-/Migranten/Integrationsbeauftragten die dafür erforderliche Kompetenz erhalten. Ebenso wünschenswert sind multikulturelle Teams sowie ein regelhafter Einsatz von Sprach- und KulturmittlerInnen. Die DGPPN möchte mit diesem Positionspapier zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen und helfen, bestehende Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten zu klären, die den Umgang mit Patienten mit Migrationshintergrund im Gesundheitssystem teilweise prägen. Zu diesem Anlass veranstaltet die DGPPN erstmals am 12. September 2012 ein Hauptstadtsymposium mit dem Titel ‚Psychisch krank durch Migration? Perspektiven der Migrationspsychiatrie in Deutschland.’“(DGPPN 2012, S. 1f.) In der zitierten Passage werden sowohl die Unterstützungs-Ambition und das Engagement als auch die selbstverständliche Trennung in Menschen mit und ohne so genanntem Migrationshintergrund, in Einheimische und Migrant_innen deutlich. Weiter ist die Rede von ‚kulturellen’ Barrieren, wobei der Begriff ‚Kultur’ undefiniert bleibt. Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen 191 „Studien 5 zur psychischen Gesundheit haben für Depressionen sowie psychosomatische Erkrankungen (…) zumeist höhere Prävalenzen bei Menschen mit Migrationshintergrund gefunden [...]. Die Datenlage ist jedoch durch große Heterogenität, methodische Probleme sowie in Teilen widersprüchliche Ergebnisse gekennzeichnet [...]. Zudem gibt es Hinweise, dass eine schlechtere psychische Gesundheit bei Menschen mit Migrationshintergrund stark durch deren niedrigeren Sozialstatus mitbedingt ist [...]“ (Robert Koch-Institut 2015, S. 178). Zu einem etwas differenzierteren Ergebnis kamen Machleidt, Sieberer, Walter und Zeef in einer Studie zur psychischen Belastung von Migrant_innen der ersten Generation. Dabei wurden drei Gruppen unterschieden: Aus der Türkei eingewanderte Personen, Aussiedler_innen und autochthone Personen. So konnte festgestellt werden, dass nach zehn Jahren in Deutschland keine höhere Belastung von Aussiedler_innen gegenüber autochthonen Personen vorliegt. Bei Personen die aus der Türkei eingewandert sind ist allerdings nach 20 Jahren noch immer eine deutlich höhere Belastung festzustellen (vgl. Machleidt 2013, S. 50). Der Zusammenhang zwischen sozialer Zurückweisung beziehungsweise sozialem Ausschluss und dem Schmerzempfinden kann mittlerweile ebenfalls als gesichert angesehen werden. „Im Schmerzsystem tragen negative Gefühle, die durch soziale Ausschließungsprozesse hervorgerufen werde, zur Schwellenerniedrigung für Schmerzempfindungen bei. [...] Weitere Experimente zeigten, dass Menschen mit sozialer Unterstützung eine geringere Schmerzwahrnehmung als andere [zeigen], die auf diese nicht zurückgreifen können. Für die Behandlung bedeutet dies, dass bei Migranten mit Schmerzsyndromen (‚türkischer Ganzkörperschmerz’) unter Ausschließungsbedingungen statt der symptomatischen Behandlung die sozialen Stressoren im Mittelpunkt der therapeutischen Bearbeitung stehen müssen.“ (Machleidt 2013, S. 61). Bisherige Forschungsergebnisse zu psychischen Erkrankungen von Menschen mit Migrationsgeschichte weisen weiter auf, dass es offenbar ein erhöhtes Vorkommen von psychosozialen Beschwerden gibt. Der deutlichste Zusammenhang zwischen Migration und Krankheit besteht bei den psychischen Folgen von Traumatisierungen, die sich vor und während des Migrationsprozesses ereigneten (vgl. Bilgin/ Knipper 2009, S. 54, 56). Auch Rassismus und Diskriminierungen haben Einfluss auf die psychische Gesundheit und können, beispielsweise nach Nancy Krieger, zu einer erhöhten Vulnerabilität (Verletzlichkeit) sowie nach Grada Kilomba Ferreira zu Traumatisierungen führen (vgl. Prasad 2009, S., 7-8). Im deutschsprachigen Raum lassen sich allerdings nur sehr wenige Studien hierzu ausmachen. 5 Vgl. Hechler 2016a. Clarissa Hechler / Claus Melter 192 Auch Dileta Fernandes Sequeira, welche Interviews mit People of Color geführt hat, hält in ihrem Buch 2015 fest, dass sich diese Menschen hier in Deutschland durch den gesellschaftlichen Rassismus in einem traumatisierenden Umfeld befinden (vgl. Fernandes Sequeira 2015, S. 31, 50, 51). Zu gleichen Befunden kommt Nkechi Madubuko in ihrer Studie zu Akkulturationsstress für Migrant_innen, deren Handlungsstrategien angesichts von Diskriminierungsund insbesondere Rassismuserfahrungen sie rekonstruiert (vgl. Madubuko 2011). Auch der Aufenthaltsstatus findet selten Beachtung. 2004 hielten Hunkeler und Müller fest, dass „[...] die Mehrheit der Migrantinnen ihren unsicheren Aufenthaltsstatus als ihre psychosoziale Gesundheit beeinträchtigend wahrnehmen. Der negative Einfluss eines unsicheren Status auf Gesundheit ist umso größer, je weniger externe Ressourcen einer Migrantin zur Verfügung stehen. Eine unsichere Aufenthaltssituation ist mit so vielen Schwierigkeiten verbunden, dass die vorhandenen internen Ressourcen nicht als Schutz für die Gesundheit eingesetzt werde[n] können [...]“ (Hunkeler/ Müller 2004, S. 6; in Prasad 2009, S. 8-9). Einen Überblick bisheriger Erkenntnisse zur „Versorgung psychisch kranker Patienten mit Migrationshintergrund“ (2008) bieten Lindert et. al. in ihrem gleichnamigen Artikel, wobei zumeist Studien zu stationären und präventiven Maßnahmen angeführt werden, was sicher auch mit den fehlenden Studien zur nicht-stationären Versorgung zusammen hängt. Auch sie schreiben: „Die rechtlichen Rahmenbedingungen im Herkunftsland, der Verlauf der Migration (u. a. Gewalterfahrungen während der Migration, Dauer der Migration, Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland) sowie die rechtliche und soziale Lage im Zielland (u.a. Art der sozialen Unterstützung, finanzielle Ressourcen) beeinflussen den Migrationsprozess entscheidend. Die rechtliche Lage im Aufnahmeland ist eng an den juristischen Aufenthaltsstatus gebunden. Der Aufenthaltsstatus wiederum ist, insbesondere bei Unsicherheit bezüglich der Aufenthaltsgenehmigung, eng korreliert mit dem Zugang zu der Versorgung und mit der sozialen Lage und die soziale Lage wiederum mit dem selbst eingeschätzten Gesundheitszustand [...]“ (Lindert et. al. 2008, S. 125). Zudem weisen einige Studien darauf hin, dass (hauptsächlich aufgrund der Sprache) Unsicherheiten bei den Mitarbeitenden auftreten können (vgl. Lindert et. al. 2008, S. 126). Die vorhandene Datenlage verweist weiter darauf, dass Migrant_innen in ambulanten und teilstationären Bereichen unterrepräsentiert, in der forensischen Psychiatrie sowie in stationären Bereichen hingegen überrepräsentiert sind (vgl. Lindert et. al. 2008, S. 125). Barrieren können strukturell, finanziell, sprachlich, kommunikativ und aufgrund „[...] schwer einschätzbarer Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen 193 Ansprüche und Erwartungen der Mitarbeiter und der Migranten [...]“ (Lindert et. al. 2008, S. 124) bestehen. Zudem können sogenannte ‚kulturelle‘ und soziale Gründe in Betracht kommen. „Zu den Zugangsbarrieren gehören Informationsdefizite, sprachliche und kulturelle Unterschiede, Macht- und Perspektivlosigkeiten, zu denen Erfahrungen der Diskriminierung und des sozialen Ausschlusses ebenso beitragen wie Ängste um den Aufenthaltsstatus bei Drogenabhängigkeit. Stärker als sprachliche scheinen kulturelle Unterschiede im Verständnis psychischer Erkrankungen die Kommunikation mit professionellen Helfern und den Zugang zum Hilfesystem zu erschweren.“ (Lindert et. al. 2008, S. 128) Die Unterscheidung in Menschen mit und ohne Migrationshintergrund erscheint im Sprechen über die Themen Migrationsgesellschaft und Sozialpsychiatrie als notwendig, um mögliche Unterversorgungen und Diskriminierungen dieser konstruierten Gruppe thematisieren zu können; gleichzeitig werden bestehende Unterscheidungen, die oftmals mit Diskriminierung verbunden sind, reproduziert. Zudem wird in der Differenzierung nach ‚Migrationshintergrund‘ die rassistische Diskriminierung deutscher Roma und Sinti, deutscher Muslime, Schwarzer Deutscher sowie Juden und Jüdinnen als zu ‚Anderen’ gemachten Personen nicht erfasst. In diesem Spannungsfeld stellt sich zum einen die Frage, ob die Frage des Konstruierens in ‚Wir’ und ‚die Anderen’, in die ‚Einheimischen’ und ‚die Migrant_innen’ sowie in ‚Weiße’ und ‚Nicht-Weiße’ kritisch reflektiert wird. Zum anderen stellen sich die Fragen, ob und wie gesellschaftliche Kontexte und Lebenslagen sowie die Perspektiven dieser Personen einbezogen werden. Des Weiteren ist zu untersuchen, ob und welche Folgen die rechtlichen Konstruktionen von Staatsbürger_innen und Nicht-Staatsbürger_innen nach sich ziehen und welche sozialen, kulturalisierenden Zuschreibungen mit den Konstruktionen verbunden sind – und evtl. eingeschränkte Ressourcenzugänge, Bewegungs- und Teilhaberechte oder schlechtere professionellere Unterstützung und geringere Möglichkeiten in den Bereichen Arbeit, Bildung und Wohnungsmarkt (vgl. Melter/ Karayaz 2013, S. 245). In der konkreten Arbeit mit Adressat_innen in Sozialpsychiatrie und Sozialer Arbeit sind sowohl aufenthalts- und asylrechtliche Themen bedeutsam, als auch Fragen von rassistischer Diskriminierung in der Gesellschaft und die Frage des Umgangs mit ‚Kultur und Kulturalisierung’ in der professionellen Arbeit. Clarissa Hechler / Claus Melter 194 Zuschreibende Kulturalisierungen Wenn von Kulturalisierungen gesprochen wird, sollten verschiedene Verständnisse von ‚Kultur’ erläutert werden. Idealtypisch unterschieden werden kann zwischen: 1) Dem essentialistisch, biologistisch, ahistorisch, statischem Kulturverständnis. Dieses Modell wird auch Kugel-, Container-, Kulturkreis- oder Marionetten-Modell von ‚Kultur’ genannt (vgl. Yildiz 2009, S. 18). Gedacht wird zum einen, das jede Person zu nur einem Land gehört und mit jeweils nur einer und zwar über alle Zeiten gleich bleibenden ‚Kultur’ lebt und zwanghaft den kulturellen Vorstellungen des Landes, der Nation, des ‚Kulturkreises’, der ‚Rasse’ oder ‚Ethnie’ entsprechend handeln muss. Die Menschen werden NICHT als handlungs-, entscheidungs- oder verantwortungs- und reflexions-fähig angesehen. Sie sind Marionetten, Roboter_innen ihres so konstruierten kulturellen Wesens (vgl. kritisch Leiprecht 2001, S. 28 und Yildiz 2009, S. 18). 2) Dem individualistisch-autonomen Kulturverständnis der europäischen Aufklärung, welches einerseits als ‚weiß’, europäisch und christlich sowie ‚zivilisiert’, mündig und aufgeklärt definierten Personen Denk-, Handlungs- und Regierungsfähigkeiten zuschreibt und andererseits durch diskriminierende Rechtsordnungen sowie ideologische Abwertungen die Gruppen der inneren und äußeren zu ‚Anderen’ gemachten Personen entrechtet, abwertet, diskriminiert oder gar verfolgt und tötet (vgl. Brumlik 2004, S. 23ff.; Taubira 2015, S. 38; Melter 2016, S. 589). 3) Dem Verständnis von ‚Kultur’ als soziale Handlungspraxen von Einzelpersonen, die sich einzelnen oder mehreren Gruppen, Ländern und Kontexten zugehörig fühlen können und in bestehenden Machtverhältnissen situativ Entscheidungen treffen. Dieses Verständnis schließt an Theorien von du Bois, Luxenburg, Gramsci, Freire, Fanon und Holzkamp an (vgl. Mecheril u.a. 2010; Bernhard 2008). In den empirischen Studien zur Sozialen Arbeit zeigt sich tendenziell, dass kulturalisierende Zuschreibungen gegenüber als ‚Migrant_innen’ angesehene Personen angewandt werden, während gegenüber Personen ohne zugeschriebenen Migrationshintergrund eher das autonome Kulturverständnis angewandt wird. Das dritte, gesellschaftskritische und auf Bündnisangebote, Aushandlung und Selbstbemächtigung zielende Kulturverständnis wurde im Rahmen 195 Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen der Antipsychiatrie-Bewegung umgesetzt und heute in Teilen der Sozialpsychiatrie, so zumindest der Anspruch, realisiert. Zudem werden vielfach Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen sowie aufenthalts- und asylrechtliche Fragen wenig aktiv in sozialarbeiterischen Betreuungsverhältnissen bearbeitet, teils werden diese Themen abgewehrt, minimiert und als irrelevant seitens der Sozialarbeitenden dargestellt (vgl. Melter 2006, S. 184 ff.). Migrationsgesellschaftliche und rassismuskritische Perspektiven ‚Migrationsgesellschaft’ kann als Analyseperspektive und Realutopie benannt werden. Migrationsgesellschaft als Perspektive meint nicht vor allem ‚Migrant_innen’ oder ausschließlich Communities, Gesellschaften von ‚Migrant_innen’, sondern bedeutet, dass alle Menschen in einer Gesellschaft gemeint sind und betont, dass Migrationsphänomene von Einwanderung, Auswanderung, Pendel- und Transmigration sowie globale Kontakte grundlegend für fast alle Gesellschaften sind. Es wird vielmehr gefragt, ob und wie zwischen ‚Einheimischen’ und ‚Mehrheimischen’, zwischen Menschen ohne und mit Migrationsgeschichte oder ‚Schwarzen’ und ‚Weißen’ unterschieden wird und welche Folgen rechtlich, institutionell und sozial damit verbunden sind (vgl. Mecheril 2010 u.a., S. 17ff.; 2016, S. 8ff.). Eine migrationsgesellschaftliche Perspektive geht also nicht von natürlich bestehenden Gruppen von ‚Wir’ und ‚die Anderen’ oder gar damit verbundenen (Vor-)Rechten versus Entrechtlichungen aus (vgl. Melter 2016, S. 589ff.), sondern untersucht zum einen analytisch die Logiken des Unterscheidens in Menschengruppen. Zum anderen wird in diskriminierungs- und speziell rassismuskritischer Perspektive angestrebt, dass alle Menschen faire Ressourcenzugänge sowie Entfaltungs- und Handlungsmöglichkeiten bekommen und nicht in ihrer Würde durch diskriminierende und rassistische Denkfiguren sowie Handlungspraxen verletzt werden. Es handelt sich dementsprechend um eine analytische und normativ-handlungsrelevante Perspektive: Wie analysieren wir Interaktionen und Strukturen? Was können wir für eine zu diskutierende gerechtere Gesellschaft mit den Adressat_innen tun? Für die (Sozial-)Psychiatrie bedeutet diese Herangehensweise notwendigerweise eine persönliche, professionelle und institutionelle (Selbst-)Reflexion der Logiken und Praxen des eigenen Handelns sowie der Effekte für unterschiedliche, sozial und rechtlich hergestellten Gruppen. Clarissa Hechler / Claus Melter 196 Die gegenwärtige weltweite Migrationsgesellschaft ist gekennzeichnet einerseits durch die Rede von Chancengleichheit und Demokratie und andererseits von der Realität fortwährender einkommens-, behinderungs-, geschlechterbezogenen sowie migrationsgesellschaftlichen und rassistischen Diskriminierungen, die Ausdruck und Grundlage sozialer Ungleichheit sind. Die ungleiche Verteilung zeigt sich darin, dass acht Männer mehr besitzen als die Hälfte der finanziell ärmeren Weltbevölkerung (vgl. oxfam 2017). Ungleichheiten werden in der Regel zu rechtfertigen gesucht. Eine oft verwendete, jedoch nicht hinreichende Erklärung für strukturelle Gewalt bzw. die systematische Diskriminierung beispielsweise der ‚Armen’ sind Stereotype und Vorurteile als Grundlage und Mittel der Differenzherstellung und Ungleichbehandlung („Die wollen nicht arbeiten“ und „die sind faul“ als gängige Vorurteile). Stereotype werden hier als verallgemeinernde Gruppenkonstruktionen und Vorurteile als verallgemeinernde Gruppenkonstruktionen mit zusätzlichen Negativurteilen verstanden. Möglicherweise finden Stereotype und Vorurteile jedoch ausschließlich in den Köpfen von Personen statt. Einstellungen können, aber müssen nicht unsere Handlungen beeinflussen. Eine kritischere Erklärung betont, dass in ungleichen Machtverhältnissen bestimmte Gruppen auch durch die Verwendung von Stereotypen und Vorurteilen bevorzugt und andere materiell und sozial diskriminiert werden. Diskriminierungen beinhalten Gruppenkonstruktionen und damit verbundene Benachteiligungen. Dementsprechend genügt es nicht, „[...] durch Erziehung und Bildung an den individuellen Vorurteilen anzusetzen. Denn so lange diskriminierende Strukturen und Praktiken wirksam sind, entsteht auf Seite der Privilegierten ein Bedarf an Vorurteilen und befinden sich die Benachteiligten in einer Situation, in der ihre Möglichkeiten der Gegenwehr beschränkt sind.“ (Scherr 2015, S. 15). Dies gilt für kapitalistische und geschlechterbezogene Ungleichheiten und für Rassismus. So haben in Deutschland lebende Menschen real nicht die gleichen Teilhabechancen in den Bereichen Bildung, Wohnen und Arbeit. Diese Diskriminierungsrealität widerspricht den Gedanken von Grundgesetz, Menschenrechten und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz in der BRD. In Institutionen sowie auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt erhalten bestimmte Personen und Gruppen nicht den gleichen professionellen Service wie ihn Angehörige anderer Gruppen erhalten. Die rassismuskritische und migrationsgesellschaftliche Perspektive geht also über die Frage von Vorurteilen, Einstellungen und Haltungen hinaus und berücksichtigt reale Handlungen, ungleiche Machtverhältnisse und zielt in reflexiv intervenierender pädagogischer Arbeit auf eine Änderung von personalem Handeln 197 Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen und beeinträchtigender Verhältnisse. Um gerechtigkeitsorientiert zu handeln bedarf es des Wissens darum, dass Soziale Arbeit, Psychologie und Psychiatrie vielfach eher auf problematische Weise an rassistischen Verhältnissen beteiligt waren. ‚Ausländerfeindlichkeit’, ‚Fremdenfeindlichkeit’ oder ‚Rassismus’? Alltäglich erleben Personen im Kontext Sozialer Arbeit und anderen Bereichen Rassismuserfahrungen: Dies reicht von Fragen wie „Woher kommst du?“ oder der Kommentierung der Sprachfertigkeiten in der deutschen Sprache („Du sprichst aber gut deutsch!“), über die Erfahrung, in Schulen und bei der Ausbildungsplatzsuche nicht die gleichen Chancen zu haben, Einlasskontrollen an Diskotheken oder Polizeikontrollen allein aufgrund äußerlicher körperlicher Merkmalen zu erleben, bis hin zu verbalen und physischen Übergriffen. Nicht alle hier genannten Handlungen erfolgen mit bewusster ausgrenzender oder verletzender Absicht. Aber sie wirken ausgrenzend und verletzend. Zudem gibt es die Diskriminierung durch das Aufenthalts- und Asylgesetz, die nationalstaatliche Diskriminierung aller, die keine deutsche Staatsbürger_innen sind. Wie können diese Handlungen theoretisch und begrifflich gefasst werden? Da die genannten Handlungen genauso Personen treffen, die staatsbürgerlich Deutsche sind und in der BRD geboren und aufgewachsen sind, die also weder ‚Fremde’ noch ‚Ausländer_innen’, sind, können oft genutzte Begriffe wie ‚Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit’ als offensichtlich ungeeignet angesehen werden. Entscheidend sind vielmehr die Vorstellungen der bewusst oder unabsichtlich benachteiligend handelnden Personen, für die ‚Deutsch-Sein’ mit Eigenschaften in Bezug auf Körperform und Hautpigmentierung verbunden sind. Nationen-Vorstellungen werden mit ‚Rasse’-Konstruktionen verwoben. Es geht um Rassismus. Es gibt keine menschlichen ‚Rassen’ und dennoch werden seit langer Zeit Menschen entsprechend rassistischer Kategorisierungen eingeteilt, hierarchisiert und unterschiedlich behandelt. Die Einteilung in unterschiedliche Gruppen und die Ausübung benachteiligender Handlungen wird Diskriminierung genannt. Sind systematisch und über einen längeren Zeitraum ausgeübte Diskriminierungen mit ‚Rasse’-Konstruktionen verbunden handelt es sich um das gesellschaftlich ungleiche Machtverhältnis Rassismus. Eine Gemeinsamkeit der gesellschaftlichen Machtverhältnisse Kolonialismus, Nationalsozialismus (vgl. Otto/ Sünker 1991) und des gegenwärtigen Rassismus ist, dass Menschen mittels nationaler, religiöser, kultureller oder rassistischer Unterscheidungen in unterschiedliche Gruppen eingeteilt und ihnen ungleiche Clarissa Hechler / Claus Melter 198 Rechte und Möglichkeiten gegeben werden. Eine Gruppe wird systematisch abgewertet und diskriminierend behandelt, während die andere in das Zentrum von Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Entscheidungen rückt. Verständnisse von Rassismus Grada Kilomba benennt Rassismus als Re-Inszenierung kolonialer Situationen von HerrVersklavten-Konstellationen (vgl. Kilomba 2008, S. 7). Gemeint sind hier nicht nur bewusste und offensichtlich herabwürdigende Handlungen. Es kann sich auch um ‚kleine’ und alltägliche Herstellungen von Differenz und zugeschriebener Nicht-Zugehörigkeit und ‚Minderwertigkeit’ handeln. Birgit Rommelspacher benennt verschiedene Elemente des gesellschaftlichen Machtverhältnisses Rassismus: rassistische Gruppenkonstruktionen, die Homogenisierung/Vereinheitlichung der konstruierten Gruppen, die Behauptung einer natürlichen Essenz und von biologischen Unterschieden der Angehörigen der konstruierten Gruppen sowie die Hierarchisierung (Höher- und Abwertung), die Polarisierung (Behauptung der unvereinbaren Unterschiedlichkeit) und die Kulturalisierung der Gruppenmitglieder (vgl. Rommelspacher 2009, S. 34ff.). Jede Form des (biologischen oder kulturellen) Rassismus operiert mit kulturalisierenden Zuschreibungen, sei es in Bezug auf Religion, Geschlechterverhältnisse und/oder vorgestellte Einstellung zur Arbeit. Das alltägliche Zusammenspiel von individuellen Denkund Handlungsweisen, von institutionellen und medial-diskursiven Unterscheidungs-Logiken und Benachteiligungen bewirken die systematische gesellschaftliche Benachteiligung bestimmter Gruppen und beeinflussen die Subjektbildungsprozesse (vgl. Mecheril/ Melter 2010, S. 150ff; Velho 2015, S. 75ff.). Historisch und aktuell relevant sind die • Diskriminierung von als ‚nicht-deutsch’ und/oder ‚nicht weiß’ kategorisierten Personen • Rassismus gegen Roma und Sinti (vgl. Randjelović 2015) • Antimuslimischer Rassismus (vgl. Attia 2014) • Antisemitismus (vgl. Brumlik 2004; Rommelpacher 2009) • Rassismus gegenüber als ‚schwarz’ definierten Personen und People of Color (vgl. ElTayeb 2011) 199 Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen • Rassismus gegenüber Menschen aus Osteuropa und Asien • Nationalstaatliche Diskriminierung und Rassismus gegenüber Personen, die als geflüchtete Personen oder mit (bestimmtem) Migrationshintergrund gesehen werden. Ein Teil der Herstellung dieser national, religiös, sprachlich und kulturell oder rassistisch als unterschiedlich angesehener Gruppen erfolgt auf politisch, medialer Ebene im sogenannten Integrationsdiskurs, der weiter auf Anpassung und geringere Rechte und Möglichkeiten der Gruppen der Eingewanderten und der Nicht-Staatsbürger_innen abzielt. Gegen diese Logik der Einteilung in Menschengruppen, gegen die Höher- und Abwertung und Ungleichbehandlung wendet sich die rassismuskritische Migrationspädagogik. Die Frage, wie Zugehörigkeitsordnungen sozial und formell in Migrationsgesellschaften ausgehandelt sowie mit Diskriminierung und Privilegierung verbunden werden, soll nun mit der Perspektive ‚Migrationsgesellschaft’ analysiert werden. Die migrationsgesellschaftliche Perspektive (vgl. Mecheril 2010) untersucht also, wie in ‚Wir’ und ‚die Anderen’ hinsichtlich natio-ethno-kultureller sowie religiöser und rassistischer Kategorien unterschieden und dies mit Benachteiligungen oder Bevorzugungen verbunden wird. Diskriminierungs- und rassismuskritische Studien im Bereich Soziale Arbeit Rassismuskritische und pädagogische Studien 6 belegen, dass Sozialarbeitende und Fortbildende wenig über die bei allen Menschen vorhandenen (mehrfachen) Zugehörigkeits- und Identitätsverständnisse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte wissen und sich wenig dafür interessieren. In der Regel gründen sich die Vorstellungen der Pädagog_innen und Fortbildner_innen auf Vermutungen und Zuschreibungen und NICHT auf der Kommunikation mit den Beteiligten. Zudem sind die Folgen für diejenigen, die als ‚mit Migrationsgeschichte oder mit Migrationshintergrund‘, als ‚NichtDeutsche‘, als ‚Nicht-Christ_innen‘ angesehen und behandelt werden, eher negativ im Vergleich zu Ansichten und Handlungspraxen gegenüber als mehrheitsangehörig, ‚deutsch‘, ‚weiß‘ und ‚christlich‘ angesehenen Personen. Interessant ist, dass sich – wie eine Untersu- 6 U.a. Essed (1991); Beinzger, Kallert, Kolmer (1995), Lewis (2000); Deniz (2000); Mecheril (2003); Terkessidis (2004); Eggers (2005), Seukwa (2006); Melter (2006), Yildiz (2009); Kuster-Nikolić (2012), Textor (2014); Scharathow (2014) und Velho (2015); Amirpur (2016). Clarissa Hechler / Claus Melter 200 chung von Lena Dittmer zeigt – Pädagog_innen, die sich bewusst rassismuskritisch qualifiziert hatten, dies im pädagogischen Alltag nicht umsetzten (vgl. Dittmer 2008). Dies verweist darauf, dass es auf institutioneller, wie auf konzeptioneller Ebene weiterer Anstrengungen bedarf, eine rassismuskritische, partizipative Praxis weiterzuentwickeln. Wie fanden und finden diese Ideologien und Praxen der Ungleichwertigkeit in Praxen Sozialer Arbeit und Sozialpsychiatrie ihren Niederschlag? Empirisches Beispiel zu (Sozial-)Psychiatrie und Migrationsgesellschaft In 7 der Studie von Clarissa Hecher zu „Sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern in der Migrationsgesellschaft“ (Hechler 2016a) zeigte sich im Gespräch mit vier Professionellen, dass natio-ethno-kulturelle Zuschreibungspraxen in allen Interviews eine Rolle spielten. So war unter anderem auch die Rede von ‚Ethnien’ 8 oder der ‚Flüchtlingswelle’ 9. Rassistische Sprachpraxen werden demnach unreflektiert in den eigenen Sprachgebrauch übernommen und Herrschaftsverhältnisse damit stabilisiert. Rassismus scheint in der sozialpsychiatrischen Arbeit, laut der Befragten, keine große Rolle zu spielen. Es gibt zwar Alltagsrassismus, aber das Thema wird von den Fachkräften als weniger relevant für die Arbeit sowie die Einrichtungen eingeordnet bzw. angesehen. Eigene Strukturen der Mitarbeiter_innenschaft sowie der Zusammensetzung der Adressat_innen oder eigene möglicherweise kulturalisierende Handlungspraxen wurden kaum hinterfragt und Rassismuserfahrungen der Adressat_innen eher als ‚Sonderfall’ deklariert. Weiter wurde Rassismus in einem Interview als Teil des Wahninhalts und damit nicht zu besprechender Inhalt und Erfahrungsbereich benannt. Das Sprechen über Rassismus seitens der Adressat_innen führt, 7 Vgl. Hechler 2016a, S. 84 f. Begriff ‚Ethnie’: Geht auf den Anthropologen W. E. Mühlmann (1960er Jahre) zurück und wurde als Alternative für die Begriffe ‚Rasse’ sowie ‚Stamm’ angedacht. Hiermit geht die Vorstellung einer kulturell und sprachlich homogenen Gruppe einher (vgl. Arndt/ Hornscheid 2009, S. 124). 9 Suffix ‚-ling’: Verkleinernde als auch negative Konnotation (wie etwa bei Lehrling oder Feigling) (vgl. Arndt 2004, S. 1). Wenn in der heutigen Sprachpraxis von den ‚Flüchtlingen’ gesprochen wird, findet sich eben diese Herabsetzung wieder. Der Begriff der ‚Flüchtlingswelle’ hat zudem eine Wassermetaphorik in sich. „Man assoziiert mit ihr Naturgewalten und Gefahren; eine Flut kann Kulturland, Infrastruktur, Dörfer und Städte zerstören, und Menschen können in den Wassermassen ertrinken. Die Wassermetaphorik verweist aber auch auf Handlungsanweisungen und Problemlösungen: Die logische Reaktion auf eine Gefahr ist die Kontrolle der Gefahr oder eine Abwehrstrategie.“ (Burger/ Luginbühl/ Schwab 2004, S. 86). 8 Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen 201 laut Aussagen der Interviewten, so manchmal zu ‚falschen Anschuldigungen’ gegen Personen, rassistisch gehandelt zu haben. Teilweise wurde der mediale und gesellschaftliche Diskurs aufgegriffen und diskriminierende Mechanismen festgehalten: „In Moment isch natürlich Rassismus ’n großes Thema. (.) Also (.), seit (.), seit ma einfach viele (.), viele Flüchtlinge da haben und (2), äh (.), jeder muslimische Mann als potentielle Gefahr gesehen wird, (.) da geht’s den Leuten sicher nochmal (1) anders [In: Mhm].“ (Hechler 2016 a, S. 52) Auch rassistische Strukturen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt wurden teilweise benannt. Die Ungleichbehandlungen durch aufenthaltsrechtliche Fragestellungen waren für alle Fachkräfte eine Thema. Sie sind in ihrer Arbeit direkt davon betroffen und haben Problemstellungen deutlich vor Augen. Für alle durch die Befragten vertretenen Einrichtungen kann zudem festgehalten werden, dass sich Bestrebungen finden lassen, eine interkulturelle Öffnung durchzusetzen. Mit dieser geht allerdings ebenso das ‚Wissen’ um ‚fremde Kulturen’ und eine interkulturelle Kompetenz einher, in der ‚Einheimische’ lernen, mit ‚Migrant_innen’ umzugehen. Die Professionellen werden dabei als ‚einheimisch’ konstruiert und die Menschen ‚mit Migrationshintergrund’ als nicht-deutsche Adressat_innen. Den ‘Migrant_innen‘ wird je eine unterschiedliche, homogen und historisch gleichbleibende nationale ‚Kultur‘ zugeschrieben. Der Kulturbegriff an sich bleibt in allen Interviews schwammig, undefiniert und diffus. Verbunden wird ‚Kultur‘ zumeist mit territorialen bzw. nationalen und religiösen Zugehörigkeiten sowie der (auch familiären) Sozialisation. „[…] für mich würde jetzt Kultur (.) bedeuten (1), vielleicht (.), ähm (1), so ’ne Mischung aus (2) Sprache, (4) Land (.) oder (.) Land(1)strich, (.) wo jemand herkommt, ne? Also (.), so und (.) oder Region (.) und (.), äh (2), und (.), ähm (3) Ethnie ((lacht)) (1) und Religion. Vielleicht so (.), so ’ne Mischung (1), wo ich sagen würde: (.) ‚Des m a c h t (.), jetzt mal in groben Zügen vielleicht (.), ’ne (.) Kultur für mich aus.“ (Hechler 2016 a, S. 54) Insgesamt konnte festgestellt werden, dass Deutschland, und teilweise auch Europa, meist recht differenziert (in Subkulturen) betrachtet und/oder die ‚Kultur’ anhand von Ländergrenzen festgemacht wird. Anders verhält sich das mit den Begriffen ‚muslimische Kulturen’, ‚westliche Welt’ und ‚afrikanische Kulturen’, mit denen größere Kategorisierungen vorge- Clarissa Hechler / Claus Melter 202 nommen und pauschalere Aussagen getroffen werden. Mehrfachzugehörigkeiten wurden nicht thematisiert, wohingegen ein ‚zwischen den Kulturen’ häufiger benannt wurde, was wiederum eindimensional gedachte Zugehörigkeiten und recht statische Kulturverständnisse mit sich bringt. Neben der interkulturellen Öffnung, der Zusammenarbeit mit so genannten Kulturdolmetscher_innen und Sprachdolmetscher_innen, Selbstorganisationen (auch von Migrant_innen) sowie einer gewissen Rücksichtnahme und ‚Befolgung’ gewisser (‚kultureller’) Verhaltensregeln von Seiten der Fachkräfte sind keine extra Angebote bzw. Arbeitsweisen für Personen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte vorgesehen. Eine Auseinandersetzung mit Rassismus als Gesellschaftsverhältnis oder als Handlungslogik in der sozialpsychiatrischen Arbeit wird nicht eingefordert. Eine Reflexion eigener Vorurteile ist laut Aussagen der interviewten Personen aber durchaus angebracht. Bedarfserhebungen speziell auf die Zielgruppe der Psychiatrieerfahrenen mit Migrationsgeschichte bezogen gibt es jedoch keine. Ebenso gibt es keine Studien zu möglicherweise vorurteils-gebundenen Einstellungen und Handlungsmustern der Professionellen. Auch werden keine speziellen Unterstützungsräume und Angebote für rassismuserfahrene Menschen angeboten (vgl. Velho 2015, S: 207). Es sind somit beispielsweise keine ‚geschützten’ Räume oder andere Bestrebungen eines Empowerment auszumachen, obwohl solche Räume laut einer Erzählung sinnvoll wären. „Ähm (5), wo’s dann unter Umständen schon ’n bissl schwieriger wird is’ (.), wenn schwarze Menschen reinkommen. (.) Also (.), oder sehr dunkelhäutige (.) Menschen. (.) Also, d a (.), da gibt’s dann schon als mal die Kommentare. (.) Da haben wir jetzt auch niemand, (.) wo regelmäßig die Tagesstätte besucht […] ich weiß, dass mal einer (.), ’n Schwarzer hier war. (.) Da gab’s dann schon diverse (1), äh (.), Kommentare über (.) Schwarze. Des (1) fällt dann schon auch auf […]“ (Hechler 2016 a, S. 56). Diese als ‚schwarz’ angesehene Person, der rassistische Beschimpfungen entgegengebracht wurden, wird voraussichtlich nicht mehr in die Tagesstätte kommen und dieses Angebot nutzen. Geschützte Räume könnten, so kann kommentiert werden, eine Möglichkeit sein auch diese Zielgruppe (wieder) zu erreichen. Auch die Einstellungen von Mitarbeiter_innen mit Migrationsgeschichte, Schwarzen Deutschen und People of Color können als notwendige Professionalisierung angesehen werden, um unterschiedliche Perspektiven und Identifikationsmöglich- 203 Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen keiten in den Einrichtungen zu haben. Dies ist –so lässt sich den Konzepten der Einrichtungen und Aussagen der Mitarbeitenden entnehmen - auch durchaus erwünscht, wird jedoch noch kaum realisiert: Besondere Bestrebungen, potentielle Mitarbeitende mit Migrationsgeschichte anzuwerben, gibt es aber keine. Allgemein wurden die eigenen Strukturen der Einrichtungen (bis auf Einstellungspraxen und das Essensangebot) in den Interviews kaum hinterfragt. Die Partizipation der Adressat_innen (nicht speziell derer mit zugeschriebener Migrationsgeschichte sondern aller) scheint in einigen Einrichtungen jedoch durch einen ‚Tagesstättenbeirat’ verfolgt zu werden. Abschließend kann somit festgestellt werden, dass die befragten Professionellen in der Sozialpsychiatrie rassistische und natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen, welche die so definierten ‚Anderen’ benachteiligen, eher stärken sowie reproduzieren und diese nicht kritisieren oder zu verändern anstreben (vgl. Hechler 2016 b, S. 209). Für die Forschung stellt sich die Frage, wie erleben Adressat_innen of Color die tendenziell wenig diskriminierungs- und rassismuskritisch eingestellten Pädagog_innen und Psycholog_innen? Wie gehen Therapeut_innen of Color mit Ihnen gegenüber geäußertem Rassismus ‚weißer’ Adressat_innen um? Für die ‚Weißen’ und ‚Schwarzen’ Professionellen stellt sich die Frage, ob und wie diese während der Ausbildung Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen durch monokulturelle und diskriminierende/rassistische Theorien erleben und damit umgehen? Im Buch „Multikulturelle Gesellschaft. Monokulturelle Psychologie?“, 1998 herausgegeben von Iman Attia et. al., werden zum einen die Schwierigkeiten von Personen beschrieben, kompetente Psychotherapeut_innen in Bezug auf Antisemitismus-/Rassismuserfahrungen zu finden. Zum anderen werden Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von als ‚Andere’ angesehenen Personen während Aus- und Fortbildungen in den Bereichen Sozialer Arbeit und Psychologie beschrieben. Zur Verschränkung von Rassismus und Ableismus hat Christiane Hutson mehrere lesenswerte Artikel verfasst (Hutson 2007, 2009, 2009). Werden die Perspektiven der zu ‚Anderen’ gemachten Personen mittlerweile als Adressat_innen und Professionelle in Theorie und Praxis berücksichtigt? Welche Widerstandsstrategien gibt es seitens der unterschiedlich positionierten Personen gegen Diskriminierungen und Rassismen? Clarissa Hechler / Claus Melter 204 Umgang mit Integritäten-Verletzungen In diskriminierungs- und rassismuskritischer Perspektive auf die Migrationsgesellschaft zeigt sich, dass die Integritäten von rechtlich, sozial und medial vulnerabel/verletzbar gemachten Gruppen vielfach eingeschränkt und bedroht sind – auch im Bereich der Sozialpsychiatrie. Dementsprechend 10 stellen sich vielfache Herausforderungen für eine Soziale Arbeit, die sich – was dem gesetzlichen Auftrag entspricht – strukturell, institutionell und adressat_innenbezogen gegen Benachteiligung und Integritätenverletzungen einsetzt. Als diskriminierungs- und rassismuskritische sowie integritäten-orientiert ambitionierte Handlungspraxen können u.a. folgende Grundlagen und Zielvorstellungen angesehen werden: a) Der Schutz und die Ermöglichung von Integritäten aller Menschen; b) Die Begleitung und Unterstützung von Personen, deren Integritäten verletzt wurden; c) Die auf Nachvollziehen und Veränderung abzielende Arbeit mit Personen, welche die Integritäten anderer Personen verletzen; d) Teilhabe-Ermöglichen aller Gruppen an hegemonialen Bildungs-, Lebens- und Arbeitsverhältnissen; e) Selbstbestimmung und Mitbestimmung aller Adressat_innen in der Weise, dass eigene Integritäten geschützt und ermöglicht sowie die Integritäten anderer Personen nicht verletzt werden und f) Kritik und Verändern-Wollen hegemonialer, ausgrenzender, benachteiligender Bildungs-, Lebens- und Arbeitsverhältnisse, die die Integritäten von Gruppen systematisch einschränken und verletzen. 10 Vgl. Melter 2017. 205 Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen Aktuelle Herausforderungen einer rassismuskritischen sowie integritäten-orientierten ambitionierten Sozialen Arbeit und Bildung Das Muster, dass Opfer von Rassismus und Diskriminierung in der Migrationsgesellschaft nicht angemessen begleitet, angesprochen werden und ihre Sicht der Dinge schildern können und gehört werden, dass sie nicht als Opfer von Gewalt angesehen, begleitet und unterstützt werden, hat eine lange und fortdauernde Geschichte und Gegenwart – auch im Bereich Polizei und Justiz. Aktuell hat es sich in erschreckender Weise im Kontext der Morde des so genannten NSU gezeigt, wo Polizei, Politik und Justiz die Angehörigen der Opfer fast ausschließlich als potenzielle Täter_innen behandelten, während Angehörige der deutschen Mehrheitsgesellschaft quasi einen Freibrief der Verfolgungsfreiheit erhielten, da gegen diese kaum oder nicht ermittelt wurde. Auch in der Debatte zur Situation geflüchteter Personen und den Umgang mit aktuellen Fragen der Migration wird dieses Muster praktiziert. Es ist die Regel, dass ‚Flüchtlingsgipfel’ und Tagungen zu geflüchteten Personen mit vielen Teilnehmenden stattfinden, jedoch ohne geflüchtete Personen. In zentralen Fragen, wie geflüchtete Personen wohnen, gesundheitlich versorgt werden, wie lange der Aufenthalt in der BRD dauern oder wann eine Arbeitserlaubnis erteilt oder ein Schulbesuch ermöglicht wird, werden die betroffenen Personen nicht einbezogen. Und wenn es darum geht, was gegen die rassistischen Angriffe und Brandanschläge auf Unterkünfte von geflüchteten und migrierten Personen gemacht werden soll, werden die bedrohten Personen selten an den Debatten beteiligt. Es findet ein systematisches SPRCHEN ÜBER geflüchtete und migrierte Personen statt, meist ohne deren Beteiligung. 11 Auch die prinzipiell begrüßenswerte Thematisierung von Trauma, Traumatisierung und entsprechenden Beratungsbedarfen bei geflüchteten Personen können mit einer Koppelung von Trauma mit zugeschriebener eingeschränkter Sprach-, Handlungs- und Mitbestimmungsfähigkeiten einhergehen. Für alle Arbeitsbereiche Sozialer Arbeit – und somit auch der Sozialpsychiatrie – bedeutet dies nach wie vor die Verfolgung bzw. Schaffung von Beteiligungschancen und die aktive Auseinandersetzung mit rassistisch wirkenden institutionellen Rahmenbedingungen, Beschäftigungsstrukturen, Adressat_innen-Zusammensetzungen und Handlungspraxen. Um mit ei- 11 Und die Artikulationen von Selbstorganisationen geflüchteter Personen werden in den meisten Foren nicht zur Kenntnis genommen, z.B. die Texte von refugees4refugees aus Stuttgart, Rex Osa (https://rdl.de/beitrag/fl-chtlinge-sind-keine-babys-es-braucht-solidarit-t-und-r-ume-statt-alter-kleider) oder von der Initiative Oury Yalloh (https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/). Clarissa Hechler / Claus Melter 206 nem Zitat aus dem lesenswerten Buch „Gefangen in der Gesellschaft – Alltagsrassismus in Deutschland“ von Dileta Fernandes Sequeira (2015) zu enden: „Eine neue globale Psychologie [Soziale Arbeit und (Sozial-)Psychiatrie (Anm. d. 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Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ – Eine differenzreflexive Betrachtung der Partizipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit Stefan Schäfferling Die Unterschiede zwischen Menschen, ihr ‚Anderssein‘, ihre ‚Differenz‘, die Ungleichheiten zwischen Menschen und Menschengruppen sind Merkmale, die mit als konstitutiv für die menschliche Gesellschaft angesehen werden. Der Umgang bzw. Nicht-Umgang mit wirklich vorhandenen und wahrgenommenen oder nur definierten und interpretierten Unterschiedlichkeiten schafft Interaktionsmuster, Habitusformen, Institutionen, Organisationen, gesellschaftliche Teilsysteme und prägt damit die Gesellschaft bedeutend mit. Diese Unterschiede und Unterschiedlichkeiten sind außerdem auch Faktoren für Macht und Ohnmacht und ihre Interpretation bestimmt im Extremfall über Leben und Tod im Sinne von „leben dürfen“ oder „sterben müssen“. Die Soziale Arbeit als eine der Institutionen, die von der Auseinandersetzung mit ‚Differenz‘ und ‚Anderssein‘, „verstanden als Unterscheidung und Abweichung von einem Normalitätsmuster“ (Mecheril/Plößer 2011, S. 279), geprägt ist, reflektiert als Disziplin und Profession intensiv die Implikationen dieser gesellschaftlichen Mechanismen. Das „Statement of Principles“ im „Code of Ethics” der „International Federation of Social Workers (IFSW)“ und der „International Association of Schools for Social Work (AIETS)“ beinhaltet eine grundlegende Definition von Sozialer Arbeit. Sie lautet: „Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrech- Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ 217 te, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein. Diese Definition kann auf nationaler und/oder regionaler Ebene weiter ausgeführt werden“ (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. (DBSH) 2016). In dieser Definition stehen Aspekte wie „soziale Gerechtigkeit“, „Achtung der Vielfalt“, „Menschenrechte“ und „die Förderung des sozialen Wandels, der sozialen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts“ an zentraler Stelle. Damit werden diese Aspekte allen in der Profession und der Disziplin der Sozialen Arbeit Tätigen als Handlungsmaximen für ihr jeweiliges berufliches Handeln nahegelegt. Mein Augenmerk liegt in diesem Beitrag 1 auf einer differenzreflexiven Betrachtung von Personen, die sich mit ihren Unterschiedlichkeiten und unterschiedlichen Voraussetzungen im Handlungsfeld der ‚Sozialen Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen‘ begegnen, und insbesondere auch auf den damit verbundenen Rahmenbedingungen 2. Dadurch werden einige Schwierigkeiten, Hemmnisse, Dysfunktionalitäten und Widersprüche aufgedeckt. Als beispielhaft dafür kann auch die aktuelle und intensiv geführte Auseinandersetzung um Themen wie ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘ ‚Inklusion‘ etc. gesehen werden, denn es gilt hier, theoretische Debatten und akademische Diskussionen der Disziplin mit der erlebten und auch selbst gelebten Wirklichkeit in der Profession der Sozialen Arbeit zusammenzubringen. Die zentralen Fragen, die sich hier stellen, sind: Warum und aus welchen Gründen tun sich Sozialarbeitende allem Anschein nach so schwer, wenn es darum geht, diese Begriffe in reales Handeln umzusetzen und z.B. momentane oder ehemalige Adressat_innen der Sozialen Arbeit in ihren Einrichtungen teilhaben, partizipieren, etc. zu lassen? Sollten nicht aufgrund der Aufgaben, die sich aus der Definition der Sozialen Arbeit im „Statement of Principles“ ableiten lassen, Sozialarbeitende bei der Umsetzung einer gleichberechtigten ‚Teilhabe‘ bzw. 1 Dieser Beitrag basiert auf: Schäfferling, Stefan (2016): Partizipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit – eine differenzreflexive Betrachtung. Stuttgart und Esslingen. (bislang noch unveröffentlichte Bachelorarbeit) 2 Vgl. hierzu auch: Schäfferling, Stefan; Tretter. Manfred (2017): „Es existiert hinter dem Hoftor Franziskanergasse 7 der Mikrokosmos einer ganzen Welt“ – ein kritisch ambitionierter Blick auf Soziale Arbeit in gemeindepsychiatrischen Tagesstätten. In: Gebrande, Julia; Melter, Claus; Bliemetsrieder, Sandro (Hrsg.): Kritisch ambitionierte Soziale Arbeit. Praxeologische Perspektiven. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Stefan Schäfferling 218 von ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ von Adressat_innen und Menschen mit Beeinträchtigungen mit gutem Beispiel vorangehen und auch z.B. bei der Implementierung der UNBehindertenrechtskonvention eine aktivere Rolle spielen? Um diesen Fragen analytisch auf den Grund gehen zu können, bietet es sich an, eine differenzreflexive Perspektive einzunehmen. Die differenzreflexive Perspektive Unter ‚Differenz‘ verstehe ich hierbei das Ergebnis von Unterscheidungspraxen in der Herstellung, in der Aufrechterhaltung, in der Weitergabe, im Bestärken und Abschwächen, im Be- und Ausnutzen, im Hinterfragen und Nicht-Hinterfragen etc. von ‚Normalität‘ und ‚Anderssein‘ von Menschen und/oder Menschengruppen, das sich auf soziales Handeln auswirkt. Beispielhaft für derartige ‚Differenzen‘ werden häufig dichotome Unterscheidungskategorien wie Mann/Frau, Migrant_in/Nicht-Migrant_in, gesund/krank, behindert/nicht-behindert, arbeitsfähig/arbeitsunfähig etc. angeführt. Ich weite hier in Anlehnung an Mecheril/Melter (2010) die Betrachtung aus auf die Differenzierungspraxen von Adressat_innen und Profis 3 in der Sozialen Arbeit und habe dabei auch eine soziologische Definition von ‚Differenz‘ im Hinterkopf, die sie als „Verschiedenheit, Unterschied, das Anderssein von Dingen, die aber etwas gemeinsam haben“ (Fuchs-Heinritz et. al. 2007, S. 137) bezeichnet. Unter ‚differenzreflexiv‘ verstehe ich mit Bezug auf Machold/Mecheril (2013) das Nachdenken über die „Produktion von kulturell, gesellschaftlich und (bildungs-)institutionell selbstverständlich geltendem Wissen“ (Ebd., S. 45) und die daraus resultierende kritische Auseinandersetzung mit den „Bedingungen und Konsequenzen der Entstehung gesellschaftlicher (Differenz-)Verhältnisse – verstanden als im Handeln vollzogene, gedeutete, interpretierte und sinnhaft geltende Verhältnisse“ (Ebd.). ‚Reflexivität‘ verstehe ich in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Ulrich Beck (1986, 1999, 2007) zudem aber auch als eine besondere, das Leben und Handeln in der postmodernen Gesellschaft charakterisierende Verbindung von Reflex, Reflexion und Reaktion. Und zwar in dem Sinne, dass eine Veränderung von gesell- 3 An Anlehnung an Dörner (2017, S. 20) verstehe ich unter ‚Profi‘ einen psychiatrisch tätigen Menschen, „der dafür bezahlt wird, so auf der Beziehungsebene zu sein und auf der Handlungsebene sich um die Grundbedürfnisse von psychisch Kranken zu sorgen und ihre Störung so zu stören, dass psychisch Kranke ihren Sinn erfassen können und die Störung dadurch überflüssig werden kann.“ Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ 219 schaftlichen Struktur-, Umwelt-, Arbeits-, Lebensbedingungen, etc. auf eine besondere Art und Weise auf das Individuum zurückwirkt und es dazu zwingt, sich damit auf eine ganz besondere Art und Weise auseinanderzusetzen – und dass die Art und Weise der Auseinandersetzung oder auch der Nicht-Auseinandersetzung der Individuen mit den gesellschaftlichen Erwartungen, Anforderungen und Rahmenbedingungen auch auf diese auf die eine oder andere Art und Weise verändernd zurückwirkt. 4 Diese ‚Reflexivität‘ findet sich selbstverständlich auch in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Es bietet sich hier an, ein möglichst breites Verständnis von ‚Handlungsfeldern‘ zu wählen: Demnach können darunter im weitesten Sinne alle Tätigkeitsfelder verstanden werden, in denen Menschen arbeiten, die als Sozialarbeiter_innen/Sozialpädagog_innen ausgebildet wurden oder werden und dort in Kontakt mit Adressat_innen stehen, in den von mir dargestellten Fällen in einem jeweils mehr oder weniger partizipativen Verhältnis. Drei Beispiele für die Partizipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit Menschen mit psychischen Erkrankungen sehen sich Stigmatisierungs- und Freisetzungsprozessen (vgl. z.B. Goffman 1967, Hohmeier 1975) ausgeliefert, die sie aus den üblichen sozialstrukturellen Zusammenhängen herauskatapultieren und exkludieren können (vgl. z.B. Goffman 1973). Psychisch zu erkranken ist ein kritisches Lebensereignis, das zumindest zum Teil, wenn nicht vollständig, die Handlungsfähigkeit raubt. Oftmals resultiert aus der spezifischen Problemlage der Menschen mit psychischen Erkrankungen Selbstwertverlust, soziale Orientierungslosigkeit und eine Sehnsucht nach Normalisierung (vgl. Böhnisch 2008, S. 49 f.). Als beispielhaft für Kontaktverhältnisse mit partizipativem Charakter zwischen als Sozialarbeiter_innen/Sozialpädagog_innen Ausgebildeten und Adressat_innen, Klient_innen, Kund_innen etc. können Freiwilligenarbeit/bürgerschaftliches Engagement, User Involve4 Soziologisch betrachtet verorte ich mich damit in der Tradition der „Münchner Subjektorientierten Soziologie“, die sich u.a. vornimmt, „gesellschaftliche Strukturen oder Strukturelemente daraufhin [zu] analysieren (1) in welcher Weise sie menschliches Denken und Handeln prägen, (2) wie Menschen bestimmter soziohistorisch geformter Individualität innerhalb dieses strukturellen Rahmens agieren und so u.a. zu seiner Verfestigung oder Veränderung beitragen und (3) wie schließlich die betrachteten Strukturen selbst einmal aus menschlichen Interessen, Denkweisen und Verhaltensweisen hervorgegangen sind“ (Bolte 1983: 15). Stefan Schäfferling 220 ment (UI) und Experienced Involvement (EX-IN) angesehen und exemplarisch differenzreflexiv analysiert werden. Von diesen Beispielen verweist jedes für sich auf eine besondere Art und Weise auch auf Lothar Böhnischs Lebensbewältigungskonzept (vgl. ebd., S. 33 ff.) und zeigt u.a. einen Weg auf, wie institutionalisierte Angebote als „Form sozialer Integration“ (Ebd., S. 34) bei der Suche nach sozialem Anschluss und Anerkennung helfen können. Sie bieten Selbstwirksamkeitserfahrungen, schaffen Gruppenerfahrungen, liefern einen Beitrag zur Tagesstrukturierung, vermitteln bzw. reaktivieren besondere Kompetenzen, u.v.m., und es lassen sich an ihnen Beispiele für Partizipations-, Integrations- und Inklusionsprozesse finden. Sie verweisen aber auch auf einen Begriff, der momentan in der Diskussion um Genesungswege von Menschen mit psychischen Erkrankungen eine zentrale Rolle spielt: „Recovery“. Ihde-Scholl definiert „Recovery“ wie folgt: „Beim Begriff Recovery geht es um Gesundung. Gesundung nicht im Sinne von ‚symptomfrei sein‘, sondern Gesundung im Sinne von ‚mit gesunden Anteilen etwas machen können‘ – eine berufliche oder gesellschaftliche Aufgabe übernehmen, auch wenn immer noch Symptome da sind. Bei Recovery geht es um Hoffnung, Hoffnung, dass Gesundung auch bei schweren chronischen psychischen Erkrankungen möglich ist. Bei Recovery geht es auch darum, wieder Verantwortung übernehmen zu können für die eigene Gesundung, wieder Kapitän zu werden des eigenen kleinen Schiffs und sich zu entscheiden, welche Hilfeleistungen man möchte und welche nicht. Recovery heißt, Strategien zu erlernen, wie man mit Symptomen besser umgehen kann, so dass diese einen geringeren Einfluss auf die Lebensqualität haben“ (Ihde-Scholl 2014, S. 3; vgl. zum Thema „Recovery“ insbesondere auch Amering/Schmolke 2007; Burr/Schulz/Winter/Zuaboni 2013; Schulz/Zuaboni 2014). An den vorgestellten Beispielen werden auch unterschiedliche Teilhabe-, Partizipations-, Integrations- und Inklusionsansätze deutlich. Es soll aber explizit auch auf Dysfunktionalitäten verwiesen werden, die sich jeweils trotz der positiven Folgen sowohl für PsychiatrieErfahrene, psychisch erkrankte und erkrankt-gewesene Menschen 5 als auch für Menschen mit 5 Anmerkung zum Begriff ‚Menschen mit psychischen Erkrankungen‘: Grundsätzlich können darunter Psychiatrie-Erfahrene, Menschen, die psychisch erkrankt sind oder waren und Menschen mit einer Behinderung verstanden werden, deren Zuordnung sich durch medizinische Klassifikationssysteme (z.B. ICD10) und/oder rechtliche Vorgaben (z.B. §2 SGB IX) und/oder die Zuständigkeit von helfenden Institutionen (z.B. Psychiatrie, Sozialpsychiatrie) ergibt. Wie in der klassischen Mengenlehre ergibt sich hier eine Schnittmenge zwischen den einzelnen Teilmengen. Aber es sind auch Fälle von Psychiatrie-Erfahrenen bekannt, die nicht psychisch erkrankt waren oder sind, und selbstverständlich sind nicht alle Menschen, die psychisch erkrankt waren oder sind, ‚behindert‘. Was aber, und darauf beziehe ich mich auch in der folgenden Auseinandersetzung, bei allen drei hier erwähnten Gruppen eine wesentliche Rolle spielt, ist eine ‚Beeinträchtigung‘ durch Stigmatisierungsprozesse, Stereotype, Ausschlussmechanismen, etc., die sie beim Versuch einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teil- Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ 221 Behinderung einerseits und bezüglich der Veränderung von benachteiligten Einstellungen und Strukturen andererseits abzeichnen. a) Freiwilligenarbeit / bürgerschaftliches Engagement Zunächst soll nun in diesem Zusammenhang der Fokus auf die Teilhabe von PsychiatrieErfahrenen als freiwillige ehrenamtliche Helfer_innen in (sozial)psychiatrischen Einrichtungen gerichtet werden. Diesem Thema widmete Andrea Dischler (2010) ihre Dissertation und analysiert darin zunächst theoretisch, danach empirisch mit Hilfe von problemzentrierten Interviews und „grounded theory“ die Voraussetzungen, Motivationslagen und Auswirkungen von Freiwilligentätigkeit am Beispiel von Menschen mit Psychiatrieerfahrung. Ausgangspunkt dieser Untersuchung im „selten explorierten Schnittfeld zwischen Freiwilligenengagement und Psychiatrie“ (Keupp 2010, S. 9) ist die Überlegung, dass es aufgrund der Entwicklungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit psychischen Erkrankungen immer schwieriger wird, überhaupt eine Chance zu erhalten, dort (wieder) eine Beschäftigung zu finden. Keupp fasst diese Überlegungen im Vorwort zur Veröffentlichung der Dissertation wie folgt zusammen: „Gesellschaftspolitisch ist von Teilhabe seit einiger Zeit immer weniger die Rede, dafür aber mehr von ‚Exklusion‘ oder vom ‚abgehängten Prekariat‘. Wenn die arbeitsmarktorientierte Teilhabe immer schwieriger wird, stellt sich die Frage, ob die Perspektive der Inklusion noch sinnvoll ist. Oder gibt es andere Formen der Teilhabe?“ (Ebd). Das Ziel der Studie ist es herauszufinden, wie und ob sich durch unterschiedliche Formen bürgerschaftlichen Engagements Teilhabe und Selbstwirksamkeitserfahrungen von Menschen mit Psychiatrieerfahrung verbessern lassen. Sozialwissenschaftlich betrachtet klingen hier Überlegungen mit an, wie sie auch Ulrich Beck bei seiner Suche nach einer „Weltbürgergesellschaft“ (vgl. Beck 1999) und Jeremy Rifkin beim Nachdenken über eine Zukunft von Arbeit am „Ende der Arbeit“ (vgl. Rifkin 2004) be- habe ‚behindern‘ und die für andere Menschen wie ein Label fungiert, an dem Differenzen und Distinktionsmechanismen festgemacht werden können. Und um eben diese Mechanismen und Differenzlinien geht es auch hier und insbesondere um die Frage, wie sie die ‚Partizipation‘ von auf diesem Wege stigmatisierten Menschen verhindern oder auf eine besondere Art ermöglichen. Stefan Schäfferling 222 schäftigt hatten. Beide sehen in Formen von ehrenamtlichen, freiwilligen, nicht oder im Sinne reziprozitärer Gegenleistungen entlohnten Tätigkeitsformen im Rahmen eines bürgerschaftlichen Engagements eine Lösung für Menschen, die aufgrund der Veränderungen, welche die „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) bzw. die „dritte industrielle Revolution“ (Rifkin 2011) bzw. die Digitalisierung des „Internetzeitalters“ (Castells 2001-2003, 2003) etc. mit sich bringt, eine sinnhafte und zugleich sinnvolle Beschäftigung und über diese eine Einbindung in ein neues gesellschaftliches Miteinander suchen. Neben diesen theoretischen Grundlagen übernimmt Dischler in ihrer Arbeit auch Rifkins Modell des „Dritten Sektors“. Freiwilligenarbeit definiert sie als „jegliche unbezahlte Arbeit außerhalb von Haushalt und Familie“, sie „unterteilt sich in Freiwilligentätigkeit und Ehrenamt“ (Dischler 2010, S. 35). Freiwilligenarbeit zeichnet sich nach Dischler v.a. durch folgende Funktionsebenen aus (vgl. Dischler 2010, S. 36f.): (1) auf der individuellen Ebene durch Motive wie Selbsterprobung, Selbstverwirklichung und Kompetenzerwerb sowie Sinnfindung und „Entwicklung eines eigenen Lebensstils jenseits von Beruf und Familie“ (Ebd.); (2) auf der intersubjektiven Ebene spielen der Wunsch nach Anerkennung durch andere und zielgerichtete Einflussnahme auf Dritte eine Rolle, daneben aber ebenso eine „konsequent intersubjektive Ausrichtung“ (Ebd.); (3) auf der institutionellen Ebene prägen Vereine, Verbände, Non-Profit-Organisationen etc. das Bild, die z.T. nur aufgrund freiwilligen Engagements existieren und öffentliche Anerkennung und politische Legitimation beanspruchen können; (4) auf der sektoralen Ebene gesellschaftlicher Teilsysteme „bietet [sich] die Möglichkeit, kritische Ungleichgewichte zwischen gesellschaftlichen Bedarfen und sozialstaatlich realisierten Möglichkeiten neu auszubalancieren“ (Ebd.). Dischler (vgl. ebd., S. 62ff.) führt mehrere Studien an, die die Motivationslagen der Freiwilligenarbeiter_innen und die Auswirkungen von Freiwilligenarbeit auf ihr psychisches und psychosoziales Wohlbefinden zum Gegenstand haben. Im Mittelpunkt steht Selbstentfaltung und gemeinsames Erleben mit anderen. Erwerbslose zeigen im Vergleich zu Erwerbstätigen weniger Engagement bei der Suche nach Freiwilligenarbeit, v.a. diejenigen, die sich vor der Erwerbslosigkeit noch nie ehrenamtlich engagiert hatten. Psychiatrie-Erfahrene (die sich z.T. natürlich auch in der Gruppe der Erwerbslosen befinden) erleben besonders den Kontakt zu anderen und das gute Gefühl, das ihnen die Tätigkeit gibt, als positiv. Ein Kohärenzerleben wird angestoßen und ein Übergang zu anderen Tätigkeiten fällt leichter. Es gibt aber auch Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ 223 Studien, die vor den negativen Auswirkungen von Freiwilligenarbeit warnen, wenn sich dort exkludierend wirkende gesellschaftliche Strukturen reproduzieren (vgl. ebd., S. 79). In ihrer Studie zeichnet Andrea Dischler die Lebenslinien von zehn psychiatrieerfahrenen Menschen nach. Das zentrale Motiv für Freiwilligenarbeit ist für alle Befragte der Kontakt zu anderen Menschen, ansonsten variieren die Motive, sie „können eher eigensinnig oder gemeinsinnig sein“ (Ebd., S. 180). Die Erfahrung einer früheren freiwilligen Tätigkeit wurde als wichtiger Impuls dafür erkannt, wieder eine Freiwilligentätigkeit übernehmen zu wollen. Wichtig für den Erfolg des Zugangs zu Freiwilligenarbeit ist, dass die Umsetzung aktiv, d.h. selbst in die Hand genommen und organisiert wird; wichtig sind dabei die eigene Handlungsmotivation und der erste Handlungsimpuls. Nach dem Zusammenhang zwischen Erwerbsarbeit und Freiwilligenarbeit gefragt, bleibt für die meisten der Studienteilnehmer_innen Erwerbstätigkeit das Ziel: „Die Erwerbsarbeit hat für die meisten Interviewten noch einen wesentlich höheren Stellenwert als die Freiwilligenarbeit. Fast allen fällt es sehr schwer, sich von Gedanken erwerbstätig sein zu können, zu lösen“ (Ebd., S. 198). Bezogen auf Aspekte, die sich begünstigend oder beeinträchtigend auf die Aufnahme einer freiwilligen Tätigkeit auswirken, führt Dischler (Ebd., S. 240ff.) an, dass die Passgenauigkeit der Tätigkeit mit den Voraussetzungen und Ressourcen der psychiatrieerfahrenen Person die wichtigste Rolle spielt. Die biografische Passung und der Wille der/des Freiwilligen seien die zentralen Kriterien. Die Psychiatrie-Erfahrung spielt eine weitere wesentliche Rolle, v.a. die Tatsache, dass oftmals aufgrund der psychischen Erkrankung nicht mehr an zuvor bestehende berufliche und/oder private Lebenszusammenhänge angeschlossen werden kann: Dies trifft gerade Menschen in der zweiten Lebenshälfte besonders hart. Eine Gewöhnung an die eigene veränderte Leistungsfähigkeit ist für die Bewältigung dieser Schwierigkeiten ein wesentlicher Schritt. Freiwilligenarbeit kann bei dieser Suche nach einer neuen Identität unterstützend wirken. Freiwilligenarbeit wird von den Befragten als besonders gelingend betrachtet, wenn sie autonom und zugleich sozial eingebunden sein können und eine Kontinuität beim Tätigsein besteht. Hinzu kommen Anerkennung (ausgedrückt als das Gefühl gebraucht zu werden), die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten und bei vielen das Gefühl einer Erwerbsarbeitsnähe als wesentliche Faktoren (vgl. ebd.: 241). In den Interviews wurde Stefan Schäfferling 224 auch deutlich, dass soziale und verbale Anerkennung wesentlich höher eingeschätzt werden als monetäre Anerkennung (vgl. ebd., S. 244). Für die Soziale Arbeit leitet Dischler (Ebd., S. 243ff.) folgende Handlungsoptionen ab: (1) Freiwilligenarbeit ist als Möglichkeit des Tätigseins anzuerkennen; (2) Wissen über Tätigkeitsfelder und Arbeitsmöglichkeiten soll an Nutzer_innen und Kolleg_innen in sozialpsychiatrischen Angeboten weitergegeben werden, um Freiwilligentätigkeit z.B. als Vorstufe oder Ergänzung zur beruflichen Rehabilitation zu vermitteln, insbesondere Nischen-Tätigkeiten könnten hier für Psychiatrie-Erfahrene geeignet sein; (3) es sollte für Interessierte, d.h. sowohl für Tätigwerden-Wollende als auch für mögliche Anbieter von Freiwilligenarbeit, ein Leitfaden erstellt werden mit unterstützenden Hinweisen bzgl. der Aufnahme einer Freiwilligentätigkeit und sonstigen wichtigen Aspekten; (4) um die möglichst genaue Passung von psychiatrieerfahrener Person und Freiwilligenarbeit sicherzustellen, sind Kenntnisse in Biografiearbeit wichtig, die „den salutogenetischen Grundsätzen der Ressourcenerschließung, Kompetenzfindung und des Empowerments folgt (Ebd., S. 243). Führt man nun Dischlers Ausführungen und ihre Überlegungen einer kritischen Betrachtung zu, ist zunächst natürlich keinesfalls die sich aufdrängende stringente Logik von der Hand zu weisen, dass für Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, die aus bekannten Gründen keinen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt (mehr) finden, Freiwilligenarbeit ein passendes vorübergehendes oder längerfristiges Substitut sein kann. Sie bietet Zugang zu Anerkennung und Selbstwirksamkeitserfahrungen, vermittelt Gemeinschaftsgefühl und (re)aktiviert brachliegende Kompetenzen, die sogar zum Wohle anderer eingesetzt werden können. Jedoch bleibt die Orientierung der in Freiwilligenarbeit Tätigen in Richtung allgemeinen Arbeitsmarkt unvermindert bestehen, wie die Studie zeigt. Freiwilligenarbeit kann also auch als eine WENNDANN-Lösung angesehen werden: WENN schon nicht allgemeiner Arbeitsmarkt, DANN wenigstens Freiwilligenarbeit. Es ist darauf zu achten, dass Freiwilligenarbeit für viele der dort tätigen Psychiatrie-Erfahrenen nicht zu einer „Ersatzinklusion“ wird und damit im Prinzip zu ihrer ‚Exklusion‘ beiträgt (vgl. Stichweh 2009). Außerdem ist anzumerken, dass die seit Ende 2006 bestehende und in Deutschland seit 2009 geltende UN-Behindertenrechtskonvention in Artikel 8 nahelegt, einen Bewusstseinswandel anzustoßen, bzw. in Artikel 27 für Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Arbeit und Beschäftigung fordert. Die in dieser 2010 veröffentlichen Publikation an mehreren Stellen 225 Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ angeführte These, dass eine inklusive Perspektive aufgrund einer als immer schwieriger erachteten Teilhabe psychiatrieerfahrener Menschen auf dem Arbeitsmarkt aufzugeben sei, erscheint vor dem Hintergrund der UN-BRK wie ein Kotau vor übermächtigen gesellschaftlichen Strukturen. b) User Involvement (UI) Das Konzept des ‚User Involvements‘ (UI) (oder ‚Service User Involvement‘ (SUI) wie es im englischen Original heißt) fußt auf der Überlegung, Menschen mit Nutzer_innenerfahrung als Adressat_innen der Sozialen Arbeit in die Ausbildung von Fachkräften mit einzubeziehen. Unter ‚service user‘ werden in diesem Zusammenhang „primär Menschen verstanden, die persönlich Erfahrung mit dem sozialen Hilfesystem gemacht haben bzw. aufgrund benachteiligender Lebenslagen ihren rechtlichen Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen wahrnehmen oder wahrgenommen haben“ (Leers/Rieger 2013, S. 537). In England ist dies seit dem Hochschuljahr 2003/2004 der Fall und inzwischen hochschulrechtlich verankert. Hochschulen werden regelmäßig auch dahingehend evaluiert und Ergebnisse in Akkreditierungs- und Zertifizierungsverfahren einbezogen (vgl. ebd., S. 537f.). Das Ziel von ‚User Involvement‘ ist es, die spezifischen Erfahrungen, die Menschen in „marginalisierten gesellschaftlichen Positionen“ (Leers 2014, S. 145) mit dem Hilfesystem gesammelt haben, im Hochschulkontext zu berücksichtigen, um eine Verbindung von akademisch-theoretischem Wissen mit erfahrungsbasiertem Wissen zu schaffen. „Insiderkenntnisse“ von Betroffenen, die „ausschließlich durch das eigene Erleiden erlangt werden“ (Ebd., S. 147) können 6, werden so in die Ausbildung von künftigen Fachkräften integriert. Dies soll dazu beitragen, dass Studierende „frühzeitig – d.h. schon im Studium – Stereotype, Vorbehalte und Ängste reflektieren und abbauen können“ (Ebd.), denn sie können „im geschützten Lernsetting Menschen in benachteiligenden Lebenslagen kennenlernen und mit Menschen 6 Ein Adressat, der an einer englischen Hochschule als ‚service user‘ in das Programm einbezogen ist, schildert seine Motivation wie folgt: „Man kann nicht nachvollziehen, was es heißt, wegen Depressionen stationär behandelt zu werden, wenn man nicht bereits selbst einmal wegen Depressionen in einer Klinik untergebracht war. Man kann nicht verstehen, was es bedeutet, einen Selbstmordversuch zu begehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Was wir jedoch versuchen können, ist Verständnis dafür zu erzeugen. Wenn ich davon berichte, wie ich versucht habe, mir das Leben zu nehmen, muss ich mich an sehr dunkle Zeiten zurückerinnern, was nicht angenehm ist. Aber ich tue es, weil ich begriffen habe, wie wichtig es ist, ein breites Verständnis für solche Themen zu schaffen“ (Leers 2014, S. 148). Stefan Schäfferling 226 sprechen, deren Lebensweise ihnen fremd ist“ (Ebd.) und lernen, „auch Respekt vor dem persönlichen Erfahrungs- und Wissensschatz von Menschen zu entwickeln, mit denen sie später arbeiten werden“ (Ebd.). Außerdem werden die Studierenden durch die Einbeziehung der Adressat_innen an das Thema ‚Partizipation‘ herangeführt und erleben am Beispiel der Zusammenarbeit von Professor_innen, Praktiker_innen und Adressat_innen den Mehrwert von partizipativen Strukturen (vgl. ebd.). Auf diesem Weg soll zum „Abbau einer expertokratischpaternalistischen Ausrichtung“ (Leers/Rieger 2013, S. 543) beigetragen und die sozialarbeiterische Praxis durch mehr „Lebensweltorientierung“ (Thiersch) und durch die „Responsivität sozialer Institutionen“ (Schnurr 2011) verbessert werden 7. Die Möglichkeiten der Beteiligung der ‚service user‘ sind unterschiedlich und weisen eine große Spannbreite auf: Neben der Einbeziehung als „Informanten“ in Lehrveranstaltungen bieten sie je nach Hochschule auch eigene Lehrveranstaltungen an, wirken bei der Vorbereitung von Studierenden auf Praktika und der fachlichen Begleitung der Studierenden während der Praktika mit, können eigenständig Studienleistungen benoten, wirken bei der Auswahl von Studierenden mit, sind Mitglied in Hochschulgremien und in die Konzeption von Studiengängen und in die Qualitätssicherung mit einbezogen. Einige ‚service user‘ übernehmen an den Hochschulen auch umfangreiche Koordinationsaufgaben im Rahmen der ‚Service User Involvement‘-Programme (vgl. Leers/Rieger 2013, S. 537ff.). Von Seiten mancher Lehrenden an englischen Hochschulen erntete eine derart umfassende Einbeziehung von ‚service usern‘ Kritik, da es ihnen allem Anschein nach schwerfiel, mit diesen eine „partnerschaftliche Arbeitsbeziehung“ einzugehen, da sich „Machtverhältnisse zwischen Studierenden, AdressatInnen und Lehrenden […] verschieben“ (Leers 2014, S. 148f.) können und in dieser „Akteurstriade“ das eigene Rollenverständnis ggf. neu ausgehandelt werden muss 8. Schwierigkeiten bereitet manchen Hochschulen die Finanzierung der ‚ser- 7 „Noch heute erinnere ich mich lebhaft daran, wie erstaunt viele waren, die ich in England interviewt hatte, als ich ihnen berichtete, dass ich während meines Studiums in Deutschland keine ‚ExpertInnen aus Erfahrung‘ an der Hochschule kennengelernt hatte. Mit großen Augen fragten sie: ‚Aber wie können Sie dann ausreichend für den Beruf der Sozialarbeiterin qualifiziert sein?‘“ So beschreibt Franziska Anna Leers, die sich in ihrer Masterarbeit mit der ‚Service User Involvement‘-Thematik beschäftigte, Reaktionen, die sie in England erlebt hatte. 8 Ein ‚service user‘ an einer englischen Hochschule verdeutlicht seine Eindrücke so: „Einige Lehrende fühlen sich etwas bedroht durch die Beteiligung von Service Usern. Es wird als etwas betrachtet, das ‚das Wasser trübt‘. Das heißt, es kann die Dinge etwas in Unordnung bringen. […] Ich denke, aus diesem Grund handelt es sich an einigen Stellen auch nur um Scheinbeteiligung“ (Leers 2014, S. 149). 227 Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ vice user‘-Beteiligung. Die eingesetzten Erfahrungsexperten sollen und müssen für ihre konstruktiven Beiträge auch entsprechend entlohnt werden, denn „Wissensbeiträge müssen nicht nur ideelle, sondern auch finanzielle Wertschätzung erfahren“ (Ebd., S. 149). Und auch für die Koordination des Prozesses werden Personalmittel benötigt. Zu bedenken ist auch, dass die Einbeziehung von Adressat_innen auch infrastrukturelle Veränderungen an Hochschulen notwendig machen (wie z.B. einen barrierefreien Zugang zu Hochschuleinrichtungen), aber auch eine personelle Aufstockung erforderlich machen kann, da eine Koordinator_innenStelle benötigt wird, die für die Akquirierung, die Kontinuität und die Qualität des Programmes sorgt, den ‚service usern‘ mit Rat und Begleitung zur Seite steht und mit dem Hochschulpersonal Vorbereitungskurse und ggf. Schulungen durchführt. Hochschulen, die ‚Service User Involvement‘ praktizieren, berichten vor allem von positiven Veränderungen hinsichtlich Kreativität, Vielfalt, Themen, Lernformen in und von Lehrangeboten. Studierende schätzen die Abwechslung und die Gelegenheit, Fragen zu stellen, die man sonst nicht zu stellen wagt (vgl. ebd.; vgl. Leers/Rieger 2013, S. 544 f.). Die Umsetzung des ‚service user involvements‘ wird an englischen Hochschulen mit Hilfe einer fünfsprossigen „ladder of involvement“ beurteilt (vgl. ebd., S. 542): (1) „no involvement“ (keine Beteiligung), (2) „limited involvement“ (begrenzte Beteiligung, z.B. Gäste in Vorlesungen), (3) „growing involvement“ (wachsende Beteiligung, d.h. Beteiligung in mindestens zwei der Beteiligungsfelder Konzipierung, Lehre, Auswahl der Studierenden, Bewertung der Studienleistungen, Qualitätssicherung der Lehre), (4) „collaboration“ (Zusammenarbeit als voll anerkanntes Mitglieder des Dozent_innenteams; regelmäßige Trainings- und Supervisionsangebote, Zugang zur Infrastruktur der HS) und (5) „partnership“ (Partnerschaft in Sinne einer systematischen Zusammenarbeit auf allen Ebenen, alle wichtigen Entscheidungen werden gemeinsam getroffen). Außer der Bereicherung des Studiums an Hochschulen hat das Programm aber auch einen Mehrwert für die beteiligten Adressat_innen. Sie profitieren von den verschiedenen Möglichkeiten zur ‚Teilgabe‘ ihrer Erfahrungen, können neue und andere Rollen im Vergleich mit anderen peer-group-Netzwerken einnehmen und erfahren ein Gefühl der Aufwertung und Zugehörigkeit. Es kann für sie ein Gewinn hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsentwicklung sein sowie eine Basis für Selbstwirksamkeitserfahrungen (vgl. Leers/Rieger 2013, S. 544 f.). Stefan Schäfferling 228 Im Sinne einer Etablierung eines ‚Meaningful Service User Involvements‘ an deutschen Hochschulen fordern Leers/Rieger (2013, S. 547) „Innovationsgeist und Mut zur Reform tradierter Bildungswege […], da die Lehr-Lern-Prozesse inhaltlich neu gewichtet, verhandelt und ausgestaltet werden müssten“. Das Programm müsse aus der jeweiligen Hochschule heraus entwickelt werden, da individuelle und lokale Gegebenheiten berücksichtigt werden müssen. Kritisch zu sehen ist am dargestellten Modell des ‚user involvements‘ aber, dass es bislang Benachteiligungsstrukturen an Hochschulen unangetastet lässt. Wie Studien zeigen, die u.a. im Rahmen von Masterarbeiten angefertigt wurden, machen Studierende mit Beeinträchtigungen an Hochschulen 9 – und insbesondere auch an Fakultäten für Soziale Arbeit – Benachteiligungserfahrungen, die von Lehrenden, Mitstudierenden und dort vorhandenen Strukturen ausgehen (vgl. Sonnleitner 2014; Lienert 2016; Schäfferling/Wehner 2016). In ‚user involvement‘-Programmen, die Erfahrungsexpert_innen von außen an die Hochschulen holen, sind keine Ansätze vorhanden, die die Lage dieser Studierenden reflektieren. Die Zielrichtung des Umdenkens der Studierenden ist auf die berufliche Praxis nach dem Studium ausgerichtet, auf den „Abbau einer expertokratisch-paternalistischen Haltung“ (Leers/Rieger 2013, S. 543). Hier stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu einer derartigen Haltung kommen kann und warum sie wieder abgebaut werden muss bzw. woher die Überzeugung stammt, dass Studierende diese Haltung später ihren Klient_innen gegenüber an den Tag legen werden. Dies wäre sicher nicht der Fall, wenn an Hochschulen eine Atmosphäre des Miteinander- und Voneinander-Lernens vorhanden wäre, im Sinne von Diversityorientierung und Differenzreflexivität. Wären Studierende und Lehrende offen(er) gegenüber ihren Kommiliton_innen 10 mit Beeinträchtigungen, könnten diese ihrerseits offen(er) als Expert_innen für z.B. psychische Erkrankungen oder als Expert_innen für eine Adressat_innenperspektive, was Angebote der Sozialen Arbeit betrifft, auftreten. Sie könnten sozusagen als „primi inter pares“ in diesem Fall noch unmittelbarer und glaubhafter als Personen, die von außen kommen, eine Bewusstseinsveränderung, einen Abbau von Stereotypen, eine Offenheit ihrer Mitstudierenden in der 9 Der Anteil der Studierenden mit Beeinträchtigungen an deutschen Hochschulen und Universitäten beträgt laut Studien zwischen 8 und 14 Prozent. 10 Hier verstanden im ursprünglichen, universitätslateinischen Sinne als „Mit-Streiter_in in der Studiengemeinschaft“, also Lehrende und Studierende mit einbeziehend. Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ 229 späteren Berufspraxis, etc. bewirken – und selbst Selbstwirksamkeitserfahrungen anstatt Benachteiligungserfahrungen machen. c) Experienced Involvement (EX-IN) Die Konzeption des Programms „Experienced Involvement“ (EX-IN) baut auf dem PeerGedanken und daraus entstandenen Initiativen auf. Die Peerbewegung entstand in den 1960er Jahren in England, wo in der Diabetes-Behandlung erfahrene Diabetiker jungen Menschen mit Diabetes bei ihrer Lebensstilanpassung und beim Erlernen der Insulingabe begleiteten. In den 1980er Jahren wurden diese Konzepte auf das psychiatrische Handlungsfeld übertragen: Mit psychischen Erkrankungen erfahrene Menschen nahmen eine Beratungsfunktion für neu Erkrankte ein, um sie auf dem Weg der Gesundung zu unterstützen. Mancherorts institutionalisierte sich dies in multidisziplinären Teams, in denen Pflegende, Ergotherapeuten, Sozialarbeitende, Ärzte und „Experten aus Erfahrung“ zusammenarbeiteten (vgl. Ihde-Scholl 2014, S. 1f.). Unter „Peers“ werden in diesem Zusammenhang Betroffene verstanden, die selbst psychisch erkrankt waren oder sind und somit Experten für die eigene Erkrankung und vor allem der eigenen Genesung sind. Sie haben im Rahmen einer Ausbildung gelernt, dieses Wissen und die Handlungsstrategien anderen Menschen zur Verfügung zu stellen. „Sie begleiten Menschen auf ihrem Genesungsweg, vertreten die Interessen Betroffener in Gremien, und leiten Gruppen für Betroffene oder Angehörige. Wichtig in der Peerbegleitung ist der Schritt vom „Ich-Wissen“ zum „Wir-Wissen““ (Ihde-Scholl 2014, S. 1; vgl. Mead 2003, S. 1; vgl. auch Utschakowski/Sielaff/Bock 2009, Jahnke 2015). Das „Ich-Wissen“ besteht aus der jeweils individuellen Erfahrung im Erleben und im Umgang mit psychischen Erkrankungen und seelischen Erschütterungen und den damit in Verbindung stehenden Reaktionen der Umwelt, der Behandlung und Betreuung im psychiatrischen Versorgungssystem, der Bewältigung von Krisen und der Suche nach Sinn. „Erfahrungen gemacht zu haben bedeutet aber nicht automatisch, auch etwas verstanden zu haben“ (Utschakowski 2015a, S. 38). Erst durch Reflexion und das Mitteilen an andere und die Verarbeitung von deren Reaktionen darauf festigt sich in mehreren Zyklen das „Ich-Wissen“ und führt zu einer Erweiterung der Perspektive; es schafft die Möglichkeit die Perspektive zu verallgemeinern und zugleich zu verfeinern und wird so Schritt für Schritt zum „Wir-Wissen“ Stefan Schäfferling 230 (vgl. ebd., S. 39). Diese intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie in Verbindung mit Blick auf die Biografien anderer, die ebenfalls Erfahrung mit psychischen Erkrankungen und Genesungswegen haben, wird als „herausfordernd, erschütternd, aber auch als wichtiger Teil der Gesundung“ (Ihde-Scholl 2014, S. 4) bezeichnet. In dieser Ausbildung geht es also „mehr um das Erfahren und Erleben, weniger um den Erwerb von Wissen und schon gar nicht um den Erwerb von Fachwissen“ (Ebd.). So gesehen hat EX-IN den Charakter eines speziellen Therapieangebotes mit dem Mehrwert, danach möglicherweise in eine Art von Beschäftigungsverhältnis einzumünden. Die EX-IN Kursgebühren betragen ca. 2.500 Euro, die die Interessenten z.T. vorab oder ggf. in Raten, selbst tragen müssen. Hinsichtlich einer Rückerstattung der Kursgebühren oder einer Förderung durch Kostenträger gab und gibt es Diskussionen, ob sie im Rahmen der Eingliederungshilfe („Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“) erstattet werden können oder ob es sich um eine Maßnahme zur beruflichen Rehabilitation handelt. Die Schwierigkeit entsteht hier aus der Tatsache, dass der Kurs nicht ausschließlich auf eine berufliche Qualifikation abzielt, sondern auch von Personen genutzt werden kann, die damit kein berufliches Interesse verbinden. Die Möglichkeit zur Erstattung bzw. der Art und Weise der Erstattung ist so ggf. von Erfolg der Maßnahme und dem Weg, der danach eingeschlagen wird, abhängig (vgl. Gemeindepsychiatrie.Info 2013). Das Ziel von EX-IN Befürwortern und EX-IN Protagonisten ist die Etablierung einer neuen Kultur, „einer psychiatrischen Kultur, in der Menschen Menschen begegnen“ (Utschakowski 2014, S. 10). Denn: „Mehr Einfluss, mehr Beteiligung, mehr Begegnung, mehr Recoveryorientierung für die Nutzerinnen und Nutzer psychiatrischer Dienste bedeutet mehr Inklusion“ (Ebd., S. 11). Und: „Psychiatrieerfahrung auch als Expertise anzuerkennen, (wieder) einer Arbeit nachzugehen, wirksam tätig zu sein und Anerkennung als EX-INler zu erfahren, bedeutet mehr Inklusion“ (Ebd.). Die EX-IN Ausbildung zum ‚Genesungsbegleiter‘ 11 unterstützt diesen Prozess durch ein speziell entwickeltes Curriculum. Das EX-IN Programm entstand im Rahmen eines durch das Leonardo-da-Vinci-Programm der EU von 2005 bis 2007 geförderten Projekts, in dem, wie in 11 In den EX-IN Veröffentlichungen wird „zur Verbesserung des Leseflusses […] auf sprachliches Gendering“ (Jahnke 2014, S. 16) verzichtet. Da dies zu Folge hat, dass es dadurch keine weibliche Bezeichnung für EX-IN Absolvent_innen gibt, übernehme ich diese Formulierung als ‚Genesungsbegleiter‘. 231 Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ diesen Programmen vorgesehen, Partner aus mehreren europäischen Ländern zusammenarbeiteten. 2005 fanden in Hamburg und Bremen die ersten Kurse statt, zum Abschluss des Projekts 2007 waren die Standards für die Ausbildung von psychiatrieerfahren Menschen zu „Genesungsbegleitern“ dann etabliert. Inzwischen gibt es über 20 Ausbildungsstandorte in Deutschland, Österreich und der Schweiz und es haben mehr als 50 Prozent derjenigen, die die EX-IN Ausbildung erfolgreich absolviert haben, eine bezahlte Arbeit gefunden, wobei aber anzumerken ist, dass Art, Umfang und Bezahlung der Tätigkeiten stark variieren. Sie arbeiten auf psychiatrischen Stationen (Akutpsychiatrie, Tagesklinik), in ambulanten Settings (in Teams des betreuten Wohnens, im Rahmen des Hometreatments), in Lehre und Forschung als Honorarkräfte, als freiberufliche Genesungsbegleiter, Konzeptentwickler, Berater, Dozenten. Die Entlohnung reicht von der Vergütung als Zuverdienst zur Rente über die Entlohnung als 450-Euro-Job oder äquivalent zu einer Pflegefachkraft bis hin zur Beschäftigung auf einer halben Sozialarbeiter_innen-Stelle (vgl. Jahnke 2014, S. 13; vgl. Utschakowski 2014, S. 9ff.; vgl. Ihde-Scholl 2014, S. 3ff.). Die Ausbildung zum EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ umfasst 300 Unterrichtsstunden, die auf ein Jahr verteilt sind. Die Module umfassen Themen wie Salutogenese, Empowerment, Erfahrung und Teilhabe, Recovery, Trialog, Selbsterforschung, Fürsprache, EX-IN Assessment, Beraten und Begleiten, Krisenintervention, Lehren und Lernen; zudem sind ein Kurz- und ein Aufbaupraktikum integriert. Den Abschluss bilden eine Portfolioarbeit und eine Abschlusspräsentation (vgl. Utschakowski 2015a, S. 42ff.). Es lassen sich in Einrichtungen drei Einsatzebenen von ‚Genesungsbegleitern‘ grob festmachen: (1) der direkte Kontakt mit den Hilfesuchenden mit dem Ziel der Verbesserung des Zugangs der Klienten zu den Angeboten und der Verbesserung der Angebote hinsichtlich Recovery und Empowerment; (2) der Dialog mit Mitarbeitenden, um den Kontakt und die Orientierung zu den Klienten zu verbessern; (3) der Austausch mit Management und Gremien mit der Aufgabe, Recovery und Empowerment in der gesamten Organisation in Abläufen und Regeln zu fördern (vgl. ebd., S. 46). ‚Genesungsbegleiter‘ haben, so die Aussagen der EX-IN Befürworter, eine größere Sensibilität gegenüber Fremdbestimmung, Machtausübung und der Anwendung von Zwang, da sie selbst oft mit Entmachtung und „Entpowerment“ konfrontiert waren. Stefan Schäfferling 232 „Mit der Erfahrung seelischer Erschütterungen und den damit verbundenen Folgen wie Stigmatisierung oder dem Verlust von Selbstwertgefühl haben die Peerspezialisten besondere Erfahrungswelten betreten“ (Ebd., S. 26). Dem Modell der ‚Genesungsbegleiter‘ liegt auch die Überlegung zu Grunde, dass eine Distanz (ein „Missing Link“) zwischen Klient_innen und den professionellen Helfer_innen existiert. Und zwar zum einen aufgrund der ungleichen Rollen zwischen Profi und Adressat_in und den daraus resultierenden Rollenerwartungen, aber auch aufgrund der Tatsache, dass Mitarbeitenden psychiatrischer Dienste in der Regel der Zugang über das „Ich-Wissen“ fehlt, da sie „keine eigenen Erfahrungen mit seelischen Erschütterungen, Stigmatisierung oder Isolation [haben] und […] die Bewältigungs- und Genesungsprozesse nicht selbst durchlaufen“ (Ebd., S. 11) haben. Die Folge ist, dass „Handlungs- und Denkmuster sowie die Interpretation von Ereignissen […] daher sehr unterschiedlich sein und zu Misstrauen, Distanz und Missverständnissen führen“ (Ebd.) können. Die Zusammenarbeit der psychiatrischen Fachkräfte mit den ‚Genesungsbegleitern‘ ermöglicht dagegen „eine neue Qualität der Unterstützung, die lebensnah, lebensorientiert und nicht stigmatisierend“ (Ebd.) ist. Denn „durch den gemeinsamen Erfahrungshintergrund können Genesungsbegleiter mit den Betroffenen über Erlebnisse statt über Symptome reden. Es ist eher möglich, eine gemeinsame Sprache zu finden und eine von Akzeptanz, Verständnis und Empathie getragene Beziehung einzugehen“ (Ebd.). Es existieren inzwischen eine Reihe von Veröffentlichungen von EX-IN Spezialist_innen wie Jörg Utschakowski (2009, 2014, 2015a, 2015b), Bettina Jahnke 12 (2014, 2015), u.a., die das Programm vorstellen, Leitfäden für den Umgang mit „EX-INlern“ geben, bisher gemachte Erfahrungen reflektieren und Personen, die die Ausbildung durchlaufen haben und nun als ‚Genesungsbegleiter‘ arbeiten, mit eigenen Erfahrungsberichten oder Arbeitgeber_innen, Personalverantwortliche und Kolleg_innen der ‚Genesungsbegleiter‘ in Interviews zu Wort kommen lassen. Diese Veröffentlichungen verschweigen aber auch nicht Konflikte, die in Kooperationsbeziehungen zwischen psychiatrischen Fachkräften und ‚Genesungsbegleitern‘ aufgetreten sind oder auftreten können. So geht es z.B. nicht selten um den „richtigen Umgang“ mit den Ad- 12 Bettina Jahnke ist selbst EX-IN Absolventin und inzwischen auch EX-IN Trainerin. Sie ist Journalistin und wurde nach einem Psychiatrieaufenthalt auf das EX-IN Programm aufmerksam. Sie arbeitet nun neben einer freiberuflichen journalistischen Tätigkeit auf einer halben Sozialarbeiter_innen-Stelle als ‚Genesungsbegleiter‘. Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ 233 ressat_innen im Sinne einer angemessenen Form von „Nähe und Distanz“. Manche psychiatrische Fachkräfte scheinen sich schwer zu tun, die im Umgang mit den Adressat_innen anders gezogenen Grenzen der ‚Genesungsbegleiter‘ akzeptieren zu können, denn während die einen in ihrer langwierigen akademischen Ausbildung regelmäßig auf die für die Ausübung ihrer Tätigkeit notwendige Einhaltung einer „professionellen Distanz“ verwiesen wurden, ist bei den anderen eines der Ziele ihrer Schulung zum ‚Genesungsbegleiter‘, explizit „professionelle Nähe“ (Utschakowski 2015a, S. 25) herstellen zu können. Weitere Vorbehalte von psychiatrischen Fachkräften, die mehr oder weniger regelmäßig geäußert werden, sind (vgl. ebd, S. 23ff.): - Genesungsbegleitung ist nur ein Weg, Geld zu sparen. - ‚Genesungsbegleiter‘ sind zu instabil und durch die Arbeit überfordert. - ‚Genesungsbegleiter‘ können die Standards der Schweigepflicht nicht einhalten. - ‚Genesungsbegleiter‘ unterscheiden sich nicht von Mitarbeitenden mit Psychiatriehintergrund. - Mitarbeitende müssen ständig darauf achten, nichts „Falsches“ zu sagen. - Psychische Probleme sind heutzutage eine Jobgarantie. - ‚Genesungsbegleiter‘ dürfen interessanteren Aufgaben nachgehen. - ‚Genesungsbegleiter‘ können nicht zwischen Freundschaft und Arbeitsbeziehung unterscheiden. - ‚Genesungsbegleiter‘ stehen der Psychiatrie und Medikamenten kritisch gegenüber. - Durch ‚Genesungsbegleiter‘ steigt die Arbeitsbelastung. Sicherlich entsprechen im einen oder anderen Fall die Vorbehalte wirklichem Erleben von Kooperationsschwierigkeiten, es wird aber auch deutlich, dass sie mit z.T. leichten Abweichungen weitestgehend mit den Stereotypen übereinstimmen, die in Unternehmen gegen die Beschäftigung von Arbeitnehmer_innen mit psychischen Erkrankungen vorgebracht werden (vgl. Bückner/Greca/Schäfferling 2002): Sie sind der Arbeitsbelastung nicht gewachsen, werden bevorzugt behandelt, der Beruf wird dadurch entwertet, sie sind oft krank und die anderen Stefan Schäfferling 234 Beschäftigten müssen die Ausfälle auffangen etc. Dies zeigt, wie wirkmächtig solche gesellschaftlich tradierten, ansozialisierten Stereotype sind, und dass sie, wenn es um die Einstellung eine_r Kolleg_in mit einer Beeinträchtigung geht, auch bei Fachkräften wirksam werden, die beruflich regelmäßig mit Menschen mit psychischen Erkrankungen zu tun haben und die diese aufgrund ihrer Ausbildung und ihren Erfahrungen abgelegt haben sollten. Und es tritt auch zu Tage, dass, wie auch die Erfahrung in anderen Fällen zeigt, entgegen der Befürchtung von Minderleistung und/oder Mehraufwand „Psychiatrie-Erfahrene bei der Tätigkeit als ‚Genesungsbegleiter‘ seltener als das übrige Personal krank werden“ (Ebd., S. 23). Diese Befunde machen deutlich, dass noch ein langer Weg der Bewusstseinsbildung in Sinne von Artikel 8 UN-BRK bevorzustehen scheint. In dieser Hinsicht erscheint es auch problematisch, dass die Beschäftigung von ‚Genesungsbegleitern‘ die Differenzlinie zwischen ihnen und Mitarbeitenden mit eigener PsychiatrieErfahrung erst explizit sichtbar macht. Auch Utschakowski (2015a, S. 24) konstatiert, dass „Mitarbeitende, die schon einmal selbst eine seelische Krise durchlebt haben, [diese oft] verschweigen […], weil sie vonseiten des Teams Vorurteile und Diskriminierung erwarten müssen. Auch den Klientinnen und Klienten erzählen sie selten von ihrer eigenen Erfahrung. Dies geschieht überwiegend aus Sorge, die eigene Professionalität aberkannt zu bekommen.“ Hier werden altbewährte Stereotype gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich, einerseits bezogen auf Fachkräfte mit eigenen Erfahrungen, andererseits auch gegenüber den Adressat_innen mit psychischen Erkrankungen, indem man glaubt wissen und vorweg nehmen zu können, womit und mit welchen Situationen sie zurechtkommen können und welche Art von professioneller Beziehung sie wünschen. Mit anderen Worten: Mitarbeiter mit Ausbildung im psychiatrischen Bereich halten ihre eigenen Erkrankungen versteckt und verklausulieren ihre Genesungserfahrungen, während eine andere Personengruppe mit einer 300 Stunden dauernden Schulung offen darüber reden darf und u.a. genau dafür angestellt wird, dies zu tun. Das ist ein Paradoxon, das m. E. einen großen Schatten auf das ansonsten in vielen Punkten positiv zu beurteilende EX-IN Programm wirft. Im Sinne von ‚Inklusion‘ sollten Strukturen so verändert werden, dass betroffene Fachkräfte offen und ohne Vorbehalte über ihre Erfahrungen sprechen können, ohne Stigmatisierung oder Nachteile befürchten zu müssen – und dies auch in Gegenwart von und mit Klient_innen. Es kann doch keinesfalls als Schwäche angesehen werden, mit einem eigenen Erfahrungshorizont auf Klient_innen zugehen zu können. Fachkräfte sollten aufgrund ihrer Ausbildung und Berufserfahrung „Nähe und 235 Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ Distanz“ mindestens ebenso gut wie geschulte ‚Genesungsbegleiter‘ reflektieren können. Wenn das Verständnis von „professioneller Distanz“ dazu führt, dass extra von außen hinzugezogene Arbeitskräfte mit denselben Voraussetzungen, die ein Teil der beschäftigten Arbeitskräfte bereits besitzt, aber nicht zeigen oder nutzen darf, beschäftigt werden, um eine Mittlerrolle mit Dolmetscher- und Brückenbauerfunktion zwischen diesen Fachkräften und den Klient_innen zu übernehmen, sollte darüber nachgedacht werden, ob es nicht auch möglich ist, einen „professionellen Mittelweg“ einzuschlagen zu können. Eine halbe Sozialarbeiter_innen-Stelle sollte, anstatt sie mit einem ‚Genesungsbegleiter‘ mit Mehrwert zu besetzen, mit einem_r Sozialarbeiter_in mit psychischer Krankheitserfahrung besetzt werden, dem/der man ggf. erlaubt, auf kreative Art und Weise auf Klient_innen zuzugehen und mit ihnen zu arbeiten, ohne die Befürchtung zu haben, damit auf lange Sicht die eigene Zunft zu schädigen. Bei allem Verständnis für den dahinterstehenden Pragmatismus sollten ‚Genesungsbegleiter‘, um sie finanzieren zu können, nicht die Stellen von anderen Berufsgruppen einnehmen (müssen). Hier wären z.B. das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, die Wohlfahrtsverbände, etc. in Verbindung mit öffentlichem Dienst und der freien Wirtschaft gefordert, ausreichend finanzielle Voraussetzungen ggf. in Form eines Fonds oder einer Stiftung zu schaffen. Das Vorgehen, freiwerdende vorhandene Stellen zu nutzen, um ‚Genesungsbegleitern‘ wegen der unbestreitbar positiven Effekte des Programms für psychisch erkrankte Menschen einerseits und Einrichtungen der Sozialen Arbeit andererseits eine Chance einräumen zu können, ist natürlich schlüssig, da es ja (noch) keine Stellen für ‚Genesungsbegleiter‘ gibt. Es sollte aber niemand in die Rolle eines „trojanisches Pferdes“ gebracht werden müssen, um Veränderungen in der Einrichtung etablieren zu können. Die ‚Genesungsbegleiter‘ werden erst einmal ‚integriert‘, sie sollen dann Strukturveränderungen in Richtung ‚Inklusion‘ sowohl bezogen auf Adressat_innen als auch bezogen auf die Mitarbeitenden bewirken. Wird die Etablierung von ‚Genesungsbegleitern‘ auf diese Art und Weise betrieben, ist dies zumindest diskussionswürdig: Dahinter steht die Hoffnung, dass die am Wohl der Adressat_innen interessierten Mitarbeiter_innen in der Kooperation mit den ‚Genesungsbegleitern‘ deren besonderen Fähigkeiten und den Mehrwert für die Adressat_innen und sie selbst erkennen und es ihnen selbst zum Anstoß für ein Umdenken und für Initiativen zu Strukturveränderungen gereiche. Diese Vorgehensweise ist nicht „machtfrei“ (vgl. Staub-Bernasconi 2014; Pfeiffer-Schaupp 2014) und es sollten Themen wie Bedürfnisgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit klar im Stefan Schäfferling 236 Auge behalten und abgewogen werden. Ob der Zweck hier die Mittel heiligt, also ob die Ausübung von Definitions- bzw. Strukturmacht eines personalverantwortlichen Entscheidungsträgers den Startschuss für mehr ‚Inklusion‘ in einer Einrichtung bilden sollte, ist zu hinterfragen. Vorzuziehen wäre es, wenn eine Bewusstseinsbildung in Richtung ‚Inklusion‘ zuvor stattgefunden und das Team sich einstimmig für die Beschäftigung eines ‚Genesungsbegleiters‘ entschieden hätte. Wünschenswert wäre auch, dass zuvor im Team Offenheit und Akzeptanz für Kollegen mit Psychiatrieerfahrung geschaffen würden, die Fachkräfte im psychiatrischen Bereich eigentlich grundsätzlich haben sollten. Weiterhin ist m.E. auch kritisch zu sehen, dass sich der Expertenstatus der EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ im Laufe der Zeit verändern kann, sei es durch Anpassungen an die Kultur bzw. die strukturellen Gegebenheiten der Einrichtung, in der sie tätig sind, oder dadurch, dass sich das Wissen um Zusammenhänge im Feld der psychiatrischen Versorgung im Laufe der Zeit und ggf. auch durch Initiativen von EX-IN ‚Genesungsbeleiter‘ verändern wird. Daher stellt sich die Frage, wie langfristig eine Stelle als EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ angelegt sein sollte. Außerdem erntet das EX-IN Programm auch auf Seiten Psychiatrie-Erfahrener Kritik: Es handle sich „überhaupt nicht um ein Inklusionsprojekt“ (Jahnke 2014, S. 105), da es nicht sein dürfe, dass „Menschen ihre Identität […] auf ihre Erkrankung begründen“ (Ebd.) und dann in der „Sozialpsychiatrie eine ‚neue Heimat‘ finden“ (Ebd.). Schlussfolgerung: „TIPI-Kompetenz“ Diese drei Beispiel sind sinnbildlich für Paradoxien und Dysfunktionalitäten, die in der Debatte um ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ und dem Nachdenken über die Implementierung von Programmen und Projekten zu Tage treten, deren Konzeptionen aus diesen Begriffen abgeleitet sind. Es ist keinesfalls von der Hand zu weisen, dass diese Programme und Projekte Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, Menschen, die psychisch erkrankt waren oder sind und andere Adressat_innen der Sozialen Arbeit im Sinne von Lothar Böhnischs Lebensbewältigungskonzept (vgl. Böhnisch 2008, S. 33ff.) dabei unterstützen, sozialen Anschluss und Anerkennung zu finden, Gruppenerleben und Gruppenerfahrungen bieten, Basis für Selbstwirksamkeitserfahrungen und Tagesstrukturierung sind, besondere Kompetenzen reaktivieren oder vermitteln, und ggf. auch Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten bieten, etc. Zudem können diese Programme und Projekte zu einer Einstellungsänderung gegen- 237 Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ über Menschen mit einer Behinderung und zu einem veränderten Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen im Sinne von Artikel 8 der UNBehindertenrechtskonvention führen, und dies sowohl bei beteiligten professionellen Sozialarbeitenden als auch in der Öffentlichkeit. Und sie können Ausgangspunkt für einen Strukturwandel in Einrichtungen und Organisationen in Richtung ‚Inklusion‘ sein. Es ist aber unbedingt darauf zu achten, dass diese Programme und Projekte, die auf ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘‚ ‚Integration‘ und/oder ‚Inklusion‘ abzielen, nicht als Substitute benutzt werden, nicht in die Sackgasse der „Ersatzinklusion“ bzw. „inkludierender Exklusion“ (Stichweh 2009) führen, keine Dysfunktionalitäten aufweisen, die ihren Erfolg ambivalent erscheinen lassen, nicht nur einer „Elite“ von Menschen mit Beeinträchtigungen zu Gute kommen und/oder auf Kosten anderer marginalisierter Gruppen (vgl. Kronauer 2010) gehen. Hinsichtlich der Begriffe ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ wird häufig die Frage gestellt, welchen dieser Begriffe man denn nun selbst vertrete. Diese Frage ist schwer zu beantworten, da sich die genannten Begriffe z.T. hinsichtlich ihrer Bedeutungen inhaltlich überschneiden, ihre Bedeutungen aber auch divergieren und mit den Begriffen z.T. auch bestimmte Konnotationen mitschwingen können. Aus den Diskussionen und Debatten um diese Begriffe sowie aus der Art und Weise, wie diese geführt werden, lassen sich m. E. die (vorläufigen) Schlussfolgerungen ziehen, dass • alle vier Begriffe synonym dafür verwendet werden, Einbeziehungsbemühungen zu charakterisieren und sie als ein besonderes Anliegen zu unterstreichen. • ‚Teilhabe‘, häufig auch mit „gleichberechtigte“ ergänzt, der am wenigsten mit Anderem konnotierte, alle Arten der Einbeziehung zu umfassen versuchende Begriff zu sein scheint. Um hervorzuheben, dass Adressat_innen nicht nur passives Teilhaben gestattet, sondern auch die Möglichkeit gegeben ist bzw. sein sollte, eigene Beiträge zu leisten, kann ergänzend noch der Begriff ‚Teilgabe‘ dazu treten. • unter ‚Partizipation‘ (als anglizierte/latinisierte Bedeutung von ‚Teilhabe‘) eine Reihe von Konzepten, Handreichungen und Implementierungsvorschlägen zu finden sind, die häufig eine Kategorisierung in „mehr“ oder „weniger“ beinhalten bzw. eine Abstufung in mehrere Schritte oder Ebenen, die ähnliche Einteilungen vornehmen, deren Zuschnitt oder Anzahl je nach Konzept und Autor_in aber variiert (vgl. z.B. Schnurr 2011, Strassburger/Rieger 2014). ‚Partizipation‘ scheint eine Art Überbegriff zu sein, unter dem die anderen drei Be- Stefan Schäfferling 238 griffe mit subsumiert werden können. In der Wissenschaft scheint ‚Partizipation‘ der gängigste und anschlussfähigste Begriff zu sein, um Einbeziehungsmöglichkeiten und bemühungen zwischen Profis und Adressat_innen, Nutzer_innen, „Co-Produzent_innen“ (vgl. Schaarschuch 1999, Oelerich/Schaarschuch 2005), etc. zu benennen. • ‚Integration‘ bedeutet, dass Menschen in vorhandene Strukturen einbezogen werden (sollen). Sie setzt existente oder imaginierte Strukturen voraus, in die Menschen integriert werden sollen und können, z.B. Migrant_innen in „die Gesellschaft“, Menschen mit Behinderung in „den allgemeinen Arbeitsmarkt“, Adressat_innen in „die Einrichtung“, usw. Interessant ist in diesem Zusammenhang die These (vgl. Bude 2015), dass eine Gesellschaft, die so eindeutige Strukturen besitzt, dass sie eine weitreichende Integrationswirkung entfalten und die notwenigen Integrationsleistungen erbringen könnte, gar nicht mehr existiere. Verantwortlich dafür zeichnen einerseits (1) der gesellschaftliche Wandel, der aus den alles umwälzenden, unaufhaltsamen und weiter anhaltenden Veränderungen resultiert, die seit den 1970er/1980er Jahren als „Dritte Industrielle Revolution“ (Rifkin 2011) von statten gehen und deren Auswirkungen je nach Fokus als „Neoliberalismus“ (Butterwegge u.a. 2008), „Globalisierung“ (Beck 1986), „Informatisierung und Digitalisierung“ (Castells 2001-2003, 2003), „Neo-Institutionalismus“ (Meyer/Rowan 2005), „Postdemokratie“ (Crouch 2008), etc. benannt sowie umfangreich diskutiert werden – und andererseits (2) die stetigen Migrationsbewegungen in den letzten Jahrzehnten, die eine Durchmischung von kulturellen Mustern und Habitusformen bewirkt haben und weiterhin bewirken werden. • ‚Inklusion‘ bedeutet, dass sich nicht Menschen in Strukturen einpassen und an Strukturen anpassen (lassen) sollen, sondern sich Strukturen dahingehend verändern sollen bzw. verändert werden sollen, dass ein Zusammenleben aller unter weitestgehender Wertschätzung von ‚Differenz‘ möglich ist. ‚Inklusion‘ ist auch eine Vision, ein Leitbild, eine Blaupause für Veränderungen hin zu einer „inklusiven Gesellschaft“ und wird entsprechend kontrovers und auch weltanschaulich diskutiert (vgl. z.B. Schattenmann 2014, Wansing 2015). Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt sehr klar und eindrücklich den Weg vor, auf dem „Bewusstseinsbildung“ (Artikel 8), „unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“ (Artikel 19), „volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens“ (Artikel 26), ein „Recht auf Arbeit und Beschäftigung“ (Artikel 27) u.v.m. neu gedacht und umgesetzt werden sollen (vgl. z.B. Degener/Diehl 2015). 239 Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ Grundsätzlich ist es, wenn man den Blick über Sozialwissenschaften und die wissenschaftliche Disziplin der Sozialen Arbeit hinweg schweifen lässt, nicht ungewöhnlich, dass es mehrere Begriffe gibt, die eine ähnliche Bedeutung haben, die aber inhaltlich nicht ganz deckungsgleich sind (siehe z.B. „soziale Lage“ (Hradil) und „Lebenslage“ (Böhnisch)). Problematisch ist es m.E. aber, Begriffe unreflektiert so zu benutzen, als seien sie wechselseitig austauschbar. Ebenfalls als problematisch anzusehen ist es, wenn nach einer gewissen Zeit die Begriffsgeschichte verloren geht und in Folge dessen eine ggf. weltanschauliche Konnotation in Vergessenheit gerät. Auf Fachkräfte der Sozialen Arbeit kommen mit der verstärkten Orientierung in Richtung ‚Inklusion‘ neue Herausforderungen zu. Insbesondere die Soziale Arbeit sehe ich wegen ihres Selbstverständnisses und ihres Auftrags, der sich aus der Definition der IFSW/AIETS ableiten lässt, in der Pflicht, in Richtung ‚Inklusion‘ zu wirken und im Sinne der UNBehindertenrechtskonvention zu handeln. Von Fachkräften der Sozialen Arbeit wird zukünftig immer mehr gefordert werden, momentane und ehemalige Adressat_innen zugunsten eines Trialogs oder Quadrologs auch Angehörige und Bürger_innen, auf vielfältige Art und Weise einzubeziehen. Diese Form von Kompetenz in der Implementierung und Durchführung von ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘ und ‚Inklusion‘ möchte ich fortan als „TIPIKompetenz“ 13 bezeichnen. Die wichtigste Grundlage für „TIPI-Kompetenz“ ist das Sichbewusstwerden von eigenen Differenzierungspraxen, die sich aus Einstellungen, Stereotypen, unreflektiert hingenommenen Wissensderivaten und unhinterfragtem Alltagswissen ergeben. Es ist erstaunlich, welche Vorbehalte Fachkräfte, die täglich mit Menschen mit psychischen Erkrankungen zu tun haben, allem Anschein nach (noch) gegenüber ihren Adressat_innen haben. Dies schlussfolgere ich aus dem Umstand, wie am Beispiel des EX-IN Programms aus Handreichungen für die Einbeziehung von EX-IN ‚Genesungsbegleitern‘ und aus Interviews mit Fachkräften deutlich wird, dass es Fachkräfte gibt, die nach Aussagen anderer den Kontakt mit dem Klientel aus Angst vor Ansteckung möglichst minimieren. Weiterhin ähneln Aussagen von Fachkräften z.T. verblüffend den stereotypen Pauschalisierungen, die auch Personalverantwortliche von Unternehmen gegen eine Einstellung von Menschen mit einer psychischen Erkrankung vorbringen. Gegenüber Adressat_innen herrscht häufig ein defizitorientiertes Bild vor, es er- 13 „TIPI“ steht dabei als Akronym für ‚Teilhabe‘, ‚Integration‘, ‚Partizipation‘, ‚Inklusion‘ Stefan Schäfferling 240 scheint daher schwer vorstellbar, mit ihnen auf Augenhöhe in inklusiven Settings, wie es z.B. das EX-IN Programm vorsieht, zusammenzuarbeiten. Klar sichtbar wird hier eine Differenzlinie gezogen, indem EX-IN ‚Genesungsbegleitern‘ vor allem die Fähigkeit zum richtigen Umgang mit „Nähe und Distanz“ beim Kontakt mit den Adressat_innen abgesprochen und ihnen stattdessen zugeschrieben wird, dass sie nur zu diffusem Verhalten gegenüber Adressat_innen fähig seien. Fachkräfte haben gelernt, sich im Sinne von „professioneller Distanz“ abzugrenzen, EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ sollen aber aufgrund ihrer Ausbildung gerade „professionelle Nähe“ zu den Adressat_innen an den Tag legen. Diese Diskrepanz untergräbt die Definitions- und Deutungsmacht, die Positionsmacht sowie die formelle Organisationsmacht der Profis (vgl. Staub-Bernasconi 2014) und spricht darüber hinaus aber auch EX-IN ‚Genesungsbegleitern‘ und anderen partizipierenden momentanen und ehemaligen Adressat_innen Reflexionsfähigkeit und grundlegende Interaktionskompetenzen ab. Gleichzeitig bemängeln Fachkräfte aber, keinen richtigen Zugang zu den Adressat_innen (mehr) zu finden, weshalb z.B. EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ als „Cheerleader“, „Dolmetscher“, „Brückenbauer“ und als „Tofu-Mitarbeiter, nicht Fleisch und nicht Gemüse“ (Jahnke 2014) willkommen sind. Ich plädiere dafür, dass Fachkräfte ohne Angst vor Gesichtsverlust auch in der Lage sein müssen, einen „professionellen Mittelweg“ einschlagen zu können und erkläre diesen zu einem weiteren wesentlichen Bestandteil der „TIPI-Kompetenz“. Neben der Fähigkeit, im Umgang mit EX-IN ‚Genesungsbegleitern‘ und anderen Menschen, die möglichst gleichberechtigt einbezogen werden sollen, eigene Differenzierungspraxen, Machtstrukturen, stigmatisierende Interaktionsmuster, etc. zu hinterfragen, sollten Fachkräfte ihre Differenzlinien gegenüber anderen Fachkräften, die eine Psychiatrie-Erfahrung gemacht haben oder eine psychische Erkrankung überwunden haben, hinterfragen. Sie sind im Sinne von ‚Diversity‘ selbstverständlicher Bestandteil des Ensembles der Fachkräfte im psychiatrischen Bereich und mit ihnen ist bereits das „Expert_innen aus Erfahrung“-Wissen vorhanden, das Adressat_innen oder EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ von außen einbringen. Die Fähigkeit zum Abbau dieser zwischenmenschlichen Hürden auf kollegialer Ebene ist Punkt drei der „TIPI-Kompetenz“. Es ist nicht akzeptabel, dass Fachkräfte im psychiatrischen Bereich, die Psychiatrie- und Genesungserfahrungen haben, diese aus Angst von Benachteiligung verbergen oder verklausulieren müssen. In Bezug auf die Vermittlung von „TIPI-Kompetenz“ sehe ich die Hochschulen in einer besonderen Rolle, da an ihnen angehende Sozialarbeiter_innen/Sozialpädagog_innen ihre aka- 241 Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ demische Ausbildung erfahren. Ihnen fällt die Aufgabe zu, Wissen über ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ – also sozusagen „TIPI-Wissen“ – zu vermitteln. Inzwischen existiert eine Vielzahl von Handreichungen, Ratgebern und Büchern mit Erklärungen mit „TIPI-Wissen“, die als Informations- und Orientierungsgrundlage herangezogen werden können. Die Fähigkeit, diese Informationen aufarbeiten und reflektieren zu können, in der Praxis der Sozialen Arbeit in Handlungsfeldern an Gegebenheiten anzupassen und umzusetzen ist „TIPI-Kompetenz“ Nummer vier. Selbstverständlich muss an dieser Stelle mit Blick auf die Berufspraxis der Sozialen Arbeit deutlich hervorgehoben werden, dass man „berufsbezogenes ‚Gebrauchswissen‘ […] nicht dadurch [erwirbt], dass man Sätze zur Kenntnis nimmt, die sich mit dem Wissen als mit ihrem Gegenstand beschäftigen. Vielmehr erwirbt man es immer nur auf dem Wege der Einübung im Rahmen institutioneller Kontexte“ (Dewe 2012, S. 120). Diese Tatsache führt unausweichlich zu der Schlussfolgerung, dass „TIPI-Kompetenz“ als berufsbezogenes Gebrauchswissen für ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ am besten an Orten erworben werden kann, an denen sie auch erlebt und gelebt werden kann. Hochschulen (und Universitäten) müssen daher zwangsläufig ein Ort sein und/oder zu einem Ort werden, an dem differenzreflexiv, diversitätsorientiert, partizipativ und inklusiv gehandelt und gelebt wird. Insbesondere für Fakultäten für Soziale Arbeit an Hochschulen (aber auch Fakultäten für Pädagogik an Universitäten und Fakultäten, in denen Lehrer_innen ausgebildet werden) 14 sehe ich mit Verweis auf die Definition der IFSW/AIETS, auf die Sichtweise der Sozialen Arbeit als „Menschenrechtsprofession“ (Staub-Bernasconi), auf Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und auf die UN-Behindertenrechtskonvention in einer besonderen Verantwortung, ihre Strukturen und Alltagspraxen hinsichtlich benachteiligender und diskriminierender Praxen zu hinterfragen. Hochschulen (und Universitäten) müssen Orte „der Infragestellung vorgegebener Wissensbestände, fertiger Methoden und Regeln, der Abweichung vom Bewährten, der Überschreitung vorhandener Grenzen“ (Mecheril 2015, vgl. Klingler/Mecheril 2016) sein dürfen. Wie sinnhaft es in diesem Zusammenhang ist, dass Hochschulen (und Universitäten) immer mehr zu Quasi-Unternehmen in einer globalisierten, ökonomisierten und flexibilisierten Bildungswelt werden (vgl. Münch 2009), dessen struktureller Bodensatz mer14 Weitere Fragen, die sich mir in diesem Zusammenhang mit Blick auf den Genderaspekt aufdrängen, sind z.B.: Warum sind 80-85% der Studierenden der Sozialen Arbeit weiblich? Warum gibt es in Grundschulen fast nur Lehrerinnen? Und wie sind im Vergleich dazu Professor_innen-Stellen und Schulleiter_innen-Stellen besetzt? Stefan Schäfferling 242 kantilistisch-feudalistische Abhängigkeitsstrukturen beheimatet und in denen benachteiligende, diskriminierende und exkludierende Differenzierungspraxen an der Tagesordnung zu sein scheinen, ist ein Paradoxon, das ebenfalls dringend hinterfragt werden muss. Außerdem ist es auch hier nicht akzeptabel, dass Kommiliton_innen 15 mit Beeinträchtigungen oder mit Adressat_innen-Erfahrungen in psychiatrischen Bereich oder anderen Bereichen wie der Jugendoder Suchthilfe etc., ihr Experten_innenwissen aus Angst vor Benachteiligungserfahrungen verschweigen. Expert_innen, die von Innen und von Außen kommen, und deren „Expert_innen aus Erfahrung“-Wissen sind eine wichtige Komponente der „TIPI-Kompetenz“. Die Bereitschaft von Lehrenden und Studierenden, gemeinsam zu erkennen, gemeinsam zu hinterfragen, gemeinsam über mögliche Alternativen nachzudenken 16 und dabei in inklusiven trialogischen Strukturen Expert_innen zu beteiligen, ist „TIPI-Kompetenz“ Nummer fünf. Abschließend möchte ich auf eines der berühmtesten Zitate von Theodor W. Adorno verweisen, das aus seinem Werk „Minima Moralia“ (1969) stammt und das lautet: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Für Studierende, Profis und Lehrende in der Sozialen Arbeit leitet sich daraus für mich auf Basis der Definition der IFSW/AIETS der Imperativ ab, nicht nur larmoyant-diskursiv, sondern aktiv gegen strukturelle Benachteiligungen, gegen stigmati15 Hier wiederum verstanden im ursprünglichen, universitätslateinischen Sinne als „Mit-Streiter_in in der Studiengemeinschaft“, also Lehrende und Studierende mit einbeziehend. 16 In seinem Vortrag im Rahmen des Fachtags „Bildungsgerechtigkeit, Diskriminierungskritik und Diversity“ am 12.11.2015 an der Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen forderte Paul Mecheril (2015) ein „institutionelles Monitoring“ ein, das als „Selbstdeutungsund Selbstreflektionsressource“ dienen soll. Er schlägt vor ein „differenziertes, elaboriertes Monitoring-System“ zu etablieren, das Differenzlinien und Differenzierungspraxen an Hochschulen (und Universitäten) aufdeckt. Um deutlich auf die Wichtigkeit eines umfassenden, Strukturen hinterfragenden Monitoringprozesses aufmerksam zu machen, formulierte er pointiert u.a. folgende Beispiele für Abfragen: „Welche Differenzlinien sind in unserem Rektorat vertreten? Wie viele ‚Schwarze‘ sind im Rektorat? Wie viele Kolleg_innen im Rollstuhl sind im Rektorat? Wie viele ‚Schwule‘ sind im Rektorat? […] Warum ist das so, dass in der Bundesrepublik Deutschland nahezu jedes Rektorat ‚weiß‘ ist – wobei die Studierendenschaft alles andere als ‚weiß‘ ist? Mit ‚weiß‘ meine ich jetzt nicht Farbe, sondern ich meine eine privilegierte Position im Rahmen einer migrationsgesellschaftlich strukturierten Welt. […] Wie sehen […] unsere Drop-Out-Quoten aus? […] nahezu 50 Prozent aller Studierenden mit einer anderen als der deutschen Staatbürgerschaft verlässt die Hochschule ohne Abschluss. Wie gelingt uns das eigentlich?“ Des Weiteren fordert er einen „Sommer der Reflexion“ mit Workshops zu Fragen wie „Wie organisieren wir diese Hochschulbildung? […] Welche Zeiten braucht Bildung? […] Was lernen die gegenwärtig existierenden Hochschulen von denen, die nicht so ohne weiteres ins Normalitätsskript der Institution passen?“ Und an anderer Stelle, bezogen auf die konkrete Ausgestaltung der Rolle des/der Lehrenden fragt Mecheril: „Welche Normalitätsannahmen strukturieren mein Tun in der Sprechstunde? Welche Normalitätsannahmen strukturieren mein Prüfungsverhalten? Welche Normalitätsannahmen strukturieren meine Notengebung? […] Was für Inhalte wähle ich aus? Was für Inhalte wähle ich nicht aus? All das müsste im Rahmen einer auf Bildungsgerechtigkeit zielenden Hochschule thematisiert werden.“ Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ 243 sierende Stereotypisierungen, gegen Differenzierungs- und Diskriminierungspraxen u.v.m. vorzugehen. Dabei nicht auf die Unterstützung durch andere zu warten, nicht auf bessere Chancen in der Zukunft zu hoffen, sondern mit dem Tätigwerden im Hier und Jetzt bei sich selbst beginnen zu können, ist eine conditio sine qua non und damit „TIPI-Kompetenz“ Nummer sechs. „TIPI-Kompetenz“ in der Kurzzusammenfassung: Nr. 1: Das Sichbewusstwerden von eigenen Differenzierungspraxen, die sich aus Einstellungen, Stereotypen, unreflektiert hingenommenen Wissensderivaten und unhinterfragtem Alltagswissen ergeben. Nr. 2: Die Bereitschaft und die Fähigkeit dazu, im Kontakt mit Adressat_innen auch einen „professionellen Mittelweg“ einschlagen zu können. Nr. 3: Die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Abbau zwischenmenschlicher Hürden gegenüber Adressat_innen und Kolleg_innen mit Psychiatrie-Erfahrung und Genesungserfahrung sowie gegenüber Adressat_innen und Kolleg_innen mit Erfahrungswissen aus anderen Bereichen. Nr. 4: Die Fähigkeit, Informationen bezüglich ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ aufarbeiten und reflektieren zu können, sie in der Praxis der Sozialen Arbeit in Handlungsfeldern an Gegebenheiten anpassen und umsetzen zu können. Nr. 5: Die Bereitschaft von Lehrenden und Studierenden gemeinsam benachteiligende Differenzierungspraxen zu erkennen, gemeinsam zu hinterfragen, gemeinsam über mögliche Alternativen nachzudenken und dabei in inklusiven trialogischen Strukturen ‚Expert_innen aus Erfahrung‘ zu beteiligen. Nr. 6: Die Fähigkeit, nicht auf die Unterstützung durch andere zu warten, nicht auf bessere Chancen in der Zukunft zu hoffen, sondern mit dem Tätigwerden im Hier und Jetzt bei sich selbst beginnen zu können. Stefan Schäfferling 244 Literatur Adorno, Theodor W. (1969): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Amering, Michaela; Schmolke, Margit (2007): Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Bonn: Psychiatrie Verlag. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Beck, Ulrich (1999): Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft. 2. Auflage. Frankfurt/Main und New York: Campus. Beck, Ulrich (2007): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Böhnisch, Lothar (2008): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. Weinheim und München: Beltz Juventa. 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Psychiatrisierte Personen und Spiritualität Transzendenz im Lichte philosophischer Diskurse und die Bedeutung für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern Johanna Kohler Spiritualität in einer „entsakralisierten Gesellschaft“ (Lob-Hüdepohl 2003, S.75) zu thematisieren, kann auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen. Spiritualität gar in den sensiblen Kontext sozialpsychiatrischer Handlungsfelder zu stellen: Ein kritisches Unterfangen. Wenn dieses Unterfangen in einem behutsamen und reflexiven Sinne gewagt wird, kann eine solche Verknüpfung meines Erachtens jedoch verdeckte oder gar neue Perspektiven für die professionelle Haltung von Praktiker_innen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern eröffnen. Diesen, durch Spiritualität in den Blick genommenen Perspektiven, wird sich im Folgenden angenähert. Meines Erachtens rufen historisch entwickelte Ströme der Expertokratisierung, Individualisierung und Biologisierung in sozialpsychiatrischen Kontexten, wie es Klaus Dörner in seinem Beitrag bereits skizziert hat, Praktiker_innen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern auf, eine professionelle Haltung einzunehmen. Auch die biografische Heterogenität der psychiatrisierten Personen, und die damit einhergehenden spezifischen Fragen nach Sinn und Identität(en), sowie die Komplexität der jeweils neuen Situation im sozialpsychiatrischen Setting und das Eingebettetsein in gesellschaftliche Kontexte, Zwänge, Gestaltungsweisen, setzen eine professionelle Haltung der Fachkräfte voraus. Worin gründet sich eine solche Haltung, die der bereits thematisierten Vielfalt an Lebens- Identität(en)- und Sinnfragen der psychiatrisierten Personen professionell begegnen kann? Haltung bedarf einer fundierten inhaltlichen Auseinandersetzung mit Menschenbildern, da diese für die professionelle Haltung eine konstitutive Grundlage bilden sollten. Bei der Begründungsbasis für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ist ein Analyserahmen von Nöten, der objektivistischen und vereindeutigenden Kategorien vorgreift und so Raum für das Uneindeutige, Aufeinander-Verwiesene, Sehnende, Fragende und Unendliche (über den Menschen Hinaus- 251 Psychiatrisierte Personen und Spiritualität weisende) im Menschsein, das in diesem Beitrag unter dem Begriff „Transzendenz“ zusammengefasst werden soll, eröffnet. Da Spiritualität im von Brückschen Sinne (2002) eine Auseinandersetzung mit der Deutung der Welt, des Lebens und der Rolle der Menschen ist, und diese Auseinandersetzung sich gerade durch ihre Offenheit gegenüber dem Menschsein innewohnender Transzendenz auszeichnet, kann Spiritualität als Analyserahmen für die Reflexion des Menschseins dienen (vgl. von Brück 2002, S.10). Dieser Analyserahmen soll im Folgenden auf philosophische Diskurse von Max Horkheimer, Martin Buber und Gerhard Gamm bezogen werden, da diese das Menschsein gerade auch auf seinen Transzendenzgehalt hin dekonstruieren. Daran anknüpfend soll diskutiert werden, welche Bedeutung die Berücksichtigung von Transzendenz für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern einnehmen kann. Max Horkheimer – Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen Max Horkheimer erläutert im Spiegel-Interview, welches unter dem Titel „Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ (1970) erschien, das Wesen der Sehnsucht des Menschen nach dem ganz Anderen. Die Sehnsucht nach dem Transzendenten ist für Horkheimer nur durch das Denken des Menschen an die Wahrheit und an dasjenige, das diese impliziert, möglich. Ohne ein Denken an die Wahrheit ist seiner Ansicht nach kein Wissen um ihren Kontrast, der sich in der Verlassenheit der Menschen zeigt, denkbar (vgl. Horkheimer 2007, S. 148). Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen meint für Horkheimer die Sehnsucht nach einer universellen Wahrheit. Diese wird nicht abstrakt verneint, vielmehr ist sie selbst Verneinung dessen, was in der Welt Ungerechtigkeit, menschliche Verlassenheit und Entfremdung ist. Die Sehnsucht der Person drückt sich somit in der Verneinung und dem Wunsch der Überwindung der weltlichen Zustände aus. Dabei ist für Horkheimer das Transzendente, im Sinne eines unausdenkbaren unendlichen Glücks, Grundlage für das Bewusstsein des irdischen vergänglichen Glücks. Das immanente Glück kann jedoch, so Horkheimer, im Hinblick auf die vom Mensch nicht aufzuhebende Vergänglichkeit nie ohne Trauer sein (vgl. Horkheimer 1970, S. 40). Die Unmöglichkeit der vollendeten Gerechtigkeit in der Diesseitigkeit ist für Horkheimer Grund, weshalb die Sehnsucht des Menschen transzendent sein muss und im ganz Anderen ihren Raum findet. Das ganz Andere kann der Mensch nicht erkennen, da, wie auch immer ein die Welt der Phänomene transzendierendes, positiv oder negativ Absolutes sich zeigt, sich dieses Johanna Kohler 252 der Erkenntnis widersetzt. Dies begründet Horkheimer damit, dass alle vom Verstand anerkannte Realität auf die intellektuellen Fertigkeiten des Subjekts zurückzuführen ist und somit diese als zweifelhaftes Moment zu definieren ist. Die Sehnsucht des Menschen wohnt ihm inne und ist zugleich nicht greifbar. Nach Horkheimer meint das Neue Testament in seiner Aussage, Gott war in Christus und das Wort war, was Gott war, nichts anderes, als „dass Gott die letzte Tiefe unseres Seins, das Unbedingte im Bedingten ist. Das sogenannte Transzendente, Gott, die Liebe, wie immer man es nennen möge, ist nicht draußen, es wird in, mit, unter dem Du aller menschlichen Beziehungen angetroffen.“ (Horkheimer 2007, S. 226) So ist das Transzendente in menschlichen Beziehungen im Ausdruck der Sehnsucht existent. Die Sehnsucht nach dem Transzendenten bleibt jedoch für Horkheimer durch seine Unerreichbarkeit, wie angenommen werden könnte, kein Abstraktum, sondern greift nach konkreten Ausdrucksformen. Ausdruck bekommt die Sehnsucht in Horkheimers Augen durch Gebote, Vorschriften, durch den Kultus. Die Synagoge [Moschee] oder die Kirche ist demnach der Raum, in dem Menschen durch kultische Handlungen ihre Sehnsucht nach dem ganz Anderen ausdrücken. Eine Liberalisierung des Kultischen nimmt der Sehnsucht des Menschen die Möglichkeit, sich zu äußern. So würde ein Abandonnement der Transzendenz, des Anderen, der Sehnsucht des Menschen jegliche Rechtfertigung entnehmen (vgl. Horkheimer 1970, S. 46) und wäre nicht ohne Auswirkungen: „In einer wirklich freiheitlichen Gesinnung bleibt jener Begriff des Unendlichen als Bewusstsein der Endgültigkeit des irdischen Geschehens und der unabänderlichen Verlassenheit des Menschen erhalten und bewahrt die Gesellschaft vor einem blöden Optimismus, vor dem Aufspreizen ihres eigenen Wissens als neuer Religion.“ (Horkheimer 1970, S. 54) Die alte Religion hat dabei, so der Mitbegründer der Kritischen Theorie, die Aufgabe, dem Menschen sein unumgängliches Leiden und Sterben aufzuzeigen, um in dieser Ehrlichkeit die Sehnsucht zu erheben, dass das diesseitige Leben nicht das Absolute, das Letzte sein möge (vgl. Horkheimer 1970, S. 61-62, 67, 71). Psychiatrisierte Personen und Spiritualität 253 Die verwaltete Welt Horkheimer wird im Spiegel-Interview nach seiner Einschätzung bzgl. der Entwicklung der Sehnsucht nach dem ganz Anderen in einer verwalteten Welt 1 gefragt. Horkheimer lässt anklingen, dass die Sehnsucht nach dem Jenseitigen auch noch in einer total verwalteten Welt bestehen wird. Dies begründet er in der unumkehrbaren Tatsache, dass der Mensch auch in jenem Moment, in dem alle materiellen Bedürfnisse erfüllt sind, sterben muss. Und so wird dem Menschen, gerade in der Erfüllung seiner materiellen Bedürfnisse, diese Tatsache in besonderer Weise bewusst sein. Horkheimer drückt seine Hoffnung aus, dass in jenem Augenblick eine echte Solidarität zwischen den Menschen aufkommt, die in seinen Augen dazu beitragen kann, die Nachteile der totalen Verwaltung abzumildern. Horkheimer vermutet jedoch auch, dass die Theologie in einer total verwalteten Welt aufgelöst wird. Dies impliziert für ihn, dass das, was der Mensch Sinn nennt, aus der Welt verschwinden wird (vgl. Horkheimer 1970, S. 75): „Zwar wird große Geschäftigkeit herrschen, aber eigentlich sinnlos, also langweilig. Vielleicht schon in naher Zukunft wird man von dem, was wir mit allem Ernst in diesem Gespräch getan haben, über die Beziehungen von Transzendentem und Relativem spekulieren, sagen, es sei läppisch.“ (Horkheimer 1970, S. 88) Transzendenz klingt bei Horkheimer, so wird deutlich, in der Sehnsucht nach dem ganz Anderen, als Moment der Überschreitung der gesellschaftlichen Verhältnisse an. 2 Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen richtet sich dabei auf das noch-nicht-Diesseitige: vollendete Gerechtigkeit. Dabei muss nach Horkheimer jener Begriff des Transzendenten als Bewusstsein der Endgültigkeit des irdischen Geschehens erhalten bleiben, auch um die Menschen vor einer Transzendierung ihrer eigenen Wissens zu bewahren. In der Entwicklung hin zu einer total verwalteten Welt sieht Horkheimer die Notwendigkeit gegeben, jegliche Selbstbezogenheit zu überschreiten und sich in Solidarität zum Anderen hinzuwenden. 1 Die immanente Logik der Geschichte führt nach Horkheimer zu einer verwalteten Welt: „Durch die sich entfaltende Macht der Technik (…) durch schonungslosen Wettbewerb zwischen den Machtblöcken, scheint mir die totale Verwaltung der Welt unausweichlich geworden zu sein.“ (Horkheimer 1970, S.83) 2 Die Sehnsucht des Menschen nach dem Transzendenten, die nach Horkheimer, wie bereits erläutert, vollendete Gerechtigkeit implizieren würde, findet auch im Konzept der Menschenwürde Eingang. So könnte vollendete Gerechtigkeit ein Leben, welches die menschliche Würde achtet, implizieren. Die Konkretisierung einer der Würde entsprechenden Gerechtigkeit wird in den Menschenrechten deutlich. Zur Besprechung transzendenter und immanenter Elemente der Menschenwürde und Menschenrechte sei das Werk „Das utopische Gefälle. Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte“ von Jürgen Habermas (2010) empfohlen. Johanna Kohler 254 Auch der Religionsphilosoph Martin Buber beschäftigt sich in seinem Werk „Ich und Du“ (1974) mit der Überschreitung der Selbstbezogenheit des Menschen. Martin Buber – das dialogische Prinzip Bereits am Beginn seines Werkes „Ich und Du“ überschreitet Buber die Vorstellung einer autonomen Existenz des Menschen: Kein Ich existiert an sich. Existent ist nur das Ich des Grundworts Ich-Du. Nach Buber kann der Mensch nicht in sich, an sich bestehen, vielmehr ist das Ich des Menschen immer an ein Du gebunden. Der Mensch, so lässt sich das Grundwort von Ich-Du interpretieren, ist ein transzendentes Wesen: Er lebt in einem größeren, als nur seinem eigenen Seins-Kontext. Die Person ist darin stets auf ein Du verwiesen. So denkt Buber statt eines An-Sich-Seins ein Mit-Sein. Dieses Ich-Du Verhältnis unterscheidet er dabei grundsätzlich von einem Ich-Es Verhältnis. Das Reich des Es, in dem sich das Ich-Es Verhältnis befindet, wird charakterisiert durch die Handlungen des Menschen, die ein Etwas zum Gegenstand haben. Indem der Mensch das Gegenständliche erfahren will, ist das Reich des Ich-Es kein transzendentes. Eine Es-Menschheit, welche sich selbst vorstellt, deklariert und verbreitet, ist seiner Ansicht nach nicht mit einer leibhaftigen Menschheit, zu der ein Mensch wirklich Du spricht, kongruent. Buber sieht in der stetigen Verwandlung des Menschen zum Es die Notwendigkeit, dass der Mensch sich immer wieder neu aus dem Es-Zustand entwandeln muss. Das Reich des Du hingegen „hat kein Etwas zum Gegenstand. Denn wo Etwas ist, ist anderes Etwas, jedes Es grenzt an andere Es, es ist nur dadurch, dass es an andere grenzt. Wo aber Du gesprochen wird, ist kein Etwas. Du grenzt nicht.“ (Buber 1974, S. 10) Dem Grundwort Ich-Du wohnt in seinem Überschreiten der Abgrenzungen und Differenzierungen Transzendenz inne. In der Begegnung sieht Buber die Gleichzeitigkeit von Ansprechen und Angesprochenwerden. Die Beziehung zum Du ist immediat: Zwischen Ich und Du befindet sich so keine Begrifflichkeit, keine Vorkenntnis. Zwischen Ich und Du ist auch keine Absicht, kein Begehren und keine Vorwegnahme. Begegnung und Beziehung ist also transzendent, da der Bereich der Absicht und Vorstellung durch Vorkenntnisse vom Gegenüber überschritten wird. Dabei ist für Buber Beziehung Reziprozität: Das Du wirkt auf das Ich, wie das Ich auf das Du wirkt: „Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegenseitigkeit.“ (Buber 1974, 255 Psychiatrisierte Personen und Spiritualität S. 23) Die All-Gegenseitigkeit so kann Buber verstanden werden, löst den Menschen aus seiner Ich-Bezogenheit und lässt ihn seine Ich-Grenze überschreiten, transzendieren. Das transzendente Du Nach Buber ist das Du des Ich-Du Grundworts nie Objekt, das sich in spezifisch erfahrbaren und definierbaren Eigenschaften manifestieren würde. Buber betont vielmehr das Moment des Nicht-Wissens: So kennt der Mensch, wenn er einer Person begegnet, nur seinen eigenen Weg, jedoch nicht den Weg des Gegenübers. Diesen erlebt der Mensch nur in der Begegnung. Das Andere, so vermutet Buber, kann dem Menschen nur widerfahren, wissen kann er es nicht. Für Buber ist der Aspekt der Unmöglichkeit einer Festlegung oder Beschreibung des Du äußerst bedeutsam: Sobald eine Festschreibung oder Beschreibung geschieht, ist das Du nicht länger. So kann dem Buberschen Du Transzendenz zugesprochen werden. Es versagt sich stets allen Festlegungen, Vorstellungen und Kategorisierungen. Der Mensch, der mit Du angesprochen wird, bleibt für Buber nicht erfahrbar, gleichwohl steht der Andere mit Du in Beziehung. Auch das Du erlebt sich als seinem eigenem Wissen entzogen: Es tut mehr als es weiß, es widerfährt ihm mehr, als es weiß. Die Auseinandersetzung mit Bubers Gedanken zum Menschsein deuten in vielfacher Weise auf Transzendenz hin: Der Mensch wird in seinem angesprochen-Werden durch das Du aus seiner Selbstfixiertheit gelöst und erfährt dabei die menschliche All-Gegenseitigkeit. In dieser Überschreitung regt sich der Dialog mit dem Du, durch den der Mensch zur Person wird. Auch überschreitet Buber die Möglichkeit der Erfahrung des Anderen, im Sinne eines sichüber-das-Es-Wissen-Verschaffens. Der Andere kann dem Menschen nur widerfahren, so bildet das in-Beziehung-Stehen Momente der Transzendenz ab. Auch Gerhard Gamm deutet Spuren der Transzendenz im Menschsein an. Gerhard Gamm: Die Unerreichbarkeit des Selbst In seinem Aufsatz „Chantals Gesichter. Über die Unerreichbarkeit des Selbst“ (2002) überdenkt Gamm das scheinbare Selbst-Bewusstsein des Menschen und hinterfragt es auf seine Transparenz. Nicht nur scheint das Subjekt, so schreibt Gamm, zu wissen, was sich in seinem Johanna Kohler 256 Inneren an Gefühlen, Überzeugungen und Erfahrungen ereignet, es ist auch davon überzeugt, besser als jedes andere über sich selbst informiert zu sein. So wird bereits am Beginn seines Aufsatzes deutlich, dass Gamm ein immanentes Subjektverständnis kritisiert, welches annimmt, dass das Subjekt auf dem Weg nach innen tiefe Selbstgewissheit und einen profunden Grund für seine Existenz erlangen könnte. Gamm wird dabei den Glauben der Philosophie, dass in der bewussten Selbsterfahrung tatsächlich alles transparent ist oder doch zumindest in Transparenz transformiert werden kann, hinterfragen: „Diese Idee, auf den Grund seiner selbst zu kommen, sich wirklich in dem, wer oder was man ist, das heißt in seiner Autonomie zu erkennen, setzt eine Selbsttransparenz voraus (…).“ (Gamm 2002, S.11) Selbsttransparenz könnte an dieser Stelle auch als Immanenz interpretiert werden, als ein Innerhalb der Grenzen der Erfahrung des Selbst. Gamm nimmt diese Idee der Immanenz, im Sinne einer Transparenz und Selbstgewissheit des Subjekts auf, um festzustellen, dass diese teils deutlich, teils versteckt von einem anderen, wirksamen Gefüge ergänzt wird, welches im Hintergrund Einfluss übt. Es handelt sich dabei um die profunde wie zweifelslose Annahme, dass dasjenige, was als „Ich“ oder „Subjektivität“ definiert wird, über Identität bestimmt ist. Gamm stellt fest, dass in der philosophischen Tradition der Neuzeit Subjektivität als elementare, stetige Größe, als stehendes und bleibendes Ich (wie es bei Fichte und Kant homonym aufklingt) dargestellt wird, dass Subjektivität durch Selbstbezüglichkeit und Identität (als das, was bei allen zeitlichen Veränderungen unverändert bleibt) definiert wurde. So haben Religion und Philosophie nach Ansicht Gamms lange Zeit angenommen, dass ein bedeutungsvoller Kern des Menschen nicht allein seine Individualität, Unverwechselbarkeit (nummerische Identität), sondern auch sein durch die Gattung definiertes Wesen (qualitative Identität) sicherstellt. Dabei sieht Gamm in Freud und seinem Begriff des Unbewussten einen bedeutsamen Einfluss auf die Sensibilisierung der Existenz der dem Bewusstsein prinzipiell abgekehrte Seite der Selbsterfahrung (vgl. Gamm 2002, S.11). Gamm argumentiert, dass es noch eine zweite Welt unbewusster Beweggründe hinter der, dem Subjekt-Bewusstsein zugänglichen, geben muss. Diese zweite Welt lässt sich nach Gamm allein über ihre Konfliktfolgen, die sich zwischen dem bewussten Wunsch und seiner Abwehr (Projektion, Verdrängung usf.) im Sprachgebrauch oder in auffallenden Verhaltensweisen zeigen, eruieren. So wird gerade und nur an den Sinnbrüchen das Verdrängte, Unbewusste und da es dem Menschen nicht zugänglich ist, Transzendente, erkennbar. Gamm beschreibt, wie Motive und Bekundungen des bewussten Subjekts von dem Bewusstsein unbekannten Kräften durchdrungen werden. Diese Psychiatrisierte Personen und Spiritualität 257 regen Gamm zum Hinterfragen der klassischen Annahme der Transparenz und Autonomie des menschlichen Bewusstseins an. Er führt an dieser Stelle seines Aufsatzes nicht nur die psychologische Subjektkritik auf, sondern erwähnt auch Nietzsche. Dieser hat durch das Aufzeigen sprachlicher Strukturen, semantischer Einheiten und grammatischer Schemata (die allem menschlichen Wollen vorausliegen) das seiner selbst transparente und wirkvolle Subjekt dekonstruiert. Zur Dekonstruktion des autonomen Subjekts im gesellschaftlichen Bereich zieht Gamm den Marxschen Diskurs heran. Dieser hat seiner Ansicht nach offenbart, wie sich eine Gesellschaft unter dem Regime kapitalistischer Konkurrenz – der Selbstverwertung des Werts – über die Überzeugungen und Situationsinterpretationen, welche die Subjekte mit ihren Taten verknüpfen, erhebt. So folgen laut dem Marxschen Diskurs die Subjekte als Träger_innen von spezifischen Klasseverhältnissen und Belangen, ungenannten, objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Fortgänge – und demnach nicht dem, was sie an subjektiven Absichten zu realisieren glauben. Die Identität des Subjekts Um seine eigene Dekonstruktion des Subjekts zu illustrieren, verwendet Gamm die Metapher der unterschiedlichen Gesichter (das lustige Gesicht, das seriöse Gesicht usf.), die – gleichsam wie Masken – auf- und absetzbar sind und wie Folien übereinander geschoben werden können, um dann anschließend zu fragen: Wem gehören die Gesichter? Durch wen oder was wird ihre Verbindung erzielt? Wer weiß von ihnen? Gamm beantwortet diese Fragen mit dem Schlagwort Identität: „Identität der Person steht für die Verbindung beider Gesichter. Sie [er] selbst vertauscht sie bei Gelegenheit. Das Sie [Er] selbst deutet ganz offensichtlich auf das Distanz-nehmen-Können zu jedem Gesicht, auf Gesichts- oder Selbstdistanz.“ (Gamm 2002, S. 13) Das Selbstsein ist in der Gammschen Philosophie essentiell verknüpft mit den Gesichtern: Der Mensch manifestiert sich in ihnen, jedoch gründet sich darin nur noch der Nachklang oder Schatten des Selbst. Die Person selbst und die Möglichkeit des Distanznehmens von jedem Gesicht meinen dasselbe. So entsteht nach Gamm Identität zwischen den zwei oder zwanzig Gesichtern. Gamm begreift Identität nicht als bedeutungsvollen Kern (Immanenz) hinter den Gesichtern. Identität „ist nichts weiter als diese synthetische (verbindende) Handlung im Moment ihres gesichtsersetzenden (differenziellen) Vollzugs.“ (Gamm 2002, S. 13) Johanna Kohler 258 Gamm bezeichnet diesen Vollzug als ein Drittes, das die verschiedenen Gesichter vermittelt. Dieses Dritte existiert und existiert nicht, es ist eine Leerstelle (Transzendenz), die Übergangsmöglichkeit selbst. Das Dritte wird dabei nicht als ein erneutes Gesicht bezeichnet, sondern als bedeutsame Leere, die jedoch mit verschiedenen Gesichtern okkupiert werden kann (vgl. Gamm 2002, S. 12-13). Gamm unterstreicht seine Vorstellung von Identität mit Schelling: „Macht man aber von allem Vorstellen sich frei, um seiner ursprünglich bewusst zu werden, so entsteht nicht der Satz: Ich denke, sondern der Satz: Ich bin, welcher ohne Zweifel ein höherer Satz ist. In dem Satz: Ich denke, liegt schon der Ausdruck einer Bestimmung oder Affektion des Ich; der Satz: Ich bin dagegen ist ein unendlicher Satz, weil es ein Satz ist, der kein wirkliches Prädikat hat, der aber eben deswegen die Position einer Unendlichkeit möglicher Prädikate ist.“ (Schelling 1966, S. 367) In Schellings Aussage wird der transzendente Charakter des menschlichen Ich bin deutlich, der sich in seiner Unendlichkeit und somit seinem Überschreiten von jeglichen Kategorien oder Differenzierungen ausdrückt. Dem Ich bin sind unendlich viele Gesichter zugehörig, die durch die synthetische Handlung des Subjekts entstehen. Will das Subjekt diese jedoch bestimmen, so entrinnen sie ihm. Dasjenige, was die Identität hervorruft, entsagt sich so selbst der Definition, weswegen Gamm von einem „verschwindenden Vermittler“ (Gamm 2002, S. 14) spricht, der sich nur über das was er nicht ist, zeigt. Folglich ist das „Ich“ bzw. „Selbst“ im Gammschen Sinne von einer paradoxen Struktur der bestimmenden Unbestimmbarkeit, die auch als Transzendenz in der Immanenz bezeichnet werden könnte, durchzogen. Conclusio dessen ist, dass jedes Gesicht, welches das Subjekt intentional oder nicht intentional aufsetzt, den Menschen verfehlt. Dies begründet Gamm nicht etwa darin, dass der Mensch etwas zu verheimlichen oder sein echtes Gesicht noch nicht gefunden hätte, sondern in der Existenz einer signifikanten Stelle (die der Mensch nach Gamm ist), die für alle zu erwägenden Gesichter oder Blicke leer, frei und unbestimmt bleiben muss. Er ist somit der Ansicht, dass es keine Identität in Form eines letzten (wahren) Gesichts der Gesichter geben kann, sondern nur eine verborgene und, so kann interpretiert werden, transzendente Gegenwart/Signifikanz des Selbst in jedem Gesicht. Das Gesicht des Subjekts weist dabei stets kulturelle Markierungen auf, die das symbolisierte Allgemeine und nicht das Eigene darstellen. Die Transzendenz des Menschen, die stets darauf hinweist, dass der Mensch mehr ist als all seine Prädikate, zeigt sich auf paradoxe Weise, so kann Gamm gedeutet werden, in der Immanenz der verschiedenen Gesichter. Die Struktur der Identität impliziert Gamms Ansicht 259 Psychiatrisierte Personen und Spiritualität nach die Synthese der Gesichter, die nur durch ihre Differenz hindurch bewirkt und erfasst werden kann. Nur in der Verschiedenheit der Gesichter zeugen sie von Identität, in ihrer Trennung sind sie eins. Dabei ist der Gebrauch, den andere Subjekte in Form ihrer Interpretationen von den verschiedenen Gesichtern machen, essentieller Teil der Konstitutionsvoraussetzungen der menschlichen Identität. Subjekt ist nach Gamm so niemals Substanz, wie auch kein zeitlos bestehendes Seiendes: „Das Subjekt ist nicht, es ist nicht etwas, es ist nur dieser Impuls, diese Kraft des Überstiegs oder des Umsteigens auf ein neues Gesicht.“ (Gamm 2002, S. 14) Transzendenz kann so als Argument dafür dienen, weshalb das Subjekt nicht unter die gewöhnlichen gegenstandskonstitutiven Voraussetzungen des menschlichen Verstandes, der nach Kategorien urteilt, fällt. Gamm konkretisiert seine Anschauungen, in dem er die Verhältnisse, die das Subjekt betreffen, in einer an die zeitgenössische Sprachphilosophie angelehnten Terminologie beschreibt: Die inhaltslose und undefinierte Mitte des Subjekts kann nicht frei bleiben, sie fordert stets nach dem, wordurch sie sich ausdrücken, zeigen oder abbilden kann, um gleichzeitig erkennbar zu machen, dass sie durch keine Manifestation umfassend erschöpft werden kann. Ungeachtet dessen, in welcher Weise sie sich ausdrückt, in welcher Rede sie über sich spricht oder in welcher Überlegung oder Zusammenhang sie sich manifestiert –immer verneint sie, dass sie je durch ein Prädikat der menschlichen Sprache hinreichend erfasst werden kann. Das Subjekt hat sich so im Verlauf der Prädikation immer schon in den transzendenten Horizont seiner selbst entfernt. Die Positivierung des Unbestimmten begründet Gamm damit, dass jedes Prädikat, welches das Subjekt sich zuweist, durch den Zuweisenden in seiner Ausführung überschritten wird: Das Subjekt macht etwas anderes, als es sagt. Indem das Subjekt es jedoch sagt, hat es sich über seine Bestimmung hinweggesetzt, weil sein Urteil einen Sprecher einbringt, der in der Druchführung seines Urteils (indem er sich explizit über sich ausdrückt) allezeit bereits vorausliegt: „Der Sprecher ist in der Performativität, dem Vollzug seines Urteils präsent, ohne dass seine Präsenz im Urteil positiv artikuliert werden könnte.“ (Gamm 2002, S.14) Diese nicht positivierbare Gegenwart ist für Gamm die Grundlage der Vermittlung der Gesichter. Allein mittelbar, reziprok und über die Gedanken, die seine Prädikate darstellen, wird sich das Subjekt seines Seins bewusst (vgl. Gamm 2002, S. 14). Johanna Kohler 260 Kritik an der Kolonialisierung des Selbst Aus der Unbestimmbarkeit des Menschen heraus ist für Gamm das Verharren auf einem Schemata der Subsumtion 3, die Definition der menschlichen Identität über die Abgrenzung zu anderen Lebewesen, beispielsweise über seine Sprach- und Vernunftbegabung, unzulänglich. Vielmehr muss diese, so Gamm, aufgrund des zerbrechlichen menschlichen Gleichgewichts, der nicht konstitutiven Mitte des Menschen, der nicht festgesetzten Struktur des menschlichen Handelns und Denkens, für verschiedenste Besetzungen offen sein. Sie ist für Gamm unverschlossen gegenüber den unterschiedlichsten Bildern und Modellen, gerade weil sie keinen durch ein „esse“ verdeutlichten ontologischen Gegenhalt aufweist. Dabei kritisiert er den nicht endenden Strom an Bildern und Modellen, welche die sich zersetzende Mitte des Selbst festzuschreiben und zu kolonialisieren versuchen. Auch hinterfragt Gamm die Tendenz, nach immer neuen positiven Festlegungen zu streben sowie die unreflektierte Bezugnahme auf etwas, das scheinbar so gegeben ist, das als dem Gegenstand analog als “etwas“ erkannt werden kann. 4 Als Differenzierungsmerkmale, wem moralische Achtung und Anerkennung zuteilwerden sollen, dienen dann Reflexivität, intentionale Kompetenz, aufgeklärtes Selbstinteresse, Rationalität, Empathie etc. Gamm bestreitet nicht, dass diese Merkmale auch gewisse Züge des menschlichen Wesens beschreiben könnten – die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass sie die vielfältig gebrochene und sich auflösende Mitte des Menschen in eine unannehmliche Positivität einschließen. So wird die Mitte des Menschen durch die Identifikation als „etwas“, abermals in ein Objekt transformiert, seine qualitative Offenheit wird darin geleugnet und in dieser Zuschreibung eines „objektiven“ Charakteristikums wird schließlich auch über seinen Existenzanspruch entschieden. Die unerreichbare Ferne des menschlichen Wesens Gamm schließt sich im Folgenden Kants 5 Überzeugung, dass der Mensch weder Objekt noch Sache ist, an. Der Mensch hat für Gamm im kantschen Sinne keinen Preis, sondern Würde. 3 In Anlehnung an die Biologie. Gamm kritisiert demnach an diesem Punkt, dass die Frage nach den Kriterien des Person-Seins in der Gegenwart häufig objektivistisch geklärt wird. 5 An dieser Stelle gilt es zu kritisieren, dass Kant in seinen Werken einen traditionellen Antijudaismus wie auch einen modernen Antisemitismus vereint. 4 261 Psychiatrisierte Personen und Spiritualität Vom Menschen, der seine Höchstplatzierung im Person-Status erzielt, kann deshalb nicht von einem gewöhnlichen Seiendem unter anderen Seienden gesprochen werden. So kann der Mensch auch nicht durch Kategorien charakterisiert werden, er hat keinen Wert, der gegen andere Werte aufgerechnet werden könnte. Diese Überzeugung bringt Gamm zu der Aussage: „Das Wesen des Menschen ist für uns in eine unerreichbare Ferne gerückt.“ (Gamm 2002, S. 335) Damit fordert Gamm, die totale Unzulänglichkeit des menschlichen Wesens anzuerkennen und sich der Radikalität dieses historischen Apriori zu stellen. Er sieht sich an dieser Stelle zur „Paradoxierung“ seiner eigenen Rede gedrängt: Die Bestimmung des Menschen konstituiert sich darin, keine zu besitzen. Dies beinhaltet, dass kein Wesenskern vorzufinden ist. Gamm sieht sich in Plessners Aussage bestätigt: „Die Unfassbarkeit des Lebens und die Unerschöpflichkeit menschlichen Könnens lassen den Menschen nunmehr als Macht und offene Frage zurück.“ (Plessner 1981, S. 189) Der Auseinandersetzung mit Transzendenz im Lichte philosophischer Diskurse folgt nun ein Abschnitt, der sich der Frage widmet, welche Bedeutung Transzendenz für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern einnimmt. Die Bedeutung der Transzendenz als Überschreiten der diesseitigen Wirklichkeit für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern In Horkheimers Sehnsucht nach dem ganz Anderen klingt die menschliche Hoffnung einer Überschreitung der diesseitigen, gesellschaftlichen Wirklichkeit, hin zu mehr Gerechtigkeit an. So sollte auch durch die professionelle Haltung von Praktiker_innen die Sehnsucht der psychiatrisierten Personen nach dem noch-nicht-Sichtbaren, Gerechterem Raum finden. Die Sehnsucht selbst kann dabei die/den Praktiker_in in ihre/seine Profession rufen, be-rufen, um darin auf die Hoffnungen der psychatrisierten Personen zu antworten – für diese „Verantwortung“ zu übernehmen: Durch den Anderen ge-rufen in eine professionelle Haltung der Gestaltung aus Hoffnung. Eine professionelle Haltung, die sich dem So-Seienden nicht beugt, es vielmehr wagt, das Geheimnis einer noch nicht vorhandenen Realität auszusprechen (Horkheimer), wird gemeinsam mit der psychiatrisierten Person die Diesseitigkeit (sprachlich aber auch praktisch) zu überschreiten versuchen. Das gemeinsame Transzendieren der Realität als Ausdruck, dass vor dieser und ihrer Ungerechtigkeiten nicht in Resignation kapituliert werden darf und muss. Das gemeinsame Transzendieren der realen Verhältnisse als Ausdruck Johanna Kohler 262 des Respekts gegenüber der Sehnsucht der psychiatrisierten Person nach dem ganz Anderen – worin dieses ganz Andere auch immer bestehen mag. Das gemeinsame Transzendieren der gesellschaftlichen Kontexte als Ausdruck der Suche nach Möglichkeiten, diese Sehnsucht, Hoffnung im Alltag zu konkretisieren. Das gemeinsame Transzendieren als Ausdruck einer Haltung der Offenheit gegenüber dem Gegenwärtigen. So fordert von Brück, das Diesseitige, dasjenige, das ich für heilig halte, nicht zu verabsolutieren, sonst sei Hoffnung nicht möglich: „Die Offenheit zu akzeptieren ist vielmehr Inbegriff der Hoffnung. Die Haltung der Hoffnung ist das Gegenteil einer Haltung des Fixierens, die sich bemüht, alles dem eigenen Zugriff zu unterwerfen.“ (von Brück 2002, S. 74) Eine professionelle Haltung, die der Sehnsucht der psychiatrisierten Person Raum zuspricht, bewahrt (so ist zu hoffen), die/den Praktikerin/Praktiker in der Kontrastierung der Diesseitigkeit von dem jeweils Ersehnten, vor einer Verschleierung, Anerkennung gesellschaftlicher Unverhältnisse durch sozialpsychiatrische Tätigkeiten. Eine Haltung, die es wagt, das Geheimnis des noch-nicht-da-Seienden auszusprechen; eine Haltung, die es wagt, das Transzendente als Differenz zur Immanenz zu suchen, wird sich verpflichtet sehen, in der Suche nach sozialer Gerechtigkeit auch politisch 6 zu werden. Im von Brückschen Sinne kann die Hoffnung der Unterdrückten und Benachteiligten auf eine andere Welt die ausgleichende Gerechtigkeit bringt, nicht gesellschafts- und machtneutral sein. So wird Hoffnung konkret, wenn es um die Behebung eines bestimmten Mangels geht, der als solcher empfunden wird (vgl. von Brück 2002, S. 73). Die Bedeutung der Transzendenz als Verweis auf das Jenseits der Selbstbezogenheit für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern Der Andere, das Du, das mich anspricht überschreitet meine Selbst-Bezogenheit und be-ruft mich in die Ver-antwortung. Eine professionelle Haltung der Ver-antwortung sieht sich nicht nur auf den Anderen verwiesen, sie überschreitet auch die Selbst-bezogenheit der/des Anderen, indem sie sie/ihn auf aktuelle gesellschaftlichen Strukturen und Zwänge verweist. So richtet sich der Blick der Praktiker_innen nicht allein auf die subjektiven Verhaltensweisen 6 Zur politischen Dimension Sozialer Arbeit vgl. Wagner (2008): „Die Politik der Sozialen Arbeit. Überlegungen zur politischen Produktivität Sozialer Arbeit jenseits des Mandatsbegriffs.“ 263 Psychiatrisierte Personen und Spiritualität und Lebensstile der psychiatrisierten Person, sondern auch auf die Verbindung der jeweiligen menschlichen Notlage mit den herrschenden Gestaltungsweisen des Sozialen (vgl. Kessl 2005b, S. 36). Nur eine solche, das Individuum überschreitende, Haltung der Profis kann vor einer Individualisierung und gesellschaftlicher Dekontextualisierung sozialpsychiatrischer Problemlagen schützen. Die Bedeutung der Transzendenz als Verweis auf das Jenseits jeglicher Kategorisierung/Erfahrung des Menschseins für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern – im Anschluss an Erik Mührel Die Andersheit der psychiatrisierten Person entzieht sich der Verfügungsmacht der/des Praktiker_in. Die Transzendenz des Anderen überschreitet jegliche kategoriale oder substantielle Festlegung der psychiatrisierten Person. Meines Erachtens wird Mührel in seinem, an Lévinas Philosophie angelehnten, Entwurf einer verstehenden und achtenden Haltung dem Menschsein-innewohnenden Aspekten der Transzendenz gerecht, weshalb diese nun skizziert werden soll. Die Paradigmen „Verstehen und Achten“ sind dabei als Pole einer professionellen Haltung zu verstehen (vgl. Mührel 2008, S. 155). Verstehen Mührel sieht fachliche Interventionen auf einer Diagnose basierend, der ein Verstehen der psychiatrisierten Person unabdingbar vorausgeht. Verstehen kann dabei als dialogischer Prozess verstanden werden, indem durch Sprache mit dem Gegenüber über eine Sache (die Mührel als „Drittes“ benennt) Verständigung stattfindet (vgl. Mührel 2008, S. 71, S. 90). Dabei kommt der Frage im Dialog eine bedeutende Rolle zu. Im Gespräch wird „durch die Kunst des Fragens und Weiterfragens (…) die zu verstehende Sache auseinandergelegt und in dieser Dialektik ins Offene gebracht, dessen Offenheit eben unabschließbar ist.“ (Mührel 2008, S. 91) Offenheit, die ein nicht-Bewerten des Gesagten miteinschließt, impliziert, dass die zu verstehende Sache nie eindeutig erkannt und verstanden werden kann. Verstehen meint, sich reflektierend durch die Erkenntnis der Differenz der psychiatrisierten Person zu mir selbst zu distanzieren. Verstehen denkt Mührel folglich als ein Befragen der Lebensweisen des Gegenübers, „um mit und für den Klienten [die Klientin] auf diesem Verständnis auf- Johanna Kohler 264 bauend unter den Aspekten der Fachlichkeit Sozialer Arbeit Anregungen zur aktiven Veränderung seiner [ihrer] Lebensweise zu entwickeln und umzusetzen.“ (Mührel 2008, S. 155) Das Verstehen richtet sich somit auf die Lebensweise der psychiatrisierten Person. Die Lebensweise meint dabei sowohl die äußeren Lebensumstände (gesellschaftliche und familiäre Verhältnisse, psychische und körperliche Dispositionen) als auch das innere Ich. Das innere Ich denkt Mührel im Sinne von Jose Ortega y Gasset als Daseinsentwurf des Menschen: „Es gibt kein abstraktes Leben. Leben bedeutet die unerbitterliche Notwendigkeit, den Daseinsentwurf, den ein jedes Individuum darstellt, zu verwirklichen. Dieser Entwurf, aus dem das Ich besteht, ist keine Idee und kein von dem betreffenden Menschen erdachter und frei gewählter Plan.“ (Ortega y Gasset in Mührel 2008, S. 75) Verstehen im Mührelschen Sinne bedeutet somit: „hinter den Ausdruck der Lebensweise zu kommen (...) um die Kräfte und Gegebenheiten zu verstehen, die die Dynamik des Lebens (…) kennzeichnen.“ (Mührel 2008, S. 73) Verstehen darf jedoch, wie bereits angedeutet, nicht in einem absoluten Sinne verstanden werden. Die Begrenzung des Verstehens begründet Mührel mit Lévinas im Antlitz des Anderen: „Im Antlitz des Anderen wird die Idee des Anderen in mir überschritten. Liegt die Wahrheit des Gesichts nicht in dem Aufruf: ‚Zerstöre mich nicht in deinem Erkennen?‘“ (Mührel 1997, S. 43) So würde Verstehen in seinem Erfassen, Diagnostizieren ohne einen Gegenpol zu einer Auflösung der Andersheit des Du führen. Dies bringt Mührel dazu, den Gegenpol des Achtens aufzuführen. Achten Mührel denkt das Achten als „Bewegung zur absoluten, transzendenten Andersheit des Anderen, die eben nicht anerkennende und verstehende Aneignung des Anderen ist, sondern Gastfreundschaft, Empfang des Anderen ohne Bedingung, in einer Asymmetrie des Interpersonalen.“ (Mührel 2008, S.110, S. 112) Das Achten bezieht sich auf die unendliche Andersheit des Anderen, die Mührel auch als radikal fremd tituliert, um darin die unaufhebbare Differenz zwischen Ich und Du auszudrücken (vgl. Mührel 2008, S. 112). In der Heiligkeit und Transzendenz des Anderen manifestiert sich die Ver-antwortung, die unendliche Andersheit seiner zu achten. Dabei denkt Mührel Achten als „Wahren des Gesichtes des Anderen.“ (Mührel 265 Psychiatrisierte Personen und Spiritualität 2008, S. 150) Eine Haltung der Achtung ist so in letzter Konsequenz eine Haltung, mit der die unantastbare, unveräußerliche Würde der psychiatrisierten Person anerkannt wird. Achtung ist als Würdigung der Personalität der pschyiatrisierten Person zu deuten. Die handlungslogische Konklusion besteht somit darin, die Menschenrechte für die psychiatrisierte Person einzufordern und auf deren Verwirklichung hinzuwirken. Nach Mührel manifestiert sich eine Haltung des Achtens im Besonderen im Hören. Im Akt des Hörens wird der/die Praktiker_in zum/zur Gastgeber_in des Gehörten und bekennt sich so verantwortend. Das Hören meint nach Mührel keine Technik, vielmehr offenbart sich im Hören eine achtende Haltung des im so-seinLassens. Eine solche Haltung widersetzt sich somit allen Tendenzen der effizienten Diagnosestellung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Eine achtende Haltung darf folglich nicht mit den Messgrößen „Effizienz“ oder „Wirkung“ bestimmt werden. Achtung stellt nach Mührel keine messbare Größe dar, die in irgendeiner Form gerechtfertigt werden müsste (vgl. Mührel 2008, S. 150-151). Wie können jedoch Verstehen und Achten zusammen gedacht werden? Synthese des Verstehens und Achtens In Gadamers Verständnis von Verstehen sieht Mührel die Möglichkeit, Verstehen und Achten in einer Haltung zu verknüpfen. Gadamer bezeichnet die Lebensweise der Anderen als Objekt des Verstehens, und nicht deren geheimnisvolle Personalität. Verstehen ist so nicht als absolut zu denken, sondern als Verstehen des Ausdrucks der Selbstgestaltung der psychiatrisierten Person in ihren/seinen Lebensbezügen (vgl. Mührel 2008, S. 158-160). Da „sich das Verstehen am Achten orientiert und nur dadurch in seiner Offenheit gehalten werden kann“ (Mührel 2008, S. 158-160), können die Pole des Achtens und Verstehens in einer Haltung emergieren. Verstehen, das sich im Achten der unendlichen Andersheit gründet, kann so das Gesicht der psychiatrisierten Person wahren. Die Gleichzeitigkeit der Pole Achten und Verstehen erstreckt sich auf einer asymmetrischen (Nicht-) Beziehung der Achtung sowie einer symmetrischen, gegenseitigen Beziehung des Verstehens (vgl. ebd., S. 148, S. 161). So verneint Mührel ein diametrales Entgegensetzen von Verstehen und Achten; vielmehr regt er an, eine professionelle Haltung zwischen diesen Polen aufzuspannen (vgl. ebd., S.156, S. 161). Johanna Kohler 266 Resümierend lässt sich festhalten, dass die Bedeutung transzendenter Elemente für eine professionelle Haltung im Verstehen und Achten des Anderen, in der Ehrfurcht vor den Sinn- und Identität(en)fragen und Hoffnungen der psychiatrisierten Person begründet ist. Die Bedeutung manifestiert sich in der Ver-antwortung für die/den unendlich(en) Andere(n), der dem Profi in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern gegenüber tritt. Die theoretische Auseinandersetzung mit Transzendenz kann dabei verdeutlichen, dass Spiritualität auch in einer entsakralisierten (säkularen) Gesellschaft Legitimität beanspruchen kann und somit kein Fremdkörper in sozialpsychiatrischen Kontexten bleiben muss. Ähnlich Maio (2010), der einen Raum für Spiritualität in der Medizin fordert, da sich Patient_innen durch Krankheiten ihrer eigenen Endlichkeit bewusst werden, und somit das Sprechen über Sinnfragen häufig zentraler erscheint, als die bloße Wiederherstellung physischer Funktionsfähigkeiten, kann dieser Raum auch für sozialpsychiatrische Kontexte angedacht werden. Obgleich sich die Adressat_innen sozialpsychiatrischer Handlungsfelder nicht stets im existentiellen Sinne mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert sehen, befinden sie sich doch häufig in Krisen, Konflikten oder prekären Lebensverhältnissen, die Fragen nach dem Sinnstiftenden, nach Identität(en) und der unbestimmten Zukunft evozieren können. Spiritualität könnte so im Sinne Maios (2010) auch für die Vergegenwärtigung der letzten (transzendenten) Fragen dienen (vgl. Maio 2010, S. 5-6). Weiterhin sollte Spiritualität, wie Dungs zu bedenken gibt, „als Antrieb der Kritik im Verhältnis zu (…) gesellschaftlichen Verengungen und Spaltungen (…)“ somit als „Seismograph für gesellschaftliche Verengungen“ und als „Medium der Sensibilisierung für alles, was (…) uns in der Welt begegnet“ (Dungs 2016, Z. 58-65) dienen. Eine Spiritualität, die nicht, wie Dungs kritisiert, als „maßgeschneidertes und entpolitisierendes Anpassungsprogramm (…) an eine Welt, die uns aber erschüttert“ (Dungs 2016, Z. 83-84) verstanden wird, könnte folglich gerade auch in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern auf exkludierende Tendenzen aufmerksam machen. Sicherlich stellt die Forderung nach einem Raum für Spiritualität in sozialpsychiatrischen Kontexten in Zeiten der Kürzung staatlicher Sozialbudgets eine Herausforderung für Praktiker_innen dar, da zeitliche/personelle Ressourcen für das Hinschauen auf professionseigene und gesellschaftliche Zustände sowie das Hinhören auf Sinn- und Identität(en)fragen begrenzt erscheinen. Um dieser Herausforderung dennoch nachzukommen, bedarf es meines Erachtens zunächst der Implementierung eines Pflichtseminars „Professionelle Haltung“ innerhalb der für sozialpsychiatrische Kontexte relevanten Studiengänge. 267 Psychiatrisierte Personen und Spiritualität Bereits die „Novizen und Novizinnen“ sollten dort inhaltliche Grundlagen einer selbstreflexiven Haltung des Verstehens und Achtens erlangen, aber auch zur kritischen Reflexion vereindeutigender und expertokratischer Perspektiven angeleitet werden. In der Ausbildung einer für die Transzendenz der psychiatrisierten Person offenen Haltung könnten angehende Praktiker_innen darauf vorbereitet werden, im jeweils neuen Hier und Jetzt der Praxis ethisch verantwortlich zu handeln. Gewiss wäre es auch erstrebenswert, dass Profis regelmäßig in Supervisionen zur Reflexion ihrer eigenen Haltung angeleitet werden. Supervisionen könnten auch dazu dienen, dass Praktiker_innen darin geschult werden, einen, wie Dungs es nennt, „Sinn für das Unverfügbare“ (Dungs 2016, Z. 5-6) zu entwickeln. Dieser Sinn für das Unverfügbare bzw. der Sinn für das Unbestimmte sollte einen Gegenpol zu historisch gewachsenen Vereindeutigungen in sozialpsychiatrischen Kontexten bilden. Einen Gegenpol, der die Begrenztheit des Menschlichen, des menschlichen Wissens und das Aufeinander-AngewiesenSein des Menschen berücksichtigt. Einen Gegenpol, der mit Dungs Praktiker_innen in sozialpsychiatrischen Kontexten zu einem „Sinn für Bescheidenheit und Begrenztheit“ (Dungs 2016, Z. 55-56) aufrufen könnte. Literatur Brück, Michael von (2005): Wie können wir leben? Religion und Spiritualität in einer Welt ohne Maß. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Buber, Martin (1974): Ich und Du. Gerlingen: Lambert Schneider Verlag. Dahme, Heinz-Jürgen; Wohlfahrt, Norbert: (Hrsg.) (2005): Aktivierende Sozialarbeit. Theorie – Handlungsfelder – Praxis. Hohengehren: Schneider Verlag. Dungs, Susanne (2016): Expertinneninterview über Spiritualität. Stuttgart, Kärnten. Gamm, Gerhard (2008): Chantals Gesichter. Über die Unerreichbarkeit des Selbst. In: Der blaue Reiter. Journal für Philosophie, S. 11-17. Habermas, Jürgen (2010): Das utopische Gefälle. Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte. Berlin: Blätter für deutsche und internationale Politik,8/ 2010, S. 4353. Horkheimer, Max (1970): Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. Johanna Kohler 268 Kessl, Fabian (2005): Soziale Arbeit als aktivierungspädagogischer Transformationsriemen. In Dahme, Heinz-Jürgen; Wohlfahrt, Norbert: (Hrsg.): Aktivierende Sozialarbeit. Theorie – Handlungsfelder – Praxis. Hohengehren: Schneider Verlag, S.30ff. Lewkowicz, Marina; Lob-Hüdepohl, Andreas (Hrsg.) (2003): Spiritualität in der sozialen Arbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus Verlag. Lob-Hüdepohl, Andreas (2003): Kritik der instrumentellen Vernunft. Soziale Arbeit in einer entsakralisierten Gesellschaft. In: Lewkowicz, Marina ; Lob-Hüdepohl, Andreas (Hrsg.): Spiritualität in der sozialen Arbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus Verlag. Maio, Giovanni (2010): Zur Hilflosigkeit der modernen Medizin im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn. Verfügbar unter: https://www.freidok.unifreiburg.de/fedora/objects/freidok:7371/datastreams/FILE1/content [03.08.2016] Mührel, Eric (2008): Verstehen und Achten. Philosophische Reflexionen zur professionellen Haltung in der Sozialen Arbeit. Sozialpädagogik in der Blauen Eule. Band 8. 2., überarbeitetet und erweitert Aufl. Essen: Die Blaue Eule. Plessner, Helmuth (1981): Gesammelte Schriften, 10 Bde. Ln, Bd.5, Macht und menschliche Natur. Berlin: Suhrkamp Verlag. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1966): Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen. Berlin: Holzinger. Wagner, Thomas (2008): Die Politik der Sozialen Arbeit. Überlegungen zur politischen Produktivität Sozialer Arbeit jenseits des Mandatbegriffs. In: Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. Heft 6/2008, S. 632-644. Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Dokumentation der Forschungsergebnisse Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt und Athanasios Tsirikiotis 1. Einleitung Soziale Arbeit ergänzt die medizinischen und therapeutischen Professionen im sozialpsychiatrischen Arbeitsfeld um eine explizit ethische Orientierung an Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit (vgl. z.B. DBSH 2016). Insbesondere vor dem historischen Hintergrund der Psychiatrie, welcher stets auch von Verwahrlosung, Dämonisierung, Isolation, Unterdrückung, Aberkennung der Menschenrechte, Gewalt und Mord zeugt (vgl. Brückner 2010; Zimmermann/ Lob-Hüdepohl 2007: 286f), ist dies von besonderer Relevanz. Gerade hinsichtlich dieser paternalistischen Verwerfungen wird Partizipation in der Psychiatrie schon länger gefordert (vgl. z. B. Aktion Psychisch Kranke 2012; Bundesverband evangelische Behindertenhilfe: Kerbe 3/2011; Reichhart et al. 2008, S. 111) womit an die Psychiatriereform sowie die Antipsychiatrie-Bewegung in den 1960er und 1970er Jahren angeschlossen wird (vgl. Keupp 2011). Psychiatrie-Erfahrene insistieren öffentlich auf die Teilhabe an Entscheidungsprozessen in der Psychiatrie und einen respektvollen Umgang mit ihrem Erfahrungswissen als Expert_innen: „Ein sehr wichtiges Ziel der Beteiligung Psychiatrie-Erfahrener ist es, dem Erfahrungswissen der Betroffenen im Verhältnis zum professionell erworbenen Wissen einen höheren, möglichst gleichrangigen Wert zu verschaffen" (Prins 2005,S.10). Dem Begriff »Partizipation« kommt allgemein in den letzten Jahren zunehmend politische, soziale und persönliche sowie handlungsfeldübergreifende Bedeutung in der Sozialen Arbeit zu (z.B. Schnurr 2005). In diesem Sinne wird zunehmend ein Perspektivenwechsel von der Professionist_innen- hin zur Adressat_innenperspektive gefordert (vgl. z.B. Graßhoff 2012; Bitzan/ Bolay/ Thiersch 2006; Schaarschuch 2003, 1999). Auch im (internationalen) rechtlichen Kontext wird Partizipation zunehmend gefordert (vgl. §1 und §9 SGB IX; Weltgesundheitsorganisation 2006, S. 105). So wird Partizipation in der UN- 271 Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit Behindertenrechtskonvention fokussiert, in welcher die Rechte auf Achtung der individuellen Würde, Autonomie und Freiheit im Vordergrund stehen (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen 2009, S. 5). Diese Freiheitsrechte sind jedoch nur in Verbindung mit Schutzrechten (z.B. das Recht auf „Sicherung der leiblichen und sozialen Bedingungen eines Lebens mitten in der Gesellschaft, auf angemessene Behandlung von Krankheit und angemessenen Umgang bei Hilfebedürftigkeit“ (Wunder 2009, S. 33)) zu sehen. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) 2009 durch die Bundesrepublik Deutschland und der Entwicklung eines neuen Psychisch-Kranken-HilfeGesetzes in Baden-Württemberg (PsychKHG) am 01.01.2015, erlangt das Thema gegenwärtig an tagespolitischer Relevanz. So deutlich die Forderung verschiedener Gruppen nach Partizipation zu vernehmen ist, so diffus scheint das jeweils dahinterliegende Verständnis von Partizipation zu sein. Dieses Verständnis bzw. die Definition von Partizipation aus der Perspektive unterschiedlicher Akteur_innen zu rekonstruieren und gegenüberstellend zu diskutieren, waren die zentrale Zielsetzungen des Forschungsprojekts „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“, das von 2014-2016 an der Hochschule Esslingen durchgeführt wurde 1. Zum Thema Partizipation in der Sozialpsychiatrie gibt es bereits einige Positionierungen verschiedener Akteur_innen (Betroffene, Angehörige und Professionist_innen) sowie Forschungsprojekte, die zu Beginn der nachfolgenden Ausführungen kurz vorgestellt werden. Im Anschluss daran wird begründet, warum eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Begriff „Partizipation“ aus der Perspektive einer Kritischen Professionalisierung notwendig ist, wie die Bezugnahme auf postmoderne Identitätskonzepte dafür fruchtbar gemacht werden kann und wie sich mit einem rekonstruktiven Zugang zu sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern eine Kritikfolie für eben jene Felder entwickeln lässt. 2. Partizipation, Soziale Arbeit und Sozialpsychiatrie – ein Überblick Sich mit Partizipation im sozialpsychiatrischen Kontext auseinanderzusetzen ist keine neue Idee. Im Folgenden wird ein Überblick über die hier relevanten aktuellen Diskurse gegeben. 1 Siehe auch hier: http://www.hs-esslingen.de/de/hochschule/fakultaeten/soziale-arbeit-gesundheitund-pflege/forschung/projekte/abgeschlossene-projekte/partizipation-sozialpsychiatrie.html Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 272 Daran schließt eine Darstellung von Erhebungen und Einschätzungen zur Umsetzung von Partizipation in der Sozialpsychiatrie an. Seit der Psychiatriereform werden aus der sozialpsychiatrischen Praxis heraus Modelle, Methoden und Handlungspraxen entwickelt, welche das Ziel einer größeren Beteiligung und Mitbestimmung von Psychiatrie-Erfahrenen an ihrem Hilfeprozess verfolgen. Das Kapitel 2.3. versucht die verschiedenen Ideen auf dieser Ebene zusammenzutragen. 2.1. Partizipationsbegriffe Partizipation wird oftmals als selbstverständlicher Begriff verwendet, der keiner weiteren Erklärung bedarf. Der Sinn wird jedoch sehr unterschiedlich gedeutet. Partizipation bedeutet für Strassburger und Rieger (2014) beispielsweise ganz allgemein, an Entscheidungen mitzuwirken und damit Einfluss auf das Ergebnis nehmen zu können. Partizipation basiert demnach auf klaren Vereinbarungen, auf Basis derer eine Entscheidung gefällt wird und der Gültigkeitsbereich des Rechts auf Mitbestimmung definiert wird (vgl. Strassburger&Rieger 2014, S. 230). Diese Definition grenzt Partizipation von Formen der Beteiligung ab, bei denen die Meinung der Mitwirkenden keine Auswirkung auf das Ergebnis einer Entscheidung hat oder bei denen nicht sicher ist, inwiefern ihre Meinung in den Entscheidungsprozess einfließt. Im Kontext Sozialer Arbeit definiert Stefan Schnurr (2005) Partizipation als „das Ziel einer Beteiligung und Mitwirkung der Nutzer (Klienten) bei der Wahl und Erbringung sozialarbeiterischer/ sozialpädagogischer Dienste, Programme und Leistungen." (Schnurr 2005, S. 1330, Hervorhebung im Original). 2 Verschiedene Formen von Partizipation, welche grundsätzlich von einer Machtasymmetrie zwischen Nutzer_innen und Anbieter_innen bestimmt sind, findet Schnurr in dem Stufenmodell von Arnstein 1969 passend dargestellt: 2 Die theoretische Begründung einer erweiterten Nutzer_innenpartizipation liegt nach Schnurr in Demokratieund Dienstleistungstheorien. Partizipatorische Demokratietheorien, welche den Begriff für Soziale Arbeit prägen, sehen in der Beteiligung das Element für politische und soziale Integration, welches einen Eigenwert hat, anstatt für Machtverhältnisse ein Instrument zu sein. Mit dienstleistungstheoretischen Veränderungen professionellen Handelns ist die Seite der Nutzer_innen gegenüber der Anbieterseite gestärkt und ihre Autonomie betont worden. Partizipation bzw. Mitwirkung der Nutzer_innen, welche an den Bürgerstatus anknüpfen, ist eine Voraussetzung für gelingende Dienstleistungen, im Gegensatz zu eher konsumeristischen Dienstleistungen (vgl. Schnurr 2005, S. 1330–1336). Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 273 • 1. Manipulation • 2. Therapie (in Abgrenzung von einer Befähigung zur Beteiligung) Nicht-Beteiligung Schein-Beteiligung/ Alibi-Beteiligung Verortung der Macht bei Bürger_innen • 3. Information • 4. Konsultation/Beratung/Anhörung • 5. Beschwichtigung • 6. Partnerschaft (Beteiligung in Aushandlungssystemen) • 7. Übertragung von Macht an die Bürger (Bürger besitzen Entscheidungskompetenzen für bestimmte Planungsabschnitte/Programme) • 8. Kontrolle durch Bürger (Bürger besitzen volle Entscheidungskompetenz) Abb 1: Arnsteins Stufenmodell der Partizipation, eigene Darstellung nach Schnurr 2005: 1336 In der Unterscheidung verschiedener Ebenen sieht, Schnurr den größten Mangel und die größte Diskrepanz zwischen der Folgenhaftigkeit von Entscheidungen und Partizipationsmöglichkeiten der Nutzer_innen auf Ebene der Einzelfallentscheidungen. Dort geht Mitwirkung kaum über eine passive Beteiligung der Nutzer_innen hinaus und sind kaum verfasste Partizipationsmöglichkeiten entwickelt. Soziale Arbeit, so Schnurr; hat daher ebenfalls die Aufgabe, Fähigkeiten zu Partizipation zu stützen und sich an der Demokratie- und Moralerziehung zu beteiligen. Schnurr fordert zusammenfassend eine rechtliche Verankerung von Partizipation für Nutzer_innen, welche unbedingt mit einer Veränderung hin zu partizipativen Organisationskultur einhergehen soll (vgl. Schnurr 2005, S. 1338–1343). Für eine Idee Kritischer Professionalisierung Sozialer Arbeit (vgl. Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2016) liegt eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Partizipation daher nah. Die in der Sozialpsychiatrie nicht erst mit der UN-BRK diskutierten Konzepte von Teilnahme und Teilhabe als zwei unterschiedliche Formen von Partizipation als Handlungs- und Organisationsprinzip definiert Albert Lenz wie folgt: „Die Teilnahme-Strategien beruhen in ihrem Kern auf dem ‚Top-down‘-Modell. Das heißt, die Probleme und Ziele werden nicht von den Betroffenen, sondern im Wesentlichen von ExpertInnen identifiziert und definiert." (Lenz 2006, S. 13) Teilhabe geht darüber hinaus, denn: „Die Teilhabe beruht dagegen Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 274 auf sogenannte ‚Bottom-up‘-Strategien. Ausgehend von ihren individuellen Bedürfnissen, Problemen und spezifischen Ressourcen übernehmen in diesem Ansatz die Betroffenen, entsprechend ihrer Fertigkeiten und Kompetenzen, von Anfang an Verantwortung für das weitere Vorgehen." (ebd., S. 13) Da Lenz feststellt, dass die Diskussion um Partizipation vor allem auf einer Handlungsebene stattfindet, plädiert er für eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Prinzip und diskutiert die psychologische Bedeutung von Partizipationserfahrungen auf Bewältigungsverhalten von Personen (vgl. Lenz 200, S. 14). Er betrachtet Partizipation also aus der Ressourcenperspektive: „So gibt es deutliche Hinweise, dass Partizipation im Sinne von Teilhabe und Teilnahme an Entscheidungsprozessen, Möglichkeiten des aktiven Gestaltens und der aktiven Einflussmaßnahme eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung bzw. Stärkung und Aktivierung personaler Ressourcen wie Kontrollüberzeugung, Selbstwirksamkeitserwartung, Widerstandsfähigkeit und Kohärenzgefühl schafft." (Lenz 2006, S. 30) Besonders hebt er den Zusammenhang zwischen Partizipationserfahrungen und dem Kohärenzgefühl hervor, welches nach dem salutogenetischen Modell von Antonovsky einen Einfluss auf die psychische Gesundheit, die Stresswahrnehmung und die Krankheitsverarbeitung hat. Übertragen auf die Handlungsebene psychosozialer Arbeit empfiehlt Lenz daher die Arbeitsweisen der Gemeindepsychologie, wie beispielsweise das Empowerment-Konzept. (Vgl. Lenz 2006, S. 30–32) Diese Sinnzuschreibung bietet sich also besonders für sozialpsychiatrische Handlungsfelder an und verweist auf die Notwendigkeit einer theoretischen Auseinandersetzung mit Partizipation, wie sie hier im Text erfolgt. Zusammenfassend zeigt die vorangegangene Skizzierung exemplarischer Partizipationsverständnisse, wie Partizipation in unterschiedlicher Weise von einer bloßen Beteiligung abgegrenzt wird und weitere Aspekte wie Entscheidungsmacht, Bedürfnisorientierung und Selbstwirksamkeitserfahrungen hinzu gedacht werden. Ebenso scheint Partizipation auf verschiedenen Ebenen gedacht zu werden, als konkrete Handlungsidee, politische Kategorie oder theoretische Dimension im Prozess der Professionalisierung. Bevor der Zusammenhang von Kritischer Professionalisierung und Partizipation anhand der Forschungsergebnisse dargestellt wird, drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, wie die Umsetzung von Partizipation aus der Perspektive der Menschen mit Psychiatrieerfahrung und weiterer Akteur_innen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern bisher eingeschätzt wird. Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 275 2.2. Zur aktuellen ‚Lage der Partizipation‘ Die Einschätzung folgt von Andreas Heinz zunächst sehr eindeutig und umfassend: „Menschen mit psychischen Erkrankungen sind zu wenig beteiligt an der Leistungsgestaltung, Leistungsbewilligung, Leistungsdurchführung, der Gestaltung des Sozialraumes und der Gesetzgebung." (Heinz 2013, S. 42) Tatjana Reichhart, Werner Kissling, Elfriede Scheuring und Johannes Harmann (2008) analysierten mehrere Studien- und Forschungsergebnisse zum Thema Partizipation PsychiatrieErfahrener und belegen in ihrer Literaturrecherche für die psychiatrische Behandlung, dass eine gelungene Einbeziehung von Patient_innen in Entscheidungen zu einem besseren Behandlungsergebnis in der Psychiatrie führen. Nach Aussage der Autor_innen haben psychiatrische Patient_innen ebenso wie somatische Patient_innen den Wunsch nach Mitbestimmung bzw. nach Information, Aufklärung und Beteiligung an wichtigen Entscheidungen, vor allem bezüglich der Medikamentenauswahl. Andererseits, so die Rechercheergebnisse der Forscher, gibt es auch Patient_innen, die nicht beteiligt werden wollen, weshalb grundsätzlich der Wille der Einzelnen zu berücksichtigen ist. Über die Aussagen einzelner befragter Patient_innen hinaus zeigtt ihre Studie, dass vor allem Betroffenenverbände, wie zum Beispiel Aktion psychisch Kranke e.V. (APK) und der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE) Beteiligung auf politischer und institutioneller Ebene fordern. (Vgl. Reichhart et al. 2008, S. 112– 113) Dass Partizipationsansätze bisher von Adressat_innen als sehr wenig umgesetzt erlebt werden, wird in der quantitativen Studie zum Konzept des „Responsiveness“ 3 in ambulanten und stationären Betreuungssettings der Psychiatrie von Anke Bramesfeld, Susanne Bisson, Felix Wedegärtner, Stefan Bartusch und Jan Blanchard (2010) deutlich. Die Forscher_innen fanden heraus, dass die befragten Adressat_innen die Aspekte „Wahlmöglichkeit" und „Partizipation" als am schlechtesten umgesetzt bewerten. Dabei ist interessant, dass die Befragten aus dem ambulanten Setting Partizipation sehr hoch gewichten, während im stationären Bereich das Thema als nicht sehr wichtig bewertet wird (vgl. Bramesfeld et al. 2010, S. 776–777). 3 Konzept der WHO zur Überprüfung der Erfüllung der Aspekte „Patientenorientierung" und „Respekt vor der Person" im Gesundheitswesen. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis Ein großes Forschungsprojekt Eingliederungshilfemaßnahmen ist 276 zur das Teilhabe Projekt Psychiatrie-Erfahrener BAESCAP (Bewertung in aktueller Entwicklungen der sozialpsychiatrischen Versorgung auf Basis des Capabilities-Approaches und der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen) eines Forschungsverbandes in Hamburg. Hier wurden Teilhaberisiken und -chancen bei Menschen mit chronisch psychischen Erkrankungen in der Eingliederungshilfe erforscht (vgl. Daum, Höptner, Speck, Steinhart 2017, S. 108). Teilhabe wird im Projekt als Befähigung verstanden und mit dem Capability-Approach theoretisch gerahmt (vgl. Baumgardt, Daum, von dem Knesebeck, Speck, Röh 2017, S. 2). Die Forschungsfrage, wie Klient_innen der Eingliederungshilfe ihre individuellen Teilhabechancen bewerten, beantwortet das Forschungsteam wie folgt (vgl. Speck 2017, S. 35): • Zum Thema Teilhabe ist mit den Menschen selbst zu sprechen, um qualifiziert und differenziert über Teilhabe berichten zu können • Selbstbestimmung und Peer-Arbeit sind weiterhin „offene Baustellen“ (ebd., S. 35) • Menschen mit Eingliederungshilfebezug haben vielfältige Teilhabeeinschränkungen in den Bereichen: „soziale Kontakte, Gesundheit, Zugang zu Bildung und Arbeit, Digitale Teilhabe“ (ebd., S. 35) • Die Biografien wesentlich seelisch behinderter Menschen sollten deutlicher in den Vordergrund gestellt werden, um frühe Erkrankungen und die Folgen in den Blick zu bekommen • Teilhabechancen in Heimen werden subjektiv hoch bewertetet, daraus folgern sie, dass Unterstützungssicherheit in der eigenen Wohnung verbessert werden müsste • Insgesamt wird festgestellt, dass ambulante Unterstützungssysteme neu gedacht werden müssten Auf eine stets andauernde paternalistische Haltung der Sozialpsychiatrie als Grund für eine mangelhafte Orientierung am Prinzip Partizipation weist Asmus Finzen (2011) hin. Er diagnostiziert, dass die gewalttätigen und unterdrückenden Zeiten der Psychiatrie heute zwar vorbei sind, es aber trotzdem weiterhin überzeugte Haltungen unter Professionist_innen gibt, Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 277 welche eine Selbstbestimmung Psychiatrie-Erfahrener aufgrund ihrer Erkrankung für unmöglich erachten: „Geblieben aber sind Haltungen und Vorstellungen, die darauf hinauslaufen, dass hospitalisierte psychisch Kranke ihr Schicksal angeblich nicht selbst bestimmen könnten. Dass sie nicht zu selbstständigen Entscheidungen fähig seien, da sie keine Einsicht in ihre Krankheit haben und dass man deshalb für sie handeln müsse." (Finzen 2011, S. 11) Vor allem dann, wenn es um Selbst- und Fremdgefährdung geht, sind die Grenzen der Partizipation schnell erreicht – so das Argument vieler. Damit wäre Partizipation also keine grundsätzliche Dimension sozialarbeiterischen Handelns, sondern eine zusätzliche Möglichkeit, wenn keine Gefährdung vorliegt. Michael Wunder (2013) beschreibt dazu das Dilemma von Selbstbestimmung bzw. Teilhabe Psychiatrie-Erfahrener am Beispiel von Zwangsbehandlungen. Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention „Gleiche Anerkennung vor dem Recht" 4 ist nach Wunder so auszulegen, dass Menschen auch in akuten psychotischen Krisen rechtsund handlungsfähige Personen sind und auch bei Geschäftsunfähigkeit einen „rechtsbeachtlichen, natürlichen Willen" (Wunder 2013, S. 33) haben. Dieser darf nach genannter Konvention nur dann mit Zwang gebrochen werden, wenn Grundrechte dieser oder anderer Personen bedroht sind und dies nicht mit anderen Mitteln abgewendet werden kann. Die bundesdeutsche Rechtslage, so Wunder, argumentiert hingegen, dass der Wille durch die Erkrankung so verändert sein kann, dass der Wille „unfrei und unbeachtlich" (ebd., S. 33) ist und durch die Zwangsmaßnahme erst wieder ermöglicht werden soll. Wunder weist darauf hin, dass bei Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie eine Trennung zwischen Repression- und Schutzhandeln nicht klar möglich ist (vgl. Wunder 2013, S. 24–35). Psychiatrie-Erfahrene selbst weisen ebenfalls darauf hin, dass ihnen durch Professionist_innen die „grundsätzliche Befähigung zur Mitwirkung" (Prins 2005, S. 9) abgesprochen wird. Sibylle Prins sieht darüber hinaus die Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Partizipation dadurch begründet, dass ein Abhängigkeitsverhältnis von Adressat_innen in einer Einrichtung zu sozial erwünschtem Verhalten führt und ein höherer Aufwand und mehr Reibungspunkte durch die Einforderung von Teilnahme und Teilhabe vermieden würden. Partizipation setzt laut Prins außerdem voraus, dass 4 Zum Nachlesen: Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen 2009 a: Alle inklusive! Die neue UN-Konvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmte Übersetzung. Berlin., S. 16. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 278 die Inhalte, Sprache und Arbeitsformen in Gremien angepasst , der finanzielle Mehraufwand für Zeit- und Reisekosten geklärt und die Beteiligung Psychiatrie-Erfahrener nicht nur ehrenamtlich organisiert, sondern auch Finanzierungsmodelle entwickelt werden müssten. Oftmals, so Prins, handelt es sich nur um eine „Pseudo-Beteiligung", was auch daran liegt, dass Partizipation bisher wenig rechtlich festgeschrieben ist. (Vgl. Prins 2005, S. 9–10). Vor diesem Hintergrund muss die konkrete partizipatorische Praxis auf der Grundlage der ausformulierten Menschenrechte in der UN BRK weiterhin stets ausgehandelt und vor allem in Spannungsfeldern gedacht werden – wie im hier vorliegenden Text. Nach einer zusammenfassend bisher wenig grundsätzlich entwickelten Praxis und Haltung zu Partizipation werden nun ein paar Beispiele zusammengefasst, welche Ideen es für Partizipationskonzepte in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern geben kann. 2.3. Beispiele praxisbezogener Partizipationskonzepte Aus der Betroffenenperspektive heraus betrachtet fertigte Sibylle Prins (2005, S. 8-9) eine ausführliche Liste möglicher und nötiger Betroffenenbeteiligung auf unterschiedlichen Ebenen an: 1. Individuelle Behandlungs- und Betreuungsebene • Rückmeldungen einholen und ernst Beschwerdekästen/ Fragebögen), • Behandlungsvereinbarungen abschließen, • selbstbestimmte Arzt- und Klinikwahl, • Beschwerdestelle, • Rechtsweg nehmen (informell/formell; Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 279 2. Institutionelle Ebene • Versammlungen • Heimbeirat/Werkstattrat • Klientensprecherrat • Beirat in anderen Institutionen z.B. Klinik, Krisendienst • Teilnahme an einrichtungsinternen Gremien • Einstellung Psychiatrie-Erfahrener zur Beratung Betroffener 3. Nicht einrichtungsgebundene Gremien/Ebene • Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften • Hilfeplankonferenzen • regionale Beiräte, • gemeindepsychiatrische Verbünde, • überregionale Verbände, • Besuchskommissionen • Psychiatrie-Erfahrene als Lehrende in der Ausbildung • Beteiligung Psychiatrie-Erfahrener an Forschung Jörg Utschakowski (2013) beschreibt ergänzend das Konzept „EX-In“ (Experience Involvement) als ein aktuelles Beispiel für praktizierte Partizipation Psychiatrie-Erfahrener. In einer EX-In-Ausbildung können seit 2005 Psychiatrie-Erfahrene als Genesungsbegleiter_innen oder Dozent_innen ausgebildet werden, um anschließend in verschiedenen sozialpsychiatrischen Bereichen wie zum Beispiel Tageskliniken, Krisenhäuser, Hometreatment, ambulante psychiatrische Pflege, Wohnheime, betreutes Wohnen, Tagesstätten arbeiten zu können. Dies berührt laut Utschakowski zwei Ebenen von Partizipation: Einerseits wirde die Partizipation von Adressat_innen der jeweiligen Hilfen gestärkt, weil sie sich durch gelingendere Kommunikation sowie besseren Vertrauensaufbau stärker in den Behandlungsablauf einbringen können und somit angemessenere Unterstützung bekommen – außerdem steigt die Qualität der Angebote. Andererseits ermöglicht die Arbeit als Genesungsbegleiter_in auch eigene Partizipationserfahrungen, wenn die als Ex-Inler Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis arbeitenden Menschen sich als kompetent 280 erleben, als Expert_innen mit dem Erfahrungswissen in der Organisation integriert und respektiert werden und mit einer Berufstätigkeit am Arbeitsleben teilhaben. (Vgl. Utschakowski 2013, S. 226–231) Die Forschungsarbeit Andrea Dischlers (2010) beschäftigt sich mit der Frage, ob „sich durch Freiwilligenarbeit die gesellschaftliche Integration und Teilhabe von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung“ (Dischler 2010, S. 96) verbessert. Mit einem rekonstruktiven Forschungsdesign ermittelt Dischler die subjektbezogene Sinnhaftigkeit und Angemessenheit von Freiwilligenarbeit für Psychiatrie-Erfahrene. Eingebettet in eine historische Rückschau der Funktionalisierung von Arbeit in der Psychiatrie für unterschiedliche Zwecke (Strafe, Unterdrückung, Zeitvertreib, Ablenkung vom Leid und systemisch-therapeutischer Zweck) arbeitet sie heraus, dass Freiwilligenarbeit für Psychiatrie-Erfahrene eine Möglichkeit ist, ihrem Wunsch nach Tätigsein nachzukommen. Dies liegt nach Dischler vor allem daran, dass die zeitliche und inhaltliche Ausrichtung sehr flexibel ist und daher gut an die Person der/des Freiwilligen angepasst werden kann. Entgegen der bundesweit ermittelten großen Engagementbereiche von Freiwilligen (Sport/Bewegung, Schule/Kindergarten, Kirche/Religion) engagieren sich laut Dischler Psychiatrie-Erfahrene-Freiwillige eher in sozialen, kulturellen oder politischen Bereichen. Dabei sind weniger Vereine oder Kirchen für sie interessant, sondern vielmehr Selbsthilfegruppen, Initiativen, Projekte oder selbst organisierten Gruppen. Motive für das freiwillige Engagement Psychiatrie-Erfahrener sind, so Dischler, der Wunsch nach Kontakt mit Menschen, die Nähe zur Erwerbstätigkeit und Sinnhaftigkeit des Tätigseins. Dischler rahmt diese Motivationen eindrücklich mit den Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen Psychiatrie-Erfahrener und ihrem erlebten Bruch einer Erwerbsarbeits-Biografie, die häufig mit der Psychiatrie-Erfahrung in Verbindung steht. (Vgl. Dischler 2010, S. 45–241) Inwiefern Partizipation als Kritikfolie für die Bedeutungszuschreibung von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit sowie Tätigsein in der Psychiatrie genutzt werden kann, gilt es vor diesem Hintergrund genauer herauszuarbeiten. Das Konzept des Trialogs meint die gleichberechtigte Teilnahme am Diskurs zu psychischen Erkrankungen von Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Professionist_innen und kann somit als das am längsten mit der Sozialpsychiatrie verbundene Partizipationskonzept gesehen werden. Mit den Hamburger Psychose-Seminaren ab 1989 begann der Versuch eines „ansatzweise herrschaftsfreien Diskurs[es]" (Bock 2012, S. 368) zwischen Erfahrenen, Angehörigen und Professionist_innen mit dem „Bemühen um eine gemeinsame Sprache und einen Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 281 Versuch wechselseitige Vorurteile zu überwinden" (ebd., S. 368). Gemeinsam sollte das Ziel verfolgt werden „Psychosen wieder in ihrer individuellen Vielfalt und subjektiven Bedeutung sowie im sozialen/familiären Zusammenhang wahrzunehmen und entsprechend den Blick auf höchst verschiedene Hilfebedarfe zu öffnen." (ebd., S. 368) Dies kann als außerinstitutionelle, subjektorientierte Antwort auf die beschriebenen verdinglichten Umstände in unterdrückenden Institutionen der Psychiatrie verstanden werden. Das Miteinander-Sprechen erlangt vor dem Hintergrund der „sprachlosen Psychiatrie" (ebd., S. 369) im Nationalsozialismus seine besondere historische Bedeutung. Der verbandliche Trialog war ab 1992 möglich; zu diesem Zeitpunkt gründete sich der Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen. Interessanterweise hat sich der Bundesverband der Angehörigen schon zehn Jahre zuvor konstituiert, die Professionist_innen fanden sich aus der 1968er-Bewegung heraus in der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie zusammen. Bock differenziert zusammenfassend drei Gründe, auf Basis derer er einen Einbezug von Angehörigen für eine partizipatorische Sozialpsychiatrie in Form des Trialogs befürwortet (vgl. ebd., S. 376): 1. Angehörige sind von psychischer Erkrankung mitbetroffen 2. Angehörige sind wichtig für Integration und nachhaltige Genesung 3. Psychiatriepolitische Reformen haben größere Chancen, wenn sie von Angehörigen und Psychiatrie-Erfahrenen gemeinsam vorwärts gebracht werden. Bock weist jedoch darauf hin, dass eine aktive Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen an ihrer Behandlung nicht zu jedem Zeitpunkt angemessen sein muss, sondern in bestimmten Situationen eben auch eine „haltende[] Geborgenheit" (ebd., S. 367) von Nöten sein kann. Dass die medizinische Unterwerfung einer einseitigen Compliance von PsychiatrieErfahrenen als Gegenteil von Partizipation verstanden werden kann, führt Bock eindrücklich aus: Die in der »Psychoedukation« immer noch übliche Dominanz medizinischer Sprache sei lediglich darauf ausgerichtet, dass Psychiatrie-Erfahrene Einsicht in ihre Erkrankung erhalten, um anschließend mit der Behandlung beginnen zu können. Dies bedeutet eine Stützung der Asymmetrie zwischen herrschenden Professionist_innen und Information empfangenden Psychiatrie-Erfahrenen. (Vgl. Bock 2012, S. 367). Schließlich unterscheidet Bock zwischen innerer und äußerer Partizipation. Mit innerer Partizipation meint er die „Wiederaneignung des krankhaft Erlebten" (ebd., S. 370) eines Menschen in sich selbst. Äußere Partizipation ist Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 282 dann die gelebte Beteiligung und Selbstbestimmung in Bezug auf die »Behandlung« der Erkrankung. Die Rekonstruktion des »subjektiven Sinns« von Psychosen, die im Hamburger Projekt „SuSi“ von Thomas Bock, Kristin Klapheck und Friederike Ruppelt beforscht wurde, macht die Relevanz der subjektiven Erzählung der psychischen Befindlichkeit und den dadurch möglichen Bildungsprozessen deutlich (vgl. Bock, Klapheck &Ruppelt 2014). Aus dem klinischen Handlungsfeld heraus nennen Reichhart et al für die psychiatrische Behandlung von Patient_innen in ihrer Metastudie folgende Praxisbeispiele für Partizipation (vgl. Reichhart et al. 2008, S. 113–116): • qualitative, verständliche und evidenzbasierte (mit Forschungsgrundlage) Informationen über psychische Störungen zur Verfügung stellen, z.B. im Internet, • „shared-decision-making“ (Geteiltes-Entscheidungen-Finden): führt nach Studien bei psychiatrischen Patient_innen zu einer reduzierten Rehospitalisierungsrate, einem besseren Wissen über die Erkrankung, bessere Zufriedenheit und Therapietreue, ist allerdings noch nicht weit in der Praxis verbreitet. • Patientenfürsprecher_innen und Beschwerdestellen • „Peer-Counseling“: Patientensprechstunde; von zeigt ausgebildeten bei Psychiatrie-Erfahrenen schizophren Erkrankten eine geleitete „signifikante Veränderung des Krankheitskonzepts in Richtung bessere Compliance" (Reichhart et al. 2008, S. 116). • Nutzer_innenbeteiligung in der Forschung: wird vor allem in Großbritannien positiv erlebt und auch in der Bundesrepublik Deutschland wird Patientenbeteiligung bei der Entscheidung für die Vergabe von Forschungsmitteln mit einbezogen • Persönliches Budget Ebenfalls im klinischen Kontext können Behandlungsvereinbarungen oder Patient_innenTestamente Hilfen bei der Achtung des Willens der Adressat_innen sein, so Wunder (2013, S. 34-35). Er weist jedoch darauf hin, dass sie nicht grundsätzlich aus dem Entscheidungsdilemma herausführen, da auch in diesen Vereinbarungen/Verträgen nicht Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 283 genau der eingetroffene Sachverhalt beschrieben sein kann, denn: Situationen können nicht exakt vorgeplant werden. Daher kann immer zur Debatte stehen, in welcher Verfassung die Person bei der Verschriftlichung war und dass diese Konzepte bei Ersterkrankten selten zum Einsatz kommen können. In Bezug darauf analysierten Juliane Grätz und Peter Brieger zwischen 2005 und 2007 die Implementierung von Behandlungsvereinbarungen in einer psychiatrischen Klinik sowohl quantitativ als auch qualitativ und befragten entsprechend des dialogischen Konstrukts der Behandlungsvereinbarung alle Beteiligten (Patient_innen, Ärzt_innen und Sozialarbeiter_innen). Ihre Studie ergab, dass die Behandlungsvereinbarungen grundsätzlich einen positiven Effekt auf die Beziehung zwischen den Beteiligten haben und damit die Partizipation an den Behandlungsprozessen gefördert wurde. Konkrete Effekte auf Zwangsmaßnahmen konnten allerdings nicht nachgewiesen werde, wobei dies und die Nebenwirkungen von Medikamenten der häufigste Grund für die Betroffenen war, eine Behandlungsvereinbarung abzuschließen. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass nur sehr wenige Psychiatrie-Erfahrene eine Behandlungsvereinbarung abschließen und es in dieser Studie vor allem gut im Versorgungssystem vernetzte und emanzipierte Personen waren. Daher sehen Grätz und Brieger einen Aufklärungsauftrag bei Selbsthilfe- und Begegnungsstätten sowie anderen psychosozialer Einrichtungen. (Vgl. Grätz und Brieger 2012, S. 388–393) Aus der Klinik heraus, auf die sozialpsychiatrische Arbeit in Einrichtungen von Wohlfahrtsverbänden blickend, können die Ideen von Christel Achberger (2006) herangezogen werden, die aus einem langjährigen Projekt des PARITÄTISCHEN Wohlfahrtsverbands entwickelt wurden, welches gemäß dem strategischen Ziel des Verbands die Stärkung von Nutzer_innen forcieren wollte. Zusammenfassend stellt Achberger fest, dass bei der Umsetzung von Partizipation auf Verbandsebene verschiedene Zielgruppen berücksichtigt und miteinander vernetzt sein müssen: Dazu zählen das Management der Verbände, Mitarbeiter_innen, Wohlfahrtspflege und Nutzer_innen, Sozialpolitiker_innen. Vertreter_innen Zwischen diesen der öffentlichen Akteur_innen sind verschiedene organisationale Prozesse auszuhandeln, wie beispielsweise Leitbildprozesse, Organisationsentwicklung, Konzeptentwicklung, Qualitätsmanagement, interne und externe Beschwerdeverfahren, Fortbildung, Personalentwicklung und Bürger_innenbeteiligung. Beteiligungsverfahren sind in der Definition von Art und Weise der Beteiligung (Information, Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 284 Anhörung, Mitsprache, Mitbestimmung) für einzelne Einrichtungen zu vereinbaren 5. (Vgl. Achberger 2006, S. 55ff.) Daran knüpft die Evaluation der Einführung von „Mindeststandards zur KlientInnenbeteilgung" von Cornelia Frieß und Marcus Hußmann (2005) an, die in ambulanten und stationären Einrichtungen einer sozialpsychiatrischen Organisation durchgeführt wurde. Auch bei den Mindeststandards dieser Einrichtungen ist Partizipation in drei Stufen aufgeteilt worden, welche für unterschiedliche Prozesse im Alltag gemeinsam festgelegt wurden: Information, Mitberatung und Mitbestimmung. Zu diesen Mindeststandards halten Frieß und Hußmann vier zentrale Ergebnisse fest: 1. Beteiligung ist ein vorsichtiger (Wieder-)Aneignungsprozess, welcher einer subjektorientierten Anwendung bedarf, da Nutzer_innen und Professionist_innen unterschiedliche soziale Realitäten und Erfahrungen diesbezüglich haben. 2. Professionist_innen fühlen sich in ihrer Professionalität herausgefordert und befürchten Machtverluste dahingehend, dass sie zu ausschließlichen Dienstleister_innen werden und ihre Fachlichkeit nicht mehr einbringen können. Die befragten Nutzer_innen beschreiben, dementsprechend letztlich doch nicht selbst Entscheidungen treffen zu können, sondern die Mitarbeiter_innen weiterhin die letzten Entscheidungen träfen. 3. Konkrete positive Erfahrungen mit den Mindeststandards sind Situationen, in welchen es gelungene Auseinandersetzungen gegeben habe, mit „dem Austausch von Argumenten, der gegenseitigen Verständigung über unterschiedliche Sichtweisen, dem Aushandeln von Handlungsalternativen und einem offenen Ohr für Beschwerden oder Anregungen" (Frieß und Hußmann 2005, S. 35) 4. Die Mindeststandards bringen ebenfalls Veränderungen auf struktureller Ebene der Organisation, da Nutzer_innen sich in Organisationsstrukturen einmischen konnten, gleichzeitig jedoch ebenfalls an „unüberwindliche(.) institutionelle(.) Grenzen" (ebd., S. 35) stießen. Auf dieser Ebene ist insbesondere der eingerichtete Klient_innenrat hilfreich, welcher als Ombudsstelle fungiert und vermittelnd oder stellvertretend mit den Professionist_innen kommuniziert. 5 Das Beispiel einer konkreten Einrichtung führt Achberger in ihrem Text weiter aus und kann dort nachgelesen werden. 285 Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit Insgesamt hat die Einführung der Mindeststandards das Maß an Partizipation gesteigert, sodass die Autor_innen folgern, dass für die Stärkung der Nutzer_innenbeteiligung die gemeinsame Entwicklung und Einführung von Mindeststandards und deren die Umsetzung in der alltäglichen Kommunikation zwischen Professionist_innen und Nutzer_innen zu empfehlen ist. Für die Nutzer_innen ist dabei der menschliche Aspekt des respektvollen und konstruktiven Umgangs mit Konflikten am wichtigsten. (Vgl. Frieß und Hußmann 2005, S. 34–35) Welche professionstheoretischen und normativen Bezüge für eine Aushandlung dieser Beteiligungsprozesse für professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit in konkreten Einzelfällen herangezogen werden könnten, wird jedoch nicht ausgeführt. Christina Tappe (2015) argumentiert in ihrem Text aus der Perspektive eines Verständnisses Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession heraus, dass Teilhabe ein Menschenrecht und daher zweifelsfrei Aufgabe der Sozialen Arbeit ist (Tappe 2015, S. 91). Dabei argumentiert sie, dass Partizipation in den Qualitätsdiskurs Sozialer Arbeit eingebracht werden muss, um den „Erfolg“ Sozialer Arbeit zu erhöhen: „Insofern wird der Erfolg der Sozialen Arbeit an den gebotenen Möglichkeiten von Partizipation gemessen.“ (Tappe 2015, S. 99) Diese gebotenen Möglichkeiten in der Sozialpsychiatrie bedeuten für Tappe, psychosoziale Interventionen (Empowerment-Modell, Recovery-Konzept, Weddinger Modell) durchzuführen, welche Psychiatrie-Erfahrene zur Partizipation befähigen. Mit einem wichtigen Hinweis der stärkeren Diskussion von Partizipationsmöglichkeiten bleibt Tappe jedoch in einem funktionalistischen Diskurs verhaftet, der Partizipation als Weg zu einem zu definierenden Ziel versteht. Immanent kritisiert bleibt Tappe damit hinter ihrem Anspruch zurück, Partizipation von „Psychisch Erkrankten" in Wechselwirkung zwischen Subjekt und Gesellschaft zu verstehen, da sie mit ihrer Lösung von Interventionsmöglichkeiten auf der Ebene der Adressat_innen Sozialer Arbeit sieht und den Diskurs um Partizipationsfähigkeit führt, der letztlich individualisiert. Mit Blick auf die Strukturen des sozialpsychiatrischen Versorgungssystems beschreibt Manfred Lucha (2013) am Beispiel eines Gemeindepsychiatrischen Verbunds, wie unter der Beteiligung von Politik, Professionist_innen und Betroffenen die Psychiatrielandschaft gemeinsam gestaltet werden kann. Zu den Erfolgen zählt er beispielsweise die Verwendung des mit Betroffenen entwickelten Instruments IBRP (Integrierter Behandlungs- und Rehabilitationsplan), die hohe Anwesenheit Betroffener in den Hilfeplankonferenzen (15%), die Einrichtung von Beschwerdestellen, die Förderung der EX-In-Ausbildung und die Aufnahme kritischer Berichte zu den Entwicklungen von Betroffenen. (Vgl. Lucha 2013, S. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 286 121–125) Da diese Strukturen, z.B. IBB-Stellen, im PsychKHG Baden-Württemberg festgeschrieben wurden, sind hier nach dem Beispiel einiger Regionen flächendeckend partizipative Strukturen möglich. Dass Partizipation nicht eine konkrete Handlung sein kann, sondern vielmehr eine grundsätzliche Haltung in einem partizipativen Milieu, wird von Luc Ciompi (2011), dem Gründer der Soteria Bern, vertreten. Die Soteria, eine 1984 gegründete offene therapeutische Wohngemeinschaft von Menschen, die an einer schizophrenen Psychose leiden, rückt eine angemessene Milieugestaltung in den Mittelpunkt. Aus den Erfahrungen und Untersuchungen der Soteria, so Ciompi, ist bekannt, dass die Fähigkeit zur Selbstbestimmung steigt und die Notwendigkeit von Bevormundung und Zwang sinkt, wenn das Milieu adäquat, klein, möglichst »normal«, entspannt und reizgeschützt ist. Weiterhin werden diese positiven Auswirkungen durch respektvollen und einfühlsamen Umgang mit den Menschen unterstützt. (Vgl. Ciompi 2011, S. 19–21) Dass das Konzept der Partizipation stets auf seinen ideologischen Gehalt und die Funktionalisierung hin zu kritisieren ist, macht Michael Opielka (2005) noch einmal deutlich, indem er die sozialpsychiatrischen Prinzipien der Partizipation und der Personenzentrierung auf den Prüfstand der Funktionalisierung für sozialpolitische Interessen stellt. Er bezieht sich dabei auf die Soltauer Impulse (2004), welche eine Personenzentrierung aus Gründen der Ökonomisierung für widersprüchlich halten: Instrumente wie der Integrierte Teilhabe- und Rehabilitationsplan (ITP oder IBRP), Persönliches Budget (SGB XII) oder die Hilfeplankonferenz sind Ausdruck einer zunehmenden Marktorientierung und im Kontext des New Public Managements kommunaler Sozialstrukturen zu verstehen. An dieser Sichtweise der Personenzentrierung scheiden sich nach Opielka die Geister. Zusammenfassend stellt er als Spannungsfeld von Partizipation fest, dass „eine feine Linie zu ziehen [ist] zwischen zu offen formulierten Kontrakten einerseits, in denen Profitmotive einfließen und durch Qualitätsminderung Kostenersparnisse erzwungen werden können, und den zu restriktiv formulierten Kontrakten andererseits, durch die eine Kommodifizierung sozialer Hilfe entsteht, welche die Rolle professioneller Praxis schwächt und die Qualität sozialer Dienste mindert." (Gilbert 2000, zit. nach Opielka 2005, S. 31) Im Zwangskontext wird häufig die Grenze für Dialog und Partizipation gesehen (vgl. Wunder 2013, S. 24–35; Seckinger 2006, S. 7–9). Zwangsmaßnahmen wie Freiheitsentzug und Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 287 Zwangsbehandlung sind für viele Psychiatrie-Erfahrene zur Realität in klinischen und außerklinischen Institutionen geworden, die Anzahl der Unterbringungen steigt sogar jährlich an. Darüber hinaus sind auch weitere Praktiken Sozialer Arbeit als Zwang gemeint und/oder werden als Zwang erlebt. Freiheit und Zwang sind Tatbestände sozialen und kulturellen Lebens, welche durch moderne Gegenwartsgesellschaften dergestalt verändert werden, dass „die sie lange auszeichnenden Strukturen eines manifesten, in den Biografien sich wiedergebenden Zwang" (Winkler 2012, S. 146) aufgelöst und die weiterhin vorhandenen Zwangselemente subtiler werden. In diesem entobjektivierten Alltag finden Individuen keine Aneignungsgegenstände mehr, welche Stabilität erzeugen könnten. Das heißt, die Freiheit ist nicht zu bewältigen und zu gestalten, weil es keinen Gegenstand mehr im Gegenüber gibt. Für professionelle Soziale Arbeit in der Psychiatrie ist es daher notwendig darauf hinzuarbeiten „dass Subjekte aus Freiheit und im Wissen um die Zwänge handeln, welchen sie ausgesetzt sind und die sie wiederum nutzen können, um ihre Freiheit zu wahren." (Winkler 2012, S. 159) Soziale Arbeit trifft in diesem Spannungsfeld autonomiefördernde oder integritätsverletzende Entscheidungen. Aus den vorgestellten Studien und theoretischen Überlegungen ergeben sich viele Anlässe, sich auf empirischer Grundlage intensiver mit „Partizipation in der Sozialpsychiatrie“ auseinanderzusetzen: • Aus der Geschichte einer unterdrückenden, vernichtenden und exkludierenden Psychiatrie heraus sind Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft als Gegenentwurf stark und stärker zu machen. • Psychiatrie-Erfahrene fordern Partizipation schon lange ein, wobei sie die Umsetzung bisher als unzureichend bewerten bzw. Partizipation als Schein wahrnehmen. • Partizipation wird vor allem von Psychiatrie-Erfahrenen auf der Einzelfallebene als relevant markiert und scheint gleichzeitig hier am wenigsten in der konkreten Fallarbeit berücksichtigt zu werden. • Partizipation wird häufig als Methode verstanden, ohne auszuweisen, welches Ziel oder welchen Inhalt Partizipation unterschiedlicher Perspektiven bedarf. haben könnte bzw., dass es dazu Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis • 288 Die Spannungsfelder, welche Partizipation ausmachen, werden bisher wenig berücksichtigt, da von einem eindimensional zu befürwortenden Projekt ausgegangen wird • Partizipation birgt die Gefahr im Kontext von Ökonomisierungs- und Verbetriebswirtschaftlichungsprozessen 6 zum Zweck des Kostensparens und der Individualisierung von Lebensverhältnissen funktionalisiert und verkürzt zu werden. Nach dieser zur Nachvollziehbarkeit ausführlichen, aber dennoch nur exemplarisch bleibenden Zusammenschau ist festzustellen, dass die bisher ausgearbeiteten Partizipationskonzepte hilfreiche Ideen für die Ausgestaltung einer professionellen Praxis darstellen. Jedoch bleibt Partizipation bisher in »positiven« Beispielen verhaftet, die es weiter auszubreiten gilt und wird weniger als Kritikfolie einer nicht standardisierbaren Praxis und einer grundsätzlich, sich selbst und der eigenen Praxis gegenüber, Kritischen Professionalisierung gedacht. Darüber hinaus fehlen für die Soziale Arbeit außerhalb der Klinik Forschungsergebnisse. An dieser Stelle setzt das hier zugrundeliegende Forschungsprojekt an. Es geht insbesondere darum, die Diskussion um Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern zu erweitern und in den Kontext einer Kritischen Professionalisierung Sozialer Arbeit einzuordnen. 3. Theoretische Vorüberlegungen zu Identität und Partizipation aus der Perspektive Kritischer Professionalisierung Wie im Text zur Forschungsmethodik in diesem Band ausführlicher beschrieben, sind wir in der Rekonstruktion des erhobenen Datenmaterials auf der Suche nach Hinweisen zur Entwicklung eines Partizipationsbegriffs auf induktive Kategorien gekommen, die wir in Verbindung mit den Identitätsdimensionen des Sozialpsychologen und Psychiatriereformers Heiner Keupp (2002) setzen. Keupps theoretischen Überlegungen zu Identitäten und Identitätsarbeit seien an dieser Stelle kurz vorgestellt. 6 Zur Auseinandersetzung mit dem umstrittenen Begriff der „Ökonomisierung“ siehe auch: Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2016. Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 289 3.1. Identität und Identitätsarbeit Heiner Keupp beschreibt die Arbeit an der eigenen Identität als lebenslange, bewusste und unbewusste Aushandlung verschiedener Erfahrungen bzw. Anforderungen und die Herstellung eines Passungsverhältnisses. Dafür stehen in spätmodernen Gesellschaften keine eindeutigen Schablonen mehr zu einer Übernahme bereit, sodass ein ständiger Anpassungsprozess notwendig geworden ist. Identität muss also von jedem Menschen ständig in einer „Nichtstillstellbarkeit der Bewährungsdynamik“ (Oevermann 2008, S. 62) konstruiert werden. Keupp hat damit eine in der Soziologie und Sozialpsychologie geteilte Annahme zur Identität mitgeprägt, nach der mit Identitätsarbeit der Prozess der Herstellung von Identität, vor allem durch körperlichen Ausdruck, gemeint ist; dieser verläuft zeitlich nicht kontinuierlich, sondern ist stets in Wandlung – eine Konstruktionsleistung, mit der Ein- und Ausschluss bestimmter Diskurse (bin ich das – bin ich das nicht…) gemeint sind und durch die sich kollektive und individuelle Identität aufteilen lässt. Keupp spricht außerdem von verschiedenen Identitäten, die konstruiert und miteinander in Passung gebracht werden müssen (z.B. in Familie/Partnerschaft, Arbeit, Freizeit...). Identitätsarbeit hat, so Keupp, zwei miteinander verbundene Ausrichtungen: einerseits eine retrospektive Selbstreflexion im Sinne einer narrativen Einordnung von Erfahrungen. Andererseits entwickeln Individuen Identitätsentwürfe (eher Utopien und Träume), die zu Identitätsprojekten (beschlossene Vorhaben) und dann in der alltäglichen Lebensführung umgesetzt (Praxis der Projekte) werden. Ein Identitätsentwurf wird durch die Reflexion der vorhandenen Ressourcen zu einem Identitätsprojekt (vgl. Keupp 2008, S. 193–194). Dabei hate die Arbeit an der Identität, die Herstellung eines Passungsprozesses zwischen inneren und äußeren Veränderungen und der Einordnung von Erfahrungen auf der zeitlichen, der lebensweltlichen und der differenzbezogenen Dimension, nicht zum Ziel, ein harmonisches, ganzes „Selbst“ zu entwickeln, sondern ist, gerade im Gegenteil, durch ein Zusammenhalten von Spannungen geprägt. Keupp stellt in diesem Sinne fest, „daß die Konstante des Selbst nicht in der Auflösung jeglicher Differenzen besteht, sondern darin, die daraus resultierenden Spannungen zu ertragen und immer wiederkehrende Krisen zu meistern“ (Keupp 2008, S 196). Das Gelingen des Identitätsprozesses, also der Übergang zwischen Identitätsentwürfen zu Identitätsprojekten und der praktischen Umsetzung, hängt von der Wahrnehmung und der Erschließung der Subjekte von verschiedenen Ressourcen ab. Die Idee der Ressourcen baut Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 290 Keupp hauptsächlich auf den Kapitalsorten von Pierre Bourdieu auf (materielles, kulturelles und soziales Kapital). Relevant für die Identitätsentwicklung ist jedoch nicht nur das bloße Vorhandensein der Ressourcen, sondern vielmehr inwiefern dieses Kapital für die Identitätsentwicklung transformiert wird, d.h., wie Menschen das vorhandene Kapital als Optionsraum (Wahrnehmung vorhandene Möglichkeiten zur Verwendung), subjektive Relevanzstruktur (Welche Möglichkeiten sind im eigenen Kontext passend/unpassend) und als Bewältigungsressource (wie können Ressourcen für fortlaufende Identitätskrisen genutzt werden) für ihre Identitätsentwicklung übersetzen (vgl. Keupp 2008, S. 198; 202-204). Keupp setzt sein Identitätskonzept, verstanden als eine individuell zu leistende Aufgabe, immer in Bezug zu sozialen, d.h. gesellschaftlichen Verhältnissen. Identitätsarbeit kann vor dem Hintergrund des Ressourcenverständnisses nur in der Auseinandersetzung mit diesen und somit mit anderen Menschen stattfinden und gleichzeitig kann die Anerkennung von Identitätskonstruktionen nur durch andere stattfinden. Dies fasst Keupp in diesem Zitat pointiert zusammen: „Obwohl Identität «in unserer Kultur monologisch gedeutet» (Keupp 1997b, S. 13) wird, entsteht sie stets in einem Prozeß dialogischer Anerkennung. Die Verwirklichung individueller personaler Identität, ihre Anerkennung und ihre Beglaubigung geschehen in sozialen Beziehungen, sowohl auf der Ich-Duwie auch auf kollektiver Ebene. Hier wird Identität wirklich im Sinne von real und im Sinne von wirkend. Quantität und Qualität sozialer Ressourcen sind besondere Herausforderungen und Stützen für Identitätsarbeit der Subjekte. Am alter ego, insbesondere den signifikanten Anderen, arbeite «ich» mich mit meiner Identitätsarbeit ab und finde zugleich nur dort die Bestätigung meiner Identitätskonstruktion.“ (Keupp 2008, S. 201) Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 291 Abbildung 1: Keupp 2008: 202. Für die Identitätsarbeit hat Keupp (2008) auf Basis einer Studie mit jungen Erwachsenenverschiedene Identitätskategorien entwickelt: • Identität und Erwerbsarbeit • Identität und Intimität • Identität und soziale Netzwerke • Kulturelle Identität Dabei sind die verschiedenen Identitätsbereiche ausschließlich zum Zweck der Analyse künstlich voneinander getrennt. Für die Menschen hängen alle Bereiche miteinander zusammen, sie bedingen sich gegenseitig, durchkreuzen und überlagern sich, ergeben eine paradoxe Einheit. Dieses Verständnis von Identitäten und Identitätsarbeit eignet sich besonders gut zur Analyse sozialpsychiatrischer Handlungsfelder. Wir gehen einerseits davon aus, dass es sich bei Identifikation und Identitätsarbeit um bewusste und unbewusste, lebenslange Prozesse handelt, die besonders in gesellschaftlichen Zeiten in den Mittelpunkt rücken, in denen keine klar umrissenen Schemata zur Übernahme vorhanden sind und es darum geht, stets ein Passungsverhältnis auszuhandeln. Das Selbstbild wird dementsprechend aus unterschiedlichen Lebenserfahrungen fragmentiert zusammengesetzt und ist widersprüchlich (vgl. Liebsch 2016, S. 141). Diese fragmentarische Zusammensetzung des Selbstbildes bzw. das Nicht-Gelingen einer Passung dieser widersprüchlichen Elemente kann mit Klaus Dörner als Definition psychischer Erkrankungen verstanden werden: Dörner verwendet den Begriff der „Störung“ für das, was medizinisch „psychische Erkrankung“ genannt wird vor dem Hintergrund, dass mit „Störung“ vor allem die Krisenzustände gemeint sind, in denen es um „Tumult, Kampf, Sturm“ (Dörner Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 292 2004, S. 18) geht. Identitätsarbeit besteht stets in diesem Kampf, dessen Auswirkungen auf Leid und Teilhabe vielleicht bei psychiatrieerfahrenen Menschen am deutlichsten sichtbar wird. Das Interesse dieses Textes ist jedoch nicht primär Identitäten Psychiatrie-Erfahrener zu beschreiben oder zu erklären, sondern vielmehr herauszuarbeiten, welche Potentiale für Partizipation mit dieser Identitäten-Brille erkannt werden können, wie sich dies für das Handlungsfeld gestaltet und welche Ideen Einrichtungen der Sozialpsychiatrie daraus entwickeln können. 3.2. Partizipation und Identitätsarbeit Es sei an dieser Stelle nochmals auf den Zusammenhang von Partizipation und Identitätsarbeit hingewiesen. Partizipation ist, wie bereits beschrieben, ein häufig verwendeter Begriff, der als grundsätzlich »gut« eingeschätzt wird und bei dem es hauptsächlich darum geht, den Grad an Partizipation zu messen. Keupp stellt darüber hinaus jedoch einen interessanten Zusammenhang zwischen Partizipation und Identitätsarbeit her, der bei der Entwicklung eines gesellschaftlichen, dialektischen Partizipationsbegriffs für sozialpsychiatrische Handlungsfelder als heuristische Folie dienen kann: „Partizipation ist eine zentrale Rahmenvoraussetzung für produktive Projekte der Identitätsarbeit in einer spätmodernen Gesellschaft. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass es keine dauerhaften und stabilen Bezugspunkte für die individuelle Lebensführung gibt. Identitätsarbeit kann heute nicht als Übernahme von traditionellen kulturellen Entwurfsschablonen gelingen, sondern erfordert einen aktiven Prozess identitärer Passungsarbeit. Daraus folgt erstens, dass Partizipation nicht nur als eine „Schönwetterkür" angesehen werden darf, sondern als eine „Verwirklichungschance" für gelingendes Leben gelten muss, und zweitens, dass die reale gesellschaftliche Ungleichverteilung dieser Ressource durch Empowermentstrategien zu verändern ist.“ (Keupp 2014 o.S.) Damit geht mit Keupp ein erweitertes Verständnis von Partizipation einher, das im Anschluss an Pierre Bourdieus Kapital-Theorie nicht nur eine bessere Ausstattung mit Ressourcen meint (als notwendige Voraussetzung für eine Übersetzung), sondern auch eine gelingende Nutzung dieser (Transformation) für die eigene Identitätsarbeit. Sein Partizipationsverständnis kann an dieser Stelle so zusammengefasst werden, dass sowohl die Teilhabe (Verfügbarkeit) als auch die Teilnahme (Übersetzung für das eigene Leben) an den auf den Kapitalien aufbauenden 293 Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit Ressourcen notwendig sind. Wollen wir also mit einem Konzept von Partizipation in der Sozialen Arbeit auf Keupps Feststellungen zur Identitätsentwicklung antworten, so geht es vor allem um die Erschließung und den Übersetzungsprozess vorhandener Kapitalien in identitätsrelevante Ressourcen zur Verwirklichung von Identitätsprojekten von Menschen mit Psychiatrieerfahrung. Mit der Idee einer Kritischen Professionalisierung Sozialer Arbeit, wie wir sie (2016) formuliert haben, kann die Partizipationsidee Keupps an verschiedenen Stellen angefragt werden. Wir Autor_innen stellten in diesem Zusammenhang fest, dass Soziale Arbeit dann notwendig wird, wenn Subjekte nicht genügend Ressourcen zur Vermittlung ihres Selbst mit der Gesellschaft haben (vgl. Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2016, S. 38-40). Soziale Arbeit hat somit einerseits die Aufgabe Menschen, die über wenig oder qualitativ schlechtere Kapitalien verfügen, Zugang zu diesen zu ermöglichen und sie, mit Keupp sprechend, für die jeweiligen Identitätsprozesse nutzbar zu machen. In diesem Fall ist Partizipation in dem Sinne zu verstehen, als dass hier einerseits stellvertretend Ressourcen vermittelt werden können oder andererseits die Menschen dazu befähigt werden, sich selbst Ressourcen zu erschließen. Allerdings greift dies vor dem Hintergrund einer Kritischen Professionalisierung zu kurz, denn dadurch werden nicht die Verhältnisse verändert, mit denen erst die ungleiche Verteilung von Kapitalien ermöglicht wird, sondern sie würden mit Hilfe Sozialer Arbeit aktualisiert. Im Sinne der Nutzer_innenorientierung muss hier also über Keupp hinaus reflektiert und gefragt werden, welche allgemeinen Bedingungen die Hilfebedürftigkeit überhaupt beeinflusst haben. Der zentrale Bezugspunkt Sozialer Arbeit ist damit das „Interesse an der Entfaltung und Steigerung der Handlungs- und Lebensmöglichkeiten des Nutzers [/der Nutzerin, Anm. d. Verf.] im Hinblick auf seinen Status als Bürger [/Bürgerin, Anm. d. Verf.] des Gemeinwesens und seiner Beteiligung am politischen Prozess“ (Schaarschuch 2006, S. 91). Denn so ist eine Beteiligung, auch an der Aushandlung über die Verteilung von Kapitalien bzw. Ressourcen und über die Relevanz- bzw. Wertzuschreibung bestimmter Identitätsprojekte, mitgedacht, in der die Nutzer_innen selbst zur Sprache kommen und ihre Bedürfnisse in ihrer Sprache (auch neu) definieren. Daraus ergibt sich für Soziale Arbeit eben auch der Auftrag die Kollektivierung der Adressat_innen nicht zu verhindern und im besten Fall dazu beizutragen, dass sie als relevante politische Akteur_innen an den öffentlich bzw. diskursiv hergestellten Verhältnissen gesellschaftlicher Gruppen wahrgenommen werden. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 294 4. Partizipation als Ressourcenarbeit auf verschiedenen Identitätsdimensionen Im Anschluss an die oben genannten Feststellungen zum Sinn von Identität und Partizipation, haben wir ein Partizipationsverständnisaus der Analyse verschiedener Kategorien entwickelt. Die einzelnen Kategorien und Folgerungen für das hier zugrundeliegende Erkenntnisinteresse werden im Folgenden zur Nachvollziehbarkeit erläutert. Die Kategorien ergaben sich aus der Rekonstruktion der Lebensbereiche, die von PsychiatrieErfahrenen im Forschungsprojekt als relevant markiert wurden, und der festgestellten Nähe zum Konzept der Identitätsarbeit von Keupp et al (siehe oben). Dieses Konzept haben wir stellenweise für die Sozialpsychiatrie handlungsfeldspezifisch umformuliert. Daraus ergeben sich die in Tabelle 1 dargestellte Kategorien für die Entwicklung eines Partizipationsbegriffs (rechte Spalte): Kategorien Heiner Keupp et al (vgl. Keupp et al 2008) Kategorien „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ Identität und Erwerbsarbeit Identitäten und Erwerbsarbeit Identität und Intimität Identitäten und Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein Identität und soziale Netzwerke Identitäten und soziale Netzwerke Kulturelle Identität Identitäten und Zugehörigkeiten, Zuschreibungen, Nicht-Zugehörigkeit, Politik, Widerstand Tabelle 1: Analysekategorien "Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern" Für die einzelnen Kategorien wird im Folgenden anhand der im Forschungsprojekt erhobenen Daten beschrieben, welche Lebensbereiche Psychiatrie-Erfahrener darunter zusammengefasst werden können, welche Identitätsentwürfe und Identitätsprojekte von den Adressat_innen formuliert werden, welche vorhandenen Ressourcen dafür thematisiert werden und welche Rolle (Ermöglichung/Verhinderung) Soziale Arbeit bei der Transformation der Kapitalien in identitätsrelevante Ressourcen spielt. Anhand dieser Ausführungen möchten wir herausarbeiten, wie die Identitätsarbeit zwischen Privatem und Politischem (Öffentlichen) und die gesell- Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 295 schaftliche Rahmung thematisiert wird. Zur Darstellung haben wir uns für die Beschreibung einzelner deutlicher Fallbeispiele 7 zu den jeweiligen Kategorien entschieden, die exemplarisch für die Identitätsarbeit und die Unterstützung und oder Verhinderung durch Soziale Arbeit stehen. Jeweils am Ende der Ausführungen stellen wir zu den am im Rahmen des Forschungsprojektes organisierten und durchgeführten trialogisch ausgerichteten Fachtag diskutierten Kategorien die Positionen von Teilnehmer_innen vor, die an einigen Stellen noch über die Interview-Daten hinausweisen. 4.1. Identitäten und Erwerbsarbeit Wir beginnen, angelehnt an Keupp et al (2008), mit der Kategorie „Identität und Erwerbsarbeit“, die eine der zentralen Drehpunkte für Identitätsarbeit und Partizipation in der Sozialpsychiatrie ausmacht, wie im Folgenden herausgearbeitet wird. Bevor die Ausgestaltung dieser Kategorie anhand des empirischen Materials beschrieben wird, sei an dieser Stelle kurz erklärt, welche Inhalte Keupp et al für diese Identitätsdimension vorgesehen haben. Für Keupp spielen das sich wandelnde Verhältnis von Erwerbsarbeit und psychosozialer Situation von Menschen in sich zunehmend individualisierenden und modernen Gesellschaften in vielen seiner Texte und Arbeiten eine zentrale Rolle. So gehört für ihn zur Identitätsentwicklung dazu, sich von der Illusion zu lösen, einen den eigenen Bedürfnissen entsprechenden Arbeitsplatz zu finden (vgl. Keupp et al 2008, S. 113). Darüber hinaus haben Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen weniger familiäre Unterstützung und – damit verwobenen – geringere schulische Qualifikationen – infolgedessen haben sie oftmals weniger Möglichkeiten überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden (vgl. ebd., S. 114). Erwerbsarbeit wird daher als „Existenzproblem“ (ebd., S.116) diskutiert. Gleichzeitig hat Arbeit eine zunehmend subjektiv-sinnhafte Bedeutung (Arbeitsinhalte, soziales Klima, Selbstverwirklichung, Kontakte), die von den meisten Menschen wichtiger gewertet wird als die materiellreproduktionsbezogene Bedeutung (Einkommen und materielle Arbeitsbedingungen) (vgl. 7 Die Inhalte der verschiedenen Identitätsbereiche wollen wir dabei keinesfalls für alle Menschen mit Psychiatrieerfahrung gleichsetzen, sondern eine aus dem erhobenen Material heraus gelesene Bandbreite an möglichen Auslegungen beschreiben und dabei Widersprüche in und zwischen ihnen nicht glätten, sondern geradewegs auf sie hinweisen. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 296 ebd., S. 116-123). Dies gerät mit einem eingeschränkten Zugang zu Arbeitsplätzen in Konflikt, wenn dieses Erleben eigener Sinnhaftigkeit nicht für jeden Menschen möglich ist. Keupp et al arbeiten heraus, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit die größte Angst im Jugendalter ist und hier gesellschaftliche Probleme individualisiert werden (vgl. ebd., S. 117). Bzgl. der Erwerbsarbeit stellen sie fest, dass sich Identität hier stets wandelt, zwischen Identitätsdiffusion, dem Infrage stellen bisheriger Annahmen und stellenweise der Übernahme von Rollentraditionen. Beziehen wir diese Überlegungen auf die Situation Psychiatrie-Erfahrener, sind die genannten Themen, wie der Zugang zu Arbeitsplätzen und der der Arbeit zugeschriebene Sinn, sowie darüber hinaus handlungsfeldspezifische Themen wie Arbeitslosigkeit und Armut, belastenden Arbeitsbedingungen, dem Ausschluss vom ersten Arbeitsmarkt, die Ausgestaltung des 2. Und 3. Arbeitsmarktes und der Reha- und Integrationsmarkt für die Analyse in den Blick zu nehmen. Kurzbeschreibung der Inhalte Wie erwähnt, wird das Tätigsein, einer Beschäftigung nachzugehen, eine Erwerbsarbeit bzw. eine Tagesstruktur zu haben, in den verschiedenen sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern sehr bedeutsam gemacht. Die Aussagen der Befragten konnten vier Themenfeldern zugeordnet werden: • Allgemeine Bedeutung von Arbeit • Institution als Arbeitgeber • Begründung für Zuverdienst • Arbeitsbedingungen im Zuverdienst Die Befragten formulieren allgemein zur Bedeutung von Arbeit, dass Erwerbsarbeit ihr vorrangigsten Ziel sei, eine Befragte schildert dies eindrücklich, als sie von ihrem Klinikaufenthalt nach einer Verbrennung berichtet: Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 297 „B: die haben in der verbrennungsklinik einen platz für mich gesucht [I: mhm] und ich hab nicht gewusst wo ich hinkomm=ich hab immer gedacht ich müsst arbeiten das sei mein ziel (.) aber ich war SO SCHWER verletzt 8“ (Interview Frau B., Abs. 10) Der hegemoniale Normalitätsdiskurs zu Arbeit, dass nur diejenigen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen auch an der Gesellschaft teilhaben können, wird von den meisten Befragten reproduziert: „weil man muss ja auch arbeiten und geld verdienen von nichts kommt nichts“ (Interview Herr O., Abs. 241). Im Bemühen um eine Festanstellung bei einem Arbeitgeber, so berichtet ein junger Befragter, habe er auch gegen den Rat seines Psychiaters weiterhin unbezahlte Überstunden geleistet und dies habe seine psychische Gesundheit stark beeinträchtigt(siehe hierzu auch untenstehendes Fallbeispiel). Die Verbesserung der eigenen ökonomischen Situation wird teilweise nur in der Aufnahme einer entlohnten Tätigkeit gesehen. Für einige handelt es sich bei ihrer Arbeit auch um sinnhafte „schön[e]“ (Interview Frau D., Abs. 29) Tätigkeiten, um Identitätsprojekte, wie eine Befragte hinsichtlich ihrer Pflegetätigkeit beschreibt. Andere Befragte ziehen arbeitsbezogene Angebote anderen Gruppenaktivitäten vor: „T: bei WAS (.) also bei der HAUSversammlung […] hin und WIEDER [.] wenn es halt die ZEIT ZUlässt (.) aber da ARBEITE ich halt LIEBER (.) damit ich dann AUCH noch FERTIG werde“ (Interview Herr T., Abs. 85). Wird in einer sozialpsychiatrischen Institution (in allen im Sampling auftauchenden Formen wie Wohnheim, Sozialpsychiatrischer Dienst und Tagesstätte) die Möglichkeit geboten, für eine Tätigkeit Geld zu bekommen, wird sie von den Befragten häufig mit einem Arbeitgeber gleichgestellt, als „Firma“ (Interview Herr I., Abs. 29) verstanden und als Arbeitssetting mit Kolleg_innen (ebenfalls Psychiatrie-Erfahrene) und Vorgesetzten (Mitarbeiter_innen) beschrieben: 8 Die hier angeführten Sequenzen sind Auszüge aus Transkriptionen der als Audiodatei aufgenommenen Interviews mit Psychiatrie-Erfahrenen verschiedener sozialpsychiatrischer Handlungsfelder, wie Tagesstätten, Wohnheimen, Sozialpsychiatrischen Diensten. „I“ steht hier für Interviewer_in und die Buchsten als Pseudonyme der Befragten. Bei den Transkriptionen haben wir uns an Transkriptionsregeln gehalten, welche die Interpretation durch die Schreibenden möglichst gering halten, so dass bspw. keine Satzzeichen verwendet werden und Großbuchstaben dort stehen, wo laut oder betont gesprochen wird. Pausen sind unter Angabe der Sekunden mit runden Klammern (), Einschübe mit eckigen Klammern [] und gleichzeitiges Sprechen mit geschweiften Klammern {} gekennzeichnet. Ebenfalls in eckigen Klammern ist gekennzeichnet, wenn die hier abgebildete Sequenz einige Auslassungen ggü. dem Original hat, und Kürzungen zur besseren Lesbarkeit vorgenommen wurden: […]. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 298 „I: […] die ARbeit das ist ein SCHÖNES ARbeiten auch von den VORgesetzen her das ist wirklich SCHÖN kann man nichts sagen das ist wirklich EINwandfrei (2) und auch von den von den BUFfdis ist es GUT von den koLLEGEN her ist es gut kann man NICHTS sagen gell“ (Interview Herr I., Abs. 35) Für einige ist die Möglichkeit, sich als Arbeiter_in zu verstehen, der einzige Grund, die Einrichtung zu nutzen: „also ich komm so wenn nichts zum arbeiten da ist komme ich nich“ (Interview Frau R., Abs. 7). Auch im stationären Wohnheim ist die Ergotherapie ein Angebot zur Ausbildung oder Aufrechterhaltung einer beruflichen Identität, z.B. als Lackierer: „ich hab die et (.) da kann ich dann was machen „E: ergotherapie (.) ich bin lackierer=also (.) ich lackier das holz (3) und tu wenn mal kein holz zu lackieren ist selber feilen“ (Interview Herr E., Abs. 34-36) Begründungen für die Arbeit im sogenannten Zuverdienst sind für die Befragten ganz unterschiedlich. In den Worten eines Befragten ist die Arbeit im Zuverdienst eine von Zwängen befreite Tätigkeit: „das ist für ähm psychisch KRANKE leute die wo (2) nur noch schaffen können (.) wenn sie halt wenn es ihnen GUT geht (.) also MUSS man nicht kommen (.) ist auch keine ZEIT vorgeschrieben keine STÜCKzahl nichts also (.) da kann man eigentlich komm- ähm arbeiten so wie (.) man (.) sich FÜHLT halt ja da ist KEIN ZWANG dahinter (.) das ist für mich eigentlich so das WICHTIGSTE das ich da dann (.) KEIN ZWANG hab ja jetzt muss ich da (.) zu dem ZEITpunkt da sein (.) das ist WICHTIG“ (Interview Herr P., Abs. 5) Die einen sehen die Arbeit hier als Form von Therapie: „P: ja das ist WICHTIG (.) also das man halt beSCHÄFTIGT ist (.) wenn ähm die AUFträge GAR nicht da wären dann würden die leute halt daHEIM <lachend> rumhängen> (.) ja das ist auch nicht so günstig für die (.) PSYCHE“ (Interview Herr P., Abs. 19) Für diese Gruppe geht es darum, beschäftigt zu sein und eine Struktur des Tages und der Woche zu haben, was hier stärker gewichtet wird, als die geringe Entlohnung. Dadurch kann Rückzug verhindert und von anderem abgelenkt werden, die Arbeit im Zuverdienst ist insgesamt ein hilfreicher Aktivierungsanlass. Positive Folgen des Zuverdienstes sind hier das durch Handlungsroutinen gewonnene Selbstbewusstsein, es ergibt sich, so die Befragten, mehr Energie für die Arbeit im eigenen Haushalt und die Arbeit dort macht mobil und flexibel. Andere betonen die gute Möglichkeit, das verfügbare Budget durch die Einnahmen aus dem Zuverdienst zu erhöhen „und seit VIELEN jahren dann (.) bin ich natürlich beim ZUverdienst [.] um mir was daZU zuverDIENEN“ (Interview Herr T., Abs. 5) Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 299 Gemeinsam scheint den Befragten die Ausweglosigkeit ihrer beruflichen Situation zu sein, die keine besondere Differenziertheit der Identitätsentwürfe mehr vorhält: Alternative Beschäftigungen bzw. Arbeitsstellen sind aufgrund des Arbeitsmarktes, der Angst vor Diskriminierung und der selbst als gering eingeschätzten Belastbarkeit häufig nicht denkbar. Die Arbeitsverhältnisse im Zuverdienst werden dabei jedoch nicht nur als therapierender Schonraum beschrieben, sondern lassen auch belastende und individualisierende Deutungen zu. Viele berichten von einer starken Abhängigkeit von Aufträgen großer Auftraggeber_innen, die zu einer schwankenden Auftragslage führt, wovon der Umfang und der Inhalt der Tätigkeiten jeweils abhängen. Die Folge davon ist eine Konkurrenz um Aufträge für den Zuverdienst mit anderen preisgünstigen Anbieter_innen, so dass man dankbar sein muss, dass überhaupt noch Aufträge kommen: „das ist SOwieso auch SCHWIEIRG (.) und man kann auch FROH sein (.) dass überHAUPT (.) noch an so WERKstätten überhaupt ARbeit AUSgeliefert wird (2) weil die können das vielleicht wo ANDERS (.) NOCH GÜnstiger produzieren (.) in der HEUtigen ZEIT (.) da muss man vielleicht FROH sein dass überHAUPT noch ARbeit KOMMT (2) das NICHT irgendwie jetzt verLAGERT wird (.) was AUCH viele FIRMEN machen“ (Interview Herr T., Abs. 127) Wer die jeweiligen Auftraggeber_innen sind, ist allerdings, so manche Befragte, nicht bekannt, da dies durch die Institution geregelt wird und die Beschäftigten keine Mitsprache dabei haben. Intransparent ist auch die Finanzierung bzw. Subvention des Zuverdienstes. Bei den Tätigkeiten handelt es sich meistens um industrielle bzw. Montagetätigkeiten, für die es keinen Nachweis der Arbeitszeit gibt, sondern eigenständig die Wochenstückzahl nachgewiesen wird: „ich hab das AUCH schon gemacht mit den SCHRAUBEN aber (.) seit zwei DREI jahren bin ich jetzt an der WASCHmaschine und das gefällt mir halt (.) BESSER ja (.) wie das mit denen SCHRAUBEN (.) das ist ein bisschen zu EINFACH <<lacht>> das mit den schrauben“ (Interview Herr P., Abs. 13) Dass es sich beim Zuverdienst um eine nicht klar arbeitsrechtlich geregelte Beschäftigung handelt, ahnen einige Beschäftigte: „P: nein also (1) das ist irgendwie so ein GRAUzone […] also es ist KEINE beHINDERTENwerkstatt in DEM (.) die sind (.) ich weiß nicht wie das RECHTLICH geREGELT ist (.) das ist irgendein zwischen-DING (.) also zum beispiel wenn ein ARbeitsUNfall passieren würde (.) ich wüsst NICHT WER Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 300 das ZAHLT (.) weil ich bin ja nicht ANgestellt ich bin ja <<lacht>> hab kein ARbeitsvertrag NICHTS also ich weiß nicht wie das RECHTLICH dann geREGELT ist“ (Interview Herr P., Abs. 53) Viele sind sehr zufrieden mit den Arbeitsbedingungen, was vor allem an einer nicht autoritären, bedürfnisorientierten Arbeitsatmosphäre, der Flexibilität der Arbeitszeit und des Arbeitsortes sowie dem geringen Arbeitsdruck und der Freiwilligkeit liegt. Einige berichten jedoch auch von beschwerenden Arbeitsbedingungen, z.B. körperlichen Belastungen, u.A. weil es unterfordernde, bewegungsarme Tätigkeiten sind. Außerdem führt die Bezahlung nach Stückzahl zu einer Konkurrenz um das Arbeitstempo im Zuverdienst. Den Lohn sehen einige, wie oben erwähnt, zwar als nachrangig an, wobei Konsens darüber besteht, dass die Bezahlung (in einem Fall „ein euro fünfzig die stunde“ (Interview Frau R., Abs.9) in einem anderen sechs bis acht € für drei Stunden (vgl. Interview Herr T., Abs. 37)) unangemessen niedrig ist: „das was ich da SCHAFF da krieg ich wahrscheinlich nicht ähm das beZAHLT was was (.) was des eigentlich WERT wäre also ich kriege das vielleicht FÜNFZIG euro oder SECHZIG im MOnat und (.) jetzt schaff ich VIER einhalb mal in der WOche DREI stunden“ (Interview Herr P., Abs. 17) Dies hatte sich auch im Laufe der Zeit verschlechtert: „aber im verGLEICH zu früher verdient man jetzt WEsentlich WENIGER (.) im Zuverdienst“ (Interview Herr P., Abs. 25). Fallbeispiel Herr Q., ein junger Mann Mitte zwanzig, nutzt das Beratungsangebot eines Sozialpsychiatrischen Dienstes seit einem knappen Jahr. Vor diesem Kontakt machte er bereits in seiner Kindheit und Jugend Erfahrungen mit diversen (sozial-)pädagogischen und psychiatrischen Unterstützungsangeboten: „ich hab schon probleme seit der kindheit (.) also (.) ja eigentlich schon immer auch schon mit der grundschule da fing das ganze schon an (.) ähm auch mit konzentration und allem möglichen halt und so (.) manchmal depression“ (Interview Herr Q., Abs. 28). Zur Bewältigung der beschriebenen „probleme seit der kindheit“ wurde ein Netzwerk verschiedener Unterstützungsangebote eingerichtet, welches Herrn Q. den Abschluss einer Berufsausbildung zum Friseur ermöglichte. „da hab ich auch schon förderung gehabt (.) also da hab ich zum beispiel so ne schulbegleitsperson und ähm (.) auch in der ausbildung noch so begleitsperson und dann war ich auf einmal ARBEITEN und dann hat ich auf einmal GAR NICHTS mehr (.) und auch am anfang gleich als VOLLzeit und so und es Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 301 war halt echt richtig krass (.) und so vom (.) weil ich hatte immer überall jemand wo mir geholfen hat=wo ich auch gebraucht hat weil ichs anders nicht HINbekommen hab=auch nochmal zum lernen nach der SCHULE und so (.) war ich immer bis abends noch in so nem förderzentrum wo man gefördert wurde und (.) ja und dann auf einmal hatte ich halt so irgendwie NICHTS mehr“ (Interview Herr Q., Abs. 30) Mit dem Ende des Bildungs-Moratoriums reduzierte sich die Unterstützung auf Herrn Q.s Mutter und seinen Psychiater, deren Vorstellungen eines gelingenden Umgangs mit seiner Situation stark voneinander abwichen: „die hat mich immer irgendwie getriezt mit AUSBILDUNG und das und jenes […] und dann hat sie mir halt auch gesagt JA du hast die chance auf n FESTvertrag da bleibt man halt länger und immer so das gegenteil von dem was der psychiater gesagt hatte“ (Interview Herr Q., Abs. 30). Gleich zu Beginn des Interviews benennt Herr Q. die Schwierigkeiten mit seinem ehemaligen Arbeitgeber als einen zentralen Bereich, in dem er auf die Unterstützung des sozialpsychiatrischen Handlungsfelds angewiesen ist. „Q.: […] also wenn ich jetzt selber zum beispiel bei meinem alten arbeitgeber angerufen hatte (...) dann haben die mich irgendwie voll verARSCHT (.) und wenn die Frau J angerufen hat und hat halt gesagt ja hier spricht [Name der Einrichtung] blablabla dann auf einmal haben sie es geschickt innerhalb von ner woche wars dann da“ (Interview Herr Q., Abs. 8). Das Ende des Arbeitsverhältnisses zog sich über eine lange, für Herrn Q. sehr beschwerliche Zeit, in der er sich durch unbezahlte Mehrarbeit für eine Entfristung seines Arbeitsvertrags engagierte. Die Umstellung von der Unterstützung in der Berufsausbildung durch eine „begleitperson“ zu einer Anstellung als Friseur in Vollzeit stellte sich als sehr fordernd heraus. Alle Versuche seinerseits, die Arbeitszeit mit seiner psychischen Erkrankung zu vermitteln, konnten die belastende Situation nicht verbessern. „ich habs immer probiert=probiert dann bin ich immer weniger runter auf TEILzeit und hab dann versucht halt äh weniger zu ARBEITEN (.) dann bin ich auf teilzeit runter und irgendwann ging es dann nicht mehr und dann hat auch mein psychiater schon gesagt gehabt JA es hat so keinen SINN ich würd sie gern krank schreiben und ich hab gesagt NEE (.) weil ich hab gekämpft dort damals noch um son festvertrag weil dann die zwei jahre rum waren (.) aber da wurd ich auch ein bisschen verarscht ich habs aber so nicht gesehen ich hab halt die chance gesehen dann endlich mal so ne festanstellung zu kriegen wo man dann lange bleiben kann oder so [I: ok] und dann ähm hat der dann aber auch schon gesehen und so weil ich halt überstunden gemacht hab ohne ende unbeZAHLTE (.) dann hieß es immer ja sie wollen doch n festvertrag blabla und ich war halt irgendwie ganz blöd zu dem zeitpunkt ich habs ein- Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 302 fach so nicht gesehen (.) und dann irgendwann hats n knall gegeben da wars zu viel auf einmal alles und da konnte ich nicht mehr und dann hat er mich auch krank geschrieben“ (Interview Herr Q., Abs. 28) Gegen den Rat des Psychiaters, der zu diesem Zeitpunkt einen Antrag auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung und sozialpsychiatrische Unterstützung empfahl, begab sich Herr Q. auf Wunsch der Mutter auf eine Rehabilitation zur Wiedereingliederung. „dann hat er mir irgendwas empfohlen gehabt hier in Stadt1 oder sowas äh wegen erwerbsminderung aber meine mutter wolllte das auch nicht (.) und hat gesagt NE unser jung und bla (.) und dann REHA hat meine mutter dann […] war doch das blödeste was ich hätte machen können ja und dann [..] war ganz schlimm danach gings mir noch viel schlechter“ (Interview Herr Q., Abs. 28) Nach mehreren Klinikaufenthalten des Sohnes ließ sich auch die Mutter auf den Vorschlag des Psychiaters ein und unterstützte Herrn Q. bei der Kontaktaufnahme mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst und dem Antrag auf ambulant betreutes Wohnen. In Zusammenarbeit mit der dortigen Sozialarbeiterin und dem Psychiater stellt Herr Q. nun einen Antrag auf Grundsicherung und hofft auf eine Tätigkeit auf dem zweiten Arbeitsmarkt. Er verspricht sich davon eine weniger belastende Tätigkeit, in der er weniger „Druck“ erlebt und in der die Ansprüche an seine Leistungsfähigkeit geringer sind. Die Möglichkeit geringerer Anforderungen an ihn sind für ihn logisch mit einer (noch) geringeren Bezahlung bzw. subventionierten Entlohnung verknüpft. Vor dem Hintergrund seiner Angst vor Überforderungen und den psychischen Folgen des „Drucks“ ist ein reduziertes Gehalt jedoch für ihn hinnehmbar. „wir hatten eigentlich geplant so mit zweitem arbeitsmarkt oder irgendwie sowas ähnliches mit ähm (2) wo man halt dann so (3) wo man so ähm ohne DRUCK [I: mhm] ich kann auch druck nicht ertragen für mich ist druck ganz GANZ schlimm (1) ist für mich irgendwie wie wenn ich keine luft mehr KRIEG und ähm dass man dann halt so ohne druck auf dem zweiten arbeitsmarkt aber man trotzdem eine andere quelle hat was=wo das geld herkommt und man dann aber irgendwas macht wo nichts=äh wo die keine ge=so krasse verLANGUNGEN o=äh so krasse ANSPRÜCHE haben quasi (.) weil=weil sie auch nicht so bezahlen müssen oder so“ (Interview Herr Q., Abs. 46) An diesem Fallbeispiel werden die Möglichkeiten und Grenzen sozialarbeiterischer Unterstützung der Partizipation Psychiatrie-Erfahrener deutlich. Obwohl Herr Q. von Beeinträchtigungen berichtet, die in seiner Grundschulzeit begannen, gelang es, ein trialogisches, Autonomie und somatopsychosoziale und kognitive Integrität wahrendes Netzwerk zu knüpfen, welches ihm den Abschluss einer Berufsausbildung ermöglichte. Dieses Netzwerk fiel aller- Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 303 dings aus, sobald er sich in einem Normalarbeitsverhältnis 9 befand. Dem subjektiv empfundenen Druck und den Erwartungen an unbezahlter Mehrarbeit versuchte er solange zu begegnen, bis er so krank wurde, dass schließlich das Arbeitsverhältnis beendet wurde; nun ist für ihn eine „Integration“ in den ersten Arbeitsmarkt keine Option mehr. Wie sich auch an anderen Stellen der geführten Interviews zeigt, bedeutete Teilhabe an Normalität auch die Teilhabe an den belastenden Anforderungen an Arbeitnehmer_innen (siehe hierzu auch das Kapitel „Identitäten und Zugehörigkeiten etc.“). Das Identitätsprojekt »Arbeitnehmersein« kann durch das sozialpsychiatrische Handlungsfeld offenbar nicht im Modus der Teilnahme an Normalität unterstützt werden. Vielmehr muss Herr Q. in ein nicht erwerbsfähiges Adressat_innenSubjekt transformiert werden, um an den Angeboten des ambulant betreuten Wohnens und des zweiten Arbeitsmarktes partizipieren zu können. Faktisch wird dadurch aus dem Identitätsprojekt »Arbeitnehmersein« eines jungen Mannes vorerst das Projekt eines erwerbsgeminderten Psychiatrie-Erfahrenen. An dieser Stelle wird die Paradoxie der Wiedereingliederung deutlich, dass ihre Unterstützungsangebote nur auf der Grundlage des Ausschlusses der jeweiligen Adressat_innen greifen. Ergebnisse Fachtag Wie im Text zur Forschungsmethodik (Anhang) ausführlicher beschrieben, wurden die ersten Ergebnisse des Forschungsprojekts am Fachtag mit den Gästen in Form eines Worldcafés diskutiert. Dafür wurden den Sinngehalt und die Spannungsfelder deutlich machende „Invivo-Codes“, also Zitate aus Interviews oder Gruppendiskussionen, anonymisiert auf Plakate geschrieben und als Impulse für einen Austausch gegeben. Am Diskussionstisch „Identität und Erwerbsarbeit“ wurden folgende Zitate ausgewählt: „Ich bekomme für meine Arbeit nicht das gezahlt, was sie eigentlich wert ist.“ „Wenn die Aufträge wegfallen und damit der Zuverdienst geschlossen wird, kommen auch die Leute nicht mehr. Wenn der Zuverdienst läuft, ergibt sich alles Weitere.“ Die Gäste des Fachtags diskutierten in diesem Zusammenhang, wieviel Partizipation es im Bereich von Erwerbsarbeit überhaupt geben kann und dass das Ausmaß doch einfach zu än- 9 Zur Begriffsdefinition des Normalarbeitsverhältnisses (vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/Methoden/ Normalarbeitsverhaeltnis.html) Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 304 dern sein müsste. Ein großes Thema war das Für und Wider eines bedingungslosen Grundeinkommens, wobei von allen Akteur_innen betont wurde, dass Arbeit Selbstwert und Stabilität schafft. Sollte daher, so eine weitere Diskussionsfrage, der 1. Arbeitsmarkt nicht so verändert werden, dass alle Menschen dort arbeiten können? Dagegen spricht laut der Diskussionsteilnehmer_innen jedoch, dass Erwerbsarbeit erst dazu führt, dass viele Menschen (psychisch) krank werden. 4.2. Identitäten und Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein Nachfolgend sind die Interviewstellen zusammengefasst, die sich in die Identitätsdimensionen Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein einordnen lassen. Diese Kategorie haben Keupp et al ursprünglich „Identität und Intimität“ (Keupp et al 2008, S. 129-152) genannt. Keupp et al verstehen unter dieser Identitätsdimension die Aspekte von Geschlechtsidentität, welche die Integration von Sexualität sowie die Identifikation von Geschlechterrollen meint (unter Berücksichtigung der Differenzierung zwischen »sex«, der biologischen Geschlechtsidentität, und »gender«, den sozialen Aspekten der Geschlechterrollen) (vgl. Keupp et al 2008, S. 129 und 132). Die Geschlechtsidentität beinhaltet für die Autor_innen die Ausgestaltung der Emotionalität (vgl. ebd., S. 132), der Partnerschaften (vgl. ebd., S. 133-134), die Ausgestaltung familiärer Beziehungen, sowohl zur Herkunftsfamilie als auch bezogen auf die Gründung einer eigenen Familie (vgl. ebd., S. 134-135) sowie die gesellschaftliche Anerkennung der gelebten Lebensformen (vgl. ebd., S. 146-147). Keupp et al verweisen auf den sozialhistorischen Zusammenhang dieser Identitätsdimension mit der Entwicklung der Arbeitsgesellschaft, in der sich durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung „traditionelle[] Geschlechtsrollen“ (ebd., S. 130) herausgebildet haben, die jedoch gleichzeitig in der Offenheit der (Post-)Moderne unsicher und wählbar sind. Vor dem Hintergrund, dass die Diskussion um Intimität von Adressat_innen in der Sozialen Arbeit jedoch nicht ohne die Reflexion von sexualisierter Gewalt in Institutionen Sozialer Arbeit geführt werden kann (vgl. dazu z.B. Melter 2017a,b), wurde die Kategorie „Identität und Intimität“ im Kontext des Forschungsprojektes umbenannt. Zudem wurde sie um den Aspekt des „Fürsichseins“ erweitert, da dieser in den Interviews eine große Rolle gespielt hat. In Orientierung an Hegel verstehen wir damit die Beziehung auf sich selbst, die „Unmittelbarkeit (…) das in sich selbst Unterschiedslose, damit das Andere aus sich Ausschließende“ Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 305 (Hegel 1830: §96), der Teil, der Für sich allein und mit sich allein sein will, der sich auf eine Welt mit anderen bezieht, aber doch ein eigener Teil ist (vgl. ebd.). Kurzbeschreibung der Inhalte Zu dieser Kategorie konnten drei Code-Gruppen (aus den einzelnen Aussagen zusammengefasste Themenbereiche) ausgemacht werden: • Familie • Biographische Krisen • Selbsteinschätzung der psychischen Befindlichkeit Es konnten vielfältige Aspekte familiärer Beziehungen Psychiatrie-Erfahrener anhand des Interviewmaterials rekonstruiert werden: Familie als Unterstützungssystem, Familie als Adressat_innen, Familie als Ursache und/oder Verstärkung psychischer Krisen, familiäre Beziehungen zu Nicht-Verwandten. Einige Befragte äußern deutliches Interesse daran, dass ihre Familienangehörigen mehr in ihren, vom Hilfesystem geprägten, Alltag eingebunden werden. Beispielsweise wird der Wunsch genannt, dass Verwandte bei den Aufführungen des Theaterstücks der Theatergruppe dabei sind oder dass die Mutter in die Beratungsgespräche als Fürsprecherin mit einbezogen wird. Einige können aus der sozialpsychiatrischen Institution heraus einen regelmäßigen Kontakt zu ihren Angehörigen pflegen und werden dabei unterstützt, beispielsweise bei der Organisation von Reisen zu ihren Verwandten. Für manche ist die einzig vorstellbare Alternative zum Leben in einer stationären Einrichtung wieder mit der Herkunftsfamilie zusammen zu wohnen. Für die Gestaltung der sozialpsychiatrischen Hilfen spielen Familienangehörige für manche eine entscheidende Rolle und es werden Konflikte zwischen der Einschätzung von Professionist_innen und Angehörigen deutlich. Ein Befragter berichtet beispielsweise von den widersprüchlichen Hilfeempfehlungen des Psychiaters und der Mutter. Die Gründung einer eigenen Familie steht für die von uns befragten Mütter im Mittelpunkt ihrer Identitätskonstruktion. Die eigenen Kinder werden teilweise als einzige Gründe für die Empfindung von Glück und Liebe genannt. Über die Herkunftsfamilie und die eigene Familie hinaus werden familiäre Bindungen auch an andere Menschen, Orte und Tiere beschrieben, um die sich die Identität als jemand, die Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 306 oder der gebraucht und anerkannt wird, gestaltet. Beispielsweise beschreibt eine Frau, dass sie sich bei ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit in einem Kindergarten wie ein Familienmitglied fühlt und dies einer ihrer wichtigsten Lebensinhalte ist: „ist mein HAUPTleben mi- mi- mit den KINDERN [...] ja das ist SCHÖN (2) dies sind die sind so GOLDIG und dann sagen sie (.) du bist wie eine MAMA du bist wie eine OMA“ (Interview Frau D., Abs. 15-17). Eine weitere Interviewte beschreibt eine intensive Beziehung zu ihrer Katze, die sie erziehen und pflegen musse und sich in einer Mutter-Kind-Beziehung mit ihr fühlt. Für Befragte in stationären Einrichtungen wird die Beziehung zu den anderen Mitbewohner_innen und den Professionist_innen als explizit „familiär“ beschrieben, denn dieses Verhältnis, so die Beschreibung, zeichnet sich im Alltag durch täglichen Kontakt, reden und gemeinsamen Essen aus und ähnelt dementsprechend einer Familie. Am kontroversesten wurde in den Interviews die Wahrnehmung des Trialogs diskutiert. Darunter verstanden die Befragten die Zusammenarbeit von Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten, bei der alle als Expert_innen ihrer jeweiligen Perspektive gelten. Allgemein werden Trialoggruppen als Fortschritt in der Sozialpsychiatrie gesehen und ein höheres Angebot derselben als Verbesserungsvorschlag angebracht. In der Beschreibung konkreter Beratungssituationen mit Angehörigen und Psychiatrie-Erfahrenen werden jedoch große Befürchtungen und Ablehnungen gegenüber dem Einbezug der Angehörigen formuliert. Es wird befürchtet, dass vertrauliche Informationen, die Betroffene in der Beratung äußern, an Angehörige weitergegeben werden oder Angehörige an die Beratenden Informationen weitergeben, welche die Betroffenen nicht in die Beratung mit einbringen wollten. Daher wird gefordert, dass die Beratung von Angehörigen in der gleichen Einrichtung oder von der gleichen Person transparent dargestellt wird. Besonders verletzt fühlen sich Psychiatrie-Erfahrene, wenn in akuten Krisensituationen die Situationsdeutungen der Angehörigen denen der Psychiatrie-Erfahrenen vorgezogen und sie eben nicht mehr als Expert_innen anerkannt werden: Professionist_innen sollten eher für den Schutz der Psychiatrie-Erfahrenen vor ihren Angehörigen verantwortlich sein. An einer anderen Interviewstelle wird außerdem explizit die Angst geäußert, dass die eigene Beratungsfachkraft sich mit jenen Angehörigen austauscht, die in der Vergangenheit schon Gewalt gegenüber den Betroffenen ausgeübt haben und nun über den Kontakt mit der Beratung den Betroffenen weiter schaden. Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 307 Des Weiteren seien hier einige biografische Krisen benannt, die berichtet wurden und die für das Verstehen der Identitätsgestaltung in Bezug auf familiäre Bindungen und ein Fürsichsein unerlässlich sind. Befragte berichteten von Vernachlässigungen und Unterversorgungen im frühkindlichen Alter, von gewaltvollen Bestrafungen im Kindesalter, von psychischer Gewalt in Form von religionsmoralischen Sanktionsandrohungen bei sexuellen Handlungen, bis hin zu sexuellem Missbrauch in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die Beschreibung, Einschätzung und Erklärung der psychischen Befindlichkeit der Befragten spielte eine zentrale Rolle in den Interviews – ohne, dass konkret danach gefragt wurde. Die eigene Geschichte erzählen zu können, scheint ein wesentlicher Moment für Partizipation zu sein. Eine Adressatin beginnt bspw. das Interview mit einer Erzählung und Deutung ihres Traums, eine andere Befragte berichtet als erstes, dass sie schlecht geschlafen hat. In den Interviews ist es vielen Befragten wichtig, ihre eigene Erklärung psychischer Erkrankung deutlich zu machen. Beispielsweise wird der Umgang der Eltern mit einer Befragten im Kindesalter als Ursache verstanden. Zum Ausbruch einer psychischen Erkrankung komme es dann, wenn „also wenn die SEEle nicht mehr AUS kann also so QUASi ja <<lacht>> so <<lacht>> so WENN ALLes so ENG ist oder weil man so HYPERsensibel ist oder wie auch IMMER war was bei der WAHRnehmung oder der FILTER oder wie auch IMMER was“ (Gruppeninterview T, Abs. 185). Dass eine psychische Erkrankung eine Ausprägung menschlichen Empfindens und die Reaktion auf Ereignisse ist, erklärt diese Sequenz eindrücklich: „also drUM es kann ja auch JEDER (.) ähm irgendwann in so ein diLEMMA KOmmen weil weil es KEnnt JEDER MAnische zuSTÄNDE schon allein in der verLIEBTheit oder wie auch IMMER was <<lacht>> ja das ist auch nichts ANderes ja <<lacht >> [D: (??) wenn die horMONE verRÜCKT spielen und keine AHNung ja (.) bis zu (.) SCHICKsalsschlägen wenn einem der JOB WEGholt oder der PArtner stirbt oder ein UNfall oder es ist ja auch wurst es gibt ja VIELE AUSlöser für irgend- ganz trauMATISCHE geSCHICHTEN nur WEIß ich das ja VORher Auch NICHT ja (.) dass ich SO auf das reaGIER“ (ebd.) Die innerpsychische Krise als zentrales Moment einer psychischen Erkrankung benennt diese_r Befragte: „ich denke halt dass es ähm GRAD bei PSYCHISCHE erkrankungen […] das ist eine ANsichtssache aber ich denke halt es (.) ist in ERSTER linie ein KONFLIKT mit dem man mit sich SELBER hat“ (Interview Herr I., Abs. 25). Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 308 Zu den verallgemeinerten Erklärungsmodellen psychischer Erkrankungen werden viele individuelle Krankheitswege erzählt. Von einer aufsteigenden Sportler_innenlaufbahn bis zum Alkohol als Bewältigungsstrategie persönlicher Verluste, von langjährigen Verläufen schlimmer Krankheitserlebnisse bis zu Selbstverletzungen und als gelungen empfundene Bewältigungen. Das Erleben von Symptomen wird ebenfalls zum Gegenstand der Interviews gemacht. Dazu wurden auch der erlebte innere Druck und selbstschädigende Reaktionen darauf detailliert beschrieben. Die Übernahme der klinischen Diagnose in die Identitätskonstruktion wird hier deutlich: „ja bei mir ist gewesen so ich hab sehr viele selbstmordversuche gemacht gehabt und dann bin ich borderline (.) und schneide mich“ (Interview Frau R., Abs. 3) Die Angst, erneut eine psychische Krise zu erleben, bestimmt das Leben vieler Befragter, die in diesem Kontext ihre eigenen Bewältigungsstrategien entwickeln. Krankheitsphasen stören das subjektiv empfundene Gleichgewicht: „dadurch dass ich jetzt eine depression hab wieder ist das AUCH wieder (2) eh (4) ein bisschen wie soll ich sagen (4) halt alles ins WANKEN geraten“ (Interview Frau B., Abs.6). Die Linderung des Krankheitserlebens wird teilweise im Zusammenhang mit den institutionellen Angeboten der Sozialpsychiatrie gesehen: „also ich hab alle drei bis vier wochen mit der frau [Name 1] ein gespräch [I: mhm] und es hilft mir oft wobei ah das kann=das gefühl also ein gespräch kann bei mir das gefühl nicht reparieren [I: mhm] (1) ich hab ein gespräch fühl mich eigentlich ganz gut aber (.) die depression die ist so hartnäckig und so die steht so im raum“ (Interview Frau B., Abs. 35) Das Essen bleibt für diesen Befragten manchmal die einzige erlebte Freude: „also ich bin früher immer gerne nach vorne gegangen und wollte neue dinge ausprobieren und so weiter und das FEHLT mir jetzt im moment in meinem status (4) für mich ist es traurig aber es ist so dass das ESSEN das einzige ist wo ich mich noch freuen kann“. (Interview Frau B., Abs. 99) Fallbeispiel Im Folgenden wird am Beispiel eines Interviews mit Herrn O. die Bedeutung des Identitätsbereichs Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein für die Identitätsarbeit psychiatrieerfahrener Menschen dargestellt. Herr O. ist ein Mann mittleren Alters und lebt seit zwölf Jahren in einem stationären, sozialpsychiatrischen Wohnheim. Davor lebte Herr O. bereits zehn Jahre in einem anderen Wohnheim, aus dem er nach eigenen Angaben ausziehen musste, „irgendwie wurde das dann nicht mehr bezahlt von dem amt“ (Interview Herr O., Abs. 200). Bereits als Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 309 Kind wurde er im Alter zwischen 9 und 12 Jahren in ein Wohnheim der Jugendhilfe aufgenommen, in dem er Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Herr O. hat als Erwachsener bisher nicht außerhalb vollstationärer Einrichtungen gelebt. Im derzeitigen Wohnheim hat er ein eigenes Zimmer und einen zuständigen Bezugsmitarbeiter, zu dem er nach eigenen Angaben einen guten Kontakt hat. Mit ihm führt Herr O. Gespräche oder geht auch mal in einem Restaurant mit ihm essen. Tagsüber nimmt er an Angeboten der Ergotherapie teil. Herr O. hat außerhalb der Einrichtung noch Kontakt zu zwei seiner Geschwister. Die Beziehungen in der Einrichtung beschreibt Herr O. als familiär und daher unterstützend. „O: was gefällt mir hier gut=so der zusammenhalt und es ist wie eine familie ein bisschen (1) so familiär (1) die leute sind alle sehr nett (.) ja I: sprechen sie da von ihren mitbewohnerinnen oder von den mitarbeiterinnen O: von allen beiden“ (Interview Herr O., Abs. 6-8) Die familiäre Qualität wiederholt er an mehreren Stellen des Interviews. Auf Nachfrage, was er damit meint, erklärt Herr O.: „ja halt dass man sich halt so TRIFFT und KAFFEE trinkt und vielleicht was frühstückt und dann redet was man am nächsten tag macht oder (.) was man HEUTE macht was HEUTE ansteht und so [I: mhm] ist eigentlich ganz ok“ (ebd. Abs.55). Hier wird die besondere Herausforderung der Gestaltung eines Arbeitsbündnisses in vollstationären Settings deutlich, in welchem ein Teil persönliche Beziehung mit diffusen Anteilen notwendig und unterstützend für Herrn O. wirkt. Andererseits schließt das Arbeitsbündnis aber auch den institutionellen Auftrag mit ein. Vor diesem Hintergrund betrachtet beschreibt Herr O. hinsichtlich der Beziehung zwischen ihm und seinem Bezugsmitarbeiter verschiedene Spannungsfelder unterstützender Beziehungen zwischen Professionist_innen und Adressat_innen in Institutionen: Einerseits das Spannungsfeld zwischen einem zu viel oder zu wenig an Beziehung: „I: wie oft haben sie da gespräche (1) O: je nach bedarf (1) einmal in der woche oder so I: mhm und wie oft hätten sie's gerne O: ein paar mal (.) vier fünf mal Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 310 I: in der woche O: aber wir sprechen immer wenn er da ist sprechen wir viel (2)“ (ebd., Abs. 260-265) Andererseits berichtet Herr O. sowohl von dem Spannungsfeld zwischen der Offenheit im Arbeitsbündnis – also dass Herr O. von seinem Leben erzählen bzw. neue Erfahrungen machen kann – als auch davon, dass er vor dem Hintergrund seiner traumatischen Erlebnisse vor Re-Traumatisierung durch rahmenlose Erinnerungen oder Beziehungsabbrüche geschützt wird und die Institution also gleichzeitig Zutrauensraum und Schutzraum ist: „mir geht's hier gut (.) ich fühl mich WOHL (1) ich bin beschützt (.) hab einen rahmen wo ich wohn- alles ansprechen kann oder wo=wo=wo ich beschü- also ja wo ich halt beschützt bin“ (ebd., Abs. 152) Dieser Schutzraum wird auch von der Familie von Herrn O. in der Einrichtung gesehen: „I: und unterstützen sie ihre schwestern auch dabei bei dem wunsch irgendwann mal auszuziehen O: nee (2) meine halbschwester sagt ich soll hier bleiben weil hier wär ich gut aufgehoben (3) hier also bin ich beschützt (4) (ebd., Abs. 233-234). Im Interview mit Herr O. wird somit die nahtlose Fortführung seiner institutionellen Biografie erkennbar, was auf ein Spannungsfeld sozialpsychiatrischer Praxis hinweist: Einerseits braucht es institutionelle Rationalitäten und andererseits ist Erinnerungsarbeit, bzw. Biografiearbeit notwendig. Ergebnisse des Fachtags Auf dem Fachtag wurde, bezogen auf die in diesem Zusammenhang relevante Dimension, folgendes Zitat diskutiert: „Die stationäre Einrichtung ist mein zu Hause geworden. Wenn ich mal bei Verwandten bin, möchte ich schnell wieder heim. Hier habe ich mein eigenes Zimmer und kann mich zurückziehen.“ Es kam die Hauptfrage auf, wie legitim Einrichtungen der Sozialpsychiatrie heute noch sind und wie das Verhältnis von Institution als Schutzraum oder als Gewaltraum einzuordnen ist. Im Schutzraum, so die Überlegungen, können die Einrichtungen eine Heimat auf Zeit – ein „Anker“, sofern es keinen anderen gibt – und auch ein Ort des „Zutrauens“ sein, an dem selbstständiges Leben geschützt erprobt werden kann, beispielsweise ein Leben ohne Medikation. Gleichzeitig gilt es aber immer zu prüfen, ob es sich nicht vielmehr um einen Gewaltraum handelt, der sich u.a. durch die Verletzung der Intimität und die nicht selbst gewählte, Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 311 zum Teil familienähnliche Gemeinschaft kennzeichnet. Im Bereich Beziehungen, Bindungen Fürsichsein kann die sozialpsychiatrische Institution also einerseits ein hilfreicher sozialer Kontaktraum sein; andererseits werden Beziehungsabbrüchet durch angestrebtes Verlassen der Hilfe und Wechsel der Bezugspersonen bzw. der institutionellen Settings institutionell hergestellt. In den institutionellen Beziehungen wird eine gegenseitige Verantwortlichkeit hergestellt, die familienähnlich ist und somit auch die belastenden Seiten von Bindungsverantwortungen mit sich bringt. Das Thema Tagesstruktur wurde in der Diskussionsrunde im Rahmen des Fachtags ebenfalls in einem Spannungsverhältnis gesehen: Auf der einen Seite ermöglicht eine vorgegebene Tagesstruktur, sich autonomiefördernde Routinen anzueignen; auf der anderen Seite kann eben dies eine Autonomie im Sinne eines eigenständigen Bildungsprozesses verhindern und somit eher „hospitalisieren“. Die Eingangsfrage wurde von der Gruppe damit beantwortet, dass Institutionen nur legitim sein können, wenn sie Menschenrechte berücksichtigen. Als zweiter Diskussionsimpuls diente folgendes Zitat zur Thematik des Trialogs: „Ich sehe den Trialog nicht nur positiv. Die Angehörigen brauchen eine eigene Gruppe.“ Es wurde herausgearbeitet, dass es sich hier nicht um ein »entweder oder« handelt, sondern um ein »sowohl als auch«: Es sind Trialoggruppen und Angehörigengruppen notwendig. Außerdem wurde angeregt, den Trialog zum Tetralog zu erweitern und Bürgerhelfer_innen bzw. Ehrenamtliche (FsE) mit einzubeziehen. Darüber hinaus fehlt in vielen Diskussionen noch der Austausch mit der Verwaltungsebene, also dem Kostenträger sozialpsychiatrischer Hilfen, die ebenfalls eingebunden werden sollten. Dabei unterschieden die Anwesenden verschiedene Ebenen des Trialogs: • Fallebene (kann stark konfliktgeladen sein) • Gruppenangebote (auch themenbezogen) • Politische Dimension (Steuerungsinstrument im Hilfesystem) Offen blieben die Fragen, wie eine Vernetzung von Trialog und Selbsthilfe aussehen und wie Trialog konkret gestaltet werden könnte. Als Forderungen wurde geäußert, dass man die Geschichte der Sozialpsychiatrie aus Sicht der Angehörigen schreiben sollte. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 4.3. 312 Identitäten und soziale Netzwerke Unter dieser Identitätsdimension fassen Keupp et al (vgl. 2008, S. 153-170) die unmittelbare Ausgestaltung sozialer Netzwerke, also der personalen, vielfältigen Verbindungen, die Menschen untereinander haben. Dabei handelt es sich in einer modernen Gesellschaft immer mehr um »Wahlverwandtschaften«, »Zwangsgemeinschaften« werden dagegen immer seltener (vgl. ebd., S. 153). Dies bedeutet jedoch auch mehr Verantwortung der Subjekte für die eigene soziale Integration, die besonders bei einer knappen Beteiligung an Erwerbsarbeit und Kapitalien erschwert wird, denn: Soziale Netzwerke können als Ressource zur Krisenbewältigung und als Hilfe bei der Auswahl verschiedener Handlungsmöglichkeiten dienen. Zu dieser Dimension wird vor allem der Freizeitbereich der Menschen gezählt, der sich für Keupp et al in verschiedene Netzwerktypen, wie Clique, Paarorientierung, traditioneller und modernisierter Familien-Clan, Vereinsstrukturen, soziale Isolation, individualisierte Freundschaftsnetzwerke und Zugehörigkeit zu subkulturellen Szenen einordnen lässt. Die Freizeit- und Netzwerkgestaltung hängt dabei stark von der individuellen Ressourcenlage (Kapitalien, Interessen, Kompetenzen) und der regionalen Angebotsstruktur (Stadt/Land) ab. „Soziale Netzwerke werden so gestaltet, daß [sic] die Identitätsprojekte einer Person darin Einbindung, Anerkennung und Unterstützung finden.“ (ebd., S. 170) Bezogen auf den Prozess der Identitätsarbeit dienen soziale Netzwerke zusammengefasst bei der Verwirklichung von Identitätsprojekten als Optionsräume und soziale Relevanzstrukturen, in denen aus den vorhandenen Möglichkeiten die vom sozialen Netzwerk als wichtig markierten Möglichkeiten ausgewählt werden. Für das Handlungsfeld der Sozialpsychiatrie sind darüber hinaus Aspekte der Kollektivierung oder Zwangsgemeinschaften in Institutionen relevant, da Netzwerke evtl. weniger frei gewählt sind. Außerdem wird vor dem Hintergrund eines emanzipatorischen Verständnisses an dieser Stelle in den Blick genommen, wie Kollektivierung von Psychiatrie-Erfahrenen ermöglicht wird. Vor dem Hintergrund der im Teilhabebericht (BMAS 2013) formulierten Feststellung eines verkleinerten sozialen Netzwerks von Menschen mit Beeinträchtigung und damit verbundenen eingeschränkter sozialer Unterstützung (BMAS 2013: 78-79) wird im Folgenden auch die Bedeutung eines Helfer_innennetzwerks für die Adressat_innen beleuchtet. Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 313 Kurzbeschreibung der Inhalte Hier konnten drei Code-Gruppen zusammengefasst werden, die im Folgenden ausgeführt sind: • Kontaktgestaltung mit Mit-Nutzer_innen • Soziale Kontakte außerhalb der Institution • Freizeitgestaltung Die Erzählungen über die Gestaltung des Kontakts zu anderen Nutzer_innen sozialpsychiatrischer Angebote werden durch die institutionellen Ermöglichungsräume (z.B. Fernsehzimmer, Zuverdienst, Freizeitangebote usf.) gerahmt. Diese scheinen Orientierungspunkte für die Begegnungen innerhalb und außerhalb der Institutionen zu bilden, auf welche sich die Adressat_innen positiv beziehen können. Sie ermöglichen es, dem Wunsch nach Kontakt und/oder Kollektivierung in einer strukturierten Umgebung nachzugehen, in dem Wissen, über einen sicheren Rückzugsraum (das eigene Zimmer in der Einrichtung, die eigene Wohnung usf.) zu verfügen, welchen man bei Überforderung aufsuchen kann bzw. eine zuständige Fachkraft der Einrichtung, welche bei Konflikten hinzugezogen werden kann. Die andere Dimension dieser Ermöglichungsräume besteht in dem fast vollständige Fehlen von Kontakten außerhalb dieser gerahmten Räume: Es wird nur vereinzelt von gegenseitigen Besuchen auf den Zimmern bzw. in der jeweiligen Wohnung berichtet. Innerhalb dieser Code-Gruppe scheinen sodann auch vier wesentliche Dimensionen auf. Als erste sei hier die Kollektivierung mit anderen Nutzer_innen vor dem Hintergrund einer familialen bzw. infantilisierenden Identifikation als Geschwister benannt. Aussagen wie die Folgenden sind ein Hinweis hierauf: „es ist hier wirklich wie eine FAMILIE“ (Interview Frau D., Abs. 37), „was gefällt mir hier gut=so der zusammenhalt und es ist wie eine familie ein bisschen (1) so familiär“ (Interview Herr O., Abs. 6) An anderen Stellen erscheint das Thematisieren der Kollektivierung mit anderen Nutzer_innen als Erfahrung mit einer jugendlichen Peer-Group auf einer Freizeit oder einem Angebot der offenen Kinder- und Jugendarbeit: „wir haben ZIEGEN hier (.) die ich versorge mit ein paar anderen jungs und mädels“ (Interview Herr E., Abs. 38). In diese Figurationen Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 314 scheint die Macht-Asymmetrie der Institutionen eingeschrieben, welche die Fachkräfte als Eltern oder „betreuerinnen“ (Interview Frau X, Abs. 3) den Nutzer_innen diametral entgegensetzt und eine Begegnung auf Augenhöhe erschwert. Die Konflikte mit anderen Nutzer_innen, die vor diesem Hintergrund geschildert werden, sind an diese Erzählung anschlussfähig. So wird z.B. von Streit bei den gemeinsamen Mahlzeiten berichtet: „ja und da gibt es halt welche die nehmen ganz viel zum essen (1) zum essen dass die anderen dann fast gar nichts kriegen (.) oder beim abendessen sind immer die meisten vorne dran (.) dass niemand zu kurz kommt (.) ich kaufe mir mein abendessen meistens selber von meinem taschengeld weil ich die wurst nicht mag die abgepackte“ (Interview Frau L., Abs. 29). Der geschilderte Konflikt über eine Benachteiligung beim gemeinsamen Essen orientiert sich an familialen Strukturen und erinnert an einen Streit unter Geschwistern, der sich um die Anerkennung der Bedürfnisse der Beteiligten rankt. 10 Auch die Autonomie eröffnende Lösung des Konflikts, das Einsetzen des eigenen ‚Taschengeldes‘, verbleibt in der familialen Figuration und thematisiert die sprechende Person in einer machtasymmetrischen Beziehungskonstellation, in der andere ihre finanziellen Ressourcen rationieren. Auch mögliche Lösungen für die benannten Konflikte schließen an die familial konstruierte Erzählung an: „I: was müsste sich aus ihrer sicht denn verÄNDERN in der [Einrichtung] (.) oder WIE könnte man diesen streit ANders (1) lösen […] L: ja jedes mal halt seine sachen machen (.) und nicht immer denken man wäre im hotel und gläser stehen lassen oder flaschen oder tassen oder gläser (1) sach auch aufräumen und nicht immer denken da kommt ein anderer der kann's ja machen“ (Interview Frau L., Abs. 107). Die sprechende Person bezieht sich an dieser Stelle auf die umgangssprachliche Figur des »Hotel Mama« 11, durch welche das Moratorium der Adoleszenzbewährung hinausgezögert wird und hält die Erzählung auch darin anschlussfähig an die familiale Figur. Die andere Seite dieser Konflikte wird an der Schilderung der Vereinzelung, der Einsamkeit und der erschwerten Kontaktgestaltung sichtbar. Die Herstellung einer familialen Situation erscheint vor diesem Hintergrund als sinnhaft: 10 Siehe dazu auch: Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 11 Vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ImFokus/Bevoelkerung/HotelMama.html. Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 315 „die LEUTE wollen EINfach HIER zum (Name der Einrichtung) so die NÄHE suchen weil sie NICHT (.) ALLEINE sein WOLLEN (.) oder KÖNNEN (.) ich denke diese RICHTUNG geht das“ (Interview Herr T., Abs. 121). Jedes Interview, in dem die Frage nach dem Wohnen im eigenen Wohnraum thematisiert wurde, beleuchtet auch das Spannungsfeld zwischen der Sorge vor Einsamkeit und dem Wunsch nach einer größeren Selbstbestimmung in der Gestaltung des Alltags. Vor diesem Hintergrund liegt der Nutzen der Einrichtung auch im Eröffnen von Kontakten: „ja und so hab ich=ich hab auch freunde hier viele (1) das finde ich ganz gut dass man hier auch nicht ganz alleine ist (.) tagsüber wohl in der wohnung wenn man doch dann viel alleine und das ist nicht so mein fall“ (Interview Frau L., Abs. 18). Gerade in den nicht sozialpädagogisch gestalteten Situationen, dem Leben in einer Einrichtung, das durch alltägliche Routinen der Bewohner_innen selbst strukturiert wird, fällt die Aufnahme von Kontakt, die nicht im Rückbezug auf eine Fachkraft verweist, häufig schwer: „O: ja [I: mhm] manchmal denk ich mir ja guck doch mit den leuten gemeinsam fernseher dann kommst du ins gespräch (1) oder man hat die gemeinschaft aber ist manchmal gar nicht so einfach. I: mhm (1) was ist da nicht so einfach. O: mit den leuten ins gespräch zu kommen oder=oder sich dahin zu setzen und mit denen zu gucken ich gucke lieber alleine fernsehen also nicht immer aber (2) ich setz mich schon mal dazu (2) aber wenn dann nur 10 minuten oder so und bin dann wieder weg (Interview Herr O., Abs. 182-184). Auf diesen Erfahrungen basiert auch die Schilderung des Umgangs mit Ermöglichungsräumen innerhalb der Institutionen. Diese erweisen sich vor allem dann als nutzbringend, wenn sie eine gemeinsame, identitätsstiftende Grundlage ermöglichen. Exemplarisch greifen wir an dieser Stelle die Beschreibungen der Erfahrungen im Zuverdienst auf. Gerade die Räume, in welchen Identität eröffnet wird – an dieser Stelle die kollektivierende Erfahrung, anderen eine Kollegin bzw. ein Kollege zu sein – scheinen die Einrichtung zu überformen und sie zu einem Arbeitsplatz – in diesem Fall positiv – zu vereinseitigen: „ja also ICH finds (Name der Einrichtung) eigentlich recht SCHÖN von der atmosphäre her ist es schön (.) die leute sind (.) OKAY ja (2) doch also ich finds (.) GUT als guter UMgang (.) GUTE umgangsformen miteinander das muss man echt sagen (.) das ist echt schön (.) auch von den vorgesetzten her jetzt auch“ (Interview Herr I., Abs. 11). Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 316 An dieser Sequenz wird deutlich, dass das Angebot nur als Arbeit erlebt und folglich auch so besprochen wird. Der Kontakt zu anderen Nutzer_innen oder Fachkräften wird vor dem Hintergrund der Identität als Arbeiter_in der Werkstatt verhandelt. Und auch diese Schilderungen werden vor dem Hintergrund einer Machtasymmetrie konstruiert, in welcher die Fachkräfte der Einrichtung als Vorgesetzte erscheinen und die Erwartungen an diese auch aus der Perspektive der Subordination formuliert werden. Analog zur familialen Figur, wird der Kontakt zu anderen Nutzer_innen hier als Arbeitssituation geschildert, die anderen Nutzer_innen erscheinen nicht als Geschwister, sondern als Kolleg_innen: „die ARbeit das ist ein SCHÖNES ARbeiten auch von den VORgesetzen her das ist wirklich SCHÖN kann man nichts sagen das ist wirklich EINwandfrei (2) und auch von den von den BUFdis 12 ist es GUT von den koLLEGEN her ist es gut kann man NICHTS sagen gell“ (Interview Herr I., Abs. 35) In einem Handlungsfeld, welches durch einen hohen Grad an Institutionalisierung gekennzeichnet ist, und in welchem Begriffe wie Pathologisierung, Stigmatisierung, Exklusion und Vereinsamung den Diskurs um die sozialen Netzwerke der Adressat_innen akzentuieren, können die sozialen Kontakte außerhalb der Institution einen Aspekt der Frage nach Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern beleuchten. In der Auseinandersetzung mit den Daten wurde deutlich, dass eine Vernetzungseuphorie, welche soziale Netzwerke als Königsweg zur Partizipation exkludierter sozialer Gruppen hervorhebt, der Komplexität der Erfahrungen der Adressat_innen nicht gerecht wird. Zunächst ist durchaus festzuhalten, dass die Bedeutung außerinstitutioneller sozialer Kontakte in nahezu allen Interviews bestätigt wurde. Diese können zweifellos eine Brücke zu Erfahrungen alltäglicher außerinstitutioneller »Normalität« bilden. Allerdings bergen gerade jene NormalitätsErfahrungen auch das Risiko der Stigmatisierung, da die außerinstitutionelle Normalität, an der die Adressat_innen in diesen Fällen partizipieren, auf jenen normativen Prinzipien gründet, die auch die Exklusion sog. psychisch Erkrankter bedingen. Teilhabe an Normalität kann dann auch Teilhabe an Ausschließung bedeuten. In einem Gruppeninterview findet sich folgender exemplarischer Wortwechsel zweier Psychiatrie-Erfahrener: „A: das ist […] dann wie eine SCHUBlade […] 12 Bundesfreiwillige, Anm. d. Verf. Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 317 B: naja das ist so eine STIGMAtisierung (.) und da bist du SCHOn einmal F ESTgelegt“ (Gruppeninterview K, Abs. 177-179) Das Bekanntwerden der Diagnose hängt, dieser Eindruck ließ sich beim Durcharbeiten der Daten gewinnen, wie ein Damoklesschwert über den Interaktionen und gestaltet das Aufnehmen und Pflegen sozialer Kontakte außerhalb institutioneller Arrangements zusätzlich schwieriger. Die Sorge vor einer möglichen Enttarnung und die sorgsame Vorauswahl privater Informationen gegenüber Kommunikationspartner_innen erschweren die Aufnahme von engeren Beziehungen 13: „B: ja und (.) das verHINDERT dann auch eigentlich WIRklich eine beGEGNUNG […] man kann so VIELE (.) ähm beGEGNUNGEN ver-verHINDERN wenn man sich verBIRGT“ (Gruppeninterview 1, Abs. 174) So können z.B. Bekanntschaften, die über Kooperationen der Institutionen entstehen, in den Räumen der Einrichtungen – z.B. in Tagestreffs, Aufenthaltsräumen usf. – aufrechterhalten und verstetigt werden. Eine der von uns interviewten Personen berichtete von gegenseitigen Besuchen zwischen einer Zuverdienst-Werkstatt eines Trägers der Sozialpsychiatrie und einer Kindertagesstätte. D: „und mich beSUCHEN sie AUCH manchmal (.) oder mit den KINDERN dann singen sie dann spielen sie mit den SCHRAUBEN das heißt sie M=MONTIEREN sie auch (.) spaßeshalber und dann (.) singen sie LIEDER und tun FRÜHSTÜCKEN und (.) wir haben es auch einmal besucht wir sie auch“ (Interview Frau D., Abs. 15) Ambivalent bleibt die Orientierung an Institutionslogiken jedoch dann, wenn diese die Interaktionsmöglichkeiten der Subjekte dahingehend strukturieren, dass das Aufnehmen von sozialen Kontakten außerhalb der Institutionen am besten in eher geschlossenen Systemen funktioniert, wie z.B. in streng ideologisch strukturierten religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen. Und auch die alltäglichen Kontakte derjenigen Adressat_innen, die sozialpsychiatrische Unterstützung im eigenen Wohnraum erhalten, machen deutlich, dass diese Form der Normalisierung nicht ausschließlich positiv erlebt wird. Zwar berichteten die interviewten Personen von Unterstützung, die sie durch Nachbar_innen erfahren haben. 13 Sieh dazu auch Goffman, Erving (1963/1975): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 318 R: „so zur zeit mache ich das halt mit den anderen gut jetzt dass ich meine fenster da hanne putzen lasse für fünfzig euro also das mache ich auch nicht mehr da hanne (.) weil der im haus da dem gebe ich dann immer der solls dann machen der freut sich der der sagt schon was gibts noch zu machen bei dir (.) naja so tut der sich aufbessere aber das sage ich nicht wenn ich ihn nicht gehabt hätte hätte ich auch die wohnung äh äh äh nicht“ (Interview Frau R., Abs. 103) Soziale Kontakte werden allerdings nicht nur als Bereicherung empfunden. Gerade in psychischen Krisen können diese als zusätzliche Belastung empfunden werden. In einem Transkript findet sich folgender Satz eines Interviewten: U: „teilweise wars bei mir sogar so=ich hab ja jetzt eigentlich gar keine freunde mehr=aber ist mir auch egal=ist mir auch lieber so=weil es war für mich mehr ANstrengend (.) wie das ich mich gefreut hab dass mich jemand besucht oder sowas“ (Interview Herr U., Abs. 32) Hierin wird erneut deutlich, wie anstrengend Interaktionen von Psychiatrie-Erfahrenen erlebt werden können. Neben der positiven Bewertung der erfahrenen Unterstützung und gegenseitigen Wertschätzung, die durch außerinstitutionelle Kontakte eröffnet werden, werden in den Interviews die ständige Sorge um eine potenzielle Stigmatisierung und die zusätzliche emotionale Belastung durch alltägliche Konflikte oder Überforderung bei der Gestaltung von Beziehungen betont. Wie bei der Frage nach Kontakten außerhalb der Institutionen, lässt sich auch der Blick auf die Freizeitgestaltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern nicht rekonstruieren, ohne die wirkmächtige Position der Institutionen zu berücksichtigen. In diesem Kontext sind damit Bereiche wie Tagesstruktur, Ergotherapie und Stimmungsregulierung (z.B. in manischen Zuständen, Grenzen durch Professionist_innen zu setzen) angesprochen, die sich als professionelle Unterstützung bei der Gestaltung von Aktivität und Passivität, Produktion und Reproduktion, Verausgabung und Erholung verstehen. Auch an dieser Stelle, bei der Frage nach der Freizeitgestaltung, stießen wir an die Konstruktion eines Innerhalb und Außerhalb der Institutionslogik. Während der Begriff der »Freizeitgestaltung« unberücksichtigt lässt, dass diese Zeit für viele befragte Personen ebenfalls in der Institution – und i.d.R. durch sie – organisiert wird, impliziert der Begriff der frei »verfügbaren Zeit«, dass diese auch aktiv ausgestaltet wird 14. Exemplarisch greift diese implizite Aktivierungslogik eine interviewte Person auf, die 14 Die Angemessenheit des Begriffs »Freizeit« muss vor allem diskutiert werden, wenn z.B. über Adressat_innen in vollstationären Einrichtungen oder betreuten WGs die Rede ist, deren Zeit fast gänzlich institutionell gerahmt ist. Besser wäre, von frei verfügbarer Zeit zu sprechen und auf jene Zeit Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 319 nicht an den institutionalisierten Freizeitangeboten teilnimmt, jedoch gleichzeitig darauf hinweist, dass sie ihre Zeit aktiv nutzt: T: „ich bin sonst halt auch noch PRIVAT AKTIV“ (Interview Herr T, Abs. 15). Sprechen wir hier von Freizeit, so ist damit die Zeit gemeint, welche Adressat_innen nicht in den stationären oder ambulanten (Unterstützungs-)Angeboten der Sozialen Arbeit verbringen, die Zeit vor und nach den tagesstrukturierenden Maßnahmen oder den Angeboten in Tagesstätten, beim Zuverdienst usf.. Zunächst lässt sich festhalten, dass sich die von uns interviewten Adressat_innen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten bewegen und daher auch Zugang zu sehr unterschiedlichen (Freizeit-)Angeboten haben. In der Regel sind sie aber über die vorgehaltenen Angebote informiert. Die Freizeitangebote, von welchen wir erfuhren, werden überwiegend in den jeweiligen Institutionen organisiert und durchgeführt und beziehen sich oftmals auf andere bestehende Angebote oder Räume innerhalb der Einrichtung. So richten sich Freizeitangebote z.B. an Gruppen, die auch in den tagesstrukturierenden Maßnahmen, der Ergotherapie usf. Zeit miteinander verbringen sind und greifen meist dieselben Themen und Tätigkeiten auf. Ebenfalls angeboten werden (Tages)Ausflüge oder Freizeiten über mehrere Tage, welche sich an alle Adressat_innen einer Einrichtung richten. Diese Angebote, von einer interviewten Person als »Urlaub« bezeichnet, werden von Professionist_innen geplant, „L: die frau [Name der Sozialarbeiterin] schaut sich verschiedene sachen an (.) was für uns das passendes=passende wäre“ (Interview Frau L., Abs. 43), wobei die Einflussmöglichkeiten auf die Reiseziele und die Aktivitäten vor Ort variieren. Die von uns interviewten Personen bewerten diese Angebote unterschiedlich. Einerseits wird darin eine Möglichkeit gesehen, die Institution zu verlassen und nicht-alltägliche Erfahrungen in einem anderen Kontext zu machen. L: „da haben wir da ein zimmer gehabt mit küche wohnzimmer und schlafding (.) das war sehr schön (.) da sind wir immer in die stadt gegangen=am strand entlang (.) haben immer eingekauft (.) jeden tag frisch eingekauft (2) haben selber gekocht (2) unter schwierigen umständen mit unseren zwei herdplat- abzuzielen, über die Adressat_innen selbst bestimmen können. Angesichts der institutionellen Rahmung des Alltags – bzw. wiederkehrenden institutionalisierten Episoden, z.B. in psychiatrischen Kliniken – vieler Psychiatrie-Erfahrener, erscheinen beide Begriffe eher wie Euphemismen. Erwähnenswert ist an der Stelle der historische Kontext des Begriffs »Freizeit«, welcher zuerst bei Friedrich Fröbel auftaucht. Fröbel definiert den Begriff vor dem Hintergrund des Spannungsfelds Unterrichtszeit/religiös bzw. politisch verordnete freie Zeit und verweist damit bereits auf die strukturierende Macht der Institution. (Vgl. Fröbel 1823/1914: 236) Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 320 ten gell <<lachen>> […] da haben wir gegrillt=mal haben wir fisch gegrillt (.) mal fleisch und wurst (.) da mussten wir immer salate machen (.) frühstück haben wir immer brötchen gehabt und croissants“ (Interview Frau L., Abs. 47) Den institutionalisierten Alltag emotional und geographisch zurücklassen zu können und der Ausblick auf neue positive Erfahrungen, sind für einige der interviewten Personen ein Grund zur erneuten Teilnahme. O: „ja (.) dieses jahr fahren wir wieder in urlaub (1) nach ehm (4) weiß nicht wie's heißt […] aber auch ein bisschen weiter weg […] ja ich freu mich schon“ (Interview Herr O., Abs. 38-40) Die Teilnahme an den Reisen setzt allerdings eine finanzielle Beteiligung an den Kosten voraus. Diese vor dem Hintergrund der verfügbaren finanziellen Ressourcen hohen Kosten können die Teilnahme einiger Adressat_innen verhindern. Frau L. berichtet davon, dass die meisten Adressat_innen hierfür ein ganzes Jahr sparen müssen: „L: ja das muss man selber zahlen (.) die meisten leute sparen dann das ganze jahr auf die freizeit“ (Interview Frau L., Abs. 55). Um die Teilnahme zu ermöglichen, kann es vorkommen, dass die Institution in Vorleistung geht, wodurch das Ansparen für eine Freizeit selbst zu einem machtvollen Wechselspiel aus Verschuldung und Verpflichtung in der Institution werden kann. Im folgenden Abschnitt beschreibt die interviewte Person, wie sie versucht, der zusätzlichen Verknappung der finanziellen Mittel entgegenzuwirken, indem sie der auszahlenden Instanz der Institution vormacht, es gäbe eine andere Spar-Vereinbarung mit der persönlichen Bezugsmitarbeiterin. „L: ja manchmal will ich sie auch bescheissen weil da=dann sag ich dann manchmal die frau [Name der Bezugsmitarbeiterin] hat gesagt ich krieg so und so viel taschengeld (.) und dann fällt sie manchmal darauf rein aber da kriegt sie ärger mit meiner frau [Name der Bezugsmitarbeiterin] […] L: ja ich muss wieder=ich krieg zwanzig euro die woche (.) und dann haben wir ausgemacht ich krieg bloß fünf euro die woche bis ich wieder ein bisschen geld gespart habe […]“ (ebd., Abs. 218) Für eine andere Person verhindert der finanzielle Aspekt allerdings grundsätzlich die Teilnahme an solchen Freizeitaktivitäten. Verbunden mit dem – unterstellt – eher geringen Autonomiegewinn stellt die Eigenbeteiligung an dem Freizeitangebot eine Hürde bei der Bereitschaft zur Teilnahme dar. T: „nein für mich scheidet das AUS (.) und zwar FINANZIELL […] wenn ich einen urlaub machen WÜRDE (.) dann möchte ich gerne auch das machen WAS !ICH! WILL […] also mit ohne da irgendwelche (1) DINGER zu unterSETZEN“ (Interview Herr T., Abs. 21) Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 321 Die strukturierten Freizeitaktivitäten eröffnen für Herrn T. nicht genügend Möglichkeiten zur selbstbestimmten Tagesgestaltung. Grundsätzlich wird eine Teilnahme jedoch nicht ausgeschlossen, in der Vergangenheit nahm Herr T. gelegentlich an Aktivitäten teil. Sie wirkten auf Herr T. allerdings eher verpflichtend und hatten einen impliziten aktivierenden Impetus, der die Angebote in die Institutionslogik einbettete. Herr T. schließt zwar eine Teilnahme in der Zukunft nicht aus, wünscht sich aber mehr selbstbestimmte Einflussmöglichkeiten auf die Ausgestaltung einer solchen Freizeit. T: „ich würde dann EINfach (.) mein mein TAG SELBER planen (.) also auch MACHEN was ich WILL (.) wenn ich jetzt lust hab WAS ANzugucken wenn ich lust hab mal an einer ding (.) TEILzunehmen an einem AUSflug oder so dann würd ich MITgehen oder so (.) aber ich hätte UNgern so einen strukturierten TAGesablauf (.) […] ich habe (.) ich will EINfach gerne ETwas UNabhängiger sein“ (Interview Herr T., Abs. 25) Darüber hinaus bieten sich die räumlichen Ressourcen der Einrichtung zur Freizeitgestaltung an, z.B. durch das Nutzen eines Fernsehzimmers oder anderer Gemeinschaftsräume bzw. – soweit vorhandener – Außenanlagen. Die Nutzung der Gemeinschaftsräume bietet eine niederschwellige Option der Freizeitgestaltung, bei der z.B. Herr O. situativ Einfluss nehmen und entscheiden kann, ob die Freizeitaktivität Interaktionen ermöglichen oder ausschließen soll. O: „manchmal denk ich mir ja guck doch mit den leuten gemeinsam fernseher dann kommst du ins gespräch (1) oder man hat die gemeinschaft aber ist manchmal gar nicht so einfach I: mhm (1) was ist da nicht so einfach O: mit den leuten ins gespräch zu kommen oder=oder sich dahin zu setzen und mit denen zu gucken ich gucke lieber alleine fernsehen also nicht immer aber (2) ich setz mich schon mal dazu“ (Interview Herr O., Abs. 182-184) In einem anderen Interview (Adressat_in in einem Sozialpsychiatrischen Dienst, nimmt Beratung und Tagesaufenthalt in Anspruch) findet sich diese Idee einer aktiv (selbst-)gestalteten Freizeit wieder. Sie berichtet davon, über ein Freizeitangebot im Tagesaufenthalt angeregt worden zu sein, sich zu Hause mit Spielen wie Sudoku, Memory oder Mau-Mau zu beschäftigen. Nach Anfangsschwierigkeiten fiel es ihr relativ leicht, sich Sudoku anzueignen und immer komplexere Aufgaben zu lösen. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 322 R: „[…] und dann habe ich mir gleich sudoku heftle aber natürlich zuerst für einsteigerund nicht für profis und so gell ich mein ich muss jetzt auch wieder da ziemlich weil ich war bis zum level elf bis level zwölf gibts ja bis level elf“ (Interview Frau R., Abs. 19) Der Erfolg bestätigte Frau R. darin, sich auch auf Spiele wie Memory und Mau-Mau einzulassen. Da diese Spiele auch in der Gruppe gespielt werden können, wurde Frau R. zudem darin bestärkt, eine andere Person (ebenfalls Adressat_in des SpDi) zu sich nach Hause einzuladen, um Mau-Mau zu spielen. R: „ja bei mir zu hause machen wir das und jetzt neulich haben wir das auch gemacht“ (Interview Frau R., Abs. 51) Ursprünglich waren die Spiele in ein Angebot eingebettet, das explizit als kognitives Training ausgewiesen ist. Frau R. nutzte das Angebot und konnte sich zudem darüber hinausweisende Freizeitaktivitäten, wie z.B. Quizsendungen im TV, aneignen. Frau R. betont dabei, dass es nicht darum geht sich ‚berieseln‘ zu lassen, sondern darum, dass das „hirn flexibel bleibt“. R: „sudoku sudoku sudoku ist eine sucht bei mir ich mach jetzt gerade sudoku selber grad selber die leere fächer aus und dann tu ich selber so zahlen rein machen und jetzt muss ich radieren radieren weil es nicht so dass mein hirn flexibel bleibt [I: mhm] weil sonst verblödest du weil ich hab gemerkt ich verblöde zusehentlich wo ich nichts gemacht habe <holt Luft> ich mach jetzt zwar auch ich die (.) quizsendungen im fernsehen mache ich immer mit […] neulich habe ich die schnelle raterunde mitgemacht […] ich hab das gar nicht überlegt wie das mein hirn auf einmal von alleine geschwätzt hat also wirklich wahr super super“ (Interview Frau R., Abs. 17) Auf der einen Seite unterwirft sich Frau R. der Aktivierungslogik und akzeptiert den therapeutischen Impetus des Angebots inklusive seiner kognitivistischen Normalitätskonstruktion. Auf der anderen Seite gelingt es Frau R. jedoch, diese Denkbewegung mit alltäglichen Routinen, Bedürfnissen und Interessen zu vermitteln und so den mit dem Angebot implizierten Nutzen zu realisieren. Über den fokussierten kognitiven Nutzen „dass mein hirn flexibel bleibt“ hinaus, kann Frau R. durch den Rückbezug auf das Angebot in Interaktion mit anderen Adressat_innen treten und in der Auseinandersetzung mit dem Angebot (Sudoku, Memory, Mau-Mau spielen) nicht nur die Bewältigung einer konkreten Krise bewerkstelligen („weil ich hab gemerkt ich verblöde zusehentlich wo ich nichts gemacht habe), sondern darin auch künftige Krisen erzeugen bzw. ermöglichen. Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 323 Institutionalisierte Freizeitgestaltung ist jedoch nicht einfach dauerhaft durchzuhalten: Nach einer gewissen Zeit werden manche Angebote nicht mehr regelmäßig genutzt, erklärt eine interviewte Person. Und so schleichen sich die Angebote aus: „das ist also INsgesamt WENIGER geworden (2) die MALgruppe hat eigentlich AUCH schon LAnge nicht mehr STATTgefunden (.) irgendwie (.) gehen den leuten die PUSTE aus (.) die KOMMEN nicht mehr <<lacht>> ich weiß aber AUCH NICHT woran das LIEGT“ (Interview Herr P., Abs. 35) Fallbeispiel Am Beispiel des Interviews mit Frau D. wird die Bedeutung sozialer Netzwerke in sozialpsychiatrischen Institutionen für die Identitätsarbeit psychiatrieerfahrener Menschen exemplarisch ausgeführt. Frau D. ist Besucherin einer Tagesstätte für psychisch erkrankte Personen. Sie beginnt ihre Erzählung mit der Darstellung ihres Wegs in die Tagesstätte, der 1987 oder 1988 mit einem Klinikaufenthalt begann. Dem Klinikaufenthalt folgte eine Unterbringung in einer sozialpsychiatrischen Wohngruppe, innerhalb derer sie an einer „Freizeitgruppe“ teilnahm, welche später zur gegenwärtigen Tagesstätte konzeptionell verändert und weiterentwickelt wurde. Bereits in der ersten Sequenz hebt sie hervor, dass sie zwar seit dieser Unterbringung kontinuierlich an verschiedenen Angeboten sozialpsychiatrischer Handlungsfelder teilnimmtm, parallel jedoch bis 2004, bis zu ihrem Renteneintritt, „auf dem ERSTEN Arbeitsmarkt“ (Interview Frau D, Abs. 5) arbeitete. Vor der Unterbringung in der Wohngruppe hat sie eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin absolviert und in einem Krankenhaus gearbeitet. Während ihrer Zeit in der Wohngruppe absolvierte sie eine weitere Ausbildung, „eine KINDERpflegerinausbildung […] eine erZIEHERinausbildung“ (ebd., Abs.9), nutzte jedoch weiter regelmäßig sozialpsychiatrische Gruppenangebote: „seit fünfundneunzig war ich in der FRAUENgruppe in einrichtung 1 (.) und da hab ich immer erZÄHLT von meinen KINDERN und vom KINDERgarten und von der SCHULE (.) und von den PRÜfungen und so“ (ebd., Abs.9). Frau D stellt heraus, dass sie die Angebote eher als Unterstützung bei der Freizeitgestaltung nutzte: „VIER tage freitag FREI gehabt und dann bin ich halt zum ESSEN gekommen (.) also die FREIzeitgruppen hab ich dann geMACHt“ (ebd., Abs.5). Gleich zu Beginn des Interviews beschreibt sie sich als Adressatin, die zwar auf die Angebote des Handlungsfeldes angewiesen ist, diese aber immer auch selbstbestimmt verlassen oder verändern kann. Die Sozialpsychiat- Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 324 rie beschreibt sie als differenziertes System, innerhalb dessen Übergänge und Veränderungen der Angebote möglich sind. Der Klinikaufenthalt wird im Nachhinein nicht als stigmatisierende Einbahnstraße beschrieben, sondern als Zugang zu einem differenzierten Hilfesystem: „also ich war in ort 1 im KRANKenhaus (.) und dann (.) dann ähm war ich in einer in einer GRUPPE in einer FREIzeitgruppe und war in einer WOHNgruppe Auch und bin dann dadurch zum einrichtung 2 gekommen der VORgänger vom einrichtung 1“. (ebd., Abs.5) Die Wechsel der wahrgenommenen Angebote und das Begleiten von institutionellen Veränderungen schildert Frau D. als ermöglichend, als Anlässe an den neu vorgefundenen und sich transformierenden Strukturen zu partizipieren, sich darin zeitweise zu verorten. Neben ihrer Arbeit im Zuverdienst der Einrichtung, engagiert sie sich auch in anderen Bereichen. So beschreibt sie sich als „PATIENTENsprecherin“ (ebd., Abs.11) der niederschwelligen Tagesstätte und als Leiterin diverser Gruppen, die einst von Studierenden im Praxissemester angeleitet wurden und nun, aufgrund der Veränderungen des Studiums, von ihr angeleitet werden: „und das haben früher alles studenten gemacht die ganzen GRUPPEN und das hab ich jetzt überNOMMEN (.) ich bin ja KINDERpflege <<lacht>>“ (ebd., Abs.11). Unter anderem nimmt sie auch an einem Bewegungsangebot teil, welches ihr einen Anlass bot auch Angebote außerhalb sozialpsychiatrischer Handlungsfelder wahrzunehmen: „ich war priVAT früher AUCH in einer gymnastikgruppe (.) über über SENIOREN- sport (.) und da hab ich mir die ANregungen geholt und ich geh jetzt privat wieder MOntags in eine ANDERE gruppe (.) da ist es ein kleines bisschen ANDERS und dann MIX ich immer die ÜBungen ein bisschen“ (ebd., Abs.11). Seit zwölf oder dreizehn Jahren arbeitet sie ebenfalls als Unterstützung bei der ambulanten Pflege von Peers: „BEtroffene für BEtroffene bei der ambulanten PFLEGE da […] mal in einem HAUShalt […] und dann war ich mal bei einer frau da hab ich WÄSCHE gewaschen da hab ich mal SPIELE mitgenommen mensch ärger dich nicht spiele und die liederbücher von hier“ (ebd., Abs.13). Frau D. ist darüber hinaus auch in einem Kindergarten tätig: „ich bin ja ZUSÄTZLICH da das mach ich ja EHRENamtlich […] und ich tu gern VORlesen und so und dann schif- tu ich auch st- stifte spitzen“ und hat regelmäßigen Kontakt zu einem Waldkindergarten im Ort: „ich war mal ein ganzes JAHR an der THEKE (1) hab ich eine erZIEHerin kennengelernt vom WALDkindergarten und mich beSUCHEN sie AUCH manchmal (.) oder mit den KINDERN dann singen sie dann spielen sie mit den SCHRAUBEN das heißt sie MONTIEREN sie auch (.) spaßeshalber Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 325 und dann (.) singen sie LIEDER und tun FRÜHSTÜCKEN und (.) wir haben es auch einmal besucht wir sie auch im WALDkindergarten am ort 3 im BAU- wagen und so“ (ebd. Abs. 15) Frau D.s Schilderungen zufolge, erlebt sie ihre Teilnahme an den verschiedenen Angeboten als unterstützend. In ihrer Erzählung beschreibt sie die Angebote und Strukturen der Sozialpsychiatrie als Ermöglichungsräume, die sie nutzen und verschränken kann, sodass sie Inhalte, Materialien, Beziehungen in andere Felder transferieren und dort für sich als Autonomie eröffnende Ressource erfahren kann. Der konkrete Nutzen der Angebote lässt sich nicht auf eine bestimmte Wirkung, Änderung eines Handlungsschemas oder des Erlernens einer Handlungsstrategie vereinseitigen. Vielmehr scheint es, als nutze Frau D. die Angebote so, dass durch die Nutzung hindurch die Aneignung des Gegenstandes des Angebots selbst (z.B. Steigerung der Frequenz körperlicher Betätigung, Prävention körperlicher Erkrankungen aufgrund eines Mangels an Bewegung) und darüber hinaus, die Aneignung weiterer – ökonomischer, sozialer usf. – Räume möglich wird (z.B. die Teilnahme an einer Gymnastikgruppe außerhalb der Einrichtung). Frau D. bleibt jedoch weiterhin auf das Handlungsfeld angewiesen, bringt die Erfahrungen, die sie außerhalb macht wieder in die Gruppen der Einrichtung ein und bewegt sich sowohl in institutionell resp. sozialpsychiatrisch definierten und dominierten Bereichen als auch außerhalb davon. Zugleich wird deutlich, dass eine gelungene Auseinandersetzung mit sozialpsychiatrischen Unterstützungsleistungen nicht zwangsläufig den Ausstieg aus dem Handlungsfeld befördern muss, im Sinne einer »Normalisierung« der Person und ihrer sozialen Bezüge oder einer »Heilung« der Erkrankung. Vielmehr wird deutlich, dass Soziale Arbeit in sozialpsychiatrischen Handlungsfelder im Sinne von sozialen Netzwerken genutzt wird, also als Ressource in der Bearbeitung und Umsetzung von Identitätsprojekten. Ergebnisse des Fachtags Zum Thema Identität und soziale Netzwerke wurden am Fachtag anhand des Zitats: „Die Einrichtung ist schon wichtig. Ohne sie würde ich nur zu Hause rumsitzen. Das wäre auf Dauer ein großes Problem.“ ähnliche Themen wie in Kapitel 4.2.3. diskutiert und die nicht selbst gewählte Gemeinschaft in Einrichtungen betont. In diesem Zusammenhang wurde ebenfalls die Ansicht entwickelt, dass sich die Institution bezüglich sozialer Netzwerke zwischen einem sozialen Kontaktraum und der institutionellen Herstellung von Beziehungsabbrüchen bewegt. Außerdem kam die Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 326 Frage auf, ob die Errichtung eines Schutzraumes nicht genau das Gegenteil einer Inklusionsbewegung ist. Die Diskutierenden hielten fest, dass alle Menschen Beziehungswesen sind, für die es wesentlich ist, sich als bedeutsam für Andere zu erleben. Außerdem wurde die Zusammenarbeit von Professionist_innen nicht professionellen Helfer_innen entlang des folgenden Zitats diskutiert: „In Stadt X habe ich eine Stimmenhörergruppe kennen gelernt. Das hat mir gefallen. Dort gelten nicht nur die als Expert_innen, die studiert haben, sondern auch die, die es selbst miterlebt haben.“ Diesen Impuls diskutierten die Gäste mit dem Fokus auf das Spannungsfeld zwischen den Vorteilen eigener Betroffenheit bei der Begleitung Psychiatrie-Erfahrener und der Notwendigkeit professioneller Distanz. Zunächst ging es um die Frage, was unter »professioneller Kompetenz« bzw. »Professionalität« zu verstehen ist. Dazu, so die Ansicht der Gäste, gehört zunächst ein Wissensspektrum aus Theorie und Praxis. Ob Erfahrung ein Kriterium von Professionalität ist, wurde kontrovers diskutiert, wobei sich alle einig waren, dass es kein alleiniges Qualitätsmerkmal einer sozialpsychiatrischen Hilfe sein kann, Erfahrungen sind schließlich immer heterogen. Die anwesenden Psychiatrie-Erfahrenen forderten jedoch sehr deutlich „Nehmt uns ernster“, sie wünschten mehr Beteiligung an Hilfeprozessen und auch an Forschung. Sie wiesen auf den Unterschied hin, dass Erfahrungen bei authentischem, empathischem und „sinnlichem“ Handeln helfen kann, denn: „Anfühlen ist etwas anderes als ansehen“. Für Psychiatrie-Erfahrene und Nicht-Psychiatrie-Erfahrene Helfer_innen gibt es immer Grenzen des Verstehens, sogenannte „blinde Flecken“, um die gewusst werden sollte. Das Gemeinsame an Erfahrungen von Psychiatrie-Erfahrenen und Nicht-Psychiatrie-Erfahrenen, was Professionalität ausmacht, ist, dass alle Menschen Erfahrungen mit der Wirklichkeit machen und somit auch alle Menschen auf dieser Wissensebene miteinander kommunizieren können. Eine professionelle Distanz sahen ebenfalls alle Anwesenden als wichtiges Merkmal von Professionalität. Zusammenfassend sind die Merkmale von Professionalität an dieser Stelle also die Reflektiertheit von Erfahrung und die multiperspektivische Betrachtung von Fällen, die eine einseitige Deutung verhindert. 327 4.4. Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit Identitäten und Zugehörigkeiten, Zuschreibungen, Politik, Widerstand Diese Kategorie ist an die Identitätskategorie „Kulturelle Identität“ (vgl. Keupp et al 2008, S. 170-181) angelehnt, jedoch etwas weiter gefasst. Unter kultureller Identität verstehen Keupp et al „kulturelle Werte, Orientierungen, Einstellungen“ (ebd., S. 180), in denen die eigenen Identitätsentwürfe bewertet werden. Dabei werden die Werte etc. in sozialen Netzwerken ebenfalls reproduziert, ihre Praktiken eingeübt und in die alltägliche Lebensführung umgesetzt (vgl. ebd., S. 180). Für neue kulturelle Identitäten, z.B. regionale Identitäten, ist vor allem die Erfahrung von Benachteiligung und Diskriminierung 15 ausschlaggebend. Mit einer Diversifizierung kultureller Identitäten in Zeiten gesamtgesellschaftlicher Umbrüche und veränderter Kommunikation (Sprache, Medien) werden jedoch auch Unterschiede und Ambivalenzen zwischen Gruppen und Subjekten deutlicher, welche individuell bearbeitet werden müssen. Das Gefühl, nicht in einen sozialen Kontext eingebettet zu sein bzw. ihn zu verlieren („Disembedding“), wird durch eine erneute Herstellung von Verbindungen zu Orten, Personen und kulturellen Kontexten („Beheimatung“) wieder einzuholen versucht. Mit der Aussage mitgehend, dass psychisches Leiden als Leiden an gesellschaftlichen Verhältnissen in den Blick genommen werden muss und sich Kritik nicht nur auf (notwendige) Kritik an psychiatrischen Behandlungskonzepten reduzieren und damit entpolitisieren darf (vgl. Kardoff 2017, S. 4–5), wird hier besonders auf die Verletzlichkeiten, die krank machenden Verhältnisse und demnach das Scheitern und der Widerstand gegenüber diesen Verhältnissen geblickt. An dieser Stelle sind politische Positionierungen, widerständige Praktiken und die Beschreibung der Einschätzung der Befragten, „nicht-identisch“ oder „anders“ zu sein, zusammengefasst, die für Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung unter Bezug auf Normalitäts- und Abweichungskonstruktionen im Datenmaterial eine Rolle spielen. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses von Psychiatrie als der „Wiederherstellung der Ordnung und de[m] `Schutz` der Gesellschaft vor den `Anormalen`“ (Ralser 2010, S. 141) dienend, gilt es diese Dimension besonders hervorzuheben. Durch Differenzierungs- und Normalisierungsstrategien der Psychiatrie kommt es zu einer Delegitimierung von Bedürfnissen der Adressat_innen und damit zu einer Stärkung der paternalistischen Professionist_innenposition (vgl. Bliemetsrieder/Dungs 2016, S. 280), die einem partizipatorischen Professionsverständnis entgegenstehen. In diesem Zusam- 15 Auf unterschiedliche Ungleichheitsdimensionen bezogen, wie z.B. sex/gender, Ethnie/Herkunft, Behinderung/körperliche Merkmale, colour/Hautfarbe, class/zugeschriebene gesellschaftliche Klasse. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 328 menhang sind ebenfalls alle Äußerungen zu stigmatisierenden Erfahrungen der Befragten in den Blick zu nehmen, die sich nach Erving Goffman (1963/1975) auf eine »beschädigte« Identität auswirken. Zusammengefasst werden in diesem Abschnitt folglich die von Psychiatrie-Erfahrenen erlebten Zugehörigkeiten und darin eingelagerte Werte und Einstellungen aufgezeigt, sowie ihre Zuschreibungs- und Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer psychischen Erkrankung hervorgehoben. Kurzbeschreibung der Inhalte Die Aussagen der Befragten in dieser Kategorie lassen sich in fünf Code-Gruppen unterteilen: • Zugehörigkeit zur Gruppe psychisch Erkrankter und gesellschaftliche Teilhabe • Positionen zur psychiatrischen Handlungsfeld • Mitwirkungsgremien und Interessensvertretung • Politisches Engagement • Kunst und Anerkennung Die Zugehörigkeit zur Gruppe psychisch Erkrankter und gesellschaftliche Teilhabe spielt quantitativ eine große Rolle in den Interviews und wird qualitativ sehr divers diskutiert. Viele Interviewteilnehmer_innen berichten von erlebter oder befürchteter Stigmatisierung, die zu einem „Doppelleben“ (Gruppeninterview 1, Abs. 160) zwingt – das ganze Leben erschwert – da es zu Ausgrenzungs- und Abwertungserfahrungen in den Bereichen Arbeit, Nachbarschaft, Mietverhältnis, Partnerschaft, Familie und Freundschaften kommt. Dabei, so das Erleben er Interviewten, hilft es jedoch sehr, dass eine psychische Erkrankung äußerlich nicht sichtbar ist und somit der Schein des Normalseins gewahrt werden kann: „ja (.) ja <<lacht>> ja wenn man halt verSUCHT (.) geWISSE (.) den ANschein zu WAHren quasi ein norMALES LEben zu FÜHREN“ (Gruppeninterview K, Abs. 125). Auch im sozialpsychiatrischen Hilfesystem selbst wird dies in Form von undifferenzierter Pathologisierung aller Identitätsanteile erlebt. Inhaltlich sehen sich die Befragten mit einer ihnen unterstellten Unzuverlässigkeit und einer auch durch öffentliche Berichterstattung unterstützten Angst vor ihnen konfrontiert. Einige Interviewpartner_innen thematisieren sich 329 Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit selbst als „Psychisch Kranke“, äußern zum Teil Scham aufgrund der eigenen Diagnose, berichten aber auch von der Identifikation mit der Diagnose. Einige verstehen ihre psychische Erkrankung als unüberwindbar ursächlich für schwierig zu bewältigende Aufgaben in verschiedenen Lebensbereichen „arbeiten gehen=geld verdienen das kann ich ja nicht alles [I: mhm] oder ich trau mirs nicht zu so gesagt“ (Interview Herr O., Abs. 210). An einigen Stellen thematisieren die Befragten, dass sie zu vielen Bereichen nicht dazu gehören oder sich keiner Identität, weder den psychosozialen Einrichtungen, noch einer Gesellschaft außerhalb zugehörig fühlen. Dementsprechend vergemeinschaften sich die Befragten auf unterschiedliche Weise mit einer von ihnen angenommen Gruppe „Betroffener“. Einerseits wird sich von anderen ausgegrenzten bzw. marginalisierten Gruppen selbst abgegrenzt, zum Beispiel von ebenfalls in der Tagesstätte im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit arbeitenden Menschen. Zu anderen Betroffenen wird teilweise eine Verbundenheit, eine gegenseitige Dankbarkeit erlebt. Andererseits wird in der heterogenen Gruppe von Psychiatrie-Erfahrenen ebenfalls zwischen den »sehr Kranken« und den »weniger Kranken« unterschieden, mit denen man Mitleid hat. Zum Beispiel erzählt eine Befragte: „ich hab SO ein HERZ gehabt für die arme kranke menschen (.) das hab ich schon IMMER gehabt“ (Interview Frau B., Abs. 10) und: „also ich hab mich IMMER eingemischt und hab zu den (.) psychisch kranken menschen gehalten“ (ebd., Abs. 28). Es werden Hierarchien anhand des Grades an Engagement und Teilhabe vorgenommen: Z.B. wird mit der Beteiligung im Heimbeirat eine erhöhte Position in der Gruppe verbunden: „ich bin eigentlich die UNTERSTE aller (.) so empfinde ich mich (.) also ich war vorher die nummer eins hier“ (ebd., Abs. 26). Die gemeinsame Erfahrung, eine psychische Erkrankung zu haben, trägt jedoch darüber hinaus zu einer gemeinsamen kulturellen Identität bei, was an diesem Versprecher deutlich wird: „die mithäft- <<lacht>> <<lachend>die mitklienten“ (Interview Frau R., Abs. 85). An manchen Stellen wird die Empfindlichkeit der anderen Psychiatrie-Erfahrenen jedoch auch als Hindernis für gemeinsame Gespräche gesehen „deswegen bin ich da ziemlich äh jetzt (.) distanzierter so [okay] das da musst du wirklich aufpassen was du redest das ist ganz schlimm“ (Interview Frau R., Abs. 61). Einige erleben das Zusammenwohnen mit anderen PsychiatrieErfahrenen hauptsächlich als vereinzeltes nebeneinander Leben „P: weil jeder denkt dann meistens an sich selber (1) und nicht“ (Interview Frau L., Abs. 35). So wünschen sich einige konkret eine bessere Vergemeinschaftung „P: also ich würd mir wünschen mehr gespräche Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 330 irgendwie [I: mhm] oder irgendwie mehr zusammenhalt unter den bewohnern oder so“ (Interview Herr O., Abs. 247) und andere erleben dies schon direkt als Atmosphäre in einer Einrichtung, die nur für psychisch kranke Menschen gedacht ist: „I: <<atmet aus>> ja ähm dass man halt ähm (2) JA dass man halt ähm (2) ja man ist NICHT ausgeschlossen also (.) man gehört dazu (1) ähm man kommt leicht ins GESPRÄCH mit anderen LEUTEN und (2) und so weiter irgendwie ja“ (Interview Herr I., Abs. 17). Dabei ist die Vergemeinschaftung teilweise auch infantilisierend beschrieben: „wir haben ZIEGEN hier (.) die ich versorge mit ein paar anderen jungs und mädels“ (Interview Herr E., Abs. 38) Von den Befragten äußern einige als Grund und Folge ihres erlebten gesellschaftlichen Ausschlusses ihre sozioökonomische Lage und die damit verbundenen Einschränkungen. So wird die prekäre Beschäftigung im Zuverdienst beispielsweise als notwendig wahrgenommen, weil Transferleistungen (wie z.B. Arbeitslosengeld II, Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung) nicht ausreichen. Die finanzielle Knappheit wird allgemein als sehr belastend erlebt: Bestimmte Wünsche, wie zum Beispiel zu reisen, auch in finanziell subventionierten Freizeiten, sind demnach von einem knappen Taschengeld, wie es in Wohnheimen ausgezahlt wird, kaum zu ermöglichen. Ein Befragter formuliert es so: „P: ja das ist halt (.) wenn man raucht und wenn man seine kleider alles selber kaufen muss und hygieneartikel (.) dann ist das eigentlich fast nicht möglich dass man in die stadt geht und da große sprünge macht“ (Interview Frau L., Abs. 143). Auf die Nachfrage beim Kostenträger nach einer dringend notwendigen Erhöhung des Taschengeldes wurde dem Adressaten gegenüber mit dessen kostenaufwendigem Hilfebedarf argumentiert: „aber die=die sagen der heimplatz wäre halt so teuer da können wir nicht mehr=nicht mehr=da können wir=die können uns nicht mehr taschengeld geben“ (Interview Frau L., Abs. 59). Einige Befragte berichten auch von der Notwendigkeit einer andauernden finanziellen Unterstützung durch Eltern oder andere Verwandte und Bekannte. Dass die Versorgung eines Haustiers, das eine familienersetzende Funktion für eine Befragte einnimmt, ebenfalls stark erschwert wird, berichtet sie so: „ich habe eine katze die kostet alleine hundertfünfzig bis zweihundert dann und der rest bleibt mir übrig“ (Interview Frau R., Abs. 53). Verhindert wird, nach Empfinden einiger Befragter, eine selbstständigere, das heißt nach eigenen Normalitätsvorstellungen gestaltete, Lebensweise: Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 331 „ja (1) das würde ich machen wenn ich geld hab [I: mhm] (2) ich hab's super eingerichtet eigentlich viel schade um es jemals wieder aufzuräumen […] ich weiß nicht ein großes HAUS (.) und dann gucken=verstehen sie (1) dann gucken was einem so reinläuft (.) einen gescheiten sportwagen von mercedes (1) ein HAUS (.) eine FRAU=ein MÄDchen das ich heirate (5) hm (3) […] 150 wären gut (1) weil's echt mehr ebbe also ich mein mehr SPIELraum“ (Interview Herr E., Abs. 200) Vor diesem Hintergrund sind an dieser Stelle besonders die Wünsche und Bemühungen um gesellschaftliche Teilhabe hervorzuheben, die in den Interviews formuliert werden und als Identitätsentwürfe verstanden werden können. Allgemein werden die Wünsche geäußert, dass die Idee, psychische Erkrankungen seien unheilbar, aufgeklärt wird „ein geSELLSCHAFTLICHER WUnsch ist zum beispiel für MICH wirklich (2) die UNheilbarkeit von VIELen KRANKheiten (1) dass da irgendwie ein paraDIGMEN- WEchsel oder ich WEIß NICHT dass (.) das stell ich SEHR in frage (.) dieses dass ähm (.) dass man als UN- HEIbar ABgestempelt WIRD“ (Gruppeninterview K, Abs. 205), dass alle Menschen in einer vielfältigen Gesellschaft anerkannt werden könnten: „A: ja also dieser diese ÖFFentliche akzepTANZ das das es halt VIELfalt gibt (.) [I 1 : mhm mhm] wie in (.) VIELEN beREICHEN also das haben wir ja nicht (.) allEINE <<lacht>> dass es UNTERschiedliche MEnschen gibt UNTERschiedliche (.) LEBENSsituationen UNTERschiedliche VORkommnisse im LEben unterschiedlichste bioGRAFIEN (.) einfach dieses beWUSST machen dass das ALLes SEIN DARF und AUch einen PLAtz und eine beRECHTigung (.) in der geSELLSCHAFT hat (2)“ (Gruppeninterview K, Abs. 206) und „dass so der STEMpel wegfällt auch A: und (2) JA einmal einfach einmal dem dem MEnschen FACE to FACE zu be- be- beurTEILEN oder oder sich eine MEINUNG darüber zu BILden“ (Gruppeninterview K, Abs. 207-208). Konkrete Überlegungen in diesem Zusammenhang sind zum Beispiel, die Betroffenenperspektive in der Arbeit mit Schüler_innen an Schulen zum Gegenstand zu machen (vgl. Interview 2, Abs. 13) oder allgemein gegen verkürzte Darstellungen in der Presse mit differenzierteren Informationen zu reagieren (vgl. Interview Frau D., Abs. 37). Die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich anerkannten Gruppe steht für einige in direktem Zusammenhang mit ihrer psychischen Gesundheit (vgl. Gruppeninterview K, Abs. 201-201). Dies werde jedoch auch durch die Medikamenteneinnahme behindert, weil diese einschränkende Wirkungen haben (vgl. Gruppeninterview K, Abs. 63) Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 332 Außerdem weisen die Befragten auch auf ihre anderen gesellschaftlichen Rollen hin, als Gastgeber_innen für Freund_innen („wenn ich einlade ich bin gastgeber“ (Interview Frau R., Abs. 39), als Versorger_in anderer bedürftiger Menschen und Tiere und als Zugehörige_r einer Generation, die das Erwerbsleben abgeschlossen hat „ICH mein ich bin jetzt auch RENTNER“ (Interview Herr I., Abs. 57). Das klinisch-psychiatrische Hilfesystem kritisieren einige Befragte deutlich. Es wird von schlechten bis hin zu traumatischen Erfahrungen mit der psychiatrischen Behandlung berichtet, die sich z.B. auf das Erleben einer schlechten Beratung in Bezug auf den Umgang mit der Erkrankung während der Schwangerschaft bezieht oder, in einem anderen Fall, die Zwangsbehandlung als weiterhin sehr belastende Erinnerung betrifft. Zudem wird berichtet, dass die Behandlung mit Medikamenten zu emotionalen Einschränkungen geführt hat, mit starkem Einfluss auf Partnerschaft und Familie „ich war mit einem freund zusammen (.) und die beziehung ist abgestorben (1) und=weil die welt uns dazwischen gekommen ist und zwar in der psychiatrie (1) ich hab ein mittel gekriegt=eine spritz-=eine spritze bekommen (.) die GEGEN psychose war und die hat aber als nebenwirkungen depressionen verursacht (.) und seit dieser zeit kann ich nicht mehr trauern (.) hab ich kein gefühl mehr (1) bin hoffnungslos (.) bin freudlos“ (Interview Frau B., Abs. 6). Die klinisch-psychiatrische Behandlung wird dergestalt erlebt, dass sie zu wenig individuelle Befindlichkeiten berücksichtigt (vgl. Interview Frau D., Abs. 49). Dass Psychiatrie-Erfahrene in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern mit unterschiedlichen Logiken der verschiedenen Professionen konfrontiert sind, fasst dieser Befragte – Vertreter Psychiatrie-Erfahrener – zusammen: „MEDIZIN und soziale ARBEIT sind ein- UNTERschiedliche funktionale sysTEME (.) mit unterschiedlichem CODE nämlich (.) die medizin mit HEILEN und NICHT heilen und soziale ARBEIT (.) mit HELFEN (.) NICHT helfen“ (Experteninterview Herr W., Abs. 6) Von den Befragten engagieren sich einige in Mitwirkungsgremien bzw. Interessensvertretungen im sozialpsychiatrischen Hilfesystem, wie z.B. dem Gremium in stationären Einrichtungen, dem Heimbeirat, Selbsthilfegruppen, Hausbesprechungen als regelmäßige Besprechungen mit Adressat_innen und Mitarbeiter_innen oder als Sprecher_innen der PsychiatrieErfahrenen in der jeweiligen Einrichtung. In diesem Zusammenhang berichten die Engagierten von einer notwendigen psychischen Stabilität und Selbstbewusstsein für eine Mitarbeit, die in einer psychischen Krise nicht möglich ist (vgl. Interview Frau B., Abs. 37). Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 333 Anliegen der Betroffenen, die hier verhandelt werden, hängen stark vom Grad der Institutionalisierung der Einrichtung ab: Zum Beispiel wird im stationären Wohnheim häufig die Essensauswahl diskutiert, sich für Taschengelderhöhungen eingesetzt oder die Gestaltung von Freizeiten geplant; einzelne Aktionen waren z.B. die Durchsetzung der Anschaffung von Kabelreceivern für alle und auch die Sammlung von Unterschriften für mehr Urlaubstage von der Teilnahme an tagesstrukturierenden Maßnahmen. Allgemein wird auch Raum für Konflikte und weitere Anliegen gegeben: Eine ehemalige Heimbeirätin berichtet bspw.: „und hab auch oft wenn irgendwelche=wenn die mitarbeiter aus meiner sicht nicht gerecht umgegangen sind mit den bewohnern (.) da hab ich mich eingemischt“ (Interview Frau B., Abs. 28) In der von uns befragten stationären Einrichtung ist der Organisationsgrad des Heimbeirats eher lose, so finden keine regelmäßigen Treffen statt, sondern ausschließlich anlassbezogene Sitzungen, die sehr von dem individuellen Engagement der Beteiligten abhängen. Allgemein wird auch von einer geringen Bereitschaft für ein solches Engagement berichtet. In einer niedrigschwelligen Einrichtung, einer Tagesstätte, wird berichtet, dass die Sprecher_in der Betroffenen in die Diskussion über gesetzliche Änderungen miteinbezogen wurde und dies zu einer gemeinsamen politischen Stellungnahme an politische Verantwortungsträger geführt habe: , „und das das ähm auch wenn eine verÄNDERUNG ist (.) irgendwie im [Name d. Einrichtung] oder so (.) oder NEUE (.) GESETZE (.) zum beispiel (.) wir haben beTREUTES WOHNEN gell da kann ähm da kam ein anderes (.) ein ANDERES (.) GESETZT wegen der finanZIERUNG […] und da haben wir auch schon BRIEFE geschrieben damals an den MINISTERpräsidenten (.) dass es sehr WICHTIG ist (.) ähm die beTREUUNG und so für UNS (.) da gibt es auch PFLEGEstufe NULL (1) darüber das JEMAND (.) KOMMT und INFORMIERT und das ÄRZTE kommen informiert oder MEDIKAMENTE und so“ (Interview Frau D., Abs. 35) Auf die Nachfrage, ob und inwiefern z.B. über für Psychiatrie-Erfahrene bedeutsame rechtliche Veränderungen wie bspw. das PsychKHG informiert wird, gaben viele Befragte an, von dem Gesetz nichts bzw. nur von dessen Existenz zu wissen 16. Allgemein haben die Befragten wenig Wissen über die rechtlichen und finanziellen Grundlagen ihrer Hilfen. Diejenigen, die 16 Die Interviews wurden im Zeitraum von Dezember 2014 bis Dezember 2015 durchgeführt. Das Psychisch- Kranken-Hilfe-Gesetz Baden-Württemberg ist am 1.1.2015 nach einem langen Beteiligungsprozess in Kraft getreten. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 334 darüber informiert sind, haben ihre Informationen aus einem Selbsthilfeverband, zu dem in dem Fall selbstständig der Kontakt gesucht wurde (z.B. Interview Herr I., Abs. 25 und 44-47). Über die Einrichtungen hinaus engagieren sich einige der Befragten politisch auch anderweitig für die Gesellschaft, beispielsweise als Mitglieder in Parteien, Mitglied in NichtRegierungs-Organisationen, als Unterstützer_innen von Petitionen oder in Form von Beteiligung an öffentlichen Diskursen zum Thema Stigmatisierung „ich hab mal ein INTERVIEW gegeben in der Zeitung 1 und da hab ich halt gemeint dass (.) die beHINDERTEn nachher STIGMATISIERT werden“ (Interview Herr I., Abs. 51). Das politische Engagement hat unterschiedliche Funktionen für die Befragten: Es ist eine Möglichkeit, Selbstbewusstsein zu erlangen, und das Erleben sinnvollen Tuns steigert ferner das Wohlbefinden, wenn andere mit Sinn belegte Tätigkeiten nicht möglich sind: „T: ja schon (.) ich habe mich jetzt EINfach mit meiner SITUATION ABgefunden auch wenn es nicht mein WUNSCH ist ich bin jetzt ANfang (.) ich bin neunundVIERZIG (.) also (.) ich muss sehen halt mit vierzig und so (.) mit achtundDREIßIG in RENTE zu gehen (.) ja da hab ich mich damit ABgefunden (.) kanns sowieSO nicht ÄNDERN also muss ich das BESTE draus MACHEN (2) also mit den MÖglichkeiten wo ich habe (.) mich so ein bisschen zu beTÄTIGEN also POLITISCH oder so dass ich EINfach was TUE (.) das ist es dann auch (.) was SELBSTbewußsein gibt“ (Interview Herr T., Abs. 77). Zwischen dem politischen Engagement und der sozialpsychiatrischen Einrichtung gibt es, so schildern die Befragten, keine Verbindung, allerdings erklären sie sich für grundsätzlich offen für eine stärkere Vernetzung dieser Bereiche. Im Rahmen der Befragung zweier künstlerischer Gruppen, einer Theatergruppe und einer Gruppe bildender Künstler_innen, ergab sich eine besondere Bedeutung der Kunst für gesellschaftliche Anerkennung. Kunst wird in diesem Kontext als Nutzen auf verschiedenen Ebenen thematisiert, als Gesundheitsförderung sowie als Möglichkeit, sich sinnhaft und zugehörig zu erleben und in verschiedenen Rollen zu entwickeln: „D: ja das HAt ja JEtzt ja (.) schon meiner MEINUNG nach (.) einen SEHR (.) geSUNDheitsfördernden (.) FAktor (1) mit KUnst oder krEATIVE TÄTigkeit (2) [A: ja] weil (1) grad WEnn man ähm (.) quasi in JUngen JAHren aus dem beRUFSleben herAUSgeRISSEN ist (.) f- FÜHL- würde man sich TOtal SINNlos FÜHlen wenn man NICHT wo (.) TEILnimmt an einer GRUppe oder so was (.) ein ZIEL verFOLGT Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 335 A: ja die ZUgehörigkeit ist SCHOn WIchtig GENErell ja das ist eGAL ob man zu einer SIPPE oder zu einer faMILIE zu einem PARtner zu <<lacht>> einem (.) [...] JA also das (.) indiVIDUUM GAnz allEIN irgendWO das ist (.) naTÜRLICH (2) KOmisch ja (2) [D: dafür ist der MEnsch nicht geSCHAFFEN]“ (Gruppeninterview K, Abs. 201-202) Außerdem wird die Kunst als Möglichkeit betrachtet, als Expert_in wahrgenommen zu werden und einen Beitrag zur Gesellschaft leisten zu können: „D: also es gab (.) es gab einmal den VORtrag und da wurde (.) van gogh als beispiel ANgeführt (.) der in seinem LEben (.) NIE was verkauft hat oder vielleicht EIN WErk oder so (2) und TROTZdem (.) der der WELT viel BEIgetragen hat [...]kann man oft auch ähm (.) schon was GEBEN der WElt (.) was WERT hat [...]ja es geht ja auch um (.) um GEISTES- KRANKheiten (.) und die sind in der beSCHÄFTIGUNG mit GEIST (.) und und (.) das ist halt verl- (.) eine MINDERheit in der geSELLSCHAFT die das eben (2) trotz (.) sagen wir mal nicht NUR BLÖDsinn redet“ (Gruppendiskussion K, Abs. 128) Gleichzeitig impliziert die Teilnahme an der künstlerischen Gruppejedoch auch ein ambivalentes Erleben von Zugehörigkeit, denn: Nur als Psychiatrie-Erfahrene_r hat man Zugang zur genannten Gruppe der Künstler_innen. So beschreibt eine Gruppe beispielsweise, dass durch das in den Vordergrund gestellte künstlerische Tätigsein die psychische Erkrankung gleichzeitig in den Hintergrund rückt und dennoch ein gemeinsames Bewusstes ist, das nicht verborgen werden muss und auf das Rücksicht genommen wird: „C: [...]also ICH FInde (2) also ICH FÜHL mich hier SEHR (2) also (2) weiß nicht (2) ja geSEHEN ist vielleicht ein bisschen überTRIEBEN aber so ähm akz- also ANgenommen insofern dass ich (.) dass ich AUch ähm eben HANDlungsfähig BIN und was MAch und und und TU und und (.) mich EINbringen kann und so ja A: weil eben das THEma (.) KRANKheit eigentlich KEIN THEma ist [C: ja] das heitßt wir BRAUchen jetzt nicht STUNDENlang darüber REden und uns erKLÄREN oder irgendwas inszeNIEREN damit wir [C: genAU] den KEIM AUFrecht erhalten KÖnnen (.) wir können GLEICH ARbeiten so quasi wenn wenns das ja C: GENAU und wenns NICHT geht dann SCHREIben wir eine Mail (.) BIN WEG (.) oder so <<lacht>> und das ist dann klAR waRUM und es FRAgt NIEmand NACH (.) ja okay und nach ein PAAR WOchen oder so ist man wieder DA oder“ (Gruppeninterview K, Abs. 192-195) Ist dies zunächst ein Vorteil, ist die Anerkennung einer Teilidentität, als Künstler_in oder als Psychiatrie-Erfahrener, auf der anderen Seite auch erschwert: „B: nein wir haben natürlich EIN proBLEM in der GAnzen SITUATION [...] wir sind KEIN psychosoZIAL- verEIN (1) sind aber auch NIcht (.) ähm ähm da da wir UNS auf die KUnst konzentrieren sind Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 336 aber auch KEIN (.) kein kein keine REINE KUNSTgalerie weils die beDINGUNG gibt ähm eine PSYCHische (.) erKRANKUNG AUFweisen zu MÜssen (.) das MACHT uns ein bisschen [...] RElativ EINzigartig und das ist ein bisschen SCHWIERIG weil wir (1) ähm (3) weil wir von der von der KUNSTwelt NICHT immer so ERNST genommen (.) werden wie wir es gerne (.) würden (.) beziehungsweise ähm (2) nimmt und nehmen uns andere andere psychosoZIAL EINrichtungen AUch nicht ERNST weil wir also sozusagen ähm (.) unser unser niVEAU oder unser ANspruch auch ein RElativ HOHer ist ähm und wir sozusagen viele (.) viele MEnschen auch ausKLAMMERN auf aufGRUND [...] des NiVEAUS das das wir BIETEN“ (Gruppendiskussion K, Abs. 60) Durch die »Institution« werden Adressat_innen in diesem Zusammenhang in als »normal« markierte Situationen gebracht (bzw. bringen sie sich selbst), in welchen sie als Gleiche angesprochen werden. Dies droht jedoch zugleich auch die Fragilität ihrer eigenen Normalitätskonstruktion (als Künstler_in) offenzulegen, da die Adressat_innen sich zwangsweise aufgefordert sehen, sich auf dem Feld des Normalen (der gesellschaftlichen Ordnung der Verwertungslogik) zu positionieren. Dabei beruft sich die Institution einseitig auf eine formale Gleichheit unter Künstler_innen (auf dem sozialen Feld der Kulturschaffenden), ohne dabei die Vulnerabilität der Stigmatisierten sichtbar zu berücksichtigen oder Inklusion als professionelle und gesellschaftliche Aufgabe zu thematisieren: „A: n- n- nein nachdem ich ja auch SEHR viel ZEIT außerhalb dieser (.) institution ähm im norMALEN LEben unter ANführungszeichen <<lachend> verBRINGE> (2) ist es schon (.) also (.) irgendwie so also es beSTÄRKT jetzt nicht dass ich jetzt KRANker wäre aber ich hab natürlich immer das geFÜHL ich muss natürlich was verSTECKEN und ich kann nur bis zu einem geWISSEN PUnkt (2) irgendwie (.) die ich HASSe oder die die beRÜHMT beFÜRCHTETE frAGE ist (.) und was machst denn DU“ (Gruppeninterview K, Abs. 121) Fallbeispiel Viele Interviewteilnehmer_innen beschreiben selbstbestimmte Anteile im Leben, das primär von Institutionen geprägt ist. Damit sind die Momente gemeint, in denen ein eigener Einfluss auf die Gestaltung der Lebenszeit, des (sozialen und örtlichen) Raums und auf die sozialen Bezüge wahrgenommen wird. Dies möchten wir ebenfalls am Interview mit Herrn O. herausarbeiten, der weiter oben bereits vorgestellt wurde. An dieser Stelle werden die Interviewsequenzen betrachtet, in denen er über die Möglichkeiten spricht, aus dem stationären Wohnheim auszuziehen und selbstständig zu Wohnen. Herr O. beschreibt das Ringen um eine autonome Lebensgestaltung in bzw. die Ablösung aus einem institutionalisierten Kontext. Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 337 Herrn O. ist das übergreifende Ziel des Wohnheims bewusst – das zu einem selbstständigen Leben verhelfen soll – es wird hier als Anstreben eines Lebens in einer eigenen Wohnung verstanden: „aufgabe ist dass man (1) selbstständig wird [I: mhm] (7) dass man selbständig wird (.) dass man lernt mit dem leben klarzukommen (2) dass man lernt mit den mitmenschen klarzukommen“ (Interview Herr O., Abs. 140) Der eigene Wunsch, nicht das ganze Leben lang in Institutionen zu wohnen, geht damit konform: „also ich möchte ja nicht hier bleiben bis ich 100 oder bis ich 80 bin und dann da rüber wandern und dann da hinten auf den friedhof das möchte ich nicht [I: mhm] hm wie geht's weiter (.) jetzt bin ich 12 jahre hier (2) manchmal überlege ich mir willst nochmal 12 jahre hier sein eigentlich nicht [I: mhm] weil es ist ne lange zeit (1)“ (ebd., Abs. 210). Herr O. drückt aus, dass er sich danach sehnt, unabhängig von der Einrichtung zu sein: „ich sag immer zu ihr [Name 7] ich bin jetzt schon 12 jahre hier (.) ich möchte auch mal wieder frei sein oder raus oder irgendwie (1) was anderes machen“ (ebd., Abs. 237). Und an anderer Stelle: „und ist ne lange zeit (2) irgendwann ist man=hat man auch mal die schnauze voll [I: mhm] wenn man so lange hier ist (.) was heißt die schnauze voll uns geht's ja hier gut (.) aber man=man=man sehnt sich schon nach was anderes irgendwie doch danach oder davor [I: mhm] irgendwie (1)“ (ebd., Abs. 283). Selbstbestimmung bedeutet für Herrn O. selbst seinen Hilfebedarf zu bestimmen. Aus eigener Sicht besteht für ihn dann kein Hilfebedarf mehr, wenn der Alltag in einer eigenen Wohnung oder ohne institutionelle Vorgaben oder Unterstützung bewältigt werden kann, also der Tag einen zeitlichen Ablauf von Aufstehen, Versorgung, sinnvollen Tuns, und Schlafengehen hat, man sich auf sich selbst verlassen kann. Nachdem er schon seit seinem Kindes-/Jugendalter in stationären Institutionen lebt, sind Lebensformen außerhalb dieser kaum mehr denkbar, sondern Veränderungen nur in institutionellen Kategorien erdenklich. Eine Veränderung seiner aktuellen Lebenssituation ist nur als Umzug in eine andere stationäre Unterbringung vorstellbar: Wenn es einen Platz in einer anderen Institution gäbe, dann wäre ein Auszug aus dieser Institution möglich: „I: was müsste sich denn verändern damit sie (.) ausziehen könnten (.) was müsste anders sein O: also ich bin schon relativ selbstständig [I: mhm] was müsste anders sein (5) es müsste halt ein platz da sein irgendwie woanders also wo ich hin kann“ (ebd., Abs. 238-239). Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 338 Allerdings wird an dieser Stelle auch die damit verbundene, nicht klar auszumachende Angst vor einem Leben außerhalb der Institution deutlich, in der kein Schutz durch die Institution mehr gewährleistet sei. Die Institution bedeutet vor allem einen Schutz vor Gefahren für ihn: „ja (2) mir geht's hier gut (.) ich fühl mich WOHL (1) ich bin beschützt (.) hab einen rahmen wo ich wohn- alles ansprechen kann oder wo=wo=wo ich beschü- also ja wo ich halt beschützt bin“ (ebd., Abs. 152). Alleine zu leben oder das Arbeiten in einer Werkstatt für Menschen mit psychischer Erkrankung, traut sich Herr O. nicht zu „O: zum beispiel aber in ne andere einrichtung möchte ich eigentlich gar nicht weil ich fühl mich ja hier wohl [I: mhm] aber wenn ich alleine leben wollte eh weiß nicht alleine leben ist gar nicht so einfach (3) weil man muss ja auch arbeiten und geld verdienen von nichts kommt nichts [I: mhm] ich will halt nur nicht in ne behindertenwerkstatt gehen oder in irgendeinen beschützten rahmen [I: mhm] das trau ich mir noch nicht zu“ (ebd., Abs. 241) So ist auch die Antwort auf die Frage danach, was im Wohnheim verändert werden müsste, als Aufrechterhaltung des beschützenden Ortes zu verstehen, der sich nicht verändern darf: „I: gibt es etwas an dem wohnheim was sie gerne verÄNDERN würden O: JA (.) ich würde die [Einrichtung] gerne an einen anderen ort beamen also an einen schönen warmen ort“ (ebd., Abs. 244-245). Ein institutionell unterstützter Übergang in eine weniger sozialpsychiatrisch betreute Lebensweise, wird von Herrn O. auch auf Nachfrage nicht gesehen. Herr O schließt aus der Ambivalenz, dass es doch besser wäre, in der Einrichtung zu verbleiben, da er schon so lange zu ihr gehöre, dass etwas anderes, ein Leben außerhalb nicht mehr möglich erscheint. Seine Identität ist von der Zugehörigkeit zur Einrichtung geprägt. Er ist im Wohnheim inkludiert. „aber wenn ich nichts anderes gefunden wird würde ich halt hier bleiben […] aber auf eine art würde ich auch hier bleiben wenn ich ehrlich bin (2) weil ich bin schon so lange hier ich kann mir gar nicht vorstellen hier auszuziehen [I: mhm] also irgendwie schon und irgendwie auch wieder nicht also sag ich mal so“ (ebd., Abs. 287-289). Die einzige Alternative wäre für ihn, zu Familienangehörigen, zurück zur Herkunftsfamilie zu ziehen: „ja (4) dann denk ich mir ich will auch zu meiner familie irgendwie (.) zu meiner schwester und so (.) meine mutter lebt leider nicht mehr (ebd., Abs. 291). Vor dem Hintergrund der langjährigen Erfahrungen in stationären Wohnheimen mit traumatischen Erfahrun- Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 339 gen, ist das Wohnheim für Herrn O. zu mehr geworden als zu einem vorübergehenden Wohnort, der vor allem Schutz bedeutet: „was besseres wenn ich ehrlich bin hätt mir gar nicht passieren können (2) ja (1) weil das ist hier nicht nur so ein HEIM-HEIM (.) sondern es ist hat mir irgendwie mehr irgendwie (2) also auf jeden fall ist es anders hier als=als jugendlicher oder kind wo ich da in verschiedenen heimen war“ (ebd., Abs. 295). Ergebnisse des Fachtags Beim Fachtag wurde zu diesen Impulszitaten diskutiert: „Es macht einfach einen großen Unterschied, wenn es jemand von Dir weiß“ und „Wenn die Betroffenen keine Krise haben, sind sie wie jede andere Person auch, dann brauchen sie die Einrichtung auch nicht“ Damit lagen die Schwerpunkte vor allem auf den Stigmatisierungsprozessen bei psychischer Erkrankung und der Inklusions-Exklusionsdebatte psychiatrischer Einrichtungen. Die Möglichkeit eine Partnerschaft im Kontext einer sozialpsychiatrischen Einrichtung führen zu können, wurde in Frage gestellt. Auch in diesem Zusammenhang wurden die Einrichtungen kontrovers als „Heimat“ oder als „zu Hause auf Zeit“ eingeschätzt. Die Verantwortlichkeit für Inklusion wurde diskutiert und damit Fragen wie: Welche Akteure sind für Inklusionsprozesse in der Handlungspflicht? Gesellschaftliche Regierungs- oder Nicht-RegierungsInstitutionen, Betroffene, Gemeinwesen, jeder Mensch? Ist Inklusion überhaupt mit exklusiven Welten, wie sozialpsychiatrische Einrichtungen, möglich? Ebenfalls wurde die graduelle Wanderung auf der Linie von Schikane und Schutz thematisiert, wenn beispielsweise Einrichtungen Freiheitsgrade dosieren, also Autonomie schrittweise einschränken. Zusammenfassend wurde festgestellt, dass im Gegensatz zu körperlichen Stigmata die zunächst nicht-sichtbare sogenannte psychische Erkrankung in der Hinsicht eine Rolle spielt, dass das Sichtbarwerden des Stigmas verhindert werden soll: Das als Betroffene_r erkannt Werden ist, so die Erkenntnis der Teilnehmer_innen des Fachtages, mit großen Schamgefühlen verbunden. Über die Zuschreibung einer psychischen Erkrankung hinaus bedeutet das Leben mit und in sozialpsychiatrischen Einrichtungen, das „psychiatrisiert-Sein“, sich ständig Beurteilungen durch andere (zum Teil Fach-)Personen auszusetzen. Die Ermöglichung von Autonomie (z.B. das Verlassen einer geschlossenen Unterbringung) ist oftmals mit der Beur- Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 340 teilung der psychischen, physischen und sozialen Verfassung durch andere Personen verbunden. 5. Identitätsarbeit und Soziale Arbeit in sozialpsychiatrischen Institutionen Wie in allen vorgestellten Kategorien deutlich wurde, ist der Grad an Institutionalisierung sowohl strukturierend für die Handlungsmöglichkeiten der Adressat_innen als auch für die Verwirklichung von Identitätsprojekten. Dies wird erkennbar an Routinen, Normen, Regeln zur Funktionalität der Institution; Integritätsverletzungen und möglichen Hinweisen auf »totale Institution«, das Verhältnis von Subjekt und Gemeinschaft bzw. Gruppe der Adressat_innen; an (das Erleben von) Zwang und (das Erleben von) Schutz; an Arbeitsbündnissen zwischen Professionist_innen und Adressat_innen sowie an objektivierbaren Rahmenbedingungen der Institutionen. Aber nicht nur der Grad an Institutionalisierung prägt die Identitätsarbeit der Adressat_innen; vielmehr eröffnen Institutionen für manche Adressat_innen Möglichkeitsräume, an anderen Stellen schließen sie jedoch ganz konkret Anschlussmöglichkeiten – meist mit der Begründung, schützend zu handeln. Beispielsweise wird durch einige Hilfen der Zugang zu Ressourcen (materiell, kulturell und sozial!) eingeschränkt, z.B. durch die Aufnahme in stationäre Wohnheime. Dieses Fernhalten von Ressourcen wird vor allem damit gerechtfertigt, dass Menschen dadurch wieder befähigt werden sollen, die jeweils eigenen noch vorhandenen Ressourcen zu erschließen, sie für sich transformieren zu können oder sie stellvertretend durch Soziale Arbeit zu beschaffen. Vor allem in den Fällen, in denen Menschen dauerhaft in Institutionen untergebracht werden, ist die beständige Verwehrung von Ressourcen kritisch in den Blick zu nehmen. Im Folgenden werden nun einige der herausgearbeiteten unterschiedlichen Bedeutungen sozialpsychiatrischer Institutionen für die Identitätsarbeit hervorgehoben, um damit eine Brücke von Identitätsarbeit, sozialpsychiatrischen Institutionen und einem emanzipatorischen Partizipationsbegriff in diesem Handlungsfeld (vor)zuschlagen. Auf Basis der Analyse der im Forschungsprojekt erhobenen Daten werden mehrere Spannungsfelder unterstützender Beziehungen zwischen Professionist_innen und Adressat_innen in Institutionen deutlich: Das Spannungsfeld zwischen zu viel oder zu wenig Beziehung, zwischen persönlicher Beziehung mit diffusen Anteilen und dem institutionellen Auftrag mit spezifischen Rollenanteilen und zwischen der Institution als Schutzraum und der Institution als 341 Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit „Zutrauensraum“. In diesen Spannungsfeldern begegnen sich Adressat_in und Professionist_in als zwei oder mehr Verletzliche 17, mit dem gemeinsamen Bedürfnis bedeutsam zu sein. Eine ausgewogene „Mitte“ bzw. einen Idealzustand ihres Arbeitsbündnisses kann es dabei nicht geben, weil es sich um eine dynamische Konstruktion handelt. Erst auf der Grundlage dieses Konsenses, dass es bei einer dynamischen Beziehung immer um ein Aushandeln des angemessenen Maßes zweier Menschen mit unterschiedlichen Relevanzstrukturen geht, kann das »zu viel« oder das »zu wenig«, das Nicht-Standardisierbare einer professionellen Beziehung, besprochen werden. Eine sozialpsychiatrische Institution als Schutzraum (Care) und Zutrauensraum bzw. Optionsraum zugleich, erbringt einerseits Care-Arbeit, worin der Schutz der somatopsychoszialen Integritäten im Vordergrund steht, und ermöglicht andererseits auch das Ausprobieren selbstbestimmter Handlungen. Mit dem Wissen um „das Interesse an der Entfaltung und Steigerung der Handlungs- und Lebensmöglichkeiten des Individuums“ (Hornstein 1995 in Schaarschuch 2006, S. 8) ist Schutz nur mit der gleichzeitigen Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten rechtfertigbar. Die Angst vor der Schutzlosigkeit außerhalb sozialpsychiatrischer Institutionen wird besonders in den stationären Hilfeformen, grundsätzlich jedoch in allen institutionalisierten Hilfen deutlich, in denen die Selbstständigkeit gleichzeitig das immerwährende Ziel ist 18. Alleine leben oder auch vulnerabilitätssensibles Arbeiten, z.B. in einer Werkstatt für Menschen mit psychischer Erkrankung, wird sich teilweise nicht zugetraut, gleichzeitig wird sich hiernach gesehnt. Hieran wird die Notwendigkeit eines Schutzraums deutlich, der so sicher 17 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Verletzlichkeiten der in ein Arbeitsbündnis gehenden Personen nicht für alle in ihrer Form und/oder Auswirkungen der Verletzungen gleichzusetzen sind. Vielmehr geht es darum das geteilte Erleben verletzlichen Menschseins als Gemeinsamkeit hervorzuheben und Soziale Arbeit immer auch als Selbstaufklärung im Medium des Gesprächs zu betrachten. (Vgl. zur Solidarität der Verletzlichen auch Žižek, Slavoj (2014): Die politische Suspension des Ethischen. 4. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 17.) 18 Bisher z.B. die Regelung im SGB 12, § 1 „Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Leistung soll sie so weit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben; darauf haben auch die Leistungsberechtigten nach ihren Kräften hinzuarbeiten. Zur Erreichung dieser Ziele haben die Leistungsberechtigten und die Träger der Sozialhilfe im Rahmen ihrer Rechte und Pflichten zusammenzuwirken.“ Siehe zu den aktuellen Veränderungen durch das Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes ab dem 1.1.2017 auch die Ausführungen von Alexander Schmid in diesem Band. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 342 sein muss, dass darin der Optionsraum erst einmal erscheinen kann, so dass die Übersetzung für Identitätsarbeit erst ermöglicht wird. Die fortgeführten institutionellen Biografien einiger Adressat_innen verweisen auf das Spannungsfeld zwischen institutionellen Rationalitäten und der Notwendigkeit von Biografien ernst nehmender Erinnerungsarbeit. Im Auswertungsprozess der Forschung kündigte sich bald an, dass selbst ein sehr offener Forschungszugang für das Handlungsfeld bedeutsame Phänomene – z.B. die Diskurse um Stigmatisierung, totale Institution usf. – nicht umschiffen kann, ohne Gefahr zu laufen ihre widersprüchliche Mehrbödigkeit aufzulösen oder zu vereinseitigen. So wird auch der Blick auf außerinstitutionelle Kontakte der Adressat_innen nur in Bezug auf die mächtige Rolle der Institutionen im Handlungsfeld freigegeben. Erst von der Perspektive einer institutionalisierten Lebenswelt – im Sinne einer Vermittlung von Zeit, Raum und sozialen Beziehungen (vgl. Thiersch/Grunwald/Köngeter 2012) – zeichnet sich ein Innerhalb und damit auch ein Außerhalb der Institution ab, sodass die sozialen Kontakte außerhalb der Institutionen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung erst durch den Rückbezug auf diese bedeutsam gemacht werden können. Die Rolle der Institutionen lässt sich nicht in Richtung Exklusion und Repression vereinseitigen, vielmehr bleibt sie ambivalent. Während die Inanspruchnahme der Unterstützung in Krisen durch sozialpsychiatrische Einrichtungen i.d.R. zunächst in institutionalisierten, exklusiven Settings stattfindet, kann die Nutzung jener Einrichtungen durchaus außerinstitutionelle Kontakte ermöglichen. Entscheidend hierfür ist die Möglichkeit der Aneignung der jeweiligen institutionellen – z.B. räumlichen, zeitlichen, gegenständlichen und personellen (vgl. Treptow 2001: 186) – Ressourcen durch die Adressat_innen für die Verwirklichung ihrer Identitätsentwürfe. Beispielsweise kann die Nutzung der Räume einer Einrichtung Begegnungen auch über die sozialpsychiatrischen Angebote hinaus ermöglichen. Ebenfalls ermöglicht die Auseinandersetzung mit sozialpsychiatrischen Freizeitangeboten (Sudoku, Memory, Mau-Mau spielen) nicht nur die Bewältigung einer konkreten Krise, sondern erzeugt darin auch künftige Krisen, wie z.B. Missverstehen, Streit und Überforderung. In dieser Ermöglichung neuer Krisen ist die Entwicklung und Veränderung von Bewältigungsressourcen überhaupt denkbar. Darüber hinaus kann in Arbeitsbündnissen mit einem höheren diffusen Anteil – einer familiären Atmosphäre, wie einige Adressat_innen beschreiben – kulturelles und soziales Kapital erlangt werden, durch sinnhafte Kontakte mit Menschen, die über das Kapital verfügen und dieses Kapital vermitteln. 343 Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit Gleichzeitig verbleiben Freizeitangebote sozialpsychiatrischer Einrichtungen häufig in einer institutionellen Logik und vermögen für autonomiebestrebte Adressat_innen nicht genügend Abstand zum sozialpädagogisierten Alltag der Institution herzustellen. So wird die Rolle als Adressat_in durch das Aufgehen selbst der Freizeit in der Institutionslogik verfestigt– mit Habermas ließe sich von einer Kolonialisierung der Lebenswelt sprechen (vgl. Habermas, 1985, S. 522). Vor diesem Hintergrund ist das sich Entziehen der Adressat_innen aus der Institution, wenn auf einen privaten Raum bestanden wird, emanzipatorisch zu verstehen. Zusammenfassend geht es darum, nach einem gangbaren Weg in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern zu suchen, der „[s]oziale Netzwerke als soziales Kapital“ (Keupp 1994, S. 342) versteht und dabei den Blick auf die sozialen Netzwerke der Adressat_innen nicht auf die institutionellen Netze verkürzt, diese aber auch nicht de-thematisiert, spielen sie doch, wie spätestens beim Einholen der Ergebnisse des Fachtags deutlich wird, eine nicht unwichtige Rolle. Betrachtet man die Rolle der Institution in den Künstler_innengruppen, wird deutlich, dass Adressat_innen in als normal markierte Situationen gebracht bzw. sie sich selbst in solche Situationen bringen. Hier werden sie als Gleiche angesprochen, was jedoch zugleich auch die Fragilität ihrer eigenen Normalitätskonstruktion (als Künstler_in) offenzulegen droht. Die Adressat_innen sehen sich zwangsweise aufgefordert, sich auf dem Feld des Normalen in einer gesellschaftlichen Ordnung der Verwertungslogik zu positionieren, ihre Werke oder Stücke zu verkaufen. Dabei beruft sich die „Institution“ einseitig auf eine formale Gleichheit unter Künstler_innen, ohne dabei die Vulnerabilität der Stigmatisierten sichtbar zu berücksichtigen oder Inklusion als professionelle und gesellschaftliche Aufgabe zugleich zu thematisieren. Somit wird Inklusion hier auf die Betroffenen verlagert und die hergestellte Öffentlichkeit gerät in den Verdacht, zu Zwecken der Barmherzigkeit oder gar des Zurschaustellens VERwendet zu werden. Zusammenfassend stellt sich in diesem Kontext die Frage, inwiefern Institutionen der Sozialpsychiatrie durch ihr Handeln das Subjekt, die Institution oder gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen aktualisieren und welches Professionsverständnis dahinter steht. Vor dem Hintergrund des im Forschungsprojekt entwickelten Verständnisses einer Kritischen Professionalisierung und Menschenrechtsorientierung ist die Aufgabe Sozialer Arbeit in sozialpsychiatrischer Institutionen eben nicht die Widersprüchlichkeit kapitalistisch-gesellschaftlicher Strukturen zu verdecken, sondern die in den Adressat_innen deutlich werdenden Krisen in ihrer Bedingtheit zu analysieren, die somato-psycho-soziale Integrität der Adressat_innen wieder Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 344 herzustellen und gleichzeitig auf die Bedingungen einzuwirken, statt gegebene Verhältnisse zu aktualisieren. Oder anders gesagt: Soziale Arbeit hat aus dieser Perspektive das Ziel der ständigen Transformation der Subjekte, Institutionen und gesellschaftlicher Strukturen statt ihrer Aktualisierung bzw. Reproduktion. 6. Entwicklung eines vorläufigen Partizipationsbegriffs als kritische Folie für sozialpsychiatrische Handlungsfelder Im Zusammendenken der Ideen von „Identitätskonstruktionen“ (Keupp et al 2008) und „Kritischer Professionalisierung“ (Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2016) handelt es sich beim Verhältnis von Identität und Partizipation um ein dialektisches: Einerseits bedarf es an Partizipation für die Entwicklung von Identität und andererseits ist Identität die Voraussetzung für Partizipation. Dabei ist Partizipation in den Spannungsfeldern Sozialer Arbeit zu denken, die sich mit einer dialektischen Brille zwischen Autonomie und Heteronomie sowie zwischen Ermöglichung und Schutz bewegt. Dies bedeutet, Partizipation nicht nur in sogenannten freiwilligen Settings als wichtig zu erachten und sie für sogenannte Zwangskontexte auszuschließen, sondern gerade auch in der Bearbeitung von Krisen jeglicher Form als eine Kritikfolie der eigenen Arbeit zu nutzen. Was bedeutet nun Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern, die den Schutz der Identität (auch somatopsychosoziale Integrität), die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Autonomie (Verwirklichung von Identitätsprojekten) und die Beteiligung an den Aushandlungen zur gesellschaftlichen Wertsetzung meint? In den vorangegangenen Kapiteln wurde deutlich gemacht, dass Partizipation in der Sozialen Arbeit widersprüchlich ist, sich nicht vereindeutigen lässt und sich nur in NichtStandardisierbaren Anteilen Sozialer Arbeit zeigen kann. Daraus folgt, dass eine positive Auflistung von Partizipationsmethoden noch keine Aussage über die qualitative Ausgestaltung von Partizipation zulässt. Wir schlagen daher eine dialektische Kritikfolie vor, mit der Dimensionen von Partizipation in einer reflexiven Betrachtung professionellen Handelns verstehbar werden können. Die Inhalte dieser emanzipatorischen Erweiterung des Partizipationsbegriffs versuchen wir in folgenden miteinander verwobenen Punkten zusammenzufassen: 345 • Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit Partizipation sollte dort eine Orientierungsfigur sein, wo zwei Menschen ein Arbeitsbündnis als Professionist_in und Adressat_in eingehen, welches sich an der Integrität und Autonomie der Adressat_innen orientiert und in dem kontinuierlich um die Angemessenheit zwischen diffusen (subjektiven) und spezifischen (Auftrag) Rollenanteilen gerungen wird. Oder an Gerhard Gamm orientiert: Soziale Arbeit braucht Teilnahme und Anteilnahme und bewegt sich im Spannungsfeld zwischen „professionelle[m] Trösten und laienhafte[m] Dasein“ (Bliemetsrieder/ Dungs 2013, S. 95). • Partizipation bedeutet darin, dass Adressat_innen von sich erzählen können und nicht nur standardisierte Gespräche zu führen, in denen die Erfahrungen verschwinden. Dabei geht es auch darum, dem Sinn der eigenen Erkrankung auf die Spur zu kommen. Krankheit ist nicht das »unmögliche Leben«, sondern muss von Psychiatrie-Erfahrenen auch als Teil des Lebens thematisiert werden können. Die Erzählungen in den Interviews haben deutlich gemacht, dass die nicht intendierten Erzählungen über die psychische Befindlichkeit wesentliche Bedeutung für die Befragten hatten. Die Menschen durchliefen im Erzählen Bildungsprozesse darüber, wie ihre derzeitige Situation in einen Verlauf ihres Lebens und der dort gegebenen Umstände eingeordnet werden kann. Durch Explikation bzw. Narration der eigenen Erfahrungen wird die eigene Identität konstruiert, nicht nur in Hinsicht auf die Rolle der Psychiatrie-Erfahrenen, sondern auf mögliche andere Rollen. Nutzen kann vor diesem Hintergrund nur an der Stelle entstehen, an der Soziale Arbeit auf die subjektiven Deutungen und Erlebnisse, auf die selbst erzählte Gewordenheit Ihrer Adressat_innen antwortet. • Darauf aufbauend bedeutet Partizipation eben auch, die Eigentheorien zu psychischen Erkrankungen anzuerkennen und eine Auseinandersetzung in Bezug auf die eigene Identität damit zu ermöglichen. Die medizinische Unterwerfung einer einseitigen Compliance von Psychiatrie-Erfahrenen, wie sie Bock exemplarisch an der Methode der Psychoedukation aufzeigt (vgl. Bock 2012, S. 367), kann als Gegenteil von Partizipation und als Stütze der Asymmetrie zwischen herrschenden Professionist_innen und Information empfangenden Psychiatrie-Erfahrenen verstanden werden. • Partizipation bedeutet gleichzeitig, von Adressat_innen geäußerter Kritik und Wünsche einen Raum zur Verfügung zu stellen (z.B. Hausbesprechungen, Adressatensprecher_innen), zuzuhören und diese nicht zu pathologisieren. Das heißt, Kritik und Wünsche Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 346 sind als Ausdruck eines sinnvollen Erlebens zu verstehen und nicht als Symptom einer Erkrankung. • „Ein offenes Identitätsprojekt, in dem neue Lebensformen erprobt und eigener Lebenssinn entwickelt werden, bedarf materieller Ressourcen. […] Die Fähigkeit zu und die Erprobung von Projekten der Selbstorganisation sind ohne ausreichende materielle Absicherung nicht möglich.“ (Keupp 1994, S. 344) Über die materielle Absicherung hinaus bedarf es aber auch professioneller Angebote der stellvertretenden Krisenbewältigung bei der (Wieder)Herstellung der Autonomie und der somatopsychosozialen Integrität. Partizipation ist dementsprechend, in einem Arbeitsbündnis Subjekten die notwendigen Ressourcen (materielles, kulturelles, soziales Kapital) zur eigenen Identitätsarbeit auch stellvertretend zu beschaffen (stellvertretende Krisenbewältigung). • Partizipation bedeutet gleichzeitig, Subjekten dazu zu verhelfen, sich selbst die notwendigen Ressourcen für ihre Identitätsarbeit zu verschaffen. • Partizipation bedeutet darüber hinaus, Subjekten bei der Transformation der Ressourcen für die jeweils eigene Identitätsarbeit zu unterstützen, vom Identitätsentwurf zum Identitätsprojekt zu finden (Ko-Produktion). • Partizipation bedeutet, Subjekten zu ihren Rechten zu verhelfen und sie zu Rechtssubjekten zu erklären, welches sich im besten Falle in das eigene Identitätenkonzept integrieren kann. Dabei reicht es nicht aus, Rechte zu haben oder von ihnen zu wissen, sondern die Anerkennung als Rechtssubjekte muss sich auf mehreren Ebenen zeigen: 1. Menschen müssen das Recht haben, Rechte zu haben (Menschen werden bestimmte Rechte abgesprochen, z.B. Bürger_innenrechte je nach Staatsangehörigkeit, z.B. Freiheitsrechte bei psychischer Erkrankung). Die UN- Behindertenrechtskonvention konkretisiert die Menschenrechte für Menschen mit Behinderung, die für alle Menschen gelten. 2. Menschen werden unterschiedlich gehört, da Deutungsmächte ungleich verteilt sind. Adressat_innen müssen dabei unterstützt werden, einen Raum zu bekommen, in dem sich Gehör verschafft werden kann. 3. Menschen müssen ihre Rechte kennen, wenn sie sie einfordern wollen. Soziale Arbeit muss in dem Sinne auch über Rechte aufklären und ihre Bedeutung für den Alltag der Menschen angemessen übersetzen (z.B. PsychKHG, UN BRK). Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit 347 4. Menschen müssen ihre Rechte einfordern können und dies auch tun. Wenn dies nicht geht, ist es im Sinne eines kritischen Bildungsverständnisses das Recht, darum zu wissen, dass man in einer verzweifelten Lage bzw. Zwangslage ist und nicht die Menschen vor dieser Kenntnis zu schützen (vgl. Adorno/Gehlen 1965/1975, S. 248-251). Partizipation bedeutet eben auch darauf hinzuarbeiten, „dass Subjekte aus Freiheit und im Wissen um die Zwänge handeln, welchen sie ausgesetzt sind und die sie wiederum nutzen können, um ihre Freiheit zu wahren." (Winkler 2012, S. 159) 5. Partizipation muss auch die Möglichkeit der Nicht-Teilnahme berücksichtigen. Das Verhelfen zu subjektiven Rechten von Psychiatrie-Erfahrenen ist demnach auf eine kollektive Ebene zu heben, in der auch die Möglichkeit politischer Berücksichtigung bestehen muss, ohne die zwingende Notwendigkeit diese in Rechtskämpfen zu erwirken. Damit ist der Idee der Gegenrechte ein Moment der Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen inhärent. Die Passivität der Gruppe der Psychiatrie-Erfahrenen im allgemeinen Produktions- und Distributionsprozess von Waren und Dienstleistungen erscheint zugleich als zu kritisierender Ausschluss Psychiatrie-Erfahrener und als kritisches Urteil an ebenjenen Verhältnissen, mit denen soziale Fragen auf das medico-pädagogische Feld vereinseitigt werden. Damit kann an Christoph Menkes Idee des »Rechts auf Gegenrechte« (vgl. Menke 2015) angeknüpft werden, der in dieser Idee eine Form von Kritik an individualisierter Gesellschaft sieht. • Partizipation bedeutet, Subjekten die Möglichkeit zu geben, sich als Teil eines Verhältnisses zu begreifen, das historisch geworden, überindividuell und somit veränderbar ist (Bildung). Anders gesagt: Es geht darum, den Subjekten bei der Entwicklung eines Verständnisses darüber zu helfen, was an ihren Krisen gesellschaftliche und was eigene Anteile sind sowie auf der Seite der Handlungsmöglichkeiten zwischen gesellschaftlichen Möglichkeiten und den eigenen Identitätsprojekten zu vermitteln (vgl. Borst 2004). • Partizipation bedeutet, Subjekten die Möglichkeit zu geben, sich mit anderen zu solidarisieren bzw. zu kollektivieren und sie dabei zu unterstützen, politische Wirkmacht zu entwickeln. Beispielsweise bei der Unterstützung einer angemessenen Ausstattung und Professionalisierung von Verbänden Psychiatrie-Erfahrener. Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis • 348 Partizipation bedeutet ebenso, den kollektivierten Subjekten die Selbstdefinition von Identitäten zu übergeben und diese nicht für sie zu übernehmen. Es braucht die notwendige Unterstützung dabei, diese zu formulieren. Dies heißt auch, einzelne Subjekte in der Gruppe sprechen zu lassen, um ihre je individuelle Identitätsarbeit und nicht nur eine Identitätsarbeit in Bezug auf die Gruppe zu ermöglichen. • Auf der Grundlage dieser Kollektivierung und der Selbstdefinition von Forderungen kann dann ein Trialog geführt werden, der sich an einem Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses (vgl. z.B. Habermas 2009) orientiert, die den theoretischen Forderungen nach einem Diskurs auf Augenhöhe auch in der Praxis nähert. Davon unterschieden werden sollte die Notwendigkeit einer eigenständigen und mit mehr Ressourcen ausgestattete Angehörigenberatung, die nicht Bestandteil von Trialog sein sollte. • Weiter in diese Richtung denkend, bedeutet Partizipation dann auch, die verschiedenen Hilfesysteme Sozialer Arbeit so miteinander zu integrieren, dass ein falllogisches und nicht ein handlungsfeldlogisches professionelles Handeln ermöglicht wird: Damit Menschen in verschiedenen Lebenslagen sich nicht an unterschiedliche institutionellen Logiken (z.B. Wohnungsnotfallhilfe, Jugendhilfe, Pflege, Sozialpsychiatrie, Soziale Arbeit in der Justiz, Suchthilfe) anpassen müssen, sondern sich die Hilfen an den gemeinsam gedeuteten Krisen (z.B. Wohnungsnot, familiäre Krisen, Pflegebedarf, psychische Beeinträchtigung, Straftat, Substanzmissbrauch) orientieren und darin die Anschlüsse für den Schutz bzw. die Wiederherstellung von Autonomie und Integrität herstellen. Ein Fazit unseres Textes muss oder darf vielleicht selbst gefunden werden. Wir möchten den offenen Denkprozess zum Thema Partizipation mit einem Zitat einer Betroffenen enden lassen, das die Versprachlichung eines gelungenen Arbeitsbündnisses sein könnte: „Also ich finde, also ich fühl mich hier sehr, also weiß nicht, ja gesehen ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber so ähm akz- also angenommen insofern, dass ich dass ich auch eben handlungsfähig bin und was mach und tu und mich einbringen kann“ (Gruppeninterview K, Abs. 192) Literatur Achberger, Christel (2006): Projekt "Stärkung der NutzerInnen" im Fachbereich Psychiatrie des PARITÄTISCHEN Wohlfahrtsverbandes - Landesverband Schleswig-Holstein e.V. In: Seckinger, Mike (Hrsg.): Partizipation - ein zentrales Paradigma. Analysen und Berichte aus psychosozialen und medi- 349 Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit zinischen Handlungsfeldern. 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Reflexionen zur Forschungsmethodik und -ethik im Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis Einleitung Ein solch ausführlicher Text zur Methodologie und Methodik eines Forschungsprozesses ist wohl eher unüblich in Publikationen zur Sozialen Arbeit – wir Autor_innen setzen neben der detaillierten Darstellung der Ergebnisse einen weiteren Schwerpunkt: Wir möchten mit diesem Text einerseits zur Transparenz des Vorgehens während unseres Forschungsprojektes beitragen und andererseits für einen breiteren Einsatz rekonstruktiven Forschungsdesigns in der Sozialen Arbeit argumentieren, indem wir die Wege aufzeigen, mit denen an unser Vorgehen angeknüpft werden könnte. Wir verstehen diesen Text zudem als Beitrag zur Debatte um die Aktualität sozialpsychiatrischer Forschung, die derzeit vorrangig als ein an Evidenz, Effektivität und Prognose orientiertes medizinisches Vorhaben diskutiert wird; die positiven Aspekte einer rekonstruktiven („Rückwärtsgewandtheit“ Salize 2017, S. 6) und gesellschaftstheoretisch fundierten Forschungspraxis bleiben dagegen weitestgehend unberücksichtigt. (vgl. Salize 2017). In Opposition dazu möchten wir die Notwendigkeit einer sozialwissenschaftlichen, sozialpsychiatrischen Forschung als ebenbürtige Perspektive begründen, die einen Beitrag zu partizipatorischer und emanzipatorischer Forschung über soziale Phänomene in (und von) der Sozialen Arbeit leistet 1. 1 Als Beispiele rekonstruktiver Sozialforschung in der (Sozial)Psychiatrie, die wesentliche Grundlagen für dieses Vorhaben geliefert haben, sind hier folgende zu nennen: • Dischler, Andrea (2010): Teilhabe und Eigensinn. Psychiatrieerfahrene als Tätige in Freiwilligenarbeit. Mit einem Vorwort von Heiner Keupp. Reihe: Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit. Band 9. Opladen: Barbara Budrich. Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 357 Aufgrund dessen möchten wir in diesem Text die ausführlichen Argumente für eine rekonstruktive Forschungsperspektive in der Sozialpsychiatrie (Kapitel 1), die theoretische Begründung und praktische Umsetzung des Forschungsdesigns im Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ 2 (Kapitel 2), die Gestaltung der Datenauswertung (Kapitel 3), die Zusammenfassung der projektspezifischen forschungsethischen Prinzipien (Kapitel 4) und eine Diskussion um partizipative Forschung in der Sozialpsychiatrie (Kapitel 5) darstellen. Im letzten Kapitel formulieren wir eine Antwort auf die Frage nach einer partizipativen, emanzipatorischen und rekonstruktiven Forschung in der Sozialpsychiatrie. Im Anhang sind außerdem für Forscher_innen weiter nutzbare bzw. bearbeitbare Transkriptionsregeln zu finden. 1. Forschungsperspektive – Rekonstruktion und Kritik Um die Wahl des rekonstruktiven Forschungsdesigns plausibel zu machen, sind an dieser Stelle zunächst die Forschungsfragen des Forschungsprojektes zu nennen, auf die im Text fortlaufend Bezug genommen werden wird: I. Was bedeutet Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern aus der Perspektive verschiedener Akteur_innen? II. Wie erleben Adressat_innen sozialpsychiatrischer Einrichtungen Partizipation? Was würden sie sich wünschen? III. Wie wird Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern thematisiert und umgesetzt? • Fengler, Christa; Fengler, Thomas (1994): Alltag in der Anstalt. Wenn Sozialpsychiatrie praktisch wird. Reprint der Erstausg. von 1980. Bonn: Psychiatrie-Verlag (Edition das Narrenschiff). • Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 1. Aufl. Frankfurt M.: Suhrkamp (Edition Suhrkamp. 678). • Wyssen-Kaufmann, Nina (2015a): Bedeutung der Anamnese in der Sozialen Arbeit. Von einer Fallstudie in der Psychiatrie zum heuristischen Modell. 1. Aufl. Leverkusen: Barbara Budrich (Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit, 16). 2 Forschungsprojekt der Hochschule Esslingen von 2014-2016, unter der Leitung von Prof. Dr. Sandro Bliemetsrieder und Profin Drin Katja Maar sowie der Mitarbeit der Wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen Josephina Schmidt und Athanasios Tsirikiotis. Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis IV. 358 Welche Machtverhältnisse werden in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern reproduziert, stabilisiert bzw. dekonstruiert? Die Perspektive Kritischer Erziehungswissenschaft (z.B. Habermas und Apel) nimmt die rekonstruktive Sozialforschung dann ein, wenn sie nicht nur die reine Verständigung zwischen Subjekten über Normen und Ziele der Forschung untersucht, sondern auch gesellschaftliche Bedingungen dieser Verständigung reflektiert und diese damit einhergehend weiterentwickelt. Dann, so Koller (2014, S. 236-237), handelt es sich um ein emanzipatorisches, nicht um ein technologisches oder praktisches Erkenntnisinteresse. Dementsprechend besteht auch das Forschungsinteresse beim Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ von Beginn an nicht ausschließlich darin, die Anliegen Psychiatrieerfahrener beschreibend darzustellen. Es geht vielmehr darum, die daran anknüpfenden Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen, insbesondere in Bezug auf professionelles Handeln der Sozialen Arbeit. Es sei die Bemerkung vorangestellt, dass wir mit einer rekonstruktiv ausgerichteten Forschungshaltung nicht auf die Verstärkung eines normativen bzw. hierarchisierenden Paradigmenstreits 3 abzielen. Vielmehr geht es darum, eine angemessene Forschungsmethodik für das beschriebene Erkenntnisinteresse zu entwickeln, das einer Verschränkung subsumtionslogischer und rekonstruktiver Verfahren bedarf. Sich dem Gegenstand „Partizipation“ in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern anzunähern, erfordert eine multiperspektivische und komplementäre Methodik. Zur analytischen Betrachtung sei dennoch zunächst auf die zentralen erkenntnistheoretischen Unterschiede subsumtionslogischer und rekonstruktiver Perspektiven hingewiesen. Rekonstruktive, fallrekonstruktive 4 oder auch interpretative Sozialforschung meint ein Forschungsparadigma, dem verschiedene Forschungsmethoden zuzuordnen sind, wie z.B. die Grounded Theory (Glaser & Strauss), die Ethnomethodologie (Garfinkel), die dokumentarische Methode (Bohnsack) oder die Objektive Hermeneutik (Oevermann). Grundsätzlich sind rekonstruktive Methoden der sogenannten qualitativen Sozialforschung zuzuordnen. Andere 3 Zwischen Rekonstruktionslogik und Subsumtionslogik oder zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung. 4 Siehe hierzu auch die Einführung in Bezüge, Konzepte und Perspektiven der Fallrekonstruktion von Klaus Kraimer (2000). Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 359 qualitative sozialwissenschaftliche Methoden gehen nicht rekonstruktiv vor, sondern kategorial und somit - wie quantitative Sozialforschung - subsumtionslogisch 5. Dazu zählt beispielsweise die Qualitative Inhaltsanalyse (Mayring), bei der mit theoretisch herausgearbeiteten Kategorien die zu erforschenden Texte sortiert und untersucht werden. (Vgl. Rosenthal 2011, S. 14–19) Rekonstruktive Sozialforschung nimmt grundsätzlich den „Versuch der Beschreibung grundlegender allgemeiner Mechanismen [vor], mit deren Hilfe Handelnde in ihrem Alltag eine gemeinsame soziale Wirklichkeit <herstellen>“ (Flick, von Kardoff, Steinke 2007, S. 21) und ist bestrebt, den „Sinn hinter dem Sinn“ (Kruse 2014, S. 25) nachzuvollziehen. „Die fallrekonstruktive Forschung ist auf die empirische Strukturerschließung menschlicher Lebenspraxis, auf das Erkennen der einer sozialen Erscheinung (›Fall‹) zugrundeliegenden Struktureigenschaft gerichtet.“ (Kraimer 2000, S. 23) Das meint, geteilte Strukturen, in denen Lebenspraxen handeln, zu rekonstruieren. Rekonstruktive Verfahren sind in mehrerer Hinsicht offene Forschungsverfahren (vgl. Rosenthal 2011, S. 15). Zum einen kann und soll der gesamte Forschungsverlauf und die konkrete Forschungssituation von den Akteur_innen mitgestaltet und somit ihre Perspektive (der subjektive Sinn) erfasst werden. Nur so kann ansatzweise herausgefunden werden, wie Menschen die Welt – bewusst und bzw. insbesondere implizit – interpretieren und formen, wie sie Bedeutungen erzeugen; zusammengefasst geht es folglich um methodisch reflektiertes Fremdverstehen. Zum anderen wird in rekonstruktiven Forschungen auch die Forschungsfrage offen gehalten. Dementsprechend werden zu überprüfende Hypothesen nicht vorab formuliert: Ausgangspunkt ist vielmehr ein Interesse an einem sozialen Phänomen, welches Fokus und methodischen Zugang bestimmt und an dem subjektives Erleben, Interaktionen und Relationen von Menschen und Gesellschaft nachvollzogen werden sollen. Rekonstruktive Verfahren eignen sich besonders, um einen Einblick in wenig erforschte Phänomene zu erlangen, zu denen keine vorab eindeutig formulierten Fragen gestellt, sondern Sinnzusammenhänge aufgeschlossen werden sollen. Was rekonstruktive Verfahren also nicht beantworten können, sind 5 Mit der Unterscheidung zwischen Rekonstruktions- und Subsumtionslogik orientieren wir uns an Ulrich Oevermanns Begründung (vgl. Oevermann 2013, S. 69–70), der keine Differenz zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung sieht, sondern rekonstruktive (siehe Ausführungen) von subsumtionslogischen Verfahren abgrenzt. Subsumtionslogisch werden aus der Theorie oder Einzelfällen Kategorien gebildet, denen das Datenmaterial untergeordnet wird. Somit werden Vorannahmen bestätigt oder widerlegt, aber keine neuen, aus dem Fall herauszulesenden Strukturen sichtbar. Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 360 Fragen nach der Repräsentativität von Ergebnissen bzw. nach numerischen Verallgemeinerungen, die unter anderem Anliegen quantitativer Sozialforschung sind (vgl. Rosenthal 2011, S. 25). Damit wird, einer reflexiven Sozialpädagogik entsprechend, nicht „eine Verbesserung der Effektivität der Interventionen“ (Füssenhäuser 2008, S. 137) angestrebt, sondern es wird eine Analyse der „Handlungsregeln und Deutungsmuster“ (ebd. S.137) aus verschiedenen Wissensperspektiven vorgenommen. Im Gegensatz zur Subsumtionslogik geht es bei der Rekonstruktion folglich darum, am konkreten Einzelfall die Wirkungs- und Bedeutungszusammenhänge objektivierbarer Strukturen sichtbar zu machen, von denen auch andere Fälle betroffen sein können. Ohne die Erfahrung des Einzelfalls mit allgemeinen Strukturen, werden diese nicht sichtbar und nicht veränderbar. Es wäre verkürzt, nur auf die latenten innerpsychischen, nicht-bewussten Sinnstrukturen des Einzelfalls zu schauen: Dies sollte schon allein aufgrund der einhergehenden Pathologisierungsgefahr vermieden werden. Vielmehr geht es darum, den gebildeten impliziten Wissensgehalt über Zusammenhänge der erlebten Welt, welche der Einzelfall in seiner Biografie erfahren hat, herauszuarbeiten und somit die konkrete Ausprägung von allgemeinen Strukturen erkennbar zu machen. Hinter dem Erkenntnisinteresse der Rekonstruktion steht die Grundannahme, dass soziale Wirklichkeit von Menschen konstruiert und kontinuierlich interaktiv hergestellt wird, weshalb es darum geht, die Konstitutionsbedingungen von Wirklichkeit zu erforschen und nicht die »Wirklichkeit« an sich (vgl. Kruse 2014, S. 26–43 und Rosenthal 2011, S. 38). Dementsprechend werden gesellschaftliche Ordnungen nicht als naturgegebene Phänomene betrachtet, sondern mit der Annahme der Konstruktion wird auch immer eine Dekonstruktion oder Modifikation von Strukturen mitgedacht. Jan Kruse fasst die Ebene des Forschungsinteresses rekonstruktiver Sozialforschung wie folgt treffend zusammen: „Nicht die Wirklichkeit in substanzieller Hinsicht (das ‚WAS‘) steht im Vordergrund des forscherischen Erkennntnisinteresses, sondern ihre praktische bzw. soziale Genese und ihre Funktion (das ‚WIE‘ und das ‚WOZU‘), welche die konkrete Existenz einer eigentlich kontingenten Wirklichkeit erst zu klären vermag“ (Kruse 2014, S. 26). Damit wird auch der gesellschaftskritische Anspruch rekonstruktiver Sozialforschung deutlich (vgl. z.B. Hametner 2013, S. 136-137): Die grundsätzlich offene Forschungshaltung und die Rekonstruktion von Bedeutungs- und Sinnzusammenhängen distanziert sich von reinen Objektivitätsannahmen und versucht stattdessen, Verhältnisse von handelnden Subjekten zur Welt zu beschreiben und darin auf die Möglichkeiten zur emanzipatorischen Veränderung Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 361 hinzuweisen. »Subjektivität« wird somit einerseits methodisch eingesetzt (Reflexion der Interpretation von Forscher_innen-Subjekten). Andererseits wird sie bei der gesellschaftstheoretischen Kontextualisierung von Forschungsergebnissen dann in den Vordergrund gestellt, wenn gesellschaftliche Machtverhältnisse als von Menschen hergestellte und somit auch veränderbare Subjektpositionen reflektiert werden können, die mit unterschiedlichen Deutungsmächten ausgestattet sind (Foucault). (Vgl. Hametner 2013, S. 136–137). Der Verstehensprozess rekonstruktiver Ansätze hat folgenden Ablauf: Informationen gewinnen, Lesarten bilden, Deutungen fortlaufend korrigieren (vgl. Lüddemann und Heinze 2016, S. 16). Der Unterschied zum alltäglichen Prozess liegt beim wissenschaftlichen Verstehen in der Systematisierung, dem Versuch der Vervollständigung und dem kontrollierten Ablauf (vgl. ebd. S. 16). Auch wenn rekonstruktive Verfahren Fragen nach der Repräsentativität nicht beantworten können, sind für einen kontrollierten und vor allem reflektierten Ablauf dieser mit Selektion und Subjektivität arbeitenden Methode Gütekriterien notwendig, denn „Gütekriterien helfen in diesem Sinne dabei, den Grad der angemessenen Annäherung an das Rekonstruierende zu evaluieren" (Kruse 2014, S. 55) und eine willkürliche Interpretation einzelner Forschender, bedingt durch deren implizites Wissen, weitmöglichst zu vermeiden. Kruse schlägt vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Erkenntnishaltung rekonstruktiver Forschung, welche Subjektivität als das die Wirklichkeit konstruierendes Moment ansieht, folgende zwei »Gütekriterien 6« vor (vgl. Kruse 2014, S. 54–58): • Intersubjektivität (übereinstimmender Nachvollzug des Forschungsprozesses für mehrere Forscher_innen durch Explikation, Dokumentation und die InterpretationsIntersubjektivität durch Analysegruppen) • Reflektierte Subjektivität und reflexive Kritik (Rekonstruktion des Kontextes, in denen Subjektivität stattfindet, auch methodische Kontrolle der subjektiven Rekonstruktionen). 6 Aufgrund der beschriebenen Unterscheidung im Erkenntnisinteresse und der Methodik quantitativer bzw. subsumtionslogischer Sozialwissenschaft sind die für dort anerkannten Gütekriterien, wie Objektivität, Reliabilität, interne und externe Validität (vgl. Kruse 2014, S. 55) keineswegs für rekonstruktive Sozialforschung angemessen, sondern stehen im Widerspruch zur Offenheit und reflektierten Subjektivität. Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 362 Rekonstruktive Auswertungsverfahren gehen sequentiell vor, das heißt die zeitliche Struktur des Falls wird als essentiell für die Interpretation zu Grunde gelegt. Mit rekonstruktiven Verfahren können nicht nur manifeste, also benannte bzw. ausgesprochene Inhalte analysiert, sondern auch latente Themen sichtbar gemacht werden. Ziel der Methodologie ist es, „(…) bei neuen, noch wenig bekannten Entwicklungen und Phänomenen, die typischen, charakteristischen Strukturen dieser Erscheinungen zu entschlüsseln und die hinter den Erscheinungen operierenden Gesetzmäßigkeiten ans Licht zu bringen (…)“ (Oevermann 2002, S. 1) und damit eine „erschließende und aufschließende Gegenstandsanalyse“ (Oevermann 2002, S. 1) vorzunehmen. Damit grenzt sich Ulrich Oevermann von einer ausschließlich deskriptiven Ebene und einer Erkenntnistheorie des alleinigen Verstehens nicht nur ab und widerspricht der gängigen Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer empirischer Sozialforschung, sondern er differenziert eine Subsumtionslogik von der Rekonstruktionslogik. Statt die empirischen Daten im Sinne der Subsumtionslogik an der vor der Erhebung festgelegten Operationalisierung der Theorie zu messen, rekonstruiert das Verfahren der Objektiven Hermeneutik „(…) unter Bezug auf die in der Wirklichkeit selbst operierenden Sequenzierungsregeln die je konkreten objektiven Bedeutungen bzw. latenten Sinnstrukturen von Textsegmenten“ (Oevermann 2002, S. 22) 7, bringt somit die Wirklichkeit authentisch hervor und erfasst die Struktur des Falls vollständig. (Vgl. Oevermann 2002, S. 21-22). Bei der Umsetzung der Methode und dem Schließen von Ergebnissen gilt es jedoch zu beachten, dass es in der Analyse immer latente Reste („das innere Ding an sich“ (Oevermann 2008, S. 171)) geben wird, die sich durch rationalisierende Deutungsversuche nicht vollständig einholen lassen. Diese können aber auch als „unverzichtbare Quelle von Lebendigkeit und der Utopie eines guten Lebens“ gesehen werden (Oevermann 2008, S. 170). Die in der Analyse entstehenden Fallstrukturhypothesen, welche idealerweise in rationalisierenden Diskursverhältnissen entwickelt werden und gleichzeitig um ihre Grenzen der unausdeutbaren Fragen sowie der notwendigen Mythen im Kontext der Fragen nach dem woher komme ich und wohin gehe ich? (vgl. Wagner o.A., S. 5) informiert sind, können – z. B. bei entsprechender Kontrastierung von Fällen – in theoretische Annahmen münden: „Theorien sind daher nicht 7 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es sich bei der Rekonstruktion des Sinngehalts nicht um eine normative Sinnposition handelt, sondern um eine mit Oevermann gesprochene „deskriptivanalytischen Kategorie von Sinn“. (Oevermann 2013, S. 71) Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 363 das andere der Praxis, sondern ein dem praktischen Handeln vorausgehender und [zugleich dialektisch, S.B.] hinterhereilender Erkenntnisprozess“ (Bliemetsrieder/Dungs 2011, S. 222). Um eine Nachvollziehbarkeit des im Anschluss dieses Kapitels folgenden Forschungsverlaufs und der Logik der Ergebnisauswertung bestmöglich garantieren zu können, werden an dieser Stelle nochmals die Prinzipien des Forschungsdesigns zusammenfassend aufgeführt: Nach der ausführlichen Darstellung des erkenntnistheoretischen Hintergrunds der Forschung kann, so die Hoffnung, der Verlauf der Forschung und die Logik der Ergebnisauswertung für die Leser_innen besser nachvollzogen werden. Das Forschungsdesign orientiert sich zusammenfassend an folgenden Prinzipien: • Bei Sozialer Arbeit handelt es sich um nicht-standardisierbare Handlungsprobleme, die ein Fallverstehen notwendig für Professionalisierungsprozesse machen. • Rekonstruktive Verfahren sind so offen, dass sich tatsächlich neue bzw. nicht vorhersehbare Ergebnisse ergeben können. • Rekonstruktive Sozialforschung fragt nach dem „Wie?“ statt ausschließlich nach dem „Was?“. • Durch die Grundannahme, dass Wirklichkeit sozial konstruiert ist und diese Konstruktionspraxen wiederum rekonstruiert werden können, bietet rekonstruktive Sozialforschung die Möglichkeit, Kritik an gesellschaftlichen Strukturen zu üben. Dabei werden an den besonderen Ausprägungen des Einzelfalls die allgemeinen Strukturen, die über die individuellen Erfahrungen hinausgehen, deutlich. • Bei sozialwissenschaftlichem Sinnverstehen handelt es sich um eine andere Logik als beim alltäglichen Sinnverstehen. • Rekonstruktive Sozialforschung braucht eigene Gütekriterien, vor allem die der Intersubjektivität und der reflektierten Subjektivität. • Die Objektive Hermeneutik bietet mit ihrem vordergründigen Konzept der „Sequenzialität“ eine geeignete Methode für die Rekonstruktion der Fallstruktur von Lebenspraxen. Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis • 364 Menschen sind Wesen, die niemals ganz rational ganz verstanden werden können. Daher wird es immer unausdeutbare Anteile geben. 2. Forschungsdesign und –verlauf Wie bei qualitativen Forschungen üblich, war auch der Verlauf des Forschungsprojektes „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ (2014- 2016) iterativ und zirkulär. So wurden beispielsweise parallel zur laufenden Datenerhebung die bereits transkribierten Interviews ausgewertet und in Forschungskolloquien oder Fallwerkstätten diskutiert, um den weiteren Forschungsprozess daran auszurichten. So entwickelte sich auch die Konkretisierung der Forschungsfragen erst im Laufe des Projekts. Das insgesamt zwei Jahre laufende Forschungsprojekt wurde in mehrfacher Hinsicht triangulierend 8 durchgeführt. Das heißt, es wurden an mehreren Stellen verschiedene Forschungsmethoden miteinander kombiniert. Zunächst wurden die Methoden der Datenerhebung trianguliert und dem Forschungsgegenstand fortwährend angepasst: Der Feldzugang erfolgte über ein sehr aufschlussreiches Experten-Interview mit einem Vertreter eines Interessenverbandes psychisch Kranker. Im Anschluss daran konnten wir verschiedene Einrichtungen, die in unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialpsychiatrie tätig sind, für die Teilnahme an der Forschung anfragen. Durch diese teilnehmenden Einrichtungen ließ sich eine Vielfalt an Lebensdeutungen und Lebenslagen in der Sozialpsychiatrie abbilden. Das Sample gestaltete sich wie in Tabelle 1 dargestellt, aufgeschlüsselt nach Akteur_innen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern (Psychiatrieerfahrene, Professionist_innen und Angehörige) und den verschiedenen Handlungsfeldern: Die unterschiedlichen Erhebungsmethoden sind farblich voneinander abgegrenzt, die Angaben zur Darstellung der Anzahl der weiblichen und männlichen Interviewteilnehmer_innen sind in dahinterstehenden Klammern gekennzeichnet. Die befragten Psychiatrieerfahrenen waren zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 24 und 65 Jahren alt: 8 Vgl. zum Diskurs um Triangulation in der Sozialforschung bspw. Flick, Uwe (2012): 4.6 Triangulation in der qualitativen Forschung. In: Flick, Uwe; von Kardoff, Ernst; Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 9. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S. 309-318. Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 365 Interessenverband psychisch Kranker Stationäre Wohneinrichtung der Sozialpsychiatrie Theatergruppe Künstler_innengruppe Krisendienst Niedrigschwellige Einrichtung mit Tagesstätte und Zuverdienst Sozialpsychiatrischer Dienst Hilfeplankonferenz Interessenverband Angehöriger psychisch Kranker auf Landesebene Anzahl der erhobenen Texte Psychiatrieerfahrene Zwei Expert_innenInterviews Vier teilstandardisierte Interviews Gruppendiskussion der Theaterleitung Gruppendiskussion und ohne Leitung ( Professionist_innen Angehörige Eine Fallwerkstatt mit dem Team mit mit Fünf teilstandardisierte Interviews Zwei teilstandardisierte Interviews Ein Experten-Interview Eine Fallwerkstatt mit dem Team Eine Fallwerkstatt mit dem Team Zwei teilnehmende Beobachtungen Ein pert_inneninterview 15 6 Ex- 1 Tabelle 1: Forschungsdesign Ausdifferenziert nach den Erhebungsmethoden erfassten wir folgende Daten: 11 teilstandardisierte Interviews 4 Expert_inneninterviews 3 Fallwerkstätten mit sozialpsychiatrischen Teams (zusätzlich 2 Fallwerkstätten auf Tagungen) 2 teilnehmende Beobachtungen 2 Gruppendiskussionen. Die Begründung für die triangulierte Datenerhebung ist mehrschichtig. Für die Zuspitzung der Forschungsfrage war uns ein Expert_inneninterview am Anfang wichtig, mit dem ganz konkret das Kontext- und Betriebswissen (vgl. Wassermann 2015, S. 52-53) zum Thema „Partizipation“ erhoben werden konnte, das im Interesse politisch aktiver Psychatrieerfahrener steht. Danach wurde auch das Forschungsdesign ausgerichtet. Im Forschungsprojekt ging es jedoch Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 366 darum, die Perspektiven verschiedener Akteur_innen zu rekonstruieren, sodass auch Expert_innen-Interviews mit einer Sprecherin der Angehörigen Psychiatrieerfahrener und einem Professionisten in einem extrem krisenhaften Handlungsfeld der Sozialpsychiatrie (Krisendienst) stattfanden und diese explizit zu ihrem Spezialwissen in den jeweiligen Gebieten befragt wurden. Für die Befragung der Adressat_innen wurde die Methode des teilstandardisierten Interviews (vgl. Hopf 2012, S. 351) ausgewählt, das heißt es wurde ein Interview mit skizzenhaft verfassten Fragen geführt, die in der konkreten Formulierung und Reihenfolge individuell an die Interviewsituation angepasst werden konnten. Um kollektive Orientierungsmuster und Erfahrungen der Befragten, Unterstützungs- und Verhinderungsanteile von Gruppen und das Aushandeln von Bedeutungen zwischen verschiedenen Akteursgruppen analysieren zu können, haben wir zudem Gruppendiskussionen (vgl. Bohnsack 2012, S. 371-380) mit zwei Künstler_innengruppen und deren Leitungen durchgeführt. Zur Rekonstruktion der Deutungsmuster sozialpsychiatrischer Professionist_innen wurden die machtreflexiven Fallwerkstätten mit den Teams der beteiligten Einrichtungen durchgeführt, wobei dies auch der Implementierung und Weiterentwicklung des Verfahrens diente. Siehe hierzu auch den Beitrag „Rekonstruktive Fallwerkstätten als Methode (macht)reflexiver Sozialer Arbeit - am Beispiel der Sozialpsychiatrie“ in diesem Band. Um insbesondere die handlungsfeld- und institutionsbezogenen Strukturen betrachten zu können, wurden schließlich ergänzend zwei Sitzungen einer Hilfeplankonferenz, im Sinne einer ethnographischen Sozialforschung, teilnehmend beobachtet (vgl. Lüders 2012, S. 385-389). Die konkrete Umsetzung der einzelnen Erhebungsmethoden und die Forschungserfahrungen im Feld der Sozialpsychiatrie werden weiter unten detailliert dargestellt. An dieser Stelle noch einmal zurück zur »Triangulation«. Neben der Kombination verschiedener qualitativer Erhebungsmethoden wurden im Forschungsprozess ebenfalls verschiedene Wissensperspektiven miteinander ins Verhältnis gesetzt: das Erfahrungswissen der Adressat_innen, das Professionswissen der Praxis und das wissenschaftliche Wissen. Siehe dazu ebenfalls den Beitrag „Rekonstruktive Fallwerkstätten als Methode (macht)reflexiver Sozialer Arbeit - am Beispiel der Sozialpsychiatrie“ in diesem Band. Die unterschiedlichen Ebenen, auf denen die Forschungsfragen liegen, machten ebenfalls eine Triangulation der Datenauswertung notwendig. Hier wurden rekonstruktions- und subsumtionslogische Vorgehensweisen miteinander kombiniert, damit Aspekte der Bedeutungszu- 367 Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation schreibungen, der formulierten Wünsche, der entdeckten Partizipationsmöglichkeiten und der latenten Machtstrukturen erforscht werden konnten. Im Folgenden werden die konkreten Erfahrungen mit der Umsetzung der im Forschungsdesign geplanten Methoden beschrieben. . 2.1 Teilstandardisierte Interviews Insgesamt wurden 11 teilstandardisierte Interviews mit Psychiatrieerfahrenen aus den verschiedenen Handlungsfeldern durchgeführt. Zur Vorbereitung der Interviews besuchten wir die teilnehmenden Einrichtungen vorab und nutzten die internen Kommunikationswege zur Vorstellung unseres Forschungsvorhabens und unserer Personen. So nahmen wir als ganzes Projektteam in der stationären Einrichtung auf Einladung der Teamleitung hin an der monatlich stattfindenden Hausversammlung teil, verteilten Handzettel mit den vorgetragenen Informationen und nahmen uns im Anschluss Zeit für Gespräche mit an Interviews Interessierten, um Fragen zu klären und direkt Termine zu vereinbaren. Damit wollten wir allen Adressat_innen die Möglichkeit geben, selbst über eine Teilnahme zu entscheiden und nicht nur durch Mitarbeiter_innen ausgewählte Gesprächspartner_innen vorzufinden. Es wurde ebenfalls die Möglichkeit gegeben, sich nachträglich noch für ein Interview zu melden oder den Termin wieder abzusagen. In der niedrigschwelligen Einrichtung mit Tagesstätte und Zuverdienst stellten wir uns im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Hausversammlung vor, die von einer gewählten Sprecherin moderiert wurde. Auch dort waren wir von der leitenden Mitarbeiterin angekündigt worden, brachten Informationen mit und führten im Anschluss Gespräche bzw. trafen Terminvereinbarungen. Den Interviewteilnehmer_innen wurden verschiedene Orte für die Interviews vorgeschlagen (öffentlicher Raum, eigener Raum in der Einrichtung, Büro der Forscher_innen, eigener Wohnraum), wobei ausschließlich die in den Einrichtungen zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten gewählt wurden. Es wurde außerdem darauf hingewiesen, dass Vertrauenspersonen beim Interview dabei sein können, wenn dies gewünscht ist. Davon machten einige Interviewteilnehmer_innen Gebrauch und baten ihre Bezugsmitarbeiter_innen oder andere Mitarbeiter_innen hinzu. Bezüglich der Vorstellung des Forschungsprojektes und der Anfragen für etwaige Interviews bildete der Sozialpsychiatrische Dienst eine Ausnahme: Aufgrund der nicht vorhandenen in- Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 368 ternen Kommunikationsstruktur der Adressat_innen untereinander, was an den jeweils einzeln stattfindenden Beratungen und der großen Anzahl der Fälle (mehrere 100) liegt, sprachen die Mitarbeitenden des zuständigen Teams die Adressat_innen selbst an, ob sie sich eine Teilnahme am Forschungsprojekt vorstellen können und verteilten ihnen ein schriftliches Anschreiben vom Forschungsteam. Bei der weiteren Kontaktgestaltung und Motivation zur tatsächlichen Durchführung der Interviews waren die (Bezugs-)Mitarbeiter_innen eine wichtige Stütze. Die Interviews wurden nur von dem/der Wissenschaftlichen Mitarbeiter/in des Forschungsprojekts durchgeführt, der/die sich auch persönlich vorgestellt hatte. Die Interviewleitfäden wurden in der Vorbereitung auf die konkreten Einrichtungen angepasst. Die Frageblöcke haben sich jedoch immer an den gleichen Dimensionen des Themas Partizipation orientiert: • subjektives Empfinden • konkrete Interaktion • Organisation • Gesellschaftliche und handlungsfeldbezogene Verhältnisse. 2.1.1. Rolle der teilnehmenden Bezugsmitarbeiter_innen in den Interviews Da in Bezug auf Interviewsituationen mit Psychiatrieerfahrenen bisher wenig publiziert wurde und dies als Ausrede genutzt werden kann, nicht mit ihnen zu forschen, sondern über sie, möchten wir im Folgenden Interviewauszüge präsentieren, in denen deutlich wird, dass die Teilnahme von Vertrauenspersonen in den Interviews eine unterschiedliche, aber jeweils wichtige Rolle spielten und dass diese Teilnahme eine eröffnende Möglichkeit darstellen. Zunächst konnten wir feststellen, dass die Anwesenheit von Vertrauenspersonen unterschiedliche Auswirkungen auf die Interviewsituationen hatte. Bei manchen waren die Begleitpersonen anwesend, beteiligten sich jedoch nicht oder kaum am Gespräch, bei anderen wiederum sprachen die Adressat_innen ihre Begleiter_innen direkt an bzw. gaben die Fragen weiter 369 Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation wiederum sprachen die Adressat_innen ihre Begleiter_innen direkt an bzw. gaben die Fragen weiter oder wollten sich rückversichern, ob ihre Aussagen „richtig“ seien: P: […] da hat mein=da hat mein schwager gesagt mein vater wäre gerade gestorben (2) und (2) und ich glaub da bin ich dann krank geworden (1) oder B: das ist schwer zu sagen (3) ich glaube es gibt es noch andere dinge aber ich denke das weiß ich nicht will sie das jetzt hier erzählen I: das ist jetzt=das müssen sie nicht erzählen=das ist=uns geht's ja auch eher darum wie sie hier so ihr leben in der [Einrichtung] wahrnehmen ehm (.) so sie haben vorhin von=von streit erzählt mit mitbewohnern=mit mitbewohnerinnen bei diensten=bei den absprachen Abbildung 1: Interviewsituation mit Adressatin und Bezugsmitarbeiterin In diesem Beispiel erzählt die Adressatin auf die Frage hin, wie sie in die Einrichtung gekommen ist, vom Verlauf und der Addition familiärer Krisen, die aus ihrer Sicht zum Ausbruch ihrer Krankheit geführt haben. Nach dem Ende ihrer Erklärung fragt sie jedoch ihre anwesende Bezugsmitarbeiterin danach, ob sie dies auch so sehe; das „oder“ kann in diesem Zusammenhang als Frage gelesen werden. Über die Bezugsmitarbeiterin ist es ihr also möglich, mehr Sicherheit für sich und ihre Aussage herzustellen. Die Antwort der Mitarbeiterin markiert eine andere Expertinnensicht auf die Erklärung der Erkrankung der Adressatin, mit dem Inhalt, dass weitere Faktoren zur Erkrankung beigetragen hätten. Auffallend ist, dass die Frage nicht von der Adressatin selbst beantwortet wird, sondern die Expertin wendet sich dabei an die Interviewerin: „das weiß ich nicht will sie das jetzt hier erzählen“. Auf diese Weise wird über die Adressatin gesprochen, jedoch manifest versucht zu vermitteln, dass es die Entscheidung der Adressatin sei, welche Inhalte weiter ausgeführt werden sollen. Die Interviewsituation verändert sich hier zu einem Expertinnengespräch über die Adressatin, die formal kurzzeitig ausgeschlossen wird. Die Interviewerin löst die Situation dahingehend, dass sie wiederum nicht der Mitarbeiterin antwortet, sondern der Adressatin und einerseits noch einmal klarstellt, dass nichts erzählt werden muss, sondern selbst gewählt werden kann, was erzählt wird und andererseits auch nochmals die Frage nach der aktuellen Situation in der Einrichtung wiederholt, damit das eventuell krisenhafte Thema der Krankheitsentstehung nicht offen gelegt werden muss. Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 370 Auch wenn die Bezugsmitarbeiterin in dieser Situation nun die Adressatin durch ihre Antwort formal ausgeschlossen hat, zeigt es doch, dass ihre Anwesenheit in dieser für die Adressatin ungewohnten Situation für die Adressatin wichtig ist. Die Vulnerabilität der Interviewteilnehmer_innen wurde in manchen weiteren Situationen so deutlich, dass wir zu der Möglichkeit, eine Person des Vertrauens im Interview hinzuzuziehen, grundsätzlich raten. Im folgenden Interview wurde beispielsweise die bedrohliche Situation eines Interviews besonders deutlich formuliert: P: I: P: I: P: I: P: das fällt mir bei dem INterview auch ein (.) in dem moment wo jemand BESSER bescheid weiß (1) als derjenige der mit dem thema ANgefangen hat [mhm] (2) das gefühl lässt (.) jemanden auszuziehen (.) also (3) wo jemand sagt ja ich hab dich AUSgezogen (1) ich weiß besser bescheid über das was du brich- bra- was du gebracht hast ja (1) ich weiß besser bescheid über das was der andere brINGT (.) dann sag ich ja ich hab dich ausgezogen (2) das hab ich mal gedacht (.) und da kommt aber nur dieses du SAGst es verstehen sie (.) ich kann das nur=nur SAGen (.) das ausgezogen=es hat keine bedeutung [mhm] es scheint=es scheint niemand mehr zu begreifen und auch nicht (.) es ging alles so schnELL (5) haben sie sich jetzt auch in der INTERviewsituation so gefühlt nee [ok] (2) beim thema interview fällt mir das halt auf dass zwei gegenübersitzen [mhm] und sich was erzählen [ja] und wenn dann einer besser bescheid weiß über das was du SELBER denkst zu wissen [ja] (.) kann man sagen ich hab dich ausgezogen [mhm] verstehen sie [ja] (.) und da kann man nur sagen du SAGST es aber mehr gibt's nicht [mhm] man kann das sagen ausgezogen aber es hat keine bedeutung (3) wann gab's so ne situation=hat das ja mit gott und teufel und so (7) mir ist nur wichtig dass sie sich nicht in so einer situation jetzt so=so fühlen nee Abbildung 2: Vulnerabilität in der Interviewsituation Wir versuchten, der Verletzlichkeit und dem Schutz der Integrität der Interviewteilnehmer_innen zu begegnen, indem die Länge des Interviews von vorneherein festgelegt wurde und nicht länger als eine Stunde gehen sollte. Tatsächlich dauerten die Gespräche zwischen 30 und 50 Minuten. Die Interviewer_innen waren darüber hinaus ausgebildete Sozialarbeiter_innen, die in ihrem Beruf bereits Erfahrungen in der Beratung und Gesprächsgestaltung mit Psychiatrieerfahrenen sammeln konnten. So konnte in den Interviews spontan auf solche Situationen reagiert werden und alle Interviewteilnehmer_innen gaben danach an, mit der Interviewsituation zufrieden gewesen zu sein. Dass die leitfadengestützten, offenen Interviews allerdings Themen und Emotionen zur Sprache kommen ließen, welche die Beteiligten, insbe- Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 371 sondere die Adressat_innen, über die Interviewsituation hinaus stark beschäftigten, wurde an vielen Stellen deutlich und auch von den Mitarbeiter_innen der Einrichtungen so rückgemeldet. Dies wurde dann im professionellen Kontext der Einrichtungen, ggf. in Rücksprache mit uns, aufgenommen. Auch kamen im Interview Themen auf, die die Befragten mit ihren Berater_innen gerne im nächsten Beratungsgespräch aufgreifen und besprechen wollten. In einem solchen Fall kann es günstig sein, wenn der/die Bezugsmitarbeiter_in im Interview anwesend ist: I: P: I: P: I: okay [P: ahhh] wir wären dann auch [P: wären wir fertig] am ende ich habe nur noch zwei fragen eigentlich [P: also] eine die können sie ganz schnell beantworten [P: ja mach ich machs jetzt ganz schnell] ähm anfang des jahres ist das psychischkkrankenhilfegesetz in kraft getreten in [Bundesland 1] haben sie da je was von mitbekommen da hab ich noch gar nichts mitgekriegt okay einfach so das war nur so oh da werde ich gleich mit der frau [Name 1] und der frau [Name 2] reden [I: was da so drin steht] äh wie heißt das das PsychKHG das kann ich ihnen aufschreiben [P: ja das wäre mir lieb] oder genau wir sprechen dann die frau [Name 1] vielleicht zusammen auch an wenn sie mögen [P stöhnt] Abbildung 3: Thema aus dem Interview in Beratung aufgreifen Das Forschungsprojekt kann also, neben der Analyse der Bedeutungszuschreibungen für Partizipation, auch im Sinne der Praxisforschung direkte Einwirkungen auf die Beratungssituationen im Handlungsfeld haben. 2.1.2. Schwierigkeiten für die Adressat_innen in den Interviewsituationen Eine Schwierigkeit für die Adressat_innen in den Interviews stellten die offenen Fragen dar. Einerseits lässt ein teilstandardisiertes, also ein leitfadengestütztes, offenes Interview, eine möglichst große Flexibilität des Inhalts zu, in die hinein die Befragten ihre selbst als relevant empfundenen Themen einbringen konnten. Andererseits war gerade auch diese Offenheit in der Interviewsituation ein unangenehmes Moment für manche Psychiatrieerfahrenen. Die Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 372 offenen Fragen konnten Unsicherheiten auslösen, weil nicht klar wurde, was genau das Interesse der Forschenden ist: P: tue mich grad ein bisschen schwer [Iw: ja] entschuldigung Iw: das macht=das macht gar nichts so ein bisschen ins erzählen zu kommen fällt schwer P: ja (.) mhm Iw: ok (.) dann ist es ok für sie {{gleichzeitig} wenn ich dann noch ein paar fragen stelle} P: {{gleichzeitig} also mir täts} leichter fallen wenn sie mir fragen stellen Abbildung 4: Fragen im Interview In diesen Fällen konnte auch kurzzeitig auf den Leitfaden zurückgegriffen und eindeutigere Fragen gestellt werden. Weiterhin gab es seitens der Adressat_innen immer wieder die Befürchtung, dass das Gesagte nicht interessant für die Interviewer_in sein könnte: P: aber sie ich hab mir ganz oft gedacht dann sie wollen dann bestimmt auch mal was anderes wissen [I: nicht schlimm sie müssen wissen was sie erzählen] {aha sonst haben sie ihr tonband voll ding mit der} Abbildung 5: Angst, Uninteressantes zu erzählen Viele der interviewten Personen wurden zum ersten Mal in solch einem Rahmen nach ihren Meinungen und Erfahrungen gefragt. Auch wenn es Situationen gab, in denen manch einer der Interviewten Angst hatte, Uninteressantes zu erzählen, waren die Menschen doch in allen Fällen grundsätzlich positiv dazu eingestellt, dass ihr Wissen von Interesse ist. Folgende Interviewpassage drückt beispielsweise deutlich aus, dass sie das Interview unter anderem als Möglichkeit der Interessensvertretung sahen und es ihnen ein großes Anliegen war, die Praxis in der Sozialpsychiatrie zu verbessern; dementsprechend froh waren sie um diese Möglichkeit der Beteiligung froh: Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 373 P: oder zum beispiel noch das gespräch mit ihnen jetzt das freut mich sehr (.) weil ich WILL eigentlich und das war schon IMMER so bei mir (.) das was im geheimen passiert das muss an die öffentlichkeit und das wollte ich=das hab ich mit ALLER vehemenz mit ALLEM eifer verfolgt das ziel (.) das (2) aber IMMER MICH praktisch nicht ernst genommen=ich hab immer gedacht ich muss andere bedürfnisse anderer befriedigen (1) und ehm hab praktisch mich außen vor gelassen (3) Abbildung 6: Interview als Möglichkeit der Interessensvertretung Dementsprechend fanden auch alle vereinbarten Interview-Termine statt, obwohl es einige Hindernisse dafür geben konnte, wie dieses Beispiel zeigt: P: I: P: also wenn jetzt das heute nicht gewesen wäre mit ihnen wäre ich heute daheim geblieben wo ich in der dusche ausgerutscht bin mir tuts ganze ding weh ohje nicht einmal die zwei tabletten haben geholfen (.) aber ich habe gesagt gehabt da hanne ich mach das und dann mache ich wenn wenn sage ich ja man kann sich auf mich verlassen wenn es jetzt natürlich gar nicht gehen würde dann hätte ich [klar] dann wäre es aber ich hab gesagt gehabt wenn ich was verspreche dann halte ich das auch sie wissen ja wir können jederzeit abbrechen ne NEE NEE NEE NEE schon ich werde es dann schon sagen nachher sitze ich auch da hinten und tu schräuble einpacken Abbildung 7: Mitwirkung an Interview gewollt 2.2. Expert_inneninterviews Im Forschungsverlauf wurden vier Expert_inneninterviews geführt. Zwei mit Vertretern der Psychiatrieerfahrenen, eines mit einer Vertreterin der Angehörigen und eines mit einem Mitarbeiter eines Krisendienstes. Wie bereits erwähnt, ging es bei den Interviews vor allem darum, ganz konkret die verschiedenen Positionen der Akteur_innen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern abzufragen. Dies unterscheidet die Expert_inneninterviews vom Erkenntnisinteresse, das wir mit dem Einsatz teilstandardisierter Interviews verfolgten. Der Vorteil der Gespräche mit den Expert_innen war, dass das Forschungsteam direkte Schlüsse aus den Interviews ziehen und sich Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 374 auf die dort formulierten Stellungnahmen beziehen konnte. Die Befragten sprachen in diesem Zusammenhang in dem Selbstverständnis, eine bestimmte Gruppe von Akteur_innen zu repräsentieren und nicht nur vor dem Hintergrund ihres eigenen Erfahrungshorizontes zu berichten. Über die zeitlich unaufwendige Ergebnisgewinnung hinaus, sind die Expert_inneninterviews auch eine Möglichkeit des Ausdrucks von Anerkennung. Wir gingen davon aus, dass diejenigen, die selbst Erfahrungen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern gemacht haben, dieses aus ihrer jeweiligen Perspektive am besten kennen. Dies wird auch deutlich im Forschungsprojekt platziert. Die Interviews waren so auch immer ein Bestandteil der insgesamt offenen und interessierten Zusammenarbeit zwischen dem Forschungsteam und den Interessensvertreter_innen. 2.3. Gruppendiskussionen Im Forschungsprojekt wurden zwei Gruppendiskussionen durchgeführt, die sich beide aus dem Projektverlauf ergaben und so nicht im Forschungsdesign geplant waren. Interessanterweise waren beide Gruppendiskussionen mit Künstler_innengruppen. Ohne dass dies das vorrangige Ziel war, stellte sich die Methode als besonders anschaulich für die Analyse von Kommunikationsmustern und deren partizipativer Anteile heraus. Dabei waren sowohl die Interaktionen unter den psychiatrieerfahrenen Künstler_innen, als auch mit ihren jeweiligen professionellen Leitungen interessant. Die erste Gruppendiskussion fand in mit einer Gruppe bildender Künstler_innen statt. Dieses Atelier wird, wie auch der anwesende künstlerische Leiter, von einem Träger sozialpsychiatrischer Angebote finanziert, sodass die Räume und Materialien kostenlos von den Künstler_innen genutzt werden können. Um dieses Angebot nutzen zu können, müssen sich die Psychiatrieerfahrenen mit einer Mappe, in der ihre künstlerischen Fertigkeiten präsentiert sind, bewerben und werden danach ausgewählt. Die Gruppe hat abgesehen von der künstlerischen Anleitung keine pädagogische Unterstützung, es sei denn, es werden noch weitere sozialpsychiatrische Hilfen in Anspruch genommen. Die meisten wohnten zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion in eigenen Wohnungen und nahmen keine beratenden oder therapeutischen Hilfen im Alltag in Anspruch. Wir sprachen mit vier Künstler_innen, drei Frauen und einem Mann, und dem Leiter. Die Gruppe selbst verfolgte mit dem Gesprächmit uns ein großes Anliegen: Wir sollten mit der Darstellung unserer Forschungsergebnisse auch verdeutli- 375 Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation chen, welche „Ressourcen psychisch Kranke für die Gesellschaft“ (Zitat eines/einer der Teilnehmer_innen) sein können. Damit ist vermutlich gemeint, den Nutzen Psychiatrieerfahrener verdeutlichen zu wollen. Die Gruppendiskussion fand in sehr wertschätzender, vertrauter und offener Atmosphäre statt. Die Künstler_innen äußerten anschließend ihre Dankbarkeit dafür, durch das Interview das eigene Handeln reflektieren zu können. Daran anschließend waren sie sehr an einem weiteren Austausch zu dem Thema interessiert. Die zweite Gruppe besuchten und interviewten wir bei einem Probewochenende. Dabei handelte es sich um eine Gruppe von Schauspieler_innen, die zu dem Zeitpnkt ein neues Stück eingeübten und von der Leitung ihres stationären Wohnheims und einer Regisseurin begleitet wurden, die ebenfalls an der Gruppendiskussion teilnahmen. Zusammen mit den 9 Schauspieler_innen waren folglich 11 Personen an der Gruppendiskussion beteiligt. In der Diskussion sprachen vorrangig sechs Schauspieler_innen, die Regisseurin und die Leitung des Wohnheims. Zu Beginn strukturierten die zwei Professionist_innen die Diskussion stark mit, regten die Schauspieler_innen zum Sprechen an und stellten Nachfragen. Im Verlauf der Gruppendiskussion nahm dies etwas ab. Manche Schauspieler_innen verließen immer wieder für kurze Zeit die Situation und kehrten nach einer Pause zurück. Nach 30 Minuten wurde das erste Mal gefragt, ob das Interview vorüber sei, nach 45 Minuten konnten wir mit der letzten Frage abschließen. Nach unserem Eindruck wäre ein längeres Gespräch nicht für alle gut auszuhalten gewesen. Die Diskussion verlief rege und es wurde auf jede Frage geantwortet. Die Atmosphäre war sehr angenehm und wertschätzend. Methodisch war in dieser Gruppendiskussion vor insbesondere interessant, wie die Regisseurin (S1) und die Leitung des Wohnheims (R) im Interview pädagogisch intervenierten. In Abbildung 8 beispielsweise ist ein Ausschnitt aus der Gruppendiskussion zu sehen, wie eine Schauspielerin von der Bedeutung des Schauspielens für ihr seelisches Erleben erzählt, wie das Spielen ihr hilft, sich „abzureagieren“, ihre aggressiven Gefühle nicht anders ausdrücken zu müssen, zum Beispiel „Leute umzubringen“. Die Regisseurin reagiert mit einer Einordnung des Gesagten, dass dies nur gedanklich gemeint sei. Die Leitung des Wohnheims reagiert mit einem Wechsel des Themas und spricht an, dass die Schauspielerin auch gerne tanze. Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis A: S1: A: R: A: R: D: 376 gar nichts (.) ich spiel halt als kind hab ich auch immer gespielt und dann ist es nichts anderes wie als kind (.) im kinderzimmer rumzuhocken und zu spielen (.) das ist für mich das gleiche als ich kind habe ich viel spielen dürfen (1) mit puppen und so das ist=ist für mich wie=wie wie als kind wo ich da gespielt hab da denke ich immer an meine kindheit (.) deswegen macht mir das auch so viel spaß (.) weil wenn ich das nicht hätte hätte ich nichts zum abreagieren (.) und dann würde ich die ganz zeit hohledrehen (.) dann täte ich die ganze zeit die leute umbringen das darf man doch nicht im kopf umbringen ja das mach ich ja immer die frau (?) hat gestern gesagt ich soll das in mein tagebuch reinschreiben und in meinem tagebuch abkotzen (.) die war ganz sauer frau A tanz immer gern gell [D: ja] ja tanzen mach ich gern (.) ich war als kind hab ich drei jahre ballet gemacht [D: und ein gutes=ein gutes lied hat man auch] das hab ich ganz nee weil ich nen unfall hatte da musste ich aufhören frau D was wollten sie noch sagen ich sagte ein gutes lied haben wir auch (.) gehabt zum tanzen Abbildung 8: Pädagogische Interventionen in der Gruppendiskussion Bei den vielen möglichen inhaltlichen Interpretationen dieser Sequenz ist für die methodische Analyse vor allem bedeutsam, dass hier die Schauspielerin nicht alles zur Sprache bringen kann, was sie möchte. So kann hier nicht rekonstruiert werden, welche Bedeutung das Schauspiel genau für sie hat. Die pädagogischen Leitungen der Gruppe rahmten die Inhalte, indem sie nachfragten oder von bestimmten Themen weglenkten. Sie schützten die Schauspieler_innen vor einer allzu intimen Erzählung und achteten dabei auch auf die Bedürfnisse der anderen Gruppenmitglieder, die sich ebenfalls mitteilen wollten. So kann auf Basis dieser Gruppendiskussion vor allem die pädagogische Interaktion mit dem hohen Anteil des Schutzes der Einzelnen, der Gruppe und auch der Interviewer_innen rekonstruiert werden. In beiden Gruppen gab es jeweils Teilnehmende, die sich nicht oder nur sehr wenig geäußert haben. Eine Gruppendiskussion bietet somit einerseits die Möglichkeit, in der Situation dabei zu sein, ohne sich direkt selbst äußern zu müssen. Andererseits kann auch gerade die Gruppengröße und die Anwesenheit der Leitungspersonen die Formulierung einer eigenen Position verhindern, aus Gründen der sozialen Erwünschtheit oder Ängsten in sozialen Gruppen. In diesem Fall sind Einzelinterviews ein geschützterer Rahmen für die Entwicklung eigener Deutungen. 377 Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation Um die verschiedenen Diskurse herauszuarbeiten, auf die sich die Gruppe jeweils bezog, wäre auch eine weitere, speziell auf Gruppendiskussionen angelegte Auswertungsmethode (z.B. die dokumentarische Methode nach Bohnsack) interessant gewesen. Die Gruppendiskussionen führten wir mit zwei Mitarbeitenden des Forschungsprojekts durch. So konnte eine_r sich auf die Moderation und die Fragen konzentrieren und die/der andere die Situation beobachten, die Zeit berücksichtigen und ggf. auf nonverbale Hinweise aus der Gruppe achten, wenn die Situation zu unangenehm würde. In beiden Fällen besuchten wir die Gruppen ebenfalls in den ihnen bekannten Räumlichkeiten, in denen sie sich ohnehin in jenem Moment aufhielten und orientierten uns an ihren Terminen. So lässt sich ebenfalls die entspannte Atmosphäre begründen. Dieses Vorgehen empfehlen wir im Nachhinein weiter. 2.4. Teilnehmende Beobachtung Um die inhaltliche Ebene der Koordination verschiedener sozialpsychiatrischer Hilfen in die Datenerhebung mit aufzunehmen, haben wir uns ebenfalls mit dem Gremium „Hilfeplankonferenz“ beschäftigt. Die Hilfeplankonferenz ist ein Instrument, das im Rahmen der Implementierung des personenzentrierten Ansatzes in Baden-Württemberg eingeführt wurde und in dem Einzelfälle in Eingliederungshilfemaßnahmen mit der Methode eines Integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplans (IBRP) in einem Gremium der regionalen Hilfeanbieter des jeweiligen Gemeindepsychiatrischen Zentrums vorgestellt werden. Mit dem Bezug des Einzelfalls auf die Möglichkeiten des Hilfesystems sollen gegebene Versorgungslücken aufgedeckt werden (vgl. Sozialministerium Baden-Württemberg 2004, S. 50). Wir konnten in einer Region an zwei Terminen einer Hilfeplankonferenz teilnehmen und diese teilnehmend beobachten. Da es sich bei den vorzustellenden Einzelfällen nach Aussage einiger Mitglieder der Hilfeplankonferenz auch um Patient_innen einer psychiatrischen Klinik handelte, für die ein besonderer Schutz in der medizinischen Forschung vorgesehen ist, wurde vor der Teilnahme aus dem Gremium heraus jedoch zunächst die Anfrage gestellt, ob das Forschungsprojekt von einer Ethik-Kommission begutachtet und genehmigt worden sei. Da dies in der Sozialwissenschaft unüblich ist und es in der forschenden Hochschule keine eigene Ethik-Kommission für solche Fälle gibt, gab es vor Forschungsbeginn keine Begutachtung Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 378 durch eine Ethik-Kommission 9; jedoch wandten wir uns daraufhin an die Landesärztekammer, die uns versicherte, dass für eine Forschung in dem Rahmen, ohne körperliche Eingriffe, ohne Placebo-Gruppe, mit informierter Einwilligung und ohne die Verwendung von „Daten […], die sich einem bestimmten Menschen zuordnen lassen" (§15 Abs. 1, Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg) kein kostenpflichtiges Ethikvotum nötig sei. Darüber hinaus standen von Anfang an forschungsethische Perspektiven im Mittelpunkt der Überlegungen des Forschungsteams, die dem Gremium vorgestellt und dadurch die Möglichkeit geboten wurde, das Anliegen der Hilfeplankonferenz nachzuvollziehen, was aus unserer Sicht gelang. Grund für eine besonders differenzierte Auseinandersetzung mit forschungsethischen Gesichtspunkten war für das Forschungsteam vor allem die moralische Dimension im Umgang mit besonders vulnerablen Menschen. Folglich gab es gemeinsame Interessen, die eine Zusammenarbeit eröffneten. Unser Vorgehen sah ebenfalls bei der Erhebung und Auswertung der Daten eine strikte Anonymisierung vor, konkrete Personen, Orte, Einrichtungen usf. spielen bei der Interpretation der Daten keine Rolle. Den Hinweis der Hilfeplankonferenz nahmen wir zum Anlass, unsere forschungsethischen Prinzipien zur Transparenz und möglichen Auseinandersetzung darüber schriftlich auszuformulieren (siehe weiter unten in diesem Text). An dieser Stelle war am deutlichsten die Berührung medizinischer und sozialwissenschaftlicher Forschungspraxis zu spüren. Nach diesen Klärungen konnte die teilnehmende Beobachtung wie geplant stattfinden. Bei der Anwendung dieser Erhebungsmethode orientierten wir uns an Christina Huf (2006), die in ihrer ethnographischen Studie differenziert und ausführlich die Umsetzung der teilnehmenden Beobachtung darstellt und damit hilfreiche Hinweise zur Forschungspraxis gibt. Huf diskutiert beispielsweise, dass es zur Komplexitätsreduktion der Beobachtungssituation notwendig ist, Selektionskriterien bewusst auszuwählen. Nur so können komplexe soziale Phänomene erfasst werden und sich ein Wechselspiel aus Komplexitätsreduktion und produktion ergeben. Die Kriterien dienen dabei nicht als formalisierte, operationalisierte Filte- 9 Zur aktuellen Diskussion zu Ethikbegutachtungen in den Sozialwissenschaften, vor allem bezüglich qualitativer Forschung, siehe auch folgenden Text: von Unger, Hella; Dilger, Hansjörg; Schönhuth, Michael (2016): Ethikbegutachtung in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung? Ein Debattenbeitrag aus soziologischer und ethnologischer Sicht. In: Volume 17, No. 3, Art. 20, September 2016. 379 Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation rung, sondern ermöglichen im Gegenteil anhand von Orientierungspunkten eine genaue, detaillierte Beobachtung. (Vgl. Huf 2006, S. 51–52) Karin Bock und Katja Maischatz weisen ergänzend darauf hin, dass bei Beobachtungen zweiter Ordnung (Niklas Luhmann) »blinde Flecken« auftreten, dessen Reflexion einer Zirkularität bedürfe (vgl. Bock, Maischatz 2010, S. 59). Auf dieser Grundlage entschieden wir uns dafür, die komplexe Situation zu zweit zu beobachten und die Beobachtungsfokusse untereinander aufzuteilen. So beobachtete eine_r die Interaktion der Teilnehmenden untereinander und machte sich Feldnotizen dazu; die/der andere dokumentierte die wörtlichen Aussagen, was sich als sehr hilfreich erwies. Bei der Struktur der auf dieser Grundlage erstellten Beobachtungsprotokolle hielten wir uns an die Tagesordnung der jeweiligen Sitzung der Hilfeplankonferenz. Da das Gremium an Hospitationen ihrer Sitzungen gewohnt war, reagierten die Mitglieder routiniert und sehr offen auf unsere Besuche. 2.5. Fachtag Ein weiteres zentrales Element des Forschungsprozesses war der trialogisch angelegte Fachtag mit dem Titel „Wir leben unser Leben“ am 15.7.2016 an der Hochschule Esslingen. Eingeladen waren Psychiatrieerfahrene, Angehörige, interessierte Bürger_innen, Praktiker_innen, Wissenschaftler_innen und Studierende. Erfreulicherweise folgten alle eingeladenen Personengruppen dieser Einladung (ca. 100 Gäste). Nach Vorträgen aus den vier Perspektiven der sozialpsychiatrischen Praxis (Klaus Dörner), der Psychiatrieerfahrenen (Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf als Vertreter des Landesverbands Psychiatrieerfahrener), der Angehörigen Psychiatrieerfahrener (Barbara Mechelke als Vertreterin des Landesverbands der Angehörigen) und der Forschung (Forschungsteam) 10 wählten wir die partizipative Großgruppenmethode »World Café«11 für die Diskussion der ersten Forschungsergebnisse aus den oben genannten Perspektiven aus. Dabei wurden im Tagungsraum fünf Tische zu unseren fünf bis dahin entwickelten Hauptkategorien eingerichtet. Auf jedem Tisch lag entsprechend der Kategorie eine World Café-Tischdecke mit ein bis zwei der Kategorie zugeordneten Para- 10 Die Redebeiträge des Fachtags finden Sie in Textform in diesem Band. 11 Weitere Hinweise zur Methode bspw. unter: http://www.partizipation.at/worldcafe.html. Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 380 phrasen 12 aus den Interviews 13; um die Tische standen genügend Stühle. Alle Tagungsgäste wurden eingeladen, sich einen Tisch auszusuchen, dessen Thema sie interessant fanden, um dort mit den anderen Besucher_innen des Fachtags ins Gespräch zu kommen. Meinungen, Ergebnisse oder Fragen wurden – gemäß der Aufgabenstellung – auf den Tischdecken notiert. Es wurden vier Runden à 20 Minuten durchgeführt, nach denen die Tische gewechselt und die Aufschriebe der vorherigen Gruppe diskutiert werden konnten, so dass jede_r die Möglichkeit hatte, an vier Tischen ins Gespräch zu kommen. Beim letzten Tisch wurden die auf den Tischdecken gefundenen Notizen zusammengefasst und die Ergebnisse oder Fragen auf Flipchartpapier an der nebenstehenden Stellwand verschriftlicht. An jedem Tisch war ein_e Gastgeber_in bei allen Aufgaben behilflich. Zur Ergebnissicherung wurden diese Aufschriebe im letzten Schritt nun noch mit den Gastgeber_innen der Tische auf der Bühne des Haupttagungsraums platziert. Hier wurden schließlich allen Gästen alle Ergebnisse vorgestellt und 12 Hier wurde auf direkte Zitate verzichtet, da auch viele Gäste aus den teilnehmenden Einrichtungen eingeladen waren und eine Identifikation der Interviewten möglich gewesen wäre. So wurden Sätze paraphrasiert und Eigenbegriffe umformuliert. 13 Die entsprechenden Kategorien und Paraphrasen sind hier kurz genannt, die Ergebnisse sind explizit im Text zu den Forschungsergebnissen in diesem Band ausgeführt: Tisch 1: Identitäten und Erwerbsarbeit: „Ich bekomme für meine Arbeit nicht das gezahlt, was sie eigentlich wert ist.“ „Wenn die Aufträge wegfallen und damit der Zuverdienst geschlossen wird, kommen auch die Leute nicht mehr. Wenn der Zuverdienst läuft, ergibt sich alles Weitere.“ Tisch 2: Zugehörigkeiten und Zuschreibungen (Kulturelle Identität): „Es macht einfach einen großen Unterschied, wenn es jemand von Dir weiß.“ „Wenn die Betroffenen keine Krise haben, sind sie wie jede andere Person auch, dann brauchen sie die Einrichtung auch nicht.“ Tisch 3: Identitäten und Soziale Netzwerke und Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein: „Die Einrichtung ist schon wichtig. Ohne sie würde ich nur zu Hause rumsitzen. Das wäre auf Dauer ein großes Problem.“ „Die stationäre Einrichtung ist mein zu Hause geworden. Wenn ich mal bei Verwandten bin, möchte ich schnell wieder heim. Hier habe ich mein eigenes Zimmer und kann mich zurückziehen.“ Tisch 4: Identitäten und Institution: „In Stadt X habe ich eine Stimmenhörergruppe kennen gelernt. Das hat mir gefallen. Dort gelten nicht nur die als ExpertInnen, die studiert haben, sondern auch die, die es selbst miterlebt haben.“ Tisch 5: Identitäten und Politik, Widerstand und Nicht-Identität: „Ich sehe den Trialog nicht nur positiv. Die Angehörigen brauchen eine eigene Gruppe.“ 381 Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation noch einmal eine Fragerunde im Plenum eröffnet, in der alle Erfahrungen aus den Diskussionsrunden ausgetauscht und miteinander in Bezug gesetzt werden konnten. Die Durchführung des World Cafés in dieser Form und mit der trialogisch zusammengesetzten Gruppe mit Vertreter_innen der Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen, Prakitiker_innen und Wissenschaftler_innen war aus unserer Sicht ein großer Erfolg. Nachdem die Vorträge bei den Tagungsteilnehmer_innen ganz unterschiedliche Ideen und Fragen angeregt hatten, konnte dies nun an ganz konkreten Aussagen auf Augenhöhe ausgesprochen und diskutiert werden. Der Vorteil der offenen Umsetzung der Methode (freie Tischauswahl, eine Raumaufteilung, die auch ein Aussetzen einer Runde ermöglichte, usw.) war, dass sich jede_r nach ihren bzw. seinen Möglichkeiten einbringen konnte und eine respektvolle und intensive Gesprächsatmosphäre entstand. Die Gastgeber_innen an den Tischen hatten vor allem die Aufgaben, den Ablauf der Methode zu erklären und bei der Verschriftlichung der Ideen zu helfen. Die Perspektive der Psychiatrieerfahrenen war jedes Mal der Ausgangspunkt der Diskussionsrunden, da alle Paraphrasen aus dieser Sicht formuliert wurden. Die letzte Runde auf der Bühne des Haupttagungsraums ermöglichte eine Ergebnissicherung für die Tagungsgäste, die aus eigener Erfahrung häufig bei anderen Tagungen ausbleibt. Hier wurden von den Gastgeber_innen, die als einzige jeweils an ihren Tischen geblieben sind, der Diskussionsverlauf noch einmal zusammengefasst und den Gästen die Möglichkeit gegeben, ihr Erleben noch einmal mit der Gruppe ins Verhältnis zu setzen. Für das Forschungsteam ergab sich aus dem World Café insgesamt eine bereichernde Auseinandersetzung mit den bisherigen Forschungsergebnissen. 3. Methoden der Datenauswertung Nachdem nun ausführlich die Datenerhebung dargestellt wurde, wird im folgenden Teil die Auswertungsmethodik des Forschungsprojekts erläutert. Auch hier wurde eine Methodentriangulation angewendet, die es näher zu begründen gilt 14. 14 Siehe zur Kombination von Grounded Theory Methodologie und Objektiver Hermeneutik auch Stephan Lorenz 2008. Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 382 Die transkribierten 15 Interviews wurden einerseits mithilfe der Auswertungssoftware MAXQDA induktiv kategorial ausgewertet und andererseits wurden einzelne Interviewsequenzen mit der Methode der Objektiven Hermeneutik (Oevermann z.B. 2002) sequentiell rekonstruiert 16. So wurden zunächst, wie im ersten Schritt der Grounded Theory Methodologie (GTM) (Strauss & Corbin), induktive Codes gebildet, die in zwei weiteren Abstraktionsschritten zunächst Übercodes und dann Kategorien zugeordnet wurden. Bei dem Versuch, eine einheitliche Ebene dieser Kategorien zu finden, prüften wir verschiedene theoretische Modelle, wie z.B. das Lebenslagenmodell, wobei wir vor allem eine inhaltliche Nähe zum theoretischen Konzept zur „Identität“ von Heiner Keupp et al (2008) feststellten und aufgriffen. Angelehnt an diese wurden nun die Kategorien Keupps aus dem Interviewmaterial her umformuliert und an den Forschungsgegenstand angepasst, so dass weiterentwickelte und Kategorien mit einer jeweiligen Bandbreite an Codes das Ergebnis der kategorialen Auswertung sind. Die inhaltlichen Ausführungen zu den Ergebnissen finden sich im Text zu den Ergebnissen in diesem Band. Bei dieser Anwendung induktiver Kategorisierung bleibt es jedoch auf einer beschreibenden, manifesten Ebene der Aussagen. Das Forschungsprojekt hatte jedoch ebenfalls zum Ziel, Bedeutungshorizonte und Strukturen von Partizipation herauszuarbeiten. Zum Verstehen der gefundenen Kategorien war folglich die Rekonstruktion einzelner Textstellen notwendig (siehe zur Begründung der rekonstruktiven Forschung oben), wobei wir nach der Methode der Objektiven Hermeneutik vorgingen. Wurde also in einem ersten Schritt der Auswertung zur inhaltlichen Grundlegung eines Partizipationsbegriffs für das Handlungsfeld codierend erarbeitet, welche Lebensbereiche von Menschen mit psychischer Erkrankung von ihnen selbst als relevant markiert werden und an welchen Stellen ein besonderer Veränderungsbedarf sozialarbeiterischer Praxis in sozialpsy- 15 16 Die Transkriptionsregeln zur Auswertung mit Objektiver Hermeneutik sind im Anhang hinterlegt. Dabei wurden die Arbeitsprinzipien Interpretationsprinzipien Kontextfreiheit, Wörtlichkeit, Sequenzanalyse, Extensivität und Sparsamkeit eingehalten und bei der Feinanalyse der Dreischritt 1. Geschichten erzählen, 2. Lesarten bilden und 3. Lesarten mit tatsächlichem Kontext konfrontieren eingehalten. Zur Forschungsmethodik siehe auch Wernet 2009, zur Umsetzung in konkreten Forschungsprojekten auch Schmidt 2016. 383 Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation chiatrischen Handlungsfeldern vorliegt, wird der Gebildetheit der Strukturen im Fall „Sozialpsychiatrie“ mit der Objektiven Hermeneutik in einem zweiten Schritt auf den Grund gegangen. Die Entscheidung für eine der am meisten kritisierten Forschungsmethoden, der Objektiven Hermeneutik, macht eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten und die Prüfung der Angemessenheit für die Forschungsfrage notwendig: Ausgehend von der Forschungsfrage, wie Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern möglich oder unmöglich ist, ist die Frage relevant, in welchem Verhältnis die handelnden Subjekte (Akteur_innen, wie Adressat_innen, Professionist_innen und Angehörige) mit der Struktur des Feldes „Sozialpsychiatrie“ stehen. Der hauptsächlich auf Ulrich Oevermann basierenden Strukturtheorie und Forschungsmethode Objektive Hermeneutik wird vorgeworfen, Subjekte als „(Sozial-) Strukturdeppen“ (Hitzler 2007, zit. nach Kruse 2014, S. 430) zu verstehen. Subjekte seien lediglich abhängige Träger_innen der Strukturen und drücken diese in subjektiven Deutungsmustern aus, wirken aber nicht selbst auf Strukturen (latente Sinnstrukturen) ein. Vor dem Hintergrund der vom Forschungsteam ebenfalls eingenommenen theoretischen Position der Nutzer_innenperspektive nach Andreas Schaarschuch widerspricht die Haltung des Forschungsprojekts an diesem Punkt Objektiver Hermeneutik, weil davon ausgegangen wird, dass Subjekte im Erbringungsverhältnis die Strukturen (Erbringungskontext) verändern. Die grundsätzliche Annahme, dass Regeln und Strukturen für Subjekte wirksam sind, ist jedoch auch für unser Forschungsvorhaben relevant, da es vor allem um die strukturellen Möglichkeitsräume für Partizipation geht und weniger um individualisierte Handlungsweisen. Auch bei anderen interpretativen Verfahren (z.B. hermeneutische Wissenssoziologie, dokumentarische Methode) wird eine Regelhaftigkeit von Kommunikationsprozessen unterstellt, die ebenso wie bei Objektiver Hermeneutik auf Strukturen verweist. Allein die Bewertung der Bedeutung und die Annahme der Objektivierbarkeit von Strukturen unterscheidet sie qualitativ von anderen interpretativen Verfahren. Daraus folgt ein weiterer schwerwiegender Kritikpunkt an Objektiver Hermeneutik, und zwar, dass es sich um einen pathogenetischen Ansatz handele. Objektive Hermeneutik geht von der Existenz von Latenzen aus, einem Vorbewusstsein, das auf einem psychoanalytischen Verständnis basiert. Über eine Individualpathologisierung hinaus versteht es Objektive Hermeneutik jedoch, eine „psychoanalytische Perspektive auf das Kollektive“ (Kruse 2014, S. 436) einzunehmen und das sozial Unbewusste (Bohnsack 2010, zit. nach Kruse 2014, S. 436) zu Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 384 rekonstruieren. Dadurch wird der Fokus auf Handlungsprobleme und Konflikte in Interaktionen gelegt. Für das Forschungsprojekt kann diese Fokussierung jedoch im Kontext der Forschungsfrage interessant sein, weil es eben um die konflikthafte Aushandlung von Partizipationsmöglichkeiten geht. Mit der Vorannahme, dass Partizipation strukturell in der Sozialpsychiatrie eher verhindert wird, können mit Objektiver Hermeneutik auch diese Verhinderungen dargestellt und darauf aufbauend Möglichkeiten generiert werden. Das speziell ausgerichtete methodische Verfahren der Objektiven Hermeneutik macht es trotz der Kritikpunkte für viele Sozialwissenschaftler_innen attraktiv und lohnend. Als erster Grund ist dafür die Sequenzanalyse zu nennen, die die grundsätzlich zukunftsoffenen Kommunikationsanschlüsse auf ihre Selektion der Anschlüsse hin überprüft und daraus eine Sinnproduktion rekonstruiert. Daran schließt das gedankenexperimentelle Vorgehen an, mit welchem Variationen aufgezeigt werden, wie an die Sequenz angeschlossen werden könnte oder in welchem sozialen Kontext die Äußerungen noch möglich wären. Durch dieses Vorgehen wird der Gefahr anderer, bspw. kategorialer, Verfahren entgegnet, sich auf die Rekonstruktion der subjektiven Sicht zu beschränken. Der Forschungsfrage nach geht es nicht ausschließlich um subjektive Deutungen, sondern um latente Sinnstrukturen sozialpsychiatrischer Handlungsfelder. Das besondere Vorgehen hat jedoch auch seine Schwächen, bspw. ist Objektive Hermeneutik immer mit der Infinität von Kommunikationsprozessen konfrontiert. Es folgen also immer weitere Sequenzen, deren Auswertung die vorherigen retrospektiven Interpretationen verändern könnten. Darüber hinaus ist das gedankenexperimentelle Vorgehen von einer ausgeprägten Normativität geformt. Kontext und die Anschlüsse von Sequenzen werden aufgrund von Normalitätsvorstellungen variiert, die von dem Regelwissen der Forscher_innen abhängig sind und geben somit, zugespitzt formuliert, eher einen Hinweis auf die subjektiven Sinnstrukturen der Forscher_innen als auf „objektive“ Strukturen. Aus der Reflexion der Kritik an Objektiver Hermeneutik wurden folgende methodische Konsequenzen für das Forschungsprojekt gezogen: Die eingenommene Normativität der Forscher_innen wurde mehrfach ausgewiesen und in Textform formuliert (vgl. bspw. Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2016). Darüber hinaus wurde sich in der Interpretation stark an die oben genannten Arbeitsschritte und Prinzipien gehalten. Einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit über das Forschungsteam hinaus, konnte sich durch Interpretationsaushand- Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 385 lungen außerhalb des Projektteams in Seminargruppen, Methodengruppen und Tagungsgruppen angenähert werden. Durch die Überprüfung der latenten Sinnstrukturen aus verschiedenen Perspektiven (Angehörige, Adressat_innen, Professionist_innen) in verschiedenen Handlungsfeldern (stationär, ambulant, Tagesstruktur etc.) wurde versucht, eine Pathologisierung von einzelnen Personen zu verhindern und die Pathogenese des Falls „Handlungsfelder der Sozialpsychiatrie“ in den Mittelpunkt zu rücken. 4. Forschungsethische Orientierungspunkte Qualitative Sozialforschung bedarf allgemein differenzierter forschungsethischer Überlegungen, die sich für jedes Handlungsfeld besonders ausgestalten müssen, denn die Forschungspraxis ist ebenfalls ein Raum, in dem die Akteur_innen mit unterschiedlichen Deutungsmächten ausgestattet sind (siehe dazu auch das Kapitel „Partizipative Forschung“). In einem Forschungsprojekt in der Sozialpsychiatrie, in einem Handlungsfeld, in dem sich Menschen komplexen Problemlagen sowie eventuell akuten Belastungssituationen ausgesetzt sehen und in dem Integritätsverletzungen der Adressat_innen durch Professionist_innen der Medizin, Pflege und Sozialen Arbeit zur Geschichte und noch zur Gegenwart gehören, bedarf es insbesondere solcher forschungsethischer Überlegungen. Folgende Aspekte wurden daher forschungsethisch reflektiert und im Forschungsprozess umgesetzt: Begründung des Forschungsanlasses • Den Forschungsanlass gab der Diskurs der Forscher_innen um ethische Fragestellungen zum Handlungsfeld Sozialpsychiatrie. Zentrale Aspekte sind: • die Förderung der Autonomie der Adressat_innen, • Partizipation als Forderung von Adressat_innen-Initiativen (z.B. LVPEBW), • die empirische Auseinandersetzung mit ethisch-normativen Bezugspunkten Sozialer Arbeit (z.B. UN-Behindertenrechtskonvention), sowie • die kritische und konstruktive Begleitung des Professionalisierungsdiskurses. Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 386 Ethik in der Sozialpsychiatrie • Das hier gewählte Forschungsfeld der Sozialpsychiatrie erfordert auch vor dem Hintergrund der zum Teil komplexen Problemlagen der Adressat_innen eine besondere ethische Reflexion, insbesondere der Datenerhebungsverfahren. Vor allem im Umgang mit Psychiatrieerfahrenen und akut psychisch belasteten Menschen sind die gewählten Forschungsmethoden auf ihre formale wie inhaltliche Eignung zu überprüfen. Praktische Erfahrungen des Forschungsteams in Handlungsfeldern der Sozialpsychiatrie bzw. Sozialer Arbeit mit Adressat_innen in existenziellen Notlagen und Forschungsprojekten ermöglichten eine sensible, situationsangepasste Gestaltung der Datenerhebung. Im Wesentlichen orientierte sich das Forschungsteam an folgenden Prinzipien: • Einholung einer informierten Einwilligung im Vorfeld der Datenerhebung und Gewährleistung von Schutz der interviewten Personen durch zwar offene, aber leitfadengestützte Interviews zur Vermeidung einer Retraumatisierung, • Beachtung einer trialogischen Perspektive, die eine Einbeziehung aller entscheidenden Akteur_innen in den Untersuchungsprozess sicherstellt. Im Unterschied zur klassischen Fokussierung auf das „Ärzt_innen-/Patient_innenverhältnis“, das aufgrund der ungleichen Verteilung von Macht, Autonomie und Souveränität vor allem auf die Sicht der Professionellen bzw. der Institution abhebt, soll die dreifache Integration der Problemsichten und Handlungsorientierungen nicht nur die strukturell unterlegene Betroffenenperspektive besser zur Geltung bringen. • Ausrichtung der Forschungsergebnisse auf einen hohen Anwendungsbezug für die praktische Umsetzbarkeit und Implementierung veränderter Maßnahmen, die auf mehr Selbstbestimmung, Mitwirkung und Teilhabe von psychisch belasteten Menschen setzen. • Vermeidung einer unangemessenen Überformung und Klassifizierung des Untersuchungsgegenstandes. Im Rahmen von problemorientierten Interviews, Gruppendiskussionen und teilnehmenden Beobachtungen bekommen die Akteur_innen – neben ihrer praktischen Mitwirkung an der Umsetzung des Projekts – vielfache Gelegenheit, ihre Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 387 jeweiligen Sichtweisen innerhalb des laufenden Forschungsprozesses präsentieren und darlegen zu können. Nutzen für Forschungsteilnehmer_innen • Der Respekt vor den alltäglichen Verpflichtungen und dem zeitlichen Eingebundensein der Forschungsteilnehmer_innen verweist auf die Verantwortung der Forscher_innen. Neben der Begründung der wissenschaftlichen Notwendigkeit des Forschungsvorhabens sind daher auch der Nutzen für die Forschungsteilnehmer_innen und die Vermeidung einer nicht notwendigen zeitlichen Belastung relevant. In Fallwerkstätten wird die Perspektive der Adressat_innen konsequent thematisiert und stark gemacht. Möglichkeiten zur Veränderung, die sich durch die Reflexionsmethoden der Forschungspraxis eröffnen (z.B. Fallwerkstatt), werden in Verantwortung der Forschungsteilnehmer_innen gegenüber, wahrgenommen und genutzt. Wichtig ist schließlich die Gewährleistung des Transportierens der Forderungen von Psychiatrieerfahrenen mit der Forschung (innerhalb eines trialogischen Diskurses) sowie deren breiteren Veröffentlichung, zum Beispiel durch Publikationen und Tagungen auch über das Forschungsprojekt hinaus. Forschungspraxis • Im Forschungsdesign sind die genannten ethischen Überlegungen und das Prinzip der Partizipation an verschiedenen Stellen eingeplant und in der bisherigen Datenerhebung wie folgt umgesetzt: • Einstieg über Adressat_innen als Expert_innen (die Forschungsperspektive wurde bereits vor dem Sampling auf relevante Themen aus Adressat_innensicht abgestimmt, das explorative Vorgehen ermöglicht die Anpassung daran). • Wissenschaftlicher Beirat: Mit der Einrichtung eines wissenschaftlichen Projektbeirats aus Expert_innen aus Profession und Disziplin wird hier ein Reflexionsgremium bereitgestellt, das durch mehrere Treffen und Gesprächskreise im regelmäßigen Austausch mit dem Projektteam steht. Entsprechende, sensible Fragen im laufenden For- Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 388 schungsprozess können demnach aus externer Perspektive einer kritischen Begutachtung und Überprüfung unterzogen werden. • Die freie Entscheidung der Teilnehmer_innen über die Beteiligung am Forschungsvorhaben wurde durchgängig respektiert und der Schutz des Erkenntnisinteresses nicht vor die notwendige informierte Einwilligung gestellt. • Nach einer mündlichen und schriftlichen Aufklärung über das Forschungsvorgehen, die Anonymisierung, Verwendung der Daten und die geplanten Veröffentlichungen war eine schriftliche Einwilligung notwendig, die jederzeit zurückgenommen werden konnte. Konkret wurde das Projekt jeweils den Adressat_innengruppen und den Teams im Vorhinein präsentiert sowie die Formalitäten einzeln in jeder Interviewsituation mit den Forschungsteilnehmer_innen besprochen. • Es wurde für die Interviews die Möglichkeit gegeben, dass selbst gewählte vertraute Personen in der Interviewsituation anwesend sein können. • Die Prinzipien der informierten Einwilligung und der Achtung der Akteur_innen als Expert_innen des Feldes wurden ebenfalls für die teilnehmende Beobachtung umgesetzt. Jede_r Teilnehmer_in der Hilfeplankonferenz wurde vorab über die Anliegen des Forschungsprojektes schriftlich informiert und eine persönliche Einverständniserklärung eingefordert. Adressat_innen, deren Hilfepläne besprochen wurden, wurden unabhängig ihrer Teilnahme in der beobachteten Situation über das Forschungsprojekt informiert und um ihre Einverständniserklärung gebeten. Lehnten sie diese ab, wurde die Beobachtung für den Zeitraum dieser Vorstellung unterbrochen. 5. Partizipative oder emanzipatorische Forschung? Über Partizipation forschen heißt auch, sich mit dem Anspruch partizipativer Forschung auseinanderzusetzen. Allgemein lässt sich partizipative Forschung mit Jarg Bergold und Stefan Thomas wie folgt zusammenfassen: „Partizipative Forschungsmethoden sind auf die Planung und Durchführung eines Untersuchungsprozesses gemeinsam mit jenen Menschen gerichtet, deren soziale Welt und sinnhaftes Handeln als lebensweltlich situierte Lebens- und Arbeitspraxis untersucht wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 389 sich Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen aus der Konvergenz zweier Perspektiven, d.h. vonseiten der Wissenschaft und der Praxis, entwickeln.“ (Bergold & Thomas 2012) An vielen Stellen im Forschungsprojekt wurde, wie im Verlauf dieses Textes dargestellt, die Beteiligung Psychiatrieerfahrener am Forschungsprozess ermöglicht (als Mitglieder des Forschungsbeirats, als Redner und Gäste des Fachtags, durch die Gestaltung kommunikativer Räume, als Autor_innen in diesem Sammelband) und es wurde versucht, die Betroffenenperspektive auf verschiedenen Ebenen in den Mittelpunkt zu stellen (Forschungsthema als zentrale Frage Psychiatrieerfahrener, Einstieg mit Expert_inneninterview mit einem Vertreter eines Interessenverbandes psychisch Kranker auf Landesebene, machtreflexive Fallwerkstätten, Thema des Fachtags). Der Diskurs der Psychiatrieerfahrenen zur Beteiligung ihrer Perspektive an Forschungsprozessen wird international derzeit hauptsächlich mit der Zielrichtung der betroffenenkontrollierten Forschung geführt. Peter Beresford beispielsweise argumentiert, dass für eine notwendige Veränderung des psychiatrischen Hilfesystems die Weiterentwicklung des Erfahrungswissens Psychiatrieerfahrener notwendig sei, womit er solches Wissen meine, „dessen Hauptausgangspunkt ist, dass wir die Fragestellungen, die Gegenstand der Untersuchung sind, selbst erlebt haben“ (Beresford 2012, S. 11). Dabei weist er jedoch eindrücklich darauf hin, dass besonders diejenigen Psychiatrieerfahrenen mit „besonderen Hindernissen“ (Beresford 2012, S. 13), wie z.B. von Zwangsmaßnahmen betroffene, in Institutionen lebende Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit mehrfachen Beeinträchtigungen, mit ihrer Perspektive an der Weiterentwicklung des Erfahrungswissens beteiligt werden müssen. Angela Sweeney definiert dazu drei Formen der Beteiligung Psychiatrieerfahrener an Forschungsprozessen: Die Beratung, die Zusammenarbeit und die Kontrolle und sie bezieht sich damit auf die britische Praxis der Forschungsförderung, in der die Beteiligung Psychiatrieerfahrener eine Voraussetzung für die Finanzierung geworden ist. Die verschiedenen Stufen der Beteiligung, die ebenfalls an stufenförmige Modelle von allgemeinen Partizipationskonzepten erinnern, definiert sie wie folgt: • „Beratung: das heißt, dass Psychiatrie-Betroffene in Forschungsprojekten beratend tätig sind, aber Mainstream-Forscher_innen die Macht haben, diese Beratung zu akzeptieren oder abzulehnen. […] • Zusammenarbeit: das heißt, dass die Macht im Rahmen einer aktiven Partnerschaft gleichermaßen auf Psychiatrie-Betroffene und Professionelle verteilt ist. […] Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis • 390 Kontrolle: das heißt, dass Psychiatrie-Betroffene die Kontrolle über das gesamte Forschungsprojekt haben; angefangen vom Aufbau, über Datenerfassung, Analyse und Berichterstattung bis hin zur Verbreitung“ (Sweeney 2012, S. 17) Jasna Russo vergleicht die Entwicklung einer betroffenenkontrollierten Forschung in der Psychiatrie mit der Entstehung anderer Forschungsrichtungen marginalisierter Gruppen, wie z.B. der queer studies, black studies oder disability studies, die ebenfalls eine engagierte Forschung von Akademiker_innen „aus ihren eigenen Reihen“ (Russo 2016, S. 32) darstellten und „letztendlich die Wissenschaft über ihr Leben umdefiniert und endgültig geändert haben“ (ebd. S. 32) und dies nach Russo auch für die sogenannten mad studies notwendig sei. Denn bei der Beteiligung Psychiatrieerfahrener an sonst gleichbleibenden Forschungsstrukturen habe die Erfahrung in England beispielsweise gezeigt, dass es hier nicht um eine demokratische Aushandlung neuen Wissens gegangen sei, sondern eher um ein Konsumieren des PeerWissens zur Produktverbesserung und die Psychiatrieerfahrenen in der Forschung genau wie in der Psychiatrie in der Rolle der Kranken 17 geblieben seien (vgl. Russo 2012, S. 33). Vor diesem Hintergrund sollte emanzipatorische interpretative Sozialforschung, mit Russo gesprochen, nicht dabei stehen bleiben, dass wenige machtvolle Expert_innen eine große Gruppe entmachteter Subjekte beforschen und sich nur über die Unterscheidung zwischen Expert_innen und Erfahrenen auseinandergesetzt wird, sondern die Ebenen der vertretenen Normen und Erkenntnisinteressen thematisiert werden (vgl. Russo 2012, S. 34) – um gemeinsam das gesellschaftskritische Potential partizipativer Forschung auszuschöpfen. Dementsprechend bleibt das Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ hinter den Forderungen nach einer betroffenenkontrollierten Forschung im Rückblick weit zurück und lässt sich eher bei einer Form der „Beratung“ durch Psychiatrieerfahrene einordnen. Eine Beteiligung bei der Gestaltung des Forschungsdesigns sowie bei der Datenauswertung und –interpretation fand nur minimal statt. Bis hierher wurden nun die forschungstheoretische Perspektive und die forschungspraktischen Erfahrungen des Forschungsteams ausführlich dargestellt und schließlich mit dem Anspruch einer emanzipatorischen Forschung aus Betroffenen-Perspektive konfrontiert. Dieses Wissen 17 Siehe zur Diskussion um demokratische Prinzipien und machtkritische Reflexionen in der partizipativen Forschung auch Götsch, Monika; Klinger, Sabine & Thiesen, Andreas (2012). Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation 391 wird zur Weiterentwicklung all jenen zur Verfügung gestellt, die eigene Forschungsprojekte in dem Handlungsfeld planen und denjenigen, die auf dieser Grundlage unsere Forschungsergebnisse besser nachvollziehen bzw. hinterfragen wollen. Literatur Baumgartinger, Persson Perry (2014): Mittendrin: kritische Analyse im Spannungsfeld von Machtverhältnissen der staatlichen Regulierung von Trans* in Österreich. In: von Unger, Hella; Narimani, Petra; M’Bayo, Rosaline (Hrsg.): Forschungsethik in der qualitativen Forschung. Wiesbaden: Springer, S. 97-113. Beresford, Peter (2012): Die Rolle des Wissens der Betroffenen beim Aufbau von Alternativen zur Psychiatrie. In: Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. (Hrsg.): Auf der Suche nach dem Rosengarten. Echte Alternativen zur Psychiatrie umsetzen. Projektdokumentation, S. 8-14. 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In: Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. (Hrsg.): Auf der Suche nach dem Rosengarten. Echte Alternativen zur Psychiatrie umsetzen. Projektdokumentation, S. 8-14. Verfügbar unter: content/uploads/2013/08/Dokumentation_Rosengarten_v2013.pdf [04.06.2017]. http://www.weglaufhaus.de/wp- 393 Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation Wassermann, Sandra (2015): Das qualitative Experteninterview. In: Niederberger, Marlen; Wassermann, Sandra (Hrsg.) (2015): Methoden der Experten- und Stakeholdereinbindung in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 51-68. Wernet, Andreas (2009): Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis 394 Transkriptionsregeln Pausen und verlaufsstrukturelle Notationen: (.) Mikropause (< 1sec) (1), (2), (3)… Pausen in Sekundenlänge = Verschleifungen, schnelle Anschlüsse, ‚stotternd‘ Wort- oder Satzabbruch {{gleichzeitig}…} Gleichzeitige Rede, Überschneidungen über zwei und mehr Zeilen [mhm, ahja] Redebeitrag des anderen Kommunikanten/der anderen Kommunikantin an der jeweiligen Stelle innerhalb des Redebeitrags des Kommunikationspartners/ der Kommunikationspartnerin I: Interviewer/in P: Proband/in A:, B:, C:, D: etc. Gesprächsteilnehmer/in Akzentuierung (Betonungen): AkZENT Primärakzent Ak!ZENT! extra starker Akzent Sonstige Konventionen: <<lacht>>, <<hustet>> <<lachend>…> (?meint?) (??) […] Mhm, hmhm [Name 1], [Ort1] außersprachliche Handlungen/ Ereignisse/ Störungen, sprachbegleitende Handlungen Vermuteter Wortlaut, Interviewzeit angeben Unverständlicher Redebeitrag, Interviewzeit angeben Auslassungen im Transkript Bejahung, Verneinung Anonymisierung, pro Interview eine Legende führen Keine Satzzeichen Keine Groß- und Kleinschreibung Angelehnt an: Kruse, Jan (2014): Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 362-363. Autor_innenverzeichnis Bliemetsrieder, Sandro, Prof. Dr. phil., Dipl.-Soz. Päd. (FH), Professor für Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen. Dollerschell, Bernhard, Vorstand im Landesverband Psychiatrie-Erfahrener BadenWürttemberg. Dörner, Klaus, em. Prof. Dr. med., 1980 bis 1996 Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie Gütersloh, lehrte Psychiatrie an der Universität Witten-Herdecke. Arbeits- und Interessenschwerpunkte: Psychiatrie, Medizinethik, Geschichte der Moderne. Gebrande, Julia, Prof. Dr. phil., MA Soziale Arbeit, Diplom- Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, Fachberaterin für Psychotraumatologie, Professorin für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege. Schwerpunkte: Klinische Sozialarbeit, Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen, Fachberaterin nach Sexualisierter Gewalt. Hechler, Clarissa, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin M.A.; ehemals Studentin der Hochschule Esslingen mit den Schwerpunkten Empirische Sozialforschung und Innovative Soziale Arbeit; Aktuell tätig in der Jugendhilfe. Höllmüller, Hubert, FH-Prof. Mag. Dr. phil., Professur für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Kindheit/Jugend an der FH Kärnten, Studiengang Soziale Arbeit, Zehn Jahre in niederschwelligen Feldern der Sozialen Arbeit tätig, Mitbegründer der Jugendnotschlafstelle Klagenfurt, Forschungen im Bereich der Kinder-/Jugendhilfe und zum Westsaharakonflikt. Kohler, Johanna, Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin B.A./M.A.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Esslingen; Arbeitsschwerpunkte: Spiritualität und Soziale Arbeit, Demokratieförderung in ländlichen Räumen, Deradikalisierung im Strafvollzug, Salafismus und Dschihadismus. Maar, Katja, Prof. Dr. phil., Dipl. Päd., Professur für Wissenschaft der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Theorie und Geschichte an der Technischen Hochschule Köln; Arbeits- 397 Autor_innenverzeichnis schwerpunkte: Sozialpädagogische Nutzer_innenforschung; Geschichte der Sozialen Arbeit, Soziale Arbeit im Bereich existenzielle Notlagen, Lebensmitteltafeln. Mechelke-Bordanowicz, Barbara, Landesverband Baden-Württemberg der Angehörigen psychisch Kranker e.V. Melter, Claus, Prof. Dr., seit September 2016 Professor an der Fachhochschule Bielefeld, 2011–2016 Prof. an der Hochschule Esslingen, Arbeitsschwerpunkte: Diskriminierungs-, barriere- und rassismuskritische sowie menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit in der postkolonialen und postnationalsozialistischen Migrationsgesellschaft, genderreflexive, inklusionsund gerechtigkeitsorientierte Ansätze. Publikationen u. a.: Melter, Claus (Hrsg.) (2015): Diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung. Praktische Herausforderungen, Rahmungen und Reflexionen. Weinheim: Beltz Juventa. Mührel, Eric, Prof. Dr. phil. habil.; Dipl.-Pädagoge (Univ.), Dipl.-Sozialarbeiter (FH), Professor für „Professionsspezifische und ethische Grundlagen Sozialer Berufe“ an der Hochschule Koblenz, Fachbereich Sozialwissenschaften; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziale Arbeit in Theorie und Wissenschaft, anthropologische und ethische Grundlagen und Aspekte der Sozialen Arbeit. Ortolf, Martin, Vorstand im Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg. Schäfferling, Stefan, freiberuflicher Diplom-Soziologe (Univ.) und Autor, Sozialarbeiter/Sozialpädagoge (B.A., FH), Lehrbeauftragter. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie der sozialen und helfenden Berufe (insb. hinsichtlich Menschen mit Behinderung/psychischer Erkrankung und Suchtprävention), Sozialforschung/Markt- und Meinungsforschung, Arbeits/Organisationssoziologie, Nachhaltige Stadt- und Regionalentwicklung, Soziologie vernetzter Medien, Allgemeine Soziologie, Migrationspädagogik, Hochschuldidaktik. Langjährige Forschungserfahrung im Lifelong Learning-Programm der EU sowie in weiteren internationalen, nationalen und lokalen Projekten. Schmid, Alexander, Prof. Dr. iur., Professor für Rechtswissenschaft an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege; Arbeitsschwerpunkte: Verfassungsund Verwaltungsrecht; Arbeits- und Sozialrecht sowie Gesundheitsrecht. Autor_innenverzeichnis 398 Schmidt, Josephina, Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin B.A./M.A.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Esslingen; Lehre im Bachelor- und Masterstudiengang Soziale Arbeit; Arbeit an der Promotion an der Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft; Arbeitsschwerpunkte: Rekonstruktive Sozialforschung, Professionalisierungstheorien, Soziale Arbeit in der Sozialpsychiatrie, Digitalisierung der Hochschulbildung. Tetzer, Michael, Dr. phil., Diplom-Sozialpädagoge, Professor am Studienbereich Gesundheit und Soziales an der Fachhochschule Kärnten; Arbeitsschwerpunkte: Theorien, Geschichte und Professionalisierung Sozialer Arbeit, Kinder- und Jugendhilfe im Spannungsverhältnis zur Kinder- und Jugendpsychiatrie. Tsirikiotis, Athanasios, Sozialarbeiter und Sozialpädagoge B.A./M.A.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Esslingen; Lehre im Bachelor- und Masterstudiengang Soziale Arbeit; Arbeit an der Promotion an der Universität Flensburg am Institut für Erziehungswissenschaft; Leitung eines Sozialhotels der Wohnungsnotfallhilfe des Trägers Ambulante Hilfe e.V. in Stuttgart; Arbeitsschwerpunkte: Rekonstruktive Sozialforschung, transformatorische Bildungstheorien und Soziale Arbeit, Soziale Arbeit in der Wohnungsnotfallhilfe, Digitalisierung der Hochschulbildung. Das durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg geförderte Projekt »Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern« hatte eine Laufzeit von zwei Jahren (01.10.2014 - 30.09.2016) und war an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen angesiedelt. Die vorliegende Veröffentlichung des Forschungsprojektes hat das Ziel, den öffentlichen sowie wissenschaftlichen Diskurs um Partizipationsmöglichkeiten psychiatrieerfahrener Personen aufzunehmen. Dazu versammeln sich hier Beiträge aus erfahrungsgeleiteten, professionsbezogenen und empirischen Perspektiven, die in unterschiedlichen Stadien des Forschungsprojektes gemeinsam gewonnen und diskutiert wurden. Darüber hinaus möchte diese Publikation anhand der Rekonstruktion von Erfahrungen und Wahrnehmungen verschiedener Akteur_innen aus dem Feld der Sozialpsychiatrie den Begriff der Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ausleuchten. Dabei geht es insbesondere darum, den Diskurs zwischen Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen sowie der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit anzuregen und weiterzuführen. ISBN 978-3-947390-04-5 (PDF)