Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis (Hrsg.)
Partizipation in sozialpsychiatrischen
Handlungsfeldern
Reflexionen & Forschungsbericht
Sandro Bliemetsrieder | Katja Maar | Josephina Schmidt | Athanasios Tsirikiotis (Hrsg.)
Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios
Tsirikiotis (Hrsg.)
Partizipation in sozialpsychiatrischen
Handlungsfeldern
Reflexionen & Forschungsbericht
Hochschule Esslingen
Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
Herausgegeben von
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
Titelbild
Wolfgang Bliemetsrieder, 2014, Privatbesitz
Alle Rechte vorbehalten
Esslingen, im April 2018
ISBN 978-3-947390-04-5 (PDF)
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Partizipation in sozialpsychiatrischen
Handlungsfeldern ................................................................................................ 10
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt,
Athanasios Tsirikiotis
„Wir leben unser Leben.“ Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern (Fachtag)
Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe:
Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ................................... 26
Klaus Dörner
Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen:
Teilhabe bei psychischen Erkrankungen ............................................................. 42
Bernhard Dollerschell, Martin Ortolf
Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger
psychisch kranker Menschen .............................................................................. 52
Barbara Mechelke-Bordanowicz
„Wir leben unser Leben – miteinander“.............................................................. 58
Michael Tetzer
Menschenrechte und Soziale Arbeit in der Psychiatrie (Forschungskolloquium)
Menschenrechte und Soziale Arbeit. Reflexionen
im Kontext des Forschungsprojektes „Partizipation
in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ ....................................................... 66
Eric Mührel
Menschenrechte und Gesundheit ........................................................................ 88
Alexander Schmid
7
Inhaltsverzeichnis
Soziale Diagnostik und sozialpädagogisches Fallverstehen (Forschungskolloquium)
Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik
in der Klinischen Sozialarbeit ........................................................................... 112
Julia Gebrande
Rekonstruktive Fallwerkstätten als Methode
(macht)reflexiver Sozialer Arbeit - am Beispiel
der Sozialpsychiatrie ......................................................................................... 128
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt,
Athanasios Tsirikiotis
Diagnostik in der Sozialen Arbeit ..................................................................... 160
Hubert Höllmüller
Wissenschaftliche Reflexionen zur Sozialpsychiatrie
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und
die Frage nationaler, religiöser und/oder
rassistischer Kulturalisierungen ........................................................................ 180
Clarissa Hechler, Claus Melter
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ –
Eine differenzreflexive Betrachtung der Partizipation
von Menschen mit psychischen Erkrankungen in
Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit .............................................................. 216
Stefan Schäfferling
Psychiatrisierte Personen und Spiritualität.
Transzendenz im Lichte philosophischer Diskurse
und die Bedeutung für eine professionelle Haltung
in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ....................................................... 250
Johanna Kohler
Inhaltsverzeichnis
8
Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Dokumentation
der Forschungsergebnisse
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ....................................................... 270
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt,
Athanasios Tsirikiotis
Reflexionen zum Forschungsprozess und -ethik
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation?
Reflexionen zur Forschungsmethodik und -ethik im Projekt
„Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“.............................. 356
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
Autor_innenverzeichnis .................................................................................. 396
Einleitung: Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios
Tsirikiotis
Das Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“
Das durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg geförderte Projekt »Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern« hatte eine Laufzeit
von zwei Jahren (01.10.2014 - 30.09.2016) und war an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen angesiedelt. Die vorliegende Veröffentlichung des
Forschungsprojektes hat das Ziel, den öffentlichen sowie wissenschaftlichen Diskurs um Partizipationsmöglichkeiten psychiatrieerfahrener Personen aufzunehmen. Dazu versammeln sich
hier Beiträge aus erfahrungsgeleiteten, professionsbezogenen und empirischen Perspektiven,
die in unterschiedlichen Stadien des Forschungsprojektes gemeinsam gewonnen und diskutiert wurden. Darüber hinaus möchte diese Publikation anhand der Rekonstruktion von Erfahrungen und Wahrnehmungen verschiedener Akteur_innen aus dem Feld der Sozialpsychiatrie
den Begriff der Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ausleuchten. Dabei
geht es insbesondere darum, den Diskurs zwischen Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen sowie der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit anzuregen und weiterzuführen.
Besonderer Dank gilt dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst BadenWürttemberg für die Forschungsförderung, unseren engagierten Forschungs- und Diskurspartner_innen für die vertrauensvolle und eröffnende Zusammenarbeit und Frau Nadjila Nasar
für das engagierte und kompetente Lektorat. Möge es weiterhin ein gemeinsames Ringen und
Nachdenken aller in und an sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern beteiligten Akteur_innen
über Partizipation geben.
11
Einleitung
Partizipation als unbestimmter Begriff
Die Auseinandersetzung mit der Frage nach Partizipation findet auf mehreren Ebenen statt
und wird von verschiedenen, mit unterschiedlicher Handlungs- und Deutungsmacht ausgestatteten, Akteur_innen geführt. So wird u.a. die Bedeutung der Beteiligung von Menschen mit
psychischer Erkrankung bei der Gestaltung und Erbringung sozialarbeiterischer Hilfen – also
der Teilhabe im Gegensatz zur bloßen Teilnahme – hervorgehoben (vgl. Schnurr 2005; Lenz
2006; Straßburger/Rieger et al. 2014). Zudem werden die positiven Effekte der Beteiligung
auf die Behandlung psychischer Erkrankungen thematisiert (vgl. Terzioglu 2006; Grätz und
Brieger 2012). Der wissenschaftliche Diskurs um eine Adressat_innen- bzw. Nutzer_innenperspektive hebt explizit die Notwendigkeit der Partizipation der Adressat_innen für
das Gelingen bzw. den Gebrauchswert der Praxis der Sozialen Arbeit hervor (vgl. Graßhoff et
al. 2012; Bitzan/Bolay/Thiersch 2006; Oelerich/Schaarschuch 2005; Schaarschuch 1999,
2003). Auch die Verbände der Psychiatrie-Erfahrenen, u.a. der Landesverband der Psychiatrie-Erfahrenen Baden-Württemberg (LVPEBW), fordern einen Zuwachs an Partizipationsmöglichkeiten. Damit verbinden sie zugleich die Weiterentwicklung der trialogischen Ausgestaltung von Hilfen mit dem Ziel der Förderung und der langfristigen strukturellen Etablierung der Selbsthilfe unter Betroffenen (vgl. LVPEBW e.V. 2015).
Innerhalb des Diskurses lässt sich angesichts der Vielfalt der Deutungen und Interessen der
Begriff der Partizipation nicht vereinheitlichen. Auch würden Sozialwissenschaftler_innen
ihre Deutungsmacht im öffentlichen Diskurs überschätzen, wenn sie versuchten, verallgemeinerte Begriffsbestimmungen, welche sie in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit herausgearbeitet
haben, als »akademische Wahrheit« durchzusetzen. Vielmehr sollte kritisch verstandene Sozialwissenschaft versuchen, auf den dahinter liegenden Sinn der Begriffskonstruktionen bzw.
auf die subjektiven Wahrnehmungen der jeweiligen Akteur_innen zu blicken, um sich dem
Begriff der Partizipation – mit Erhalt seiner Vielfältigkeit - anzunähern. Die Forschungshaltung des hier zugrunde liegenden Forschungsprojektes war dementsprechend davon geleitet,
dass gesellschaftliche wie individuelle Entwicklungen, die Vorstellung von sogenannter Normalität und damit das Verständnis von »Gesundheit« und »Krankheit« zu unterschiedlichen
Wahrnehmungen von Partizipation führen. Daraus resultieren verschiedene Forderungen, Inhalte, Vorstellungen und Erwartungen an – bzw. Einschätzungen über – die (politische)
Reichweite von Partizipation.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
12
So stellt sich z.B. die Frage danach, woran partizipiert werden soll? Steckt dahinter die Vorstellung der Teilhabe an dem gemeinsamen, demokratischen Projekt »Gesellschaft«, welches
entsprechend der Bedürfnisse der Akteur_innen (mit-)gestaltet werden kann und muss? Oder
die Vorstellung von Teilnahme an bereits existierenden – und folglich unveränderbaren –
Mustern von Vergesellschaftung? Ebenso stellt sich die Frage, ob es genügt, Partizipation nur
in das therapeutische Instrumentarium bzw. Setting von Psychiater_innen zu integrieren?
Die Auseinandersetzung mit der Frage nach Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern bedarf insbesondere eines sozialwissenschaftlichen Zugangs, der nicht versucht ist,
die Spannungsfelder zu verdecken und den Partizipationsbegriff zugunsten einer bestimmten
Akteur_innen-Perspektive zu vereindeutigen. Vielmehr scheint es geboten, die Aufgabe Sozialer Arbeit als – nicht endgültig abzuschließenden – Aushandlungsprozess gerade in diesem
Spannungsverhältnis zu begreifen, in welchem die institutionelle Verantwortung für den
Schutz und zugleich auch die advokatorische Unterstützung und Beförderung von emanzipatorischen Bemühungen ihrer Adressat_innen immer neu und handlungsbezogen zu verorten
sind. Normativ orientiert sich ein solches Professionsverständnis an den Menschenrechten,
der Menschenwürde und der sozialen Gerechtigkeit.
Fragestellungen des Forschungsprojektes
Die Frage nach Partizipation als Voraussetzung für die Gewährleistung gelingender Hilfeund Unterstützungsangebote rückt in jüngster Vergangenheit zunehmend in den Fokus des
Diskurses Sozialer Arbeit. Vor diesem Hintergrund fordern Vertreter_innen unterschiedlicher
theoretischer Paradigmen Sozialer Arbeit einen Perspektivenwechsel von der Professionellenhin zur Adressat_innenperspektive, einen stärkeren Fokus auf eine machtreflexive Vermittlung von Wissensarten und einen Einbezug genealogischer Theorietraditionen (vgl. u.a.
Bitzan/Bolay/Thiersch 2006; Dewe 2015; Foucault 1978; Graßhoff 2012 et al.; Hanses 2012;
Ralser 2010; Schaarschuch 1999, 2003). Hier setzt das zugrundeliegende Forschungsprojekt
an, indem es nach Definitionen, Möglichkeits- und Verwirklichungsräumen für Partizipation
im Feld der Sozialpsychiatrie aus der Perspektive der Adressat_innen und weiterer Akteur_innen fragt. Erkenntnisleitende Forschungsfragen sind dabei insbesondere:
Einleitung
13
•
Was bedeutet Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern aus der Perspektive verschiedener Akteur_innen?
•
Wie erleben Adressat_innen sozialpsychiatrischer Einrichtungen Partizipation? Was
würden sie sich wünschen?
•
Wie wird Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern thematisiert und
umgesetzt?
•
Welche Machtverhältnisse werden in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern reproduziert, stabilisiert bzw. dekonstruiert?
Methodischer Zugang
Im Forschungsprozess wurden qualitative Verfahren der Sozialforschung eingesetzt (vgl.
Flick 2010; Bohnsack 2007). Das explorativ, d.h. offen und unvoreingenommen ausgerichtete
Forschungsdesign wurde damit dem Umstand gerecht, dass es sich um ein weitgehend unerforschtes Untersuchungsfeld handelt. Um den Forschungsgegenstand „Partizipation“ gemäß
des im Feld der Sozialpsychiatrie mittlerweile etablierten trialogischen Konzepts hinreichend
untersuchen zu können, wurden Psychiatrie-Erfahrene, Professionist_innen (Fachkräfte und
Leitungen) und Angehörige in den Untersuchungsprozess gleichermaßen eingebunden. Gerade die systematische Einbindung des sozialen Umfelds bzw. der Angehörigen markiert eine
zentrale Forschungslücke und ließ wichtige Erkenntnisse in Bezug auf die praktische Umsetzbarkeit von partizipativen Elementen erwarten (vgl. auch für die hohe Bedeutung des sozialen Umfeldes für Zwangsverhinderung: Kruckenberg 2011, S. 35-37).
Wie bei qualitativen Forschungen üblich, war der gesamte Forschungsverlauf iterativ und
zirkulär angelegt. Das heißt, dass parallel zur laufenden Datenerhebung die bereits transkribierten Interviews ausgewertet und in Forschungskolloquien oder Fallwerkstätten diskutiert
wurden, um den weiteren Forschungsprozess daran auszurichten. In mehrfacher Hinsicht
wurden Methoden der qualitativen Sozialforschung triangulierend verwendet, d.h. mehrere
Methoden wurden miteinander kombiniert, um den genannten Forschungsfragen und –
perspektiven in angemessener Form gerecht zu werden:
Der erste Feldzugang erfolgte über ein Experten-Interview mit einem Vertreter eines Interessenverbandes Psychiatrie-Erfahrener auf Landesebene. Im Anschluss daran konnten Vertre-
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
14
ter_innen verschiedener Handlungsfelder der Sozialpsychiatrie für die Teilnahme an der Forschung aquiriert werden, sodass eine Vielfalt an Lebensdeutungen und Lebenslagen in der
Sozialpsychiatrie abgebildet werden konnte. Darüber hinaus wurde bei der Datenauswertung
einerseits ein halb offenes Kodierverfahren – angelehnt an die Grounded Theory-Methode
(vgl. Glaser & Strauss 1998) – eingesetzt, wodurch Lebensbereiche rekonstruiert werden
konnten, die der Kategorisierung der Identitätsdimensionen im Identitätskonzept von Heiner
Keupp et al (2008) ähneln, jedoch um weitere handlungsfeldspezifische Kategorien – die sich
aus dem Datenmaterial heraus aufdrängten und rekonstruiert werden konnten – erweitert wurden. Besonders die Kategorien Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein und Partizipation führten schließlich in bedeutsame zentrale Forschungsergebnisse (vgl. hierzu auch Kapitel 5 dieses Bandes).
Mit dem Bewusstsein, dass Identitätenentwicklung einer Dynamik unterliegt, die keinen
festen Zustand erheben lässt, brauchte es aus Sicht des Forschungsteam die Ergänzung um
eine Analysemethode, welche das Gewordensein bzw. die Gebildetheit des Falls
rekonstruieren lässt. Die Methode, die am deutlichsten das Prinzip der Sequenzialität
berücksichtigt, die Objektive Hermeneutik (vgl. Oevermann 2002), wurde daher zur
Feinanalyse einzelner Interviewpassagen verwendet, um in Interpretationsgruppen der
Bedeutungszuschreibung von Partizipation näher zu kommen.
Aufbau der Publikation: Wissenschaftliche Reflexionen und Ergebnistransfer im Forschungsverlauf
„Wir leben unser Leben“. Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern (Fachtag)
Die vorliegende Publikation beginnt im ersten Kapitel mit Beiträgen des Fachtags "Wir leben
unser Leben: Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“, welcher am 15. Juli
2016 an der Hochschule Esslingen stattfand. Ziel des Fachtages war es, ein Forum zu bieten,
um Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Interessierte sowie Mitarbeitende aus Wissenschaft und Praxis der Sozialpsychiatrie miteinander ins Gespräch zu bringen.
Klaus Dörner skizziert in seinem Beitrag „Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und
Teilgabe: Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ einen kurzen historischen
15
Einleitung
Abriss über die Entstehung der klinischen Psychiatrie. Dabei reflektiert er auch seine wissenschaftliche und praxisbezogene Auseinandersetzung mit der Psychiatrie und mit psychiatrisierten Personen und setzt sich reflexiv mit Fragen von Gesundheit und Krankheit auseinander. Partizipation sieht er einerseits in dem trialogischen Zugang und fragt nach seiner Bedeutung für die Selbstvertretung der Psychiatrie-Erfahrenen und deren Angehörigen und andererseits in einem dyadischen Verhältnis von Hilfs- und Helfensbedürftigkeit. Abschließend warnt
Dörner vor einem professionell gedachten, verwässernden und schwachen Partizipationsbegriff.
Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf schließen in ihrem Beitrag „Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen: Teilhabe bei psychischen Erkrankungen“ als Vertreter
des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg an Dörner an. Es ist den
beiden Autoren ein Anliegen aufzuzeigen, welche konkreten Voraussetzungen bzw. Handlungsfelder notwendig sind, damit Psychiatrie-Erfahrene überhaupt in die Lage versetzt werden, um partizipieren zu können. Dabei werden in diesem Beitrag u.a. Selbsthilfefähigkeiten,
die EX-IN Bewegung, trialogische Zugänge, psychoedukative Gesprächsgruppen, Psychoseseminare, Recovery-Gruppen, unterstützte Beschäftigung, Planungskreise, kommunale Vernetzungen, Arbeitskreise, Beschwerdewege (IBB-Stellen), empowermentorientierte Zugänge,
nachbarschaftliche Hilfe und Interessensvertretungen benannt und konkretisiert.
Der Beitrag „Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen“ von Barbara Mechelke-Bordanowicz lenkt den Blick auf Partizipation aus der Perspektive einer Angehörigen einer psychisch erkrankten Person. Aus dieser Perspektive heraus
betrachtet plädiert Mechelke-Bordanowicz dafür, die Betroffenen und Angehörigen von Anfang an miteinzubeziehen. Am Beispiel des Psychisch- Kranken-Hilfegesetzes (PsychKHG)
und des Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetzes (WTPG) möchte sie verdeutlichen, wie Partizipation wirken kann, aber auch wo Grenzen und vor allem Hemmnisse für Partizipation aufscheinen und welche Rahmenbedingungen notwendig wären, was bereits erreicht wurde und
wo Apelle zu verhallen drohen.
Michael Tetzer rundet mit seinem Tagungskommentar „Wir leben unser Leben – miteinander“ den Fachtag ab. Darin deutet er aus den Beiträgen des Fachtags heraus an, welche Normativitäten und Fragen nach einer „guten Lebensführung“ an den Beiträgen des Fachtags anschließen könnten. Er konfrontiert die unterschiedlichen Positionen mit aktuellen normativ-
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
16
theoretischen Konzepten des Capabilties Approaches mit seinen emotionstheoretischen Fragestellungen. Dabei kontextualisiert Tetzer das drohende Scheitern/Erschöpfen von Lebenspraxen und Institutionen in einer Leistungsgesellschaft und sucht nach Auswegen durch und
in soziale(n) Beziehungen.
Menschenrechte und Soziale Arbeit in der Psychiatrie (Forschungskolloquium I)
Das zweite Kapitel beinhaltet Beiträgen aus dem „Forschungskolloquium zu Fragen einer
Menschenrechtsorientierten Sozialen Arbeit in Handlungsfeldern der Sozialpsychiatrie“, das
am 5. Mai 2015 an der Hochschule Esslingen im Rahmen des Forschungsprojektes „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ stattfand. Ziel dieses Kolloquiums war es,
ethische und rechtliche Perspektiven einer menschenrechtsorientierten Sozialen Arbeit zusammenzudenken.
In seinem Beitrag „Menschenrechte und Soziale Arbeit. Reflexionen im Kontext des Forschungsprojektes ‚Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern‘“ diskutiert Eric
Mührel das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Menschenrechten zunächst anhand eines VierEbenen-Modells der Normativität mit Bezug auf zwei Theorien Sozialer Arbeit (Jane Addams/Silvia Staub-Bernasconi) respektive Sozialpädagogik (Natorp), die er jeweils in Bezug
auf die Menschenrechte skizziert. Anschließend geht Mührel auf die Bedeutung der Menschenrechte in der Praxis Sozialer Arbeit ein. Die leitende Fragestellung dabei ist: Wie kann
die Menschenwürde der Adressat_innen und Klient_innen so bewahrt werden, dass von einer
Einhaltung der Menschenrechte in Institutionen unter Beteiligung Sozialer Arbeit überhaupt
die Rede sein kann? Hierfür verweist Mührel auf die existenzphilosophische Dimension der
Menschenwürde (Peter Bieri). Diese Überlegungen werden anhand abschließender Fragestellungen an das Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“
mit Bezug auf die Sozialpsychiatrie fokussiert. Alexander Schmid ergänzt die ethischen Betrachtungen Mührels um die juristische Sicht. Dabei stellt Schmid die Frage, welche Menschenrechte, auf welcher Ebene (Vereinte Nationen, Europäische Menschenrechtskonvention,
Rechtsprechungen, Grundrechte, Grundgesetz) für eine wissenschaftliche Fragestellung konkret bedeutsam sind. Für das Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ diskutiert Schmid insbesondere entlang des Menschenrechtes auf Gesundheit
und der Fragen der Zwangsbehandlung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Auf das Zusammenspiel zwischen nationaler Rechtsordnung und Menschenrechten, insbesondere der UN-
Einleitung
17
Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), wird im Rahmen einer aktuellen Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) eingegangen.
Soziale Diagnostik und sozialpädagogisches Fallverstehen (Forschungskolloquium II)
Das dritte Kapitel zeigt Beiträge aus dem Forschungskolloquium zu Fragen sozialer
Diagnostik und sozialpädagogischen Fallverstehens, das am 27. April 2015 an der
Hochschule
Esslingen
im
Rahmen
des
Forschungsprojektes
„Partizipation
in
sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ stattfand. In diesem Kolloquium wurden aktuelle
diagnostische
und
fallverstehende
Zugänge
diskutiert.
Im
Zentrum
stand
die
Auseinandersetzung mit der Bedeutung, Reichweite und Relevanz subsumtionslogischer und
rekonstruktionslogischer diagnostischer Zugänge in der Sozialen Arbeit. Dabei waren sich die
Akteur_innen grundsätzlich einig, dass auf diagnostisches und fallverstehendes Arbeiten in
sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern nicht verzichtet werden kann.
Julia Gebrande diskutiert in ihrem Beitrag „Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der
Klinischen Sozialen Arbeit“ die Bedeutung Klinischer Sozialer Arbeit mit ihrem spezifischen,
ganzheitlichen diagnostischen Blick in gesundheitsrelevanten Handlungsfeldern. Am Beispiel
der Diagnostik der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) möchte sie das
Spannungsverhältnis und die Vor- und Nachteile von Diagnostik in der Sozialen Arbeit
verdeutlichen. Dabei nimmt sich Gebrande der Auseinandersetzung klassifikatorischer
Zugänge an und fragt danach, welchen Beitrag Klassifikationen für eine Entpolitisierung der
Traumatisierungen leisten können. Sie wirbt abschließend dafür, Trauma sowohl als ein
individuelles als auch ein gesellschaftliches Problem zu begreifen.
In dem Spannungsfeld Subsumtion und Rekonstruktion bieten Sandro Bliemetsrieder, Katja
Maar, Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis in ihrem Beitrag „Rekonstruktive
Fallwerkstätten als Methode (macht)reflexiver Sozialer Arbeit – am Beispiel der
Sozialpsychiatrie“
einen
subsumtionslogisches,
Zugang
zu
biomedizinisches
Fallmaterial
und
an,
welcher
psychosoziales
über
ein
Fallverständnis
rein
(sog.
Biopsychosoziales Modell) hinausweist. Fallkonstellationen werden dabei im Kontext eines
biographischen
»So-geworden-seins«,
der
Milieueinbettung,
der
Frage
nach
institutionalisierten und nicht institutionalisierten gesellschaftlichen (z. T. neoliberalen)
(Macht-)Strukturen,
(Träger-)Geschichten
und
Beziehungen
sequenziell
aus
der
festgehaltenen Sprache oder den Ausdrucksgestalten der Adressat_innen rekonstruiert. Diese
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
18
Methode einer „machtreflexiven Fallwerkstatt“ wurde im Rahmen des Forschungsprozesses
des
Forschungsprojekts
„Partizipation
in
sozialpsychiatrischen
Handlungsfeldern“
herausgearbeitet und ist eines der zentralen Forschungsergebnisse (vgl. hierzu auch Kapitel 5
in diesem Band). In diesem Konzept wurde versucht, Zugänge der Objektiven Hermeneutik
(Oevermann) mit Wissensperspektiven des Erfahrungswissens, Professionswissens und
wissenschaftlichen Wissens (Dewe) zusammenzudenken und gleichzeitig mit machtreflexiven
und gerechtigkeitsambitionierten Überlegungen zu konfrontieren.
Hubert Höllmüller hingegen wirbt für eine „Diagnostik in der Sozialen Arbeit“ als
Erkenntnisprozess darüber, worin der Fall besteht, wovon er handelt und welches Problem er
beinhaltet. Eine solch verstandene Soziale Diagnostik verknüpft sich mit den Bereichen der
Methoden und Techniken und mit denen der wissenschaftlichen Theorien und findet in einem
Handlungskreis
von
Diagnose,
Interventionsplanung,
Interventionsdurchführung und
Evaluation statt. Dazu verhandelt Höllmüller den Begriff »Soziale Diagnostik« und plädiert
dafür, dass die Soziale Arbeit eine handlungsanleitende Diagnostik innerhalb der eigenen
Profession entwickeln muss. Weiter wird in einem kurzen Streifzug angedeutet, welche
möglichen diagnostischen Instrumente Sozialer Arbeit bereits zur Verfügung stehen.
Anschließend setzt sich Höllmüller mit der Frage auseinander, weshalb innerhalb der
Profession Soziale Arbeit diagnostische Instrumente so wenig Anwendung finden und möchte
aufzeigen, warum sich bestimmte Konzepte nicht als Diagnoseinstrument für die Soziale
Arbeit eignen.
Wissenschaftliche Reflexionen zur Sozialpsychiatrie
Im vierten Kapitel versammeln sich ausgewählte Beiträge aus Abschlussarbeiten, welche im
weiteren Rahmen des Projektes „Partizipation in Sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“
entstanden sind. Sie dienten dem Forschungsprojekt als erweiterte wissenschaftliche Reflexionen, Konfrontationen, Konkretisierungen und Kontextualisierungen.
In diesem Sinne diskutieren Clarissa Hechler und Claus Melter in ihrem Beitrag „Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage nationaler, religiöser und/oder rassistischer
Kulturalisierungen“. Sie möchten sich dabei an den Themenkomplex
‚Psychiat-
rie/Sozialpsychiatrie und Migration’ aus einer diskriminierungskritischen und migrationsgesellschaftlichen Perspektive annähern. Hechler und Melter verstehen ihren Beitrag als For-
19
Einleitung
schende im Bereich der Sozialen Arbeit sowie der Diskriminierungs- und Rassismuskritik als
ein Angebot für Theoretiker_innen und Praktiker_innen der Sozialpsychiatrie, diese Perspektiven auf die spezifischen Aspekte dieses Bereiches reflektiert anzuwenden.
Hieran schließt Stefan Schäfferling mit dem Beitrag „Auf der Suche nach der „TIPIKompetenz“ – Eine differenzreflexive Betrachtung der Partizipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit“ an. Zentral ist für Schäfferling eine differenzreflexive Betrachtung von Personen, die sich mit ihren Unterschiedlichkeiten und unterschiedlichen Voraussetzungen im Handlungsfeld der ‚Sozialen Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen‘ begegnen und mit den darin verbundenen Rahmenbedingungen konfrontiert sind. Auf diese Weise werden einige Schwierigkeiten, Hemmnisse,
Dysfunktionalitäten und Widersprüche aufgedeckt. Dabei setzt sich der Autor intensiv mit
Fragen nach ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘ ‚Inklusion‘ etc. auseinander. Es geht
ihm insbesondere darum, Sozialarbeitende zu ermutigen, bei der Umsetzung einer gleichberechtigten ‚Teilhabe‘ bzw. von ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ von Adressat_innen
und Menschen mit Beeinträchtigungen eine aktivere Rolle spielen zu können. Mit diesem Ziel
wirbt Schäfferling für eine differenzreflexive Perspektive der Praxis Sozialer Arbeit.
In ihrer Auseinandersetzung „Psychiatrisierte Personen und Spiritualität - Transzendenz im
Lichte philosophischer Diskurse und die Bedeutung für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ geht Johanna Kohler Fragen nach Spiritualität als eine
Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der Deutung der Welt, des Lebens und der Rolle der
Menschen nach. Diese Auseinandersetzung zeichnet sich gerade durch ihre Offenheit gegenüber dem Menschsein innewohnender Transzendenz aus. Spiritualität als Reflexionsrahmen
über Mensch-sein wird in diesem Beitrag auf philosophische Diskurse von Max Horkheimer,
Martin Buber und Gerhard Gamm bezogen, da diese Mensch-sein gerade auch auf seinen
Transzendenzgehalt hin dekonstruieren. Daran anknüpfend wird von Kohler diskutiert, welche Bedeutung die Berücksichtigung von Transzendenz für eine professionelle Haltung in
sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern einnehmen kann.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
20
Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Dokumentation der Forschungsergebnisse
Die Publikation mündet im fünften Kapitel mit der Darstellung der zentralen Forschungsergebnisse des Projektes „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ und einer
Reflexion des methodischen Zugangs sowie des Forschungsprozesses.
Ein zentrales Ergebnis des Forschungsprojekts ist die Entwicklung eines Partizipationsbegriffs, welcher der Praxis Sozialer Arbeit in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern als Kritikfolie dienen kann. Zusammengefasst ist dieses emanzipatorische Partizipationsverständnis
mit folgenden Elementen inhaltlich gefüllt:
•
Partizipation als Orientierungsfigur im Arbeitsbündnis, welches sich an der Integrität und
Autonomie der Adressat_innen orientiert und in dem kontinuierlich um die Angemessenheit zwischen diffusen (subjektiven) und spezifischen (Auftrag) Rollenanteilen gerungen
wird.
•
Partizipation bedeutet, Narrationen zu ermöglichen, in denen Sinnzuschreibungen, Identitätenentwicklung und Bildungsprozesse unterstützt werden.
•
Partizipation bedeutet folglich, Eigentheorien anzuerkennen und eine Auseinandersetzung
damit zu ermöglichen.
•
Partizipation bedeutet, von Adressat_innen geäußerter Kritik und Wünsche einen Raum
zur Verfügung zu stellen (z.B. Hausbesprechungen, Adressatensprecher_innen), zuzuhören und diese nicht zu pathologisieren.
•
Partizipation ist, in einem Arbeitsbündnis Subjekten die notwendigen Ressourcen (materielles, kulturelles, soziales Kapital) zur eigenen Identitätsarbeit auch stellvertretend zu beschaffen (stellvertretende Krisenbewältigung).
•
Partizipation bedeutet gleichzeitig, Subjekten dazu zu verhelfen, sich selbst die notwendigen Ressourcen für ihre Identitätenarbeit zu verschaffen.
•
Partizipation bedeutet darüber hinaus, Subjekten bei der Transformation der Ressourcen
für die jeweils eigene Identitätsarbeit zu unterstützen, vom Identitätsentwurf zum Identitätsprojekt zu finden (Ko-Produktion).
Einleitung
21
•
Partizipation bedeutet, Adressat_innen als Rechtssubjekte anzuerkennen. Dabei reicht es
nicht aus, Rechte zu haben oder von ihnen zu wissen, sondern die Anerkennung als
Rechtssubjekte muss sich auf mehreren Ebenen zeigen:
1. Menschen
müssen
das
Recht
haben,
Rechte
zu
haben.
Die
UN-
Behindertenrechtskonvention konkretisiert die Menschenrechte für Menschen mit
Behinderung, die für alle Menschen gelten.
2. Adressat_innen müssen dabei unterstützt werden, einen Raum zu bekommen, in
dem sich Gehör verschafft werden kann.
3. Soziale Arbeit muss über Rechte aufklären und ihre Bedeutung für den Alltag der
Menschen angemessen übersetzen (z.B. PsychKHG, UN BRK)
4. Partizipation bedeutet eben auch darauf hinzuarbeiten „dass Subjekte aus Freiheit
und im Wissen um die Zwänge handeln, welchen sie ausgesetzt sind und die sie
wiederum nutzen können, um ihre Freiheit zu wahren." (Winkler 2012, S. 159)
5. Partizipation muss auch die Möglichkeit der Nicht-Teilnahme berücksichtigen,
d.h. sich selbst nicht in Rechtskämpfe zu begeben und dennoch politisch berücksichtigt zu werden (vgl. Idee »Rechts auf Gegenrechte«) (vgl. Menke 2015).
•
Partizipation bedeutet, Subjekten die Möglichkeit zu geben, sich als Teil eines Verhältnisses zu begreifen, das historisch geworden, überindividuell und somit veränderbar ist (Bildung).
•
Partizipation bedeutet, Subjekten die Möglichkeit zu geben, sich mit anderen zu solidarisieren bzw. zu kollektivieren und sie dabei zu unterstützen, politische Wirkmacht zu entwickeln.
•
Partizipation bedeutet ebenso, den kollektivierten Subjekten die Selbstdefinition von Identitäten zu übergeben und diese nicht für sie zu übernehmen.
•
Auf der Grundlage kann dann ein Trialog geführt werden, der sich an einem Ideal eines
herrschaftsfreien Diskurses (vgl. z. B. Habermas 2009) orientiert. Davon unterschieden
werden sollte die Notwendigkeit einer eigenständigen und mit mehr Ressourcen
ausgestattete Angehörigenberatung, die nicht Bestandteil von Trialog sein sollte.
•
Partizipation bedeutet, die verschiedenen Hilfesysteme Sozialer Arbeit so miteinander zu
integrieren, dass ein falllogisches und nicht ein handlungsfeldlogisches professionelles
Handeln ermöglicht wird.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
22
Reflexionen zum Forschungsprozess und -ethik
Mit ihrem Beitrag „Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation? Reflexionen zur
Forschungsmethodik und -ethik im Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen
Handlungsfeldern“ schließen Josephina Schmidt und Athanasios Tsirikiotis diese Publikation
ab. Sie plädieren für eine rekonstruktive Forschungsperspektive in der Sozialpsychiatrie und
reflektieren das Forschungsdesign. Nach einer ethischen Reflexion wird eine Idee für eine
partizipative und emanzipative Forschung in der Sozialpsychiatrie skizziert.
Literatur
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„Wir leben unser Leben.“ Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern (Fachtag)
Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe: Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
Klaus Dörner
Vortrag im Rahmen des Fachtages „Wir leben unser Leben“. Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern an der Hochschule Esslingen am 15. Juli 2016
„Wir leben unser Leben“
Das Thema des Fachtages „Wir leben unser Leben“ mit dem darin innewohnenden Plural finde ich sehr treffend formuliert. Es geht also nicht nur um die Einzelnen, sondern vielmehr um
gruppenbezogene Fragestellungen. Wir psychiatrischen Profis, von Beruf bin ich ja Psychiater, also Mediziner im Erstberuf und nur sekundär Facharzt für Psychiatrie, haben, seit der
Erfindung der Psychiatrie um 1800, Partizipation nicht im Blick gehabt. Ganz im Gegenteil:
Die Etablierung der Psychiatrie fiel in furchtbarer Weise mit der Industrialisierung der Wirtschaft zusammen. Die Industrialisierung brachte mit sich, dass Menschen in „Würdige“ und
„Unwürdige“, in „Leistungsstarke“ und „nicht Leistungsstarke“ unterschieden wurden. Die
Ideologie der Industrialisierung, „von der Gesellenstube in die Fabrik“, haben auch die damalige Psychiatrie und somit die Psychiater stark geprägt. Viele Psychiater waren damals von
der Industrialisierung fasziniert, sodass sie die Position vertraten: Was für die Güterproduktion nützlich ist, nämlich nicht mehr kleine Handwerksbetriebe, sondern möglichst große Fabriken zu betreiben, das wird für die Therapie von psychisch erkrankten Personen wahrscheinlich auch gut sein. Also schufen sie für psychisch erkrankte Personen möglichst große Institutionen, in denen dann möglichst viele „zu versorgende“ Menschen untergebracht werden
konnten.
27
Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe
Psychiatrie und Menschenwürde – historischer Abriss über die Entstehung der klinischen Psychiatrie
Bereits im 18. Jhdt. wurden so genannte psychisch Kranke, Demente und Behinderte in Großeinrichtungen versorgt, denn ihnen wurde ihr „Leistungswert“ abgesprochen. Immanuel Kant
ging davon aus, dass der Mensch nicht mit einem Wertmaßstab zu messen sei, sondern er habe Würde. In der Industrialisierung wurde im Menschen vor allem ein Tauschwert bzw. Leistungswert entdeckt, Würde wurde durch Wert ersetzt. 1806 schrieb der Hausarzt von Wolfgang von Goethe, Prof. Christoph Wilhelm Hufeland, in direktem Bezug dazu: „[…] Der Arzt
wird [dann zum] gefährlichsten Mensch[en] im Staate.“
Die Medizin war der Ansicht, ohne Philosophie auskommen zu können. 1848 wurde in der
Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche beschlossen, das Medizinstudium zu
revolutionieren, indem das Philosophikum abgeschafft und durch das Physikum ersetzt wurde. Reflektieren wurde als schädlich und vom Fortschritt ablenkend gesehen. Meines Erachtens wäre es jedoch ein echter Fortschritt gewesen, das Philosophikum zu behalten und das
Physikum zusätzlich einzuführen.
Ein Gesetz zur Zwangssterilisation von Menschen mit psychischen Erkrankungen wurde von
den Nationalsozialisten 1933 durchgesetzt; bereits 1920 wurde der Begriff des “lebensunwerten Lebens“ eingeführt. Bereits im ersten Weltkrieg wurden 70.000 psychisch erkrankte Menschen umgebracht. Die Vergasung als psychisch krank bezeichneter Personen wurde im Nationalsozialismus zunächst in Polen durchgeführt. Da der Widerstand in der Bevölkerung gegenüber den Vergasungen von psychisch kranken und beeinträchtigten Personen wuchs, griffen die Ärzte im NS wieder verstärkt auf konventionelle, medikamentöse Tötungsmethoden
zurück. Nach 1945 versteckten sich viele Mediziner, viele ärztliche Täter des sogenannten
nationalsozialistischen Euthanasieprogramms haben sich später suizidiert. Erst 1968 wurde
mit der Aufarbeitung der Verbrechen der Medizin während des Nationalsozialismus begonnen.
Zusammenfassend kann man sagen: Die Psychiater, nicht die Chirurgen, Internisten und Neurologen, waren die ersten Profis, die auf die furchtbare Idee gekommen sind, psychisch Erkrankte als „Objekte“ ihrer Behandlungstätigkeiten zu begreifen. Die Art und Weise, wie
Psychiater mit ihren „Objekten“, den „Gegenständen ihrer Wissenschaft“, der Psychiatrie,
also mit den sogenannten psychisch kranken Menschen, in Berührung kamen, vollzog sich
Klaus Dörner
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dergestalt, dass sie bereits beim Kennenlernen der psychisch kranken Menschen diese aus der
Gemeinschaft herausnahmen und sie in möglichst große, möglichst anonyme Anstalten gesteckt und sie so vor der Öffentlichkeit verbargen.
Die Psychiater betrieben diese Praxis 200 Jahre lang, also seit Beginn dieser so genannten
Professionalisierungsgeschichte, und glaubten immer, dass sie sich damit an der Spitze des
Fortschritts befänden. Die klinische Logik war: Erstmal die psychisch Kranken in große Anstalten bringen, in denen sie dann mit wissenschaftlichen Methoden so „bearbeitet“ werden,
dass sie dann irgendwann „geheilt“ und „therapiert“ sind und somit keiner Psychiatrie mehr
bedürfen; egal wie lange das dauern möge. Das konnte im Extremfall auch mehrere Generationen von Psychiatern andauern. Das wurde hingenommen. Dies war auch eine Folge des
Fortschrittbegriffes. Bis in die Berufsordnung der Ärzte hinein hatte sich die Idee durchgesetzt, dass sich der Arzt bei unheilbar kranken Menschen zurückzuziehen habe. Wie man
Menschen begleitet, lernten Ärzte nicht. In der Folge kam es im 19. Jhdt. bis in das 20. Jhdt.
hinein zu einer systematischen Vereinsamung von so genannten „unheilbar kranken“ Menschen.
Diese Vorgänge wurden trotzdem als Fortschritt in der Medizin gewertet, und zwar insoweit
sich Psychiater in der Lage sahen, diesen Fortschritt zu beeinflussen. Das Ungeheuerliche
dabei ist, dass zunächst niemand thematisiert hatte, dass das eine menschenunwürdige Praxis
ist. Kein Mensch hat benannt, dass dabei die Würde von Menschen verletzt wird. Von Menschen, die ohnehin schon das Etikett haben, dass sie beschädigt, dass sie behindert, dass sie
beeinträchtigt sind, worin auch immer, also beeinträchtigt werden, vielleicht auch in der
Kunst, wie es hier in Ihrer Tagung heißt, in der Kunst, das eigene Leben so weit wie möglich
selbstständig leben zu können.
Die Psychiatrie fand es über einen langen Zeitraum hinweg völlig richtig, psychisch erkrankte
Personen „aus dem Verkehr zu ziehen“ ohne die daraus resultierenden Folgen zu bedenken.
Das bedeutete, dass Personen, welche in irgendeiner Form als krank, beeinträchtigt oder behindert galten, die möglicherweise gerade deshalb besonders dringend den Halt ihres sozialen
Netzwerks, den täglichen Kontakt mit ihren Angehörigen, Eltern, Geschwistern, Onkeln und
Tanten, Nachbarn brauchten usw., um auch von ihnen Unterstützung zu bekommen, gerade
aus diesen Netzwerken herausgerissen wurden. Wir Psychiater haben psychisch erkrankten
Personen ihren gesamten haltenden sozialen Rahmen weggenommen und sie dadurch zusätz-
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Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe
lich geschädigt. Wenn sie in so einer Anstalt sind, häufig möglichst weit weg im so genannten
„gesunden Grünen“ gelegen, ist es bekannt, dass sie nicht alle Tage Zeit haben, ihre Angehörigen und Zugehörigen überhaupt zu sehen. Angehörige psychisch kranker Personen können
häufig nur am Wochenende in die Psychiatrie zu Besuch kommen. Dann, wenn wir Ärzte
meist zu Hause und damit auch für die Angehörigen verschwunden sind und die Angehörigen
dann bestenfalls nur noch auf die Pflegenden, die im Schichtdienst arbeiten, treffen.
Wir Psychiater haben gedacht, es sei die Spitze des Fortschritts, wenn wir speziell für psychisch kranke Personen eine eigene Wissenschaft gründen, die Psychiatrie. In diesem Zuge
wurden psychisch erkrankte Personen zunächst einmal isoliert, sodass sie nicht mehr in den
regulären Krankenhäusern vorzufinden sind, sie bekommen vielmehr eine besondere Anstaltszuwendung.
Nach der Uniklinik war ich im Landeskrankenhaus Gütersloh. Diese Landeshäuser gibt es
noch überall, obwohl wir eigentlich gelernt haben müssten, dass sie viel zu groß sind, dass sie
den psychisch Erkrankten mehr schädigen als helfen. Glücklicherweise hat die Psychiatriereform damit begonnen, das große Netz dieser Anstalten durch kleine psychiatrische Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern zu ersetzen. Das scheint mir eines der wichtigsten Kernelemente der Psychiatriereform zu sein. Wenn psychisch erkrankte Personen schon der Medizin
zugeordnet werden, dann ist zumindest eine Normalisierung des medizinischen Angebotes
wichtig. Diese Versorgung ist dann die Aufgabe der Landkreise und der Städte. In Allgemeinkrankenhäusern, in denen chirurgische, internistische, gynäkologische und psychiatrische
Patient_innen durch dieselbe Tür gehen können. Diese Integration psychisch erkrankter Personen in die Allgemeinkrankenhäuser wird in der Psychiatrie als Gipfel des Fortschrittes verstanden, und das nach 200 Jahren „Anstaltsbevorzugung“.
Reflexion meiner wissenschaftlichen und praxisbezogenen Auseinandersetzung mit der
Psychiatrie und psychiatrisierten Personen
Mit diesen Fragen habe ich mich jetzt zugegebenermaßen etwas länger aufgehalten. Ich tue
das, da diese Geschichte von uns Psychiatern in aller Regel als „Nestbeschmutzung“ geleugnet oder erst gar nicht erwähnt wird. Doch inzwischen zeigen sich auch Schamgefühle, obwohl nicht gerne darüber gesprochen wird. Daher kommt mir der Fachtag „Partizipation in
Klaus Dörner
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sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ gerade recht. Er gibt mir wieder einmal die Gelegenheit, über diese Dinge „nestbeschmutzend“ und daher auch revidierend zu sprechen. Es ist
ja auch schwer zu verstehen, warum gerade Psychiater - die ja auch als besonders wissenschaftlich denkend gelten - diese Dinge so spät reflektiert haben. Dabei ist jedoch auch zu
bedenken, dass Psychiater zunächst einmal Körpermediziner werden müssen. Und wenn man
das dann „durchlitten“ hat, die Körpermedizin, und sich in Chirurgie und Innerer Medizin gut
auskennt, dann darf man sich für die Behandlung psychisch erkrankter Personen spezialisieren und Facharzt für Psychiatrie werden. Heutzutage nicht nur für Psychiatrie, sondern auch
für Psychotherapie. Letztere wird auf „dem Markt“ zu einer immer stärker gefragten Kunst.
Psychiatrie hingegen ist keine gefragte Kunst, war sie eigentlich auch noch nie. Daher möchte
am liebsten jeder Psychiater nur noch mit Psychotherapeut angesprochen werden. Denn damit
trägt man ja den Anspruch vor, dass man so wie Chirurgen und Internisten in der Lage ist, zu
therapieren. Die Seele wird therapierbar und dadurch in ein therapiefähiges Organ verwandelt.
Die Seele wurde körperlich eingekleidet. An die Seele kann man sozusagen mit denselben
medizinischen Mitteln therapeutisch, diagnostisch herangehen, wie Ärzte das für Leber und
Lunge gelernt haben. Und damit fällt die Zuständigkeit für psychisch Erkrankte an den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Hierbei setzt sich „der Wahnsinn“ im Grunde genommen auf andere Weise fort.
Zu Beginn meiner akademischen Karriere habe ich mein erstes Buch mit dem Titel Diagnosen der Psychiatrie geschrieben. Der darin enthaltene Sprachwitz Diagnosen der Psychiatrie
sollten einmal die medizinischen Diagnosen der Psychiatrie sein, welche auf psychisch kranke, beeinträchtigte Menschen angewendet wurden, aber gleichzeitig sollte damit auch eine
kritische Diagnose der Psychiatrie als Wissenschaft angesprochen werden. Ich wollte, dass
die Psychiatrie anfängt darüber nachzudenken, was es eigentlich bedeutet, wenn Psychiater
psychisch kranke Personen einer medizinischen Diagnose unterwerfen und sie medizinisieren.
Nur dadurch, dass die Seele kurzerhand als ein weiteres Organ wie Leber und Lunge betrachtet wurde, haben wir ein wissenschaftliches Renommee erreichen können. Wenn Psychiater
keine Mediziner gewesen wären, hätte sie vermutlich niemand ernst genommen. So wurde die
Psychiatrie zu einer weiteren Disziplin der Medizin, und Psychiater wurden Ärzte. Für den
Umgang mit psychisch kranken Personen bedeutete dies, dass man sie in „psychisch Kranke“
diagnostizierend „verwandelte“. Und das vor allem vor dem Hintergrund: Wenn sie einen
solchen diagnostischen Stempel haben, sind wir auch berechtigt, unsere Leistungen mit der
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Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe
Krankenkasse abzurechnen. Das war demnach eine ganz wichtige Operation: erst mal zu diagnostizieren, da haben die Adressat_innen der Psychiatrie den Stempel ‚ich bin psychisch
krank‘ und dann darf ich als Psychiater an ihnen Geld verdienen.
Mein zweites Buch heißt Hochschulpsychiatrie. Mit dieser Dissertationsschrift bin ich wieder
bei den Akademikern gelandet. Nach meinem Medizinstudium habe ich noch Soziologie studiert. Ich konnte bei der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Stipendium dafür beantragen. Ich war
der Erste, der diese ungewöhnliche Kombination, Medizin und Soziologie, studierte. Als ob
Medizin irgendwas mit Sozialem zu tun hätte? Mit Biologie, mit Leber und Lunge, da hätte
sich wohl eher Zoologie und Botanik aufgedrängt, aber doch nicht was Soziales! Das galt als
völlig absurd. Ich erstellte meine zweite Doktorarbeit, neben der in der Medizin, in Soziologie
und Geschichte. Im Rahmen des Soziologiestudiums in Berlin wurde ich auch bei Prof. Dietrich Goldschmidt mit Themen der Bildungsforschung und Bildungspolitik konfrontiert. So
habe ich dann die Doktorarbeit mit dem Titel Hochschulpsychiatrie erstellt. In dieser Zeit
wurde deutlich, dass in Amerika Jahrzehnte zuvor bereits jede Uni mit einer Beratungs- und
Behandlungsstelle für psychisch kranke StudentInnen ausgestattet war. Diese Idee sollte für
Deutschland übernommen werden. Und so habe ich dort das erste Buch für psychisch kranke
Studierende geschrieben. Diese interessanten Überlegungen haben mich im weiteren Verlauf
furchtbar eingeholt. Mitte der Psychiatriereformära, 1970, gab es noch die letzten Ausläufer
der 68er Studentenbewegung. Diese war gegen ihr Ende, wie alle Bewegungen, in ihre Bestandteile zerfallen, meist in kleine Splitterelemente. Eines dieser Splitterelemente war das
Heidelberger Sozialistische Patientenkollektiv. Der Psychiater Wolfgang Huber entwickelte
eine Behandlungsstelle für Studierende an der Universität Heidelberg. Die Studierenden wollten eigene Räumlichkeiten außerhalb der Universität haben, sie wollten auch in eigenen
Wohnungen leben. Die Studierenden ließen sich zwar – auch damit sie Atteste für Prüfungen
erhalten konnten - als psychisch krank etikettieren, sie forderten aber gleichzeitig, keinen Unterschied zwischen psychiatrischen Ärzten und psychiatrischen Patienten mehr machen zu
wollen. Sie empfanden es als nicht fair, Objekte für einen Facharzt zu sein. Man könnte auch
sagen, das verstieß gegen ihre Vorstellungen von Partizipation. Sie bildeten möglichst kleine
Gruppen, um eigene Gruppentherapien organisieren zu können. Erfahrene Studenten ernannten sich zu Therapeuten, die Studierenden selbst bezeichneten sich als Sozialistisches Patientenkollektiv. Sie verfolgten dabei auch das Ziel, einen demokratischen Sozialismus in Form
einer klassenlosen Gesellschaft in der Bundesrepublik einführen zu wollen. Das brachte nun
Klaus Dörner
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die gesamte Universität auf, sodass alle Fakultäten geschlossen das Sozialistische Patientenkollektiv verboten. Die Studierenden bekamen die Räume gekündigt. Die Studierenden wurden im Anschluss verbal immer radikaler. Etwa die Hälfte der Mitglieder des Sozialistischen
Patientenkollektivs schlossen sich der RAF an. Manche wurden Rädelsführer, gehörten also
zum inneren Kreis.
Im Grunde genommen war das Sozialistische Patientenkollektiv die erste Gruppierung, welche die bisherigen Entwicklungen der Medizin insofern kritisierte, als dass Beeinträchtigungen mit technischen Mitteln, Pillen, Elektroschocks usw. therapiert wurden.
Und wer nicht heilbar ist, kann auch nicht krank sein
Erst jetzt entwickelte ich für die Teilhabe und Teilgabe von psychisch Erkrankten erste Funken von Verstand und versuchte mit den weiteren Büchern ein bisschen von dem wieder gut
zu machen, was ich in der Vergangenheit unkritisch mitgemacht hatte. Ich erkannte, dass Lebenschancen aller Menschen die gleiche Geltung haben, dass alle Menschen ihr Leben leben
wollen, wie sie so treffend in Ihrem Fachtag feststellen. Ich begann, den Rest meines Lebens
dafür einzutreten, dass das nicht nur eine nette Behauptung ist, sondern dass das auch ganz
konkret möglich ist. Ich habe mich dann „aus den wunderbaren Höhen“ der Universitäten, vor
allem in Hamburg, verabschiedet und bin in eine alltägliche Anstalt gegangen, nach Gütersloh.
Wenn die Medizin, wie eingangs ausgeführt, das Konzept der Heilbarkeit vertrat, so vertrat
sie in gleicher Weise die Idee der Unheilbarkeit. In der Anstalt in Gütersloh wagte ich etwas,
wofür ich beinahe selbst für verrückt erklärt wurde. Denn in dieser Anstalt interessierten mich
am meisten die 435 Menschen, die definitionsgemäß bereits länger als zwei Jahre in der Anstalt lebten und für die festgestellt wurde, dass sie absolut unheilbar seien, sodass die Ärzte
aufgrund ihrer Berufsordnung sich gar nicht um diese Patient_innengruppe kümmern durften.
Sie sollten vielmehr den Rest ihres Lebens in der Anstalt bleiben und auf den „Anstaltsschutz“ angewiesen sein. Mir war es wichtig, dass diese psychisch kranken Personen genauso
als psychisch Erkrankte anerkannt würden wie die so genannten heilbaren Patient_innen, die
lediglich drei Wochen oder sechs Wochen oder drei Monate in der Anstalt blieben. Dann wäre
allerdings die ganze Anstalt zusammengebrochen, denn so viele Ärzte hatte man nicht und
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Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe
man hatte auch keine Chance, so viele Ärzte zu bekommen. Das galt auch für die Pflegenden.
Ich musste auch lernen, dass ich auf diese Weise gegen die Berufsordnung der Ärzte verstieß,
die davon ausging, dass chronisch Kranke, also unheilbar Kranke, nicht Gegenstand der Berufsordnung der Ärzte seien. Ich versuchte dafür zu werben, dass chronisch kranke Personen
mit akut kranken Personen gleichgestellt werden, doch leider ohne großen Erfolg. Als krank
galten weiter nur die so genannten Akutkranken. Bei dieser Gruppe gab es ja Heilungen oder
zumindest Heilungschancen.
Ich habe versucht, dieses Denken aufzuheben. Das war eine meiner größten Herausforderungen, denn die 435 Patient_innen, welche sich im Durchschnitt bereits 15 Jahre in der Anstalt
aufhielten, also von zwei bis 50 Jahren, mussten den Rest ihres Lebens aus Sicherheitsgründen „Anstaltsmenschen“ bleiben. Ich habe für meine Idee nur äußerst wenige Menschen gewinnen können, die sich darauf einlassen wollten, sich neben den Akutkranken auch noch den
chronisch Kranken zu widmen, wo doch erklärt wurde, mit den Akutkranken hätte man doch
schon genug zu tun.
Aber letztendlich konnte ich doch eine ganze Reihe Menschen gewinnen, möglicherweise
weil ich Professor war oder weil sie selbst erkannten, dass chronisch Erkrankten in gleicher
Weise menschlich begegnet werden muss. Herausfordernd für die Pflegenden, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Ergotherapeuten, Ökotrophologen, usw. war auch die Idee, dass neben
den chronisch kranken Personen die Angehörigen auch eine bedeutende Zielgruppe der Anstalt sind. Bis dahin hatte damit überhaupt noch niemand gerechnet.
Der trialogische Gedanke und seine Bedeutung für die Selbstvertretung der Psychiatrieerfahrenen und deren Angehörigen
In Hamburg hatten wir damit bereits schon sehr früh angefangen. Dort hatten wir damals die
erste norddeutsche Tagesklinik gegründet. In dieser führten wir ein, dass alles nur noch in
Form von Gruppentherapien angeboten wurde und einige Patienten, auch wenn sie ganz akut
krank waren, in dieser Tagesklinik gleichzeitig auch arbeiteten. Die Therapeuten und Patienten begegneten sich gleichermaßen in Gruppen. Wir hatten versucht, uns einige der Ideen des
Sozialistischen Patientenkollektivs aus Heidelberg anzueignen. Unser Selbstverständnis war
dadurch gekennzeichnet, dass wir die Schulmediziner, die Konservativen, die Erzkonservati-
Klaus Dörner
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ven, die Reaktionäre als unsere Gegner begriffen. Wir verstanden uns als die Reformmediziner und erklärten uns zu den Guten.
In diesem Sinne mussten die zuvor angesprochenen Berufsgruppen lernen, dass Angehörige
auch Betroffene sind, die eigene Bedürfnisse haben. Eigene Bedürfnisse, die sich von den
Bedürfnissen der Patienten unterscheiden. Das gilt beispielsweise für den Zeitpunkt der Entlassung. Hier ist wichtig zu erkennen, dass da nicht nur den psychisch kranken Personen
Selbstbestimmung, sondern auch den Angehörigen ein Mitspracherecht eingeräumt werden
muss. Wichtig war uns, dass wir die Interessen der Patienten, Angehörigen und „Profis“ zusammenführen können. Von den Angehörigen hatten wir erhofft, dass sie sich zu einer eigenen Interessengruppe zusammenschließen.
Heute, viele Jahrzehnte später, beginnen wir diesen Fachtag an der Hochschule Esslingen
trialogisch. Es finden Vorträge aus der Perspektive der Psychiatrieerfahrenen und der Angehörigen von Psychiatrieerfahrenen zum Thema Partizipation statt. Das ist meines Erachtens
das erste Mal, dass nicht nur über Partizipation gesprochen wird, sondern Partizipation
gleichzeitig auch gelebt wird, auch wenn ich den Begriff als Idee von Beteiligung eher unsympathisch finde. Lediglich eine Beteiligung psychisch kranker Personen oder deren Angehörige mit ihren Interessen halte ich eher für ein zu schwaches Konzept. Im Begriff der Partizipation zeigt sich schon wieder so eine „profiverschuldete“ Verharmlosung. Was die Profis
in der Tat lernen müssten ist, dass es nicht nur gut ist, wenn Profis sich verselbstständigen und
um ihre eigenen professionalisierten Interessen kämpfen. Die psychisch erkrankten Personen
sind doch die einzigen, die wissen, was es bedeutet, psychisch krank zu sein. Und natürlich
dann auch die Angehörigen Psychiatrieerfahrener, die genauso für ihre Bedürfnisse und Interessen kämpfen können.
Historisch betrachtet war es interessanterweise so, dass nicht die psychisch Erkrankten selbst,
sondern deren Angehörigen die Ersten waren, die sich zu einem Selbsthilfeverband zusammengeschlossen. Das haben wir in Hamburg in der Tagesklinik als Erstes mit auf den Weg
gebracht. Wenn ich auf etwas stolz bin, dann ist es das. Diese zunächst kleine Idee setzte sich
sehr schnell flächendeckend für ganz Deutschland durch. Es gab überall Ortsvereine oder
eben Landesverbände der Angehörigen psychisch Kranker. Dies zeigt, wie groß der Druck
geworden war. Eine solche Entwicklung wäre allerdings schon 200 Jahre früher notwendig
gewesen. Bereits 1980 konnten die Angehörigen psychisch Kranker sich zum Selbsthilfever-
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Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe
band auch auf Bundesebene verselbstständigen, die psychisch Kranken waren zehn Jahre später soweit. Diese konnten sich ca. 1990 als Bundesverband zusammenzuschließen. Sie entwickelten sprachschöpferisch die interessante Idee, sich nicht als Bundesverband psychisch
Kranker zusammenzuschließen, das war ja eine ideologische Formulierung mit einem medizinischen Anspruch und dem Charakter einer Krankheit. Doch das muss ich genauer ausführen.
Zunächst muss hier unbedingt Dorothea Buck genannt werden. Der Vater von Dorothea Buck
war Pastor und sie kam, als sie psychisch krank wurde, nach Bethel. Dort wurde sie im Nationalsozialismus als erstes zwangssterilisiert. Und die Pastoren, vor allem die Betheler Pastoren,
haben das unterstützt. Dorothea Buck hat unfassbar darunter gelitten. In der Anstaltsbibliothek von Bethel fand sie ein Buch über Suizid, und sie stellte fest, dass man sich ja umbringen
kann. Sie dachte sich, jetzt muss ich nicht mehr verzweifelt sein, ich bringe mich einfach um.
Und dann hat sie doch gezögert, da das ein schwerwiegender Entschluss ist, den man nicht
mehr rückgängig machen kann. Und Dorothea Buck hat festgestellt, es reiche ihr schon zu
wissen, dass man sich suizidieren darf. Sie nahm sich vor, noch ein Jahr zu leben, und gab
sich sozusagen noch ein Jahr. Sie litt sehr unter der Sterilisation, aber sie wollte gleichzeitig
erfahren, ob sie hinreichend viel Sinn im Leben erfahren konnte, auch wenn sie keine Kinder
bekommen durfte. Und dabei ging so ein Jahr nach dem anderen ins Land und jedes Mal hatte
sie wieder neue Ideen. Sie durfte ja als Zwangssterilisierte im Nationalsozialismus auch keine
Ausbildung machen. Sie wurde Künstlerin und begann, Skulpturen anzufertigen. Darin hat sie
ihren Sinn gefunden und konnte zum Entschluss kommen, dass sie sich nicht umzubringen
brauchte. Stattdessen wollte sie jetzt, dass psychisch erkrankte Personen ihre Interessen selbst
vertreten konnten. Und so kam diese Idee der Selbstvertretung dann auch zustande, auch weil
Dorothea Buck gleich von Anfang an mit bei dem Selbsthilfeverband der Psychiatrieerfahrenen dabei war.
Das Interessante ist: Jetzt gibt es psychisch Kranke, die das Bedürfnis haben, sich auf derselben Ebene zu verstehen wie andere Kranke auch, denn sie erkannten, dass sie in einem Teil
ihrer Möglichkeiten beeinträchtigt sind und im Separiertwerden um menschlich notwendige
Dinge beraubt werden. Und dass das eigentlich ein Verbrechen ist, gegen das sie sich wehren
können. Und so trauten sich psychisch Kranke zu, einen eigenen Selbsthilfeverband zu gründen. Sie nannten sich Verband der „Psychiatrieerfahrenen“, also Personen, die Psychiatrie
subjektiv erfahren haben. Das war ein genialer Schachzug, denn dieser Erfahrungsbegriff
Klaus Dörner
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streitet sogleich ja mir und den anderen Profis genau diese subjektive Erfahrung ab. Der Landesverband der Psychiatrieerfahrenen stellt damit an die Profis gerichtet fest, ihr redet über
etwas, was ihr nie selbst erfahren habt. Und wir reden über etwas, was wir sehr wohl selbst
erfahren haben, deswegen sind wir als Verband so bedeutend. Und dann kam noch der nächste Zug: Partizipation als Beteiligung war nicht ausreichend, sondern jetzt fordern wir, dass zu
jedem psychiatrischen Team, stationär wie ambulant, selbstverständlich auch ein Mitglied
gehören muss, das als Psychiatrieerfahrener diese subjektive Erfahrung in das professionelle
Teamwissen mit einbringt. Auf diese Weise konnten auch Betroffene, also Psychiatrieerfahrene, ihren eigenen bezahlten Erwerbsarbeitsplatz gestalten. Von da an haben wir uns in
Hamburg an die Arbeit gemacht, sehr mühselig, in sehr kleinen Schritten, Psychiatrieerfahrene zu beschäftigen. In England wurde das schon sehr lange praktiziert. Und in Hamburg hat
mein Neffe, der Psychologe Thomas Bock, begonnen, die ganze Reformbewegung, sehr viel
mutiger als ich das je gekonnt hätte, fortzusetzen, und das mit faszinierenden Ergebnissen.
1994 traf sich der Weltverband für Psychiatrie in Deutschland. Es ging dabei vor allem darum, der Weltgemeinschaft zu zeigen, dass Deutschland aus der eigenen barbarischen Geschichte gelernt hatte. Dies wurde besonders an den Angehörigengruppen verdeutlicht. Bei
diesem Treffen wurde die trialogische Idee entwickelt.
Das bislang letzte Ergebnis ist die von den Vereinten Nationen verabschiedete und seit 2009
von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention. Das bedeutet, dass die Bundesregierung sich jetzt verpflichtet, so lange die Lebensbedingungen psychisch erkrankter
Personen zu verbessern, bis alle sagen können „Wir leben jetzt unser Leben.“ So wie alle
Menschen ihr Leben leben können müssen, so leben auch wir unser Leben, mit oder ohne
Krankheit.
Seit 1945 hat nun eine kleine Gruppe von Menschen, dazu gehörte ich auch, also von fortschrittlichen Psychiatern, Reformpsychiatern, nicht Schulbuchpsychiater, lange dafür gekämpft, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten, wie das der Zwangssterilisierung oder
auch das der Euthanasie in einer demokratischen Rechtsstaatsgesellschaft wie der Bundesrepublik als Verbrechen anerkannt werden. Das bedeutet auch, dass die Betroffenen als Opfer
Nationalsozialistischer Verbrechen anerkannt werden und zumindest eine Entschädigung beispielsweise in Form einer Rente bekommen. Im Bundestag sind wir in jedem Ausschuss gescheitert. Eines Tages haben wir uns dann die Frage gestellt, warum maßen wir Profis uns das
eigentlich immer an, für die Interessen von Psychiatrieerfahrenen zu sprechen. Warum sorgen
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Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe
wir nicht dafür, dass die Psychiatrieerfahrenen selbst, auch im Bundestag, in den Ausschüssen
für sich und ihre Interessen kämpfen können? Im Zuge dessen haben wir eine Krankenschwester aus Detmold, Klara Novak, dafür gewonnen - sie war auch zwangssterilisiert -, den
Vorsitz des Bundesverbands der zwangssterilisierten Euthanasiegeschädigten zu übernehmen.
Und nun gingen die Mitglieder des Bundesverbandes der zwangssterilisierten Euthanasiegeschädigten – wie wir Profis vorher – in die Ausschüsse, Bundestagsausschüsse, Finanzausschüsse, Sozialausschüsse und so weiter. Es dauerte kein ganzes Jahr mehr, dann hatten sie
ihre Forderungen durchgesetzt. Und wenn Sie eines von diesem Beitrag behalten, dann bitte
ich Sie um dieses. Denn dieses Beispiel beweist, dass dann, wenn die Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, Störungen, wie auch immer Sie die Phänomene nennen wollen, die
Depressiven, die Stimmenhörer, die Wahnkranken, die Suchtkranken etc., wenn diese Personen anfangen und anfangen dürfen, sich nicht von uns Profis fremdbestimmen zu lassen, sondern für ihre eigenen Interessen mit eigener Stimme einzutreten, für sich zu sprechen, dann
können sie wesentlich mehr erreichen, als wenn sie immer auf uns professionelle Fürsprecher
warten müssen, bis wir Profis so gnädig sind, uns wieder um die Interessen der Betroffenen
zu kümmern. Das ist, was wir immer so professionell Selbsthilfe nennen. Wichtig ist, dass
sich die Betroffenen überhaupt nicht mehr davon abhängig machen, sondern die Verantwortung für sich und ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Genau das erhöht die Erfolgschancen ganz erheblich. Und ich finde es so schön, auch in ihrer symbolischen Bedeutung,
dass wir das ausgerechnet bei dieser Forderung selbstverständlicher Interessen der Überlebenden der Nationalsozialistischen Verbrechen machen konnten. Es geht doch dabei um die
Betroffenen, um Menschen, die diese Verbrechen selbst erlitten haben, und nun für sich selbst
sprechen.
Daraus kann man lernen und sehen, dass auch in vielen weiteren Bereichen viel möglich ist
bzw. wäre. Das variiert zwar von Ort zu Ort, von Bundesland zu Bundesland, von Stadt zu
Stadt. Wenn z. B. eine Region beschließt, eine Kommission einzusetzen, die untersucht, ob
(eröffnende) Lebensbedingungen von gegen ihren Willen Zwangsuntergebrachten hinreichend
beachtet werden, ist es notwendig, dass nicht nur Profis, sondern auch Psychiatrieerfahrene
und Angehörige Psychiatrieerfahrener dabei sein und mitmachen können und zu dieser ganz
offiziellen Kommission selbstverständlich dazugehören. Dabei setzen sich Menschen nicht
nur für sich selbst, sondern auch für die Interessen anderer Menschen ein. Im Sinne des Philosophen Immanuel Kant ist es notwendig, sich nicht nur für sich selbst, egoistisch, sondern für
Klaus Dörner
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andere (einem begegnende) Menschen einzusetzen. Wenn sich Personen für Interessen anderer einsetzen, vielleicht auch einen Präzedenzfall schaffen, kann in den Blick genommen werden, dass man, als ebenso verletzlicher Mensch, sich immer auch für seine eigenen Interessen
einsetzt. Die Interessen der Anderen und meine eigenen Interessen sind dann in einem
Schwebezustand, in einem Wechselspiel. Beide können ganz unterschiedlich sein, aber sie
sind gleich wichtig. Und man muss beide gleich fördern. Dabei kann sich ein Zustand psychischen Wohlbefindens einstellen.
Aktuell sehe ich – was die Integration und Inklusion psychisch kranker und geistig und körperlich beeinträchtigter Personen betrifft – eine Chance, die es die letzten 200 Jahre nicht gegeben hat. Im besten Falle beteiligen sich alle daran, die mutwillige Schädigung von beeinträchtigten Menschen könnte dann zu Ende gehen. Dazu müssen allerdings andere Wege beschritten werden. Diese anderen Wege haben Sie als Forschungsgruppe meines Erachtens mit
dem Wort Partizipation nicht radikal genug beschrieben. Es wäre sehr viel angemessener,
nicht nur zu sagen, wir wünschen jetzt Partizipation, wir wünschen jetzt, dass alle zu einem
bestimmten Prozentsatz beteiligt sind. Es geht vielmehr darum, was sehr viel mutiger die UNBehindertenrechtskonvention mit dem Begriffspaar Inklusion und der Vielfalt zum Ausdruck
bringt: um die Vielfalt menschlichen Lebens. Das ist wahrscheinlich, im Sinne eines positiven
Menschenbildes, eine emphatischere Formulierung.
Wir müssen uns dabei von einem einseitig medizinischen, von einem einseitig naturwissenschaftlichen Menschenbild trennen. Das naturwissenschaftliche Menschenbild ist nicht grundlegend falsch, stellt aber nur einen kleinen Aspekt des Menschseins dar. Wir müssen erkennen, dass jeder Mensch auch eine eigene Psyche hat und am sozialen Miteinander beteiligt ist
– erst dann können Menschen ihr eigenes Leben selbstbestimmt und solidarisch zugleich leben.
Bereits Thure von Uexküll, der Begründer der psychosomatischen Medizin, hat auf Grundlage der Erkenntnisse seines Vaters, dem Biologen Jakob von Uexküll, festgestellt, dass es für
das Menschsein konstitutiv ist, neben körperlichen und psychischen Zuständen, welche auch
wissenschaftlich beschreibbar sind, sich als Teil von größeren sozialen Gebilden zugehörig zu
fühlen und ein Teil davon zu sein. Das bedeutet, dass kein Mensch berechtigt ist, sich alleine
als körperliches, seelisches, psychisches Individuum zu betrachten, da der Mensch immer
mehr ist als ein Individuum. Der Mensch ist in erster Linie ein Beziehungswesen. Das
39
Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe
Menschliche im Menschen sind vor allem seine mit- und zwischenmenschlichen Beziehungen. Darin begründen sich die Sozialität und die Solidarität des Menschen. Damit wird in der
Frage, was das Menschliche am Menschen ist, das Soziale bedeutsamer als das Biologische
und Psychologische. Damit beginnt die Menschlichkeit des Menschen. In welchem Maße uns
das gelingt, ist noch eine Zukunftsaufgabe. Diese Fragen hat bisher noch keine Universität
lösen können. Sie könnten hier an der Hochschule Esslingen die ersten werden, die es wagen,
das Menschenbild vom kranken, vom gestörten Menschen in Frage zu stellen und zu erkennen, dass zunächst die Sozialität des Menschen in den Blick genommen werden muss, als ein
Soziales, das danach noch weitere Bereiche erfasst.
Mein Buch Ende der Veranstaltung ist gewissermaßen die Quintessenz von den interessanten
Erfahrungen, die wir in Gütersloh gemeinsam gemacht haben. Wir haben dort innerhalb von
17 Jahren sämtliche 435 lebenslänglich Untergebrachte, weil als unheilbar geltende, in eigene,
selbstbestimmte Wohnungen oder allenfalls ambulante Wohngruppen entlassen, und zwar
ohne jede Ausnahme. Die meisten wollten alleine leben, was uns sehr überraschte. Jede Form
von Institutionalisierung hat sich in diesen 17 Jahren als überflüssig erwiesen, die kriminelle
„Freiheitsberaubung im Amt“ war nicht notwendig. Es war allerdings gar nicht einfach, ausreichend Wohnungen zu finden. Auch im Sauerland haben wir etliche, nicht alle, aber etliche
Heime aufgelöst. Hierbei zeigte sich, dass die Zusammenarbeit mit Privatträgern noch
schwieriger sein kann als mit staatlich Verantwortlichen. Das Buch berichtet sehr intensiv
darüber, wie Integration, Inklusion, Partizipation konkret und praktisch umgesetzt werden
kann. Dabei war uns auch wichtig darzulegen, wieso im menschlichen Leben, im Sinne des
„Wir leben unser Leben“, beispielsweise auch die Möglichkeit, arbeiten zu können, eingeschlossen ist. Dabei kann ein Beitrag geleistet werden, der die Würde eines Menschen gewährleistet und trotzdem niemanden auf diese Weise überfordert. Das ist auch unter heutigen
Marktbedingungen realisierbar. Daher haben wir bereits in Gütersloh das Konzept der Zuverdienstfirma entwickelt. Wir haben 12 Zuverdienstfirmen gegründet, in denen ganz leichte
Industriemontage, Verpackungsarbeiten, Gärtnerarbeiten gemacht werden können. Niemand
musste dort arbeiten, aber jeder konnte, wenn ihm die Decke auf den Kopf fiel, dort hingehen,
konnte in die Firma gehen, in keine Tagesstätte, sondern in eine Firma, welche nach Firmenprinzipien organisiert war. Jeder konnte, so lange er wollte, und wenn es nur eine halbe Stunde war, oder drei Stunden am Tag, in der Firma mitmachen. Man konnte aber auch ohne Angabe von Gründen nach einer halben Stunde wieder nach Hause gehen. Es entstand ein völlig
Klaus Dörner
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freier Raum. Arbeit wurde zur Freiheit erklärt. Es stellte sich heraus, dass diese Selbsthilfefirmen einen Teil von dem, was sie kosten, selbst erarbeiten können. Selbst dann, wenn es
bei Mitarbeiter_innen mit größerer Beeinträchtigung nur ein kleiner Teil ist, das Prinzip ist
auf jeden Fall gewahrt. Jeder kann mit seiner Tätigkeit ein Stück dazu beitragen. Das ist ein
Beispiel für Partizipation, die deutlich über die Teilnahme hinausreicht. Und das ist der
Grund, warum ich, als das Wort Teilhabegesetz SGB IX entwickelt wurde, festgestellt habe,
dass sich darin wieder der „Medizinervorteil“ findet: Die „armen“, „beschädigten“, „leidenden“, „psychisch kranken“ Menschen, die etwas bräuchten, die etwas „haben“ müssten. Nur
in dieser Logik müssten wir den „leidenden Menschen“ – aus Barmherzigkeit – etwas geben.
Partizipation als dyadisches Verhältnis von Hilfs- und Helfensbedürftigkeit
Mit den folgenden Gedanken möchte ich schließen – sie sind vielleicht die wichtigsten Gedanken in diesem Beitrag. Nur wenige sind bisher auf den Gedanken gekommen, dass die
Bedürfnisse und Wünsche beeinträchtigter Personen gar nicht zwingend nur darin bestehen,
etwas zu bekommen, sie bekommen ja die ganze Zeit schon „Sonderrationen“, in Form von
Hilfe, weil sie als hilfsbedürftig gelten. Wir können doch nicht als anthropologische Trennung
vollziehen, dass da auf der einen Seite Menschen sind, die etwas nehmen dürfen und wollen,
und auf der anderen Seite Menschen sind, die ein großes Bedürfnis haben, den so konstruierten Anderen etwas geben zu können. Nehmen und Geben müssen in ein Gleichgewicht kommen können. Deshalb ist es notwendig, dass Psychiatrieerfahrene Möglichkeiten bekommen,
anderen Menschen etwas zu geben. Es geht also nicht darum, Kosten für die Kostenträger zu
senken, sondern diese zentral menschliche Möglichkeit, dass es Menschen nicht aushalten
können, immer nur etwas zu bekommen und nicht gleichzeitig Gelegenheiten finden können,
anderen etwas geben zu können. Dabei spielt das Mengenverhältnis keine Rolle. Es geht darum, dass Menschen grundsätzlich über Möglichkeiten verfügen müssen, nicht nur ihre Hilfebedürftigkeit, sondern auch ihre Helfensbedürftigkeit begegnet zu wissen. Und deswegen haben wir in Gütersloh 12 Zuverdienstfirmen geschaffen, die wir alle als Firmen selbst aufgebaut haben. Dazu gehört auch die Akquise von Aufträgen etc., die wir zunächst irgendwie
geschafft haben bzw. irgendwann haben es die Psychiatrieerfahrenen selber gekonnt. Die Psychiatrieerfahrenen konnten etwas dazu verdienen, der Zuverdienst hatte eher eine symbolische
Bedeutung. Die Psychiatrieerfahrenen hatten dann die Idee, Veranstaltungen für Sponsoren
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Helfens- und Hilfsbedürftigkeit, Teilhabe und Teilgabe
(z.B. einen Sponsorenlauf) zu organisieren. Von einem Teil des Geldes gründeten sie eine
Stiftung mit dem Stiftungszweck, in der Zuverdienstfirma für Menschen mit psychischer Erkrankung oder auch mit geistigen Beeinträchtigungen, Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen und
Arbeitsprozesse zu gestalten. Auf diese Weise haben die Psychiatrieerfahrenen selber angefangen, die Firma mit aufzubauen und zu gestalten. Und das ist, glaube ich, eine Idee von
Partizipation, die eindeutig mehr als diesen Namen verdient.
Für die Zukunft ist es bedeutend, den Schritt von der Industrieepoche zur Dienstleistungsgesellschaft zu wagen. Allerdings ist der Begriff der Dienstleistungsgesellschaft noch in der
Schwebe, hat jedoch aktuell noch keinen klaren Rivalen. Im Begriff der Dienstleistung vereinen sich Dienen und Leisten. Dienen wird in der Gesellschaft bereits gewürdigt, das Leisten
darf dabei nicht in Abrede gestellt werden. Die Tätigkeiten des Helfens, Unterstützens und
Begleitens sind eine Einheit aus Dienen und Leisten. Es wird darum gehen, neue Bereiche für
den Arbeitsmarkt zugänglich zu machen. Dazu gehört auch eine Wiederentdeckung der
Nachbarschaftsbewegungen, die vor der Moderne noch konkurrenzlos waren. Es geht um die
Wiederentdeckung des Bürgerschaftlichen Engagements. Menschen bringen darin im besten
Falle Zuwendungszeit und Begleitungszeit ein, und zwar nicht zu viel Zeit und nicht zu viel
Hilfe. Dabei ist es notwendig, dass Profis und bürgerschaftlich Engagierte Gesamthilfepakete
schnüren. Die Frage wird sein, wie kommen wir an die Zeitressourcen der Engagierten heran,
wie können Nachbarschaften aktiviert werden? Die Idee der Nachbarschaft wird für Bewohner_innen mehr und mehr bedeutsam, jedoch verstößt aktuell die Idee des Bürgerschaftlichen
Engagements noch gegen den Zeitgeist der Industriegesellschaft. Partizipation ist ein viel zu
schwaches Konzept: es geht um Selbsthilfe, die Selbsthilfe selbst mit zu organisieren, um
bürgerschaftliches Engagement. Dazu müssen alle auf der Suche nach besseren Alternativen
phantasievoll bleiben. Zu den Psychiatrieerfahrenen möchte ich sagen: Lassen Sie sich bitte
nicht mit dem viel zu harmlosen Begriff Partizipation von Profis „abspeisen“! Tschüss.
Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen: Teilhabe bei psychischen Erkrankungen
Bernhard Dollerschell, Martin Ortolf
Vortrag im Rahmen des Fachtages „Wir leben unser Leben“. Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern an der Hochschule Esslingen am 15. Juli 2016
In Anknüpfung an den Vortrag von Herrn Prof. Dörner ist es uns ein Anliegen aufzuzeigen,
welche konkreten Voraussetzungen bzw. Handlungsfelder notwendig sind, damit PsychiatrieErfahrene überhaupt in die Lage versetzt werden, um partizipieren zu können.
Notwendig ist grundsätzlich nicht nur die Stärkung der Selbsthilfe im institutionellen Bereich,
sondern auch die konkrete Stärkung der Selbsthilfefähigkeiten eines jeden einzelnen Psychiatrie-Erfahrenen. Nur wenn dies gewährleistet ist, kann es zu einem Genesungsprozess bei psychisch erkrankten Menschen kommen. Neben der Hilfe zur Selbsthilfe braucht es als zweite
Voraussetzung unbedingt eine angemessene Hilfe zur Teilhabe. Nur dann ist eine Teilnahme
am gesellschaftlichen Leben möglich. Beide Hilfen müssen sich an den Bedürfnissen der Patient_innen orientieren.
Als Beispiele für Partizipation von Psychiatrie-Erfahrenen in Baden-Württemberg sind die
von Herrn Prof. Dörner bereits angesprochene EX-IN Bewegung (Experience-Involvement),
die von seinem Neffen Prof. Dr. Thomas Bock mit initiiert worden ist, und die durch das Sozialministerium geschaffenen IBB (Informations-, Beratungs- und Beschwerdestellen) zu
nennen, auf die wir in unserem Vortrag noch weiter eingehen werden.
Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen
43
Die sechs spezifischen Handlungsfelder, die wir nun in diesem Vortrag erörtern, sind:
•
die Stärkung der Selbsthilfe,
•
die Optimierung der Hilfen zur Teilhabe,
•
die Verknüpfung von Selbsthilfe und Hilfe zur Teilhabe,
•
die Experience-Involvement (EX-IN)- Bewegung,
•
die Informations-, Beratungs- und Beschwerdestellen (IBB-Stellen) und
•
die Vertretung der Interessen Psychiatrie-Erfahrener.
Stärkung der Selbsthilfe
Als erstes Handlungsfeld hatten wir die Stärkung der Selbsthilfe identifiziert. Ein wichtiger
Aspekt dieses Handlungsfeldes ist das Anliegen der Behindertenrechtskonvention, die bereits
angesprochen wurde (von Herrn Dörner, Anm. d. Verf). Hier möchten wir besonders herausgreifen, dass die Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen notwendig
ist. Die Aufklärung und Sensibilisierung der Gesellschaft sind hierfür eine grundlegende Voraussetzung. Somit ist die Vernetzung von regionalen Initiativen zur Anti-Stigma-Arbeit zur
Förderung seelischer Gesundheit ein unabdingbares Mittel zur Verwirklichung von Inklusion.
Damit auch Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen am gesellschaftlichen Leben
gleichwertig partizipieren können.
Der Leitgedanke, „Nichts über uns und ohne uns“ sollte im gesamten Hilfesystem verankert
werden. Denn die trialogische Zusammenarbeit zwischen Betroffenen, professionell Tätigen
und Angehörigen ist für die Stärkung der Selbsthilfe besonders wichtig. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass dieser Fachtag trialogisch gestaltet wird, sodass professionell Tätige, Frau
Mechelke- Bordanowicz als Angehörige und wir als Betroffene gleichberechtigt zu Wort
kommen.
Außerdem muss das Hilfesystem einen personenorientierten Ansatz verfolgen. Die Bedürfnisse der Betroffenen und der Angehörigen müssen Grundlage des Handelns sein. Dementsprechend muss der individuelle Hilfebedarf angemessen ermittelt werden. Dabei müssen sowohl
die persönlichen Wünsche der Patient_innen und die fachliche Einschätzung der Therapeut_innen gleichberechtigt in die Hilfeplanung einfließen. Denn für die Zufriedenheit der
Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf
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Patient_innen ist auch entscheidend, dass die gewählten therapeutischen Maßnahmen zur gewünschten Wirkung führen. Insbesondere die Konzentration auf die Salutogenese 1, als
gleichberechtigter Bestandteil neben der Pathogenese 2, führen zur Reduzierung der Krankheitserscheinungen. Daneben muss die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft verbessert werden. Das Prinzip der Personenzentrierung muss aus unserer Sicht auch bei den weiteren Entwicklungsschritten zur Anwendung kommen. (…)
Optimierung der Hilfe zur Teilhabe
Das zweite Handlungsfeld, welches wir nun behandeln möchten, ist die Optimierung der Hilfe
zur Teilhabe. Da ist es wichtig, dass die Betroffenen die Möglichkeit haben verschiedene Angebote wahrzunehmen. Ein Beispiel hierfür sind psychoedukative Gesprächsgruppen in trialogischer Besetzung. Die in psychiatrischen Kliniken geübte Praxis, nämlich dass sich ein
Profi hinsetzt und über die psychischen Probleme doziert, ist unserer Ansicht nach alleine
nicht zielführend. Solche Angebote sollten unter anderem durch von Peers – also selbst auch
Betroffenen – geführte Gesprächsgruppen ergänzt werden. Hierbei können die Pflegeteams
zur Unterstützung der Peers mit einbezogen werden. Im stationären/ambulanten Alltag können Peers gewährleisten, dass die Interessen der Patient_innen gewahrt bleiben. Sei es als
Patientenfürsprecher_in, oder als Genesungsbegleiter_in. Denn solche partizipativen Angebote fördern die Auseinandersetzung mit der Krankheit auf Augenhöhe und sind ein wichtiger
salutogenetischer Bestandteil im Genesungsprozess.
Auch die sogenannten Psychoseseminare sind dazu geeignet, ein Verständnis für die Sichtweisen der daran teilnehmenden Personen zu wecken. Da die Psychoseseminare, wie der Name schon impliziert, sich jedoch ausschließlich auf die Psychosen beziehen, sollte dieses
Format auch mit Blick auf andere Krankheitsbilder entwickelt und durchgeführt werden. Besagtes Seminarformat könnte sich dann „Trialogseminare“ nennen. Das Ganze sollte mög-
1
2
Also eher die Konzentration auf die Entstehung von Gesundheit.
Anstatt der alleinigen Konzentration auf die Entstehung von Krankheit.
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Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen
lichst auch mit dem Recovery3 Gedanken verbunden werden. Daher plädieren wir auch für
den Aufbau landesweiter spezieller Recovery-Gruppen.
Patienten und Angehörige sollten zudem auf eine inhaltliche Unterstützung in Form von
schriftlichen Ratgebern zurückgreifen können. Es ist wichtig, dass die Menschen, die teilhaben, die partizipieren wollen, mit ihrem Erfahrungswissen nicht alleine gelassen werden,
denn, sie könnten damit überfordert sein. Daher sollte man ihnen die Möglichkeit bieten, ihr
Erfahrungswissen gezielt anwenden zu können, und weitere Informationen zu erhalten, damit
sie dann auf Augenhöhe mit den anderen Akteuren in der Psychiatrielandschaft sprechen können.
Wichtig ist für uns außerdem die Teilnahme an Veranstaltungen, wie zum Beispiel an diesem
Fachtag: Auf diese Weise sind nicht ausschließlich die Fachliteratur, das Internet usw. diejenigen Medien, die als Informationsquelle dienen; stattdessen gibt man Betroffenen und deren
Angehörigen mit dem Besuch und der aktiven Mitgestaltung an Fachtagen, Selbtshilfeveranstaltungen, etc. die Gelegenheit, in den bereits genannten trialogischen Austausch zu treten.
Damit die Betroffenen, sich nicht nur zurückziehen und kein Gehör finden, sondern in die
Öffentlichkeit hinausgehen und dort mitdiskutieren und mitreden, wo die Entscheidungen
getroffen werden.
Die Teilhabe an den Vorzügen von Arbeit ist im geförderten Bereich insofern gewährleistet,
als dass solch eine Beschäftigung für eine Tagesstrukturierung bei Psychiatrieerfahrenen
sorgt. Der Kontakt zu anderen Menschen hat für Psychiatrieerfahrene große Vorteile. Allerdings hemmt der minimale Lohn bei solchen Beschäftigungsverhältnissen die Teilhabe an der
Gesellschaft. Das Statusgefälle zu nichtgeförderter Arbeit ist groß und zeichnet sich dadurch
aus, dass die meisten im geförderten Bereich Arbeitenden an der Armutsgrenze leben. Finanziell prekäre Lebensverhältnisse verstärken zusätzlich und unmittelbar psychische Erkrankungen. Zudem fehlt es immer noch an flexiblen Angeboten, die die unterschiedliche Leistungsfähigkeit und Bildung berücksichtigen. Moderne Ansätze wie die „unterstützte Beschäftigung“ 4 setzen sich viel zu langsam durch. Auch aufgrund der nach wie vor vorhandenen
3
Verstanden als Fokus auf den Prozess der Wiedergenesung, der bestimmte Prinzipien als Grundlage
braucht.
4
Eine Maßnahme zur Teilhabe am Erwerbsleben, bei der Menschen mit Unterstützungsbedarf individuell bei der Integration in eine Arbeitsstelle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt begleitet werden können.
Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf
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Stigmatisierung von psychischen Störungen ist eine Teilhabe von psychisch erkrankten Menschen am ersten Arbeitsmarkt immer noch mit sehr vielen Barrieren versehen. Der Arbeitsmarkt muss flexibler werden, um mehr Inklusion zu ermöglichen. Dann würde auch eine
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben besser gewährleistet sein. Psychiatrieerfahrene Menschen können oft viel leisten, wenn Arbeitsplätze vorhanden sind, die ihre speziellen Einschränkungen berücksichtigen.
Die Teilhabe an der Gesellschaft ist mit jener Form von Arbeit, wie sie in Werkstätten angeboten wird, nur selten möglich, da diese häufig in isolierten und ausgegrenzten Verhältnissen
stattfindet.
Verknüpfung von Selbsthilfe und Hilfe zur Teilhabe
Die Verknüpfung der ersten beiden Handlungsfelder, Selbsthilfe und Hilfe zur Teilhabe, ist
das Thema des dritten Handlungsfeldes.
Dabei ist es ganz wichtig, dass die Verankerung des Partizipationsgedanken in den Kreisen
der Sozialplaner und in den größeren Ballungsräumen auch in den Kreisen der Psychiatriekoordinatoren stattfindet. Es nützt nichts, wenn über Partizipation an der Universität oder in
kleinen Kreisen bzw. exklusiven Gruppen nachgedacht wird; vielmehr muss sie gelebte Wirklichkeit sein. Und diese Wirklichkeit wird oftmals ohne Beteiligung der Betroffenen durch die
Entscheidungsträger in den Kommunen bzw. Städten bestimmt. Hier muss der Partizipationsgedanke bereits ganz vorne anstehen. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass
Partizipation bereits teilweise umgesetzt ist. Es ist nicht so, dass Partizipation eine völlig neue
Erfindung ist, die es einzuführen gilt – Sozialplaner und Psychiatriekoordinatoren haben den
Gedanken teilweise aufgegriffen. Was uns als Betroffene dabei auffällt ist, dass Partizipation
in Ballungszentren, wie hier in Baden-Württemberg, schon weiter fortgeschritten ist, während
im ländlichen Bereich oftmals noch Nachholbedarf besteht.. Die Gesamtsituation ist jedoch
nicht ausschließlich schwarz-weiß zu sehen: dass etwa alles, was in den Ballungsräumen stattfindet, gut ist und die ländlichen Räume durchweg schlecht dastehen. Aber aus unserer Beobachtung heraus, sind die Ballungszentren in Sachen Partizipation tendenziell weiter fortgeschritten.
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Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen
Unserer Meinung nach wäre die Einrichtung von Arbeitskreisen zur Förderung der partizipativen Praxis in der Gemeindepsychiatrie eine sinnvolle Maßnahme. Ein aus unserer Sicht
praktikable Maßnahme wäre zum Beispiel: die Bildung von Arbeitskreisen in den Gemeindepsychiatrien, welche Profis, Angehörige und Betroffene an einen Tisch bringen. Dies wäre ein
Schritt in die richtige Richtung, um gemeinsam Themen zu bearbeiten und die Psychiatrielandschaft zu gestalten. Es ist ebenfalls wichtig, dass für Angehörigen und Betroffene ein
kreisübergreifender Austausch ihrer Interessen erfolgt.
Weiter ist – wie wir bereits ausgeführt haben – die Etablierung von Schulungen für Psychiatrieerfahrene ein elementarer Bestandteil von Partizipation, damit diese überhaupt als Interessenvertreter in den Gemeindespsychiatrien arbeiten können. Das ungeteilte, eigene Erfahrungswissen ist nämlich nur ein Wissen, das für sich selbst genutzt werden kann. Das bedeutet, dass dieses eigene Wissen nicht der Allgemeinheit zur Verfügung steht und nicht allgemeingültig ist, weshalb Psychiatrieerfahrene so nicht mit anderen auf Augenhöhe darüber
sprechen können. Diese Weiterbildung könnte z.B. nach dem Vorbild der IBB (Informations-,
Beratungs-, Beschwerdestellen)- Schulungen gestaltet werden. Dieses Schulungsprogramm
bietet betroffenen Menschen und ihren Angehörigen eine Möglichkeit sich auf einen Wissenstand zu bringen, der ermöglicht, auf Augenhöhe mit den Profis zu arbeiten. So werden sie in
die Lage versetzt, sich in den gesamten Reformprozess einbringen zu können, der z.B. in dem
neuen Psychiatrieplan verankert ist, und dort adäquat ihre Interessen vertreten zu können.
Dabei ist uns auch der Gedanke wichtig, dass die Betroffenen „empowert 5“ und in ihrem
Recovery-Weg bestärkt werden.
Wenn ich als Betroffener teilhabe, wenn ich partizipiere, wenn ich für meine Sache und Interessen eintreten kann, dann kann dies auch wieder zur Normalität führen und die Krankheit in
den Hintergrund rücken. Damit kann ich ein besseres Leben führen, auch wenn die Krankheit
durch die Teilhabe an der Gesellschaft bzw. die gelebte Partizipation je nicht komplett verschwinden würde.
5
Bestärkt und befähigt, im Sinne des „Empowerment“-Ansatzes der Sozialpsychiatrie.
Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf
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Experience-Involvement (EX-IN)
Das Thema EX-IN behandelt das vierte Handlungsfeld. Ziel der EX-IN- Ausbildung ist die
Qualifizierung von Psychiatrieerfahrenen, damit sie als Dozent_innen oder Mitarbeiter_innen
in psychiatrischen Diensten tätig werden können.
Die EX-IN-Ausbildung ermöglicht das Erfahrungswissen der Betroffenen, seit kurzem auch
das Erfahrungswissen der Angehörigen, zu reflektieren und so in einer konstruktiven Art und
Weise für die Begleitung von psychisch kranken Menschen zu nutzen. Diese Ausbildung
könnte Psychiatrieerfahrenen ermöglichen, im Anschluss in einer Anstellung ihren eigenen
Lebensunterhalt zu bestreiten. Zurzeit ist EX-IN noch kein Ausbildungsberuf; es ist vielmehr
eine Fortbildung, die bisher nicht durch die Agentur für Arbeit in Baden-Württemberg anerkannt wird. Deswegen ist es besonders wichtig, Praktikums- und Arbeitsplätze zu schaffen.
Zunächst braucht es genügend Praktikumsplätze, damit die Psychiatrieerfahrenen ihre EX-INAusbildung erfolgreich beenden können. Wie die Erfahrung aus den bisherigen EX-IN- Kursen zeigt, ist der große Teil der Absolvent_innen wieder in der Lage, einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachzugehen und als Genesungsbegleiter zu arbeiten. Leider
werden zurzeit oft nur geringfügig bezahlte Beschäftigungsverhältnisse angeboten. Dabei
kann ihr Expertenwissen gar nicht wichtig genug eingeschätzt werden. Bezüglich der tariflichen Eingruppierung muss ein sinnvoller Weg gefunden werden. Es widerspricht dem bisherigen System der Tarifpartner, dass eine EX-IN- Ausbildung mit einer „normalen“ Ausbildung gleichgesetzt wird. In diesem Zusammenhang müsste das Erfahrungswissen anerkannt
werden, aber das gibt die derzeitige Tariflandschaft einfach nicht her. Dies sollte geändert
werden.
Wie bei anderen Professionen auch ist es für EX-IN-Absolvent_innen notwendig, ihnen Fortbildungen und Supervisionen anzubieten. Denn das Erfahrungswissen steht nicht still, sondern
wächst stetig, und so kann die Arbeit in der Genesungsbegleitung bereichert und weiterentwickelt werden. Fortbildungen und Supervisionen sind für Peers demnach genauso notwendig,
wie sie bei den Profis üblich sind.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Peers nicht nur als Genesungsbegleiter arbeiten sollten, sondern dass sie auch im Qualitätsmanagement von (sozial)psychiatrischen Einrichtungen
eingesetzt werden müssten, um so eine Verbesserung der Situation für Menschen mit psychischen Erkrankungen im betrieblichen Alltag der Leistungserbringer zu erreichen. Das Ziel
49
Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen
müsste sein, dass in jeder Einrichtung zwei Genesungsbegleiter mitarbeiten - und das nicht
zum Nulltarif, sondern zu einer angemessenen Bezahlung. Die SpDi´s (Sozialpsychiatrische
Dienste) sind bereits per Verwaltungsvorschrift aufgefordert, Ex-Inler oder Menschen mit
einer vergleichbaren Qualifikation einzustellen.
IBB-Stellen (Informations-, Beratungs- und Beschwerdestellen)
Das fünfte Handlungsfeld betrifft die IBB-Stellen. Auch in diesem Kontext stellt sich die Frage nach einer angemessenen Bezahlung. Es wird eine anspruchsvolle und qualitativ einwandfreie Arbeit seitens des Gesetzgebers von den IBB-Mitarbeiter_innen verlangt. Aber das Psychisch- Kranken- Hilfegesetz (PsychKHG) sieht für die dort Tätigen nur eine Ehrenamtspauschale vor. Wir finden, dass dies ein Widerspruch ist, da sowohl die Art als auch der Umfang
der Arbeit eine angemessene Bezahlung erfordern. Genauso erfordert diese Tätigkeit, wie
auch bei den Genesungsbegleiter_innen, Möglichkeiten von Fortbildungen und Supervision
und zwar für alle IBB-Mitarbeiter_innen. Qualifizierungsangebote sollten hier fortlaufend
gewährt werden und nicht nur ein Angebot für den Anfang sein.
Die Bereitstellung der Infrastruktur ist eine Aufgabe der Kreise und sollte selbstverständlich
sein: Es braucht flächendeckend z.B. Computer, Telefone und angemessene Räumlichkeiten.
Niederschwelliger Zugang sollte auch bedeuten, dass nicht lediglich in den Zentren für Psychiatrien Räume zur Verfügung gestellt werden, sondern dass die IBB-Stellen an einem neutralen Ort besser aufgehoben sind, damit mehr Menschen auch außerhalb der stationären
Dienste Zugang zu den IBB-Stellen finden können.
In der Diskussion zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sind Zwangsmaßnahmen in deutschen Psychiatrien zu Recht verstärkt in die Kritik geraten. Vielerorts gibt es
zu viel Zwang: Zwar gehört Baden-Württemberg zu den Bundesländern mit vergleichsweise
geringem Umfang an Zwangsmaßnahmen in den Psychiatrien, aber dennoch ist jede solche
Maßnahme eine Maßnahme zu viel.
Die in Baden-Württemberg eingerichteten Besuchskommissionen sind ein gutes Beispiel für
gelebte Partizipation. Laut dem PsychKHG sind die Besuchskommissionen trialogisch zu
besetzen. Wie der Name schon sagt, besuchen diese Kommissionen die stationären Einrichtungen und informieren sich z.B. über die Praxis der durchgeführten Zwangsmaßnahmen in
Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf
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den forensischen, geschlossenen und allgemeinen Abteilungen in den Psychiatrien des Landes, um sich ein Bild von den Zuständen vor Ort machen zu können.
Interessenvertretung von Psychiatrieerfahrenen
Das Handlungsfeld sechs widmet sich der Interessenvertretung von Psychiatrieerfahrenen.
Der schon zuvor angesprochene Punkt „Arbeit“ soll hierbei besonders heraus gegriffen werden. Das Thema Arbeit ist für uns Betroffene sehr wichtig. Denn Arbeit bzw. Beschäftigung
ist für uns mehr als nur Arbeit. Als Empfänger von Hilfe möchten wir nicht nur als Begünstigte gesehen werden, sondern wir möchten nach unserer Genesung auch wieder etwas zurückgeben, wie z.B. unser Erfahrungswissen, welches wir auf unserem Genesungsweg gesammelt haben. Vielen von uns ist es wichtig, durch diese gesammelten Erfahrungen in diesem Lebensabschnitt, dem Leben insgesamt wieder einen Sinn zu geben. Und die Arbeit als
Genesungsbegleiter_inen bzw. IBB-Stellen- Mitarbeiter_innen bietet eine Möglichkeit dies zu
tun. Auch helfen diese Tätigkeiten an sich wieder produktiv und strukturiert arbeiten zu können, was dem Leben der Betroffenen automatisch ein Stück weit wieder einen Sinn in ihrem
Leben gibt.
Deshalb sollen Menschen, die keine Chance haben, in ihren ursprünglichen Beruf am ersten
Arbeitsmarkt wieder arbeiten zu können, die Möglichkeit haben, als Genesungsbegleiter_innen oder IBB-Stellen-Mitarbeiter_innen bezahlt arbeiten zu können, um so an der Gesellschaft teilzuhaben. Wie bereits gesagt, eine fortlaufende Förderung und Unterstützung
während dieser Tätigkeiten in Form von Fortbildung und Supervision halten wir für unabdingbar. Wir sind der Meinung, dass es ein langfristiges Ziel sein sollte, diese Tätigkeiten im
ersten Arbeitsmarkt zu verorten, allerdings müsste der erste Arbeitsmarkt zuerst flexibler gestaltet werden. Außerdem bräuchte es, bezogen auf die Beschäftigungsverhältnisse und Rentenbezüge, insgesamt einen flexibleren Arbeitsmarkt. Denn es gibt eben doch Beeinträchtigungen, die so schwerwiegend sind, dass manche Betroffene im ersten Arbeitsmarkt in eine
permanente Überforderungssituation kommen würden und es doch einen geschützten Rahmen
braucht, um sich, wie z.B. in einer Selbsthilfefirma, verwirklichen zu können.
Zu den Stichworten sozialraumbezogene Förderung, Vernetzung und Koordination von Hilfen
durch die Kommunen sei gesagt, dass unter anderem bei den Weiterbildungen eine Haltungs-
51
Partizipation aus Perspektive der Psychiatrie-Erfahrenen
änderung bei Sozial- und Selbstverwaltung und bei Leistungserbringern angestrebt werden
muss. Durch weitreichende Sozialraumaktivitäten sollen Sondermilieus aufgelöst oder zumindest so vernetzt werden, dass hier Inklusion stattfinden kann. Sozialraumnetzwerker_innen und Quartiersarbeiter_innen, die durch die Leistungserbringer und –träger bezahlt
werden, müssen dabei seitens der Träger besser unterstützt werden.
Zum Abschluss unseres Vortrags sei nochmal betont, dass die Förderung von Selbsthilfe, Familienselbsthilfe und Nachbarschaftshilfe auch ihren angemessen Platz haben sollte, denn
diese Art von Hilfe ist unbestritten auch ein Teil des Sozialraumes und darf nicht vernachlässigt werden. Denn auch das ehrenamtliche Engagement trägt seinen Teil für die Förderung
von psychischer Gesundheit bei: Es unterstützt das Zusammenleben in der Gesellschaft und
hilft psychisch beeinträchtigten Menschen bei der gesellschaftlichen Teilhabe. Dies sollte
nicht vergessen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 6
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In unserem Beitrag wurde einiges zitiert, die Zitate stammen aus der Publikation „Gleichberechtigt
mittendrin – Partizipation und Teilhabe“ Tagungsdokumentation Berlin, 6./7. November 2012 von der
Aktion Psychisch Kranker von den Autoren Peter Weiß und Andreas Heinz.
Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen
Barbara Mechelke-Bordanowicz
Vortrag im Rahmen des Fachtages „Wir leben unser Leben“. Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern an der Hochschule Esslingen am 15. Juli 2016
Ich möchte mich für diese Einladung zum Fachtag bedanken: Dass wir als Angehörige hier
unsere Sicht der Dinge darstellen können, finde ich richtig und wichtig.
Das Thema Partizipation ist in aller Munde. Nicht nur in Tagungen, auch in Fachzeitschriften
wird sich mit dem Thema befasst. Herr Dollerschell und Herr Ortolf haben in ihren Ausführungen auch immer wieder auf die Angehörigen hingewiesen. Dafür bedanke ich mich ganz
herzlich: Sie sehen, dass unsere Landesverbände gut zusammenarbeiten. Beginnen möchte ich
mit dem Motto des Fachtages: „Wir leben unser Leben“ und in diesem Zusammenhang das
Leben, die Situation der Angehörigen kurz schildern. Stellen Sie sich vor, Sie wären selbst
Angehörige_r. eines psychisch kranken Menschen. Ihr Sohn, Ihre Tochter oder Ihr_e Partner_in wären psychisch krank. Das Wesen dieses Menschen würde sich verändern. Sie hätten
das Gefühl, Sie würden Ihr Kind verlieren und ein ganz anderes Kind wiederbekommen. Oder
Ihr Partner würde seinen Arbeitsplatz verlieren und sich so verändern, dass Sie sich fragten,
ob Sie diesen Menschen wirklich hätten heiraten wollen. Diese Phasen der Unsicherheit, der
akuten Krisen wechseln mit Phasen der relativen Sicherheit. Das Auf und Ab der Krankheit,
die Stimmungsschwankungen des psychisch Kranken, die Existenzängste, die Belastungen für
die ganze Familie: all das geht zeitweise an die Grenze Ihrer Kräfte. Die Krankheit beherrscht
das Familienleben auf Dauer. Würden Sie da an das Thema Teilhabe und Partizipation denken? Bei allen Ausführungen, die ich hier zum Thema mache und bei allen Kontakten, die Sie
in Ihrem beruflichen Umfeld mit Angehörigen haben, sollten Sie diesen Aspekt der Familiensituation im Hinterkopf haben. Nur so kann man verstehen, warum es so schwer ist, Angehörige zu motivieren, aktiv zu werden. Und auch die Angehörigen, die aktiv sind, haben diese
Familiensituation im Hintergrund. Weiter zur Situation der Angehörigen: Wenn Sie Glück
53
Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen
haben, ist der Kranke im sogenannten Hilfesystem erfasst. Das ist bei vielen psychisch Kranken, die zu Hause wohnen, und das sind immerhin mehr als 50%, nicht der Fall. Nehmen wir
also an, Ihr psychisch kranker Angehöriger ist krankheitseinsichtig und nimmt Hilfe an: Sie
erleben, dass der psychisch Kranke immer im Mittelpunkt steht; dass Sie als Angehörige_r
und das soziale Umfeld mit Verweis auf Datenschutz, Schweigepflicht und Selbstbestimmungsrecht des psychisch Kranken nicht immer, aber immer noch viel zu oft nicht mit einbezogen werden. Sie sind mit Ihren Sorgen und Nöten allein gelassen. Irgendwann werden Sie
einsehen, dass Sie alleine nicht weiterkommen. Dass Sie auch als Angehörige_r Hilfe und
Unterstützung brauchen. Vielleicht finden Sie dann eine Angehörigengruppe, erfahren, wie
der Austausch mit der Angehörigengruppe Erleichterung bringt, fühlen sich verstanden und
spüren die Solidarität mit den anderen Angehörigen.
Das ist der erste Schritt. Über das eigene Leid hinaus zu blicken. Aus den Erfahrungen der
anderen Angehörigen zu lernen. Es beginnt ein Prozess des Hinterfragens, ein Prozess des
Nachdenkens über die positiven und negativen Erfahrungen, die man mit dem Hilfesystem
macht und was man verbessern oder verändern sollte.
Der zweite Schritt besteht darin, zu erkennen, dass ich das Hilfesystem nur dann verändern
und beeinflussen kann, wenn ich selbst aktiv werde. Nicht allein, sondern mit anderen Angehörigen gemeinsam. Und dass ich damit auf meine eigene Familiensituation Einfluss nehmen
kann. Dass jede Verbesserung, die erreicht wird, meinem psychisch kranken Familienmitglied
und damit auch mir als Angehörige_r zugutekommt. Die Erkenntnis, dass das nicht alles von
alleine geschieht, dass ich mich selbst bewegen muss, wenn ich eine Veränderung möchte,
dieser Zusammenhang ist schwer zu vermitteln. Es ist keine Automatik. Aber diese Einsicht,
diese Überzeugung ist entscheidend dafür, aktiv zu werden und aktiv zu bleiben, denn die
setzt Kräfte frei und lässt mich durchhalten bei der Angehörigenarbeit.
Mit dem dritten Schritt gilt es tatsächlich aktiv zu werden: Teilhabe und Partizipation einzufordern, d. h. auch Teilnahme an Entscheidungsprozessen. Dabei geht es um die gleichberechtigte Behandlung der Interessen aller Beteiligten. Die Entscheidungsprozesse müssen transparent gestaltet werden. Die Betroffenen und Angehörigen müssen von Anfang an mit einbezogen werden.
Barbara Mechelke-Bordanowicz
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An zwei Beispielen möchte ich unsere konkreten Erfahrungen darüber aufzeigen, wie Partizipation wirken kann, wo ihre Grenzen liegen, wo es Hemmnisse gibt und dass entsprechende
Rahmenbedingungen notwendig sind, wenn Partizipation ernst gemeint ist.
Beispiel 1: Das Psychisch- Kranken- Hilfegesetz, kurz PsychKHG genannt. Die Eckpunkte
für das PsychKHG wurden vonseiten des Sozialministeriums auf Basis eines demokratischen
Prozess entwickelt. Psychiatrieerfahrene und Angehörige waren daran beteiligt. Viele dieser
entwickelten Eckpunkte sind in das Gesetz eingeflossen. Seit Inkrafttreten des Gesetzes geht
es um seine Umsetzung. Auch dies erfolgt von Seiten des Sozialministeriums in einem demokratischen Prozess. In Bezug auf die verschiedenen Bereiche des Gesetzes wurden Arbeitsgruppen gebildet, in denen die Betroffenen und Angehörigen mitarbeiten. In den Arbeitsgruppen werden Texte erarbeitet, die in den Landespsychiatrieplan einfließen sollen. Allerdings
hat der Landespsychiatrieplan nur empfehlenden Charakter. Nun gibt es da auch Grenzen,
was die Mitsprache der Selbsthilfe betrifft. Immer dann, wenn es um die Frage der Finanzierung geht, gibt es oftmals intensive Diskussionen. Das führt z.B. dazu, dass Forderungen der
Angehörigen, wie das Aufsuchen der Hilfen in Familien, die laut Gesetz keine MussBestimmung ist, nicht in einen Text einfließen; mit dem Argument, man könne den Diensten
nicht vorschreiben, wie sie das handhaben.
Beispiel 2: Das Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz, WTPG. Mir geht es an dieser Stelle um §
9: Mitwirkung der Bewohner. Da heißt es: „Die Bewohner einer stationären Einrichtung wirken in Angelegenheiten des Betriebes ihrer stationären Einrichtung durch einen Bewohnerbeirat mit.“ Dies ist eine sogenannte Muss-Bestimmung und wird auch eingehalten. In den
Wohnheimen gibt es in der Regel Heimbeiräte. Weiter heißt es in dem genannten Gesetz:
„Zusätzlich soll in stationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderung ein Angehörigen- und Betreuerrat errichtet werden, der die Leitung und den Bewohnerbeirat bei seiner
Arbeit berät und bei Vorschlägen oder Stellungnahmen unterstützt.“ Und weiter: „Die für die
Durchführung dieses Gesetzes zuständige Behörde, fördert die Unterrichtung der Bewohner,
der Angehörigen und der Betreuer sowie der Mitglieder von Bewohnerbeiräten und Angehörigen- und Betreuerbeiräten über die Ausgestaltung der Mitwirkung.“ D. h., die Errichtung
eines Angehörigen- und Betreuerrates ist keine Muss-Bestimmung, sondern eine SollBestimmung. Das führt in der Praxis dazu, dass die Errichtung solch eines Rates nach Belieben der Einrichtung gehandhabt wird. Es gibt einzelne Wohnheime, in denen sich bemüht
wurde, die Angehörigen zu informieren und in denen es gelungen ist, einen Angehörigenbei-
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Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen
rat einzurichten. Das ist sehr mühselig und aufwändig und erfordert von der Leitung der
Wohnheime auch den Willen und die Überzeugung, dass ein Angehörigenbeirat sinnvoll sein
kann. Für die Heimleitung bedeutet solch ein Angehörigenbeirat sicherlich auch eine Form
der Kontrolle. Aber dort, wo es gelungen ist, einen funktionierenden Angehörigenbeirat einzurichten, dort gibt es meist eine gute Zusammenarbeit und die Leitung hat bei schwierigen
Entscheidungen, die sich für ein Wohnheim immer mal wieder stellen, die Unterstützung des
Angehörigenbeirats. Wir Angehörigen müssen jedoch feststellen, dass die Existenz von Angehörigenbeiräten oftmals leider nur Ausnahmen darstellen: In einem Großteil der Heime gibt
es keinen Angehörigenbeirat und er wird auch nicht aktiv angestrebt. Die Angehörigen der
Bewohner fordern das auch nicht ein, denn selbst wenn Angehörige dazu bereit wären, sie
wissen meist nicht von dieser Möglichkeit. Woher auch. Somit wird dieser § 9 des Gesetzes
unterlaufen. Das ist nicht im Sinne des Gesetzes und auch nicht im Sinne von Teilhabe und
Partizipation. Im Geistig- Behindertenbereich, bei der Lebenshilfe, läuft das ganz anders. Dort
ist ein Angehörigenbeirat selbstverständlich. Da gibt es sogar eine Landesarbeitsgemeinschaft
der Angehörigenbeiräte.
Teilhabe und Partizipation ist nicht einseitig. Von Partizipation profitieren alle Seiten. Betroffene und Angehörige bringen ihre Forderungen, ihre Sicht der Dinge ein. Sie werden angehört und durch die Möglichkeit der Mitsprache werden die Angehörigen ernst genommen.
Mitsprache ist noch kein Mitentscheiden, auch wenn das angestrebt werden sollte. Aber die
Erfahrung zeigt, dass Mitsprache bereits viel bewegt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob dies
trialogisch erfolgt. Unter trialogisch verstehe ich, dass alle drei Seiten, also Psychiatrieerfahrene, Angehörige und Profis, auch zahlenmäßig gleich stark vertreten und gleichberechtigt
sind. Das ist, bezogen auf Gremienarbeit, nur sehr selten der Fall: Meist sitzt man als Betroffene_r und als Angehörige_r allein oder zu zweit einem Gremium von 15 Teilnehmern
und mehr aus dem professionellen Bereich gegenüber. Das Zahlenverhältnis allein sagt aber
wenig aus. Wichtig ist der Geist, der vorherrscht: Ob man eine Alibifunktion hat, was hin und
wieder der Fall ist oder ob die Sicht der Angehörigen, der Selbsthilfe ernst genommen wird.
Ob die Prozesse überschaubar, d.h. nachvollziehbar sind. Dazu gehört, dass es zu einem echten Austausch kommt und die Position der Selbsthilfe gleichberechtigt neben anderen Positionen festgehalten und beachtet wird. Fachkräfte profitieren auch von der Teilhabe: Die gegenseitige Wahrnehmung verändert sich, man versteht die andere Seite besser; versteht ihre
Probleme und Bedenken. So können ein Vertrauensverhältnis und eine Zusammenarbeit ent-
Barbara Mechelke-Bordanowicz
56
stehen, die sich für alle Beteiligten und für die Sache im Allgemeinen positiv auswirkt. Natürlich gibt es für Angehörige und auch für die Psychiatrieerfahrenen neben der eingangs erwähnten familiären Belastung weitere Hemmnisse bei der Wahrnehmung von Teilhabe und
Partizipation. Hier eine Aufzählung, es handelt sich dabei nicht um eine Rangfolge:
1. Die meisten Gremiumssitzungen finden tagsüber statt. Viele Angehörige sind berufstätig. Das ist für diese Angehörige kaum zu leisten. Die Angehörigenarbeit muss deshalb überwiegend von Angehörigen im Ruhestand oder in der Rente geleistet werden.
Auf regionaler Ebene könnte man, ähnlich wie in den Kommunen die Gemeinderatssitzungen, die Gremiumssitzungen auf den Nachmittag verlegen.
2. Es gibt keinen Verdienstausfall oder eine angemessene Honorierung. Fahrtkosten
können über Fördermittel erstattet werden, aber über Fördermittel darf kein Verdienstausfall bezahlt werden. Das ist besonders hinderlich bei Sitzungen auf Landesebene,
die meist in Stuttgart stattfinden. Das bedeutet für unseren Landesverband lange Anfahrtswege. Für eine Sitzung von zwei Stunden ist man oft den ganzen Tag unterwegs.
Berufstätige müssten sich dann jedes Mal Urlaub nehmen. Bei Hauptamtlichen dagegen handelt es sich um Arbeitszeit: Sie haben keine Einbußen. Auch ich als ehrenamtliche_r Richter_in beim Amtsgericht oder Finanzgericht erhalte Verdienstausfall. Eine
Gleichbehandlung für Ehrenamtliche im psychisch-sozialen Bereich wäre hier notwendig.
3. Die Themen sind oft sehr komplex und kompliziert. Es ist schwierig, sich als Ehrenamtlicher das nötige Fachwissen anzueignen. Die Profis mit ihren Verbänden und Institutionen haben die entsprechende Ausbildung und meist Büros, Fachleute, Geschäftsführer und ganze Abteilungen hinter sich, die ihnen zuarbeiten. D.h., es gibt in
der Regel immer einen Wissensvorsprung der Profis. Dem sind die Angehörigen oft
nicht gewachsen. Sie können nur ihr Erfahrungswissen einbringen.
4. Die Fachsprache ist abschreckend und einschüchternd. In der Gremienarbeit sind
Hauptamtliche oft kaum fähig, komplexe Sachverhalte so darzustellen, dass sie der
Normalbürger versteht. Da kann es vorkommen, dass nur noch Abkürzungen verwendet werden, dass nur noch in Sätzen SGB XI, SGB XII und in Paragraphen gesprochen
wird, sodass man das Gefühl hat, dass sich nur die Spezialisten in diesem Dschungel
auskennen. Mit einer entsprechenden Sprache kann man auch Macht ausüben.
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Konkrete Partizipation aus der Perspektive Angehöriger psychisch kranker Menschen
Und ein ganz wichtiger Grundsatz für uns Angehörige ist: Angehörige müssen Angehörige
bleiben. Um mitreden zu können, müssen sich Angehörige in die Themen einarbeiten können.
Müssen sich Fachwissen aneignen, müssen zu Experten werden. Gleichzeitig müssen sie geerdet bleiben, dürfen den Kontakt zur Basis, zu den Angehörigen in der Selbsthilfegruppe
nicht verlieren. Sie dürfen nicht zu Berufsfunktionären werden. Das wäre fatal.
Mein Fazit: Die Erfahrung zeigt, dass, wenn wir, die Selbsthilfe, uns entschieden und sachgerecht einbringen, unsere Appelle und Argumente ernst genommen werden. Das hat sich in den
letzten Jahren zum Positiven verändert. Die Haltung vieler Profis ist differenzierter und offener geworden und man spürt an vielen Stellen die Bereitschaft, auf unsere Belange einzugehen. Dazu brauchen wir, die Selbsthilfe, ein gesundes Selbstbewusstsein und Mut. Und das
haben wir.
„Wir leben unser Leben – miteinander“
Michael Tetzer
Tagungskommentar im Rahmen des Fachtages „Wir leben unser Leben. Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ an der Hochschule Esslingen am 15. Juli 2016
Sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst meinen herzlichen Dank an das Organisationsteam, die Tagungsteilnehmer_innen
und an die Hochschule Esslingen für die Gestaltung dieser beeindruckenden und anregenden
Tagung. Sie haben für sich und uns ein dichtes und anspruchsvolles Programm entwickelt
und realisiert.
Es beinhaltete Grußworte, Vorträge mit unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema „Partizipation“, ein Worldcafé mit lebendigen Diskussionen und ein Theaterstück am Ende der
Tagung.
Das Tagungsthema „Wir leben unser Leben“ und die dazu gehaltenen Vorträge, Nachfragen,
Kommentare und Diskussionen während des Worldcafés spannen einen weiten Horizont auf.
Sie verdeutlichen die Breite und Tiefe des Projektthemas „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ im Allgemeinen und im Kontext von Sozialer Arbeit.
Bereits der Titel der Tagung „ Wir leben unser Leben“ lässt erkennen, dass ganz grundsätzliche Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der selbstbestimmten Lebensführung berührt werden. Alle leben ihr eigenes Leben auf unterschiedliche Arten und Weisen, in verschiedenen Bereichen und zu unterschiedlichen Zeiten und Lebensphasen. Wir leben unser Leben in Gemeinschaft, in Beziehung zu anderen Menschen, manchmal auch allein
und immer in Beziehung zu uns selbst. Selbstverständlich, wir leben unser Leben und
doch deutet der Tagungstitel auch an, dass Menschen gelegentlich auf unterschiedlichen
Weisen daran gehindert werden können, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen.
59
„Wir leben unser Leben – miteinander“
Die einzelnen Beiträge dieser Tagung reflektieren jeweils auf ihre Art und aus ihrer Perspektive ermöglichende und behindernde Rahmenbedingungen selbstbestimmter Lebensführung.
Dieser Anspruch einer selbstbestimmten Lebensführung als normative Dimension des Projekts bzw. der Tagung wird wiederkehrend und in allen Beiträgen angesprochen. Die Normativität, die sich in den Fragen nach einer angemessenen bzw. guten Lebensführung spiegelt,
erfährt gegenwärtig in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Ansätzen neue Aufmerksamkeit. Diese Ansätze beschäftigen sich mit Fragen nach den Bedingungen für ein Leben und
ein Miteinander Leben, das sich als gut bezeichnen lässt.
In den Grußworten wurde deutlich, dass sich Hochschulen in ihrem Handeln wieder stärker
an Werten orientieren sollten. Hier stellt sich die Frage, welche Werte damit gemeint sein
könnten. An welchen Werten können und sollen wir unser Handeln innerhalb von Hochschulen, aber ebenso in Beziehungen von Hochschulen und ihren Akteur_innen nach außen
orientieren?
Darüber hinaus machten Grußworte auf die Bedeutung von Partizipation für die gemeinsame
und öffentliche Gestaltung des Gemeinwesens aufmerksam. Dabei wurde die politische Seite
von Partizipation betont.
Beide Aspekte, die aufgeworfene Frage nach den Werten und die angesprochene Dimension des Politischen werden von der Philosophin Martha Nussbaum in ihren jüngeren Arbeiten zusammengeführt. Zunächst vertritt sie mit ihrer Version des Capabilities Approaches einen Ansatz, der ausdrücklich nicht wertneutral ist. Hier geht es darum, Capabilities –
Befähigungen – zu benennen, die Menschen Chancen eröffnen, um ein gutes Leben führen zu
können. Zusätzlich geht sie mit ihrem emotionstheoretischen Ansatz der Frage nach der Bedeutung von Emotionen auch für das Politische – das öffentliche Zusammenleben – nach. Sie
vertritt die Auffassung, dass Emotionen Informationen darüber beinhalten, was als wichtig
und wertvoll angesehen wird. Sie sind damit eine Art Kompass für die eigene Lebensführung. Darüber hinaus vermitteln sie ein Verständnis davon, woran die Gestaltung eines guten
öffentlichen Miteinanders ausgerichtet werden kann. Nussbaum spricht in diesem Kontext
von Political Emotions (Nussbaum 2013) und vertritt die Ansicht, dass es mehr Raum für die
öffentliche Begegnung von Bürgerinnen und Bürgern und die gemeinsame Thematisierung
von Werten z. B. über die Auseinandersetzung mit Kunstwerken, Architektur oder auch Festen braucht. So kann sichtbar werden, was Menschen für ein gutes Miteinander „am Herzen
Michael Tetzer
60
liegt“, welche Werte es sind, an denen die gemeinsame Gestaltung des öffentlichen Miteinanders ausgerichtet werden kann.
Was die Hochschulen im Speziellen betrifft, so lässt sich eine Entwicklung erkennen, die
wieder deutlicher die Beziehung von Hochschule und Gesellschaft zum Thema macht. Die
derzeitige Diskussion um die third mission von Hochschulen, also ihre Verbindung in die
Gesellschaft hinein, aber ebenso Konzepte von transformativer Wissenschaft und Citizen
Science weisen dabei in eine ähnliche Richtung. Sie alle betonen den gesellschaftlichen Zusammenhang von Hochschulen und fordern eine Verbesserung der Beziehung zwischen
Hochschulen und weiteren gesellschaftlichen Teilbereichen und Akteur_innen ein. Das Tagungsthema Partizipation beziehungsweise Teilhabe gilt hier als eine richtungsweisende Idee
zur Gestaltung der Beziehung von Hochschulen mit dem, was sie in ihrem Außen umgibt.
Was die Gestaltung der Beziehung von Hochschulen mit sich selbst, also ihr Innenverhältnis,
betrifft, ließe sich an die Arbeiten des Philosophen Byung-Chul Han anknüpfen.
Er charakterisiert die moderne Gesellschaft als eine Leistungsgesellschaft (Han 2010, S. 20),
in der die Subjekte ihren Selbstwert an eine bloß formale Leistungsidee knüpfen. Diese Ausrichtung auf Leistung als Zweck an sich, führt die Leistungssubjekte aber letztlich in eine
seelische Erschöpfung.
Hochschulen laufen Gefahr, eine vergleichbare Dynamik zu erzeugen. Indem sie ihre Mitglieder dazu veranlassen, ihren Wert vorrangig an Rankings, der Anzahl von Publikationen
und der Höhe eingeworbener Drittmittel zu bemessen, entsteht eine Geschäftigkeit, die letztlich in eine unbewegliche, unfreundliche und zudem erschöpfende Leere führt.
Insofern kann die Forderung nach einer Rückbesinnung oder auch Neubestimmung von
Werten als ein Hinweis auf eine problematische Entwicklung verstanden werden. Eine
mögliche Verständigung auf Werte bietet sich durch die Auseinandersetzung mit Geschichte.
Herr Dörner erzählte in seinem Vortrag seine Geschichte in und mit Sozialpsychiatrie und
veranschaulichte so den Wert von erzählter Geschichte und dem Erzählen von Geschichten.
Klaus Dörner unterstrich in seiner Erzählung wiederholt die Bedeutung von Beziehungen und
charakterisierte den Menschen als ein Wesen, das ohne soziale Beziehungen nicht zu (über)leben vermag. Er berichtete von seinen Erfahrungen, neue Wege für psychisch belastete
und mit ihnen in Beziehung stehenden Menschen zu finden, damit diese ihr Leben leben
61
„Wir leben unser Leben – miteinander“
können. Er forderte das „Ende der Veranstaltung“ (Dörner 2015), eine sehr radikale Sichtweise auf Institutionen, und beklagte, dass dies niemanden interessiere.
Vielleicht irrt sich Herr Dörner hier und es sind sogar sehr viele Menschen an einer Deinstitutionalisierung interessiert. Vielleicht sind nur noch zu wenige der guten Beispiele bekannt. In
der Sozialen Arbeit gibt es mit der Lebensweltorientierung und ihren Struktur- und Handlungsmaximen eine vergleichbar kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen
der Institutionalisierung. Es fällt auf, dass die Forderung nach Alltags- bzw. Lebensweltorientierung Sozialer Arbeit und zentrale sozialpsychiatrische Entwicklungen in den 1970er
Jahren parallel stattfanden. In der Sozialen Arbeit, aber auch in der Sozialpsychiatrie, hat
hier sicherlich die Analyse totaler Institutionen durch Erving Goffman mit seiner Arbeit
„Asyle“ (Goffman 1995) wichtige Impulse zur Auseinandersetzung geliefert.
Als Alternative stellte Dörner die Bedeutung der Nachbarschaft heraus. Er hob hervor, dass
dort ein gutes Miteinander entstehen kann, wo sich Menschen begegnen, sich kennenlernen
und sich gegenseitig unterstützen. In diesem Zusammenhang bezog er sich auf verschiedene
Dimensionen von Teilhabe und Teilgabe, also das Einbeziehen von Menschen und die Möglichkeit, dass sich Menschen einbringen und etwas miteinander teilen können. Vor allem die
gemeinsam verbrachte Zeit ist ihm dabei wesentlich.
Diese abschließend genannten Themen finden sich auch in den Diskussionen um die Commons-Bewegungen und den zahlreichen Sharing-Initiativen. Sie streben nicht nur einen sorgsameren Umgang mit wirtschaftlichen und natürlichen Ressourcen an. Mindestens gleichwertig ist dabei der soziale Aspekt, die Erfahrung des gemeinsamen Tuns.
Experience Involvement, also das Einbeziehen der Erfahrungen von Menschen in und mit
Psychiatrie, wurde umfassend von Herrn Dollerschell und Herrn Ortolf vorgestellt. In ihrem
Vortrag verdeutlichten sie, wie wichtig es ist, dass sich Menschen gegenseitig von ihren Erfahrungen berichten können und dass die Erfahrungen der beteiligten Personen in professionelle soziale Dienstleistungen einbezogen werden. Auf die Frage aus dem Publikum, welche
Erfahrung man lieber nicht machen würde, wurde geantwortet, dass man Erfahrungen eben
mache, die seien vorhanden und dass sie eben Teil des Lebens, der eigenen Lebensgeschichte, seien. Angesprochen wurde allerdings auch, dass die Bezeichnung chronisch psychisch
krank mit Erfahrungen der Hoffnungs- und Mutlosigkeit verknüpft sein könne. Anerkennung
Michael Tetzer
62
und Respekt in der Beziehung mit anderen Menschen zu erfahren, hilft dabei, neuen Mut zu
fassen.
Der Erfahrungsaspekt kam auch in dem darauffolgenden Beitrag zum Tragen. Frau
Mechelke-Bordanowicz berichtete von den Initiativen und den Erfahrungen von Angehörigen. Sie forderte dazu auf, deren Perspektive einzunehmen und sich vorzustellen, wie es ist,
mit den eigenen Sorgen alleine gelassen zu werden. Dabei wurde deutlich, wie wertvoll ein
gutes soziales Netz auch für Angehörige ist, von dem sie sich als gestützt, abgesichert,
manchmal auch als herausgefordert erfahren können. Dies bestätigen auch Forschungen zu
und mit pflegenden und betreuenden Angehörigen. Sie zeigen auf, dass es nicht darauf ankommt, Angehörigen ihre Aufgaben abzunehmen. Vielmehr ist darauf zu achten, sie in der
Bewältigung ihrer Aufgaben im Alltag zu entlasten und zu stützen.
Danach präsentierte das Projektteam eine sehr dichte Darstellung seiner Forschungs- und
Transferarbeit. Neben den verschiedenen methodologischen Zugängen wurde wiederkehrend die Frage nach der Normativität angesprochen. Problematisiert wurde der Bedarf eines
Projekts, welches sich mit den Partizipationschancen im sozialpsychiatrischen Kontext befasst. Die Notwendigkeit des Projekts, so die im Vortrag geäußerte Vermutung, könne auf
ein grundsätzliches Partizipationsdefizit in einer Gesellschaft hinweisen, die Menschen eher
ausgrenzt als einbezieht. Insofern waren in diesem Zusammenhang Exklusionsprozesse verschiedenster Art Thema – ganz ähnlich zum Vortrag von Herrn Dörner, welcher das Nachlassen von gegenseitiger Hilfe und Solidarität beklagte. Eine zentrale Argumentationslinie des
Projekts wurde über die Auseinandersetzung mit Menschenrechten und der Frage nach der
Menschenwürde sichtbar. Auch in diesen Vorträgen wurde auf den Beziehungsaspekt von
Partizipation verwiesen.
Soziale Beziehungen, dieses für die Soziale Arbeit so zentrale Thema, diskutiert derzeit der
Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Resonanz“ (Rosa 2016). Er möchte damit seinen
„Beitrag zu einer Soziologie des guten Lebens leisten“ (Rosa 2016, S. 14). Nach seiner Auffassung leben wir in einer beschleunigten Gesellschaft, die es ihren Mitgliedern erschwert,
für sich herauszufinden, wie sie leben wollen. Nicht Entschleunigung ist seine wesentliche
Antwort auf die erhöhte Geschwindigkeit der modernen Gesellschaft, sondern Resonanz.
Resonanz meint hier etwas, das geschieht, wenn Menschen zu ihrer Umwelt, zu anderen
Menschen und zu sich selbst in Beziehung treten. Auch hier braucht es also eine Form der
63
„Wir leben unser Leben – miteinander“
Beziehung zwischen Menschen und ihrer sozialen, kulturellen und natürlichen Umwelt. Es
braucht eine Form der Beziehung, die berührt, die etwas auf eine Art zum Schwingen bringt,
die es ermöglicht, in einem besseren Kontakt mit sich selbst zu sein.
Die normativen Fragen des Projekts und die angesprochenen Themen aus den Grußworten
sowie der Vorträge von Herrn Dörner, den Herren Dollerschell, Ortolf und Frau MechelkeBordanowicz spiegeln gegenwärtige sozialwissenschaftliche Diskurse. Die Arbeiten von
Martha Nussbaum, Byung-Chul Han und Hartmut Rosa sind Beispiele hierfür, das konvivialistische Manifest (Les Convivialistes 2014) ist ein weiteres. Dieses ist 2014 erschienen und
wurde von vorrangig französischsprachigen Wissenschaftler_innen formuliert. Sie akzeptieren und anerkennen durchaus die mögliche Konflikthaftigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen und Begegnungen. Aber sie beschäftigen sich hauptsächlich mit der Frage, wie
es gelingen kann, dass Menschen auf eine gute Art und Weise miteinander zurechtkommen. Die Antwort, die die Konvivialisten darauf finden, besagt, dass sich menschliches
Wohlergehen nicht ausschließlich an ökonomischen Wachstumskriterien bemessen lässt.
Stattdessen richten sie ihre Aufmerksamkeit stärker auf die Qualität von zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Begriff konvivial meint dabei ein gutes, freundliches, sogar ein heiteres Miteinander.
Diese Tagung war ein Beispiel dafür, wie Menschen sich auf eine freundliche, zwischendurch
auch heitere Art und Weise miteinander über ein ernstzunehmendes Thema verständigen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Literatur
Dörner, Klaus (2015): Ende der Veranstaltung. Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie. Neumünster: Paranus-Verlag der Brücke.
Goffman, Erving (1995): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 10. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Han, Byung-Chul (2010): Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.
Les Convivialistes (Hrsg.) (2014): Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Bielefeld: transcript.
Nussbaum, Martha C. (2013): Political Emotions. Why love matters for justice. Harvard Univ. Press.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. 2. Auflage. Berlin: Suhrkamp.
Menschenrechte und Soziale Arbeit in der Psychiatrie (Forschungskolloquium)
Menschenrechte und Soziale Arbeit
Reflexionen im Kontext des Forschungsprojektes „Partizipation
in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“
Eric Mührel
Soziale Arbeit in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern hat mit Blick auf die Adressat_innen und Klient_innen besonders die Ermöglichung und das Garantieren der menschlichen Würde hinsichtlich eines zumindest in weitestem Maße freien und selbstbestimmten
Lebensentwurfes zum Ziel. Normativ gewendet mit Blick auf die Werte sozialpädagogischen
Handelns kommt dabei einer Minimalethik der Menschenrechte eine besondere Bedeutung
zu. Das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Menschenrechten soll in diesem Beitrag zunächst
anhand eines Vier-Ebenen-Modells der Normativität mit Bezug auf Theorien konkretisiert
werden. Dafür werden zwei Theorien Sozialer Arbeit respektive Sozialpädagogik mit Bezug
auf die Menschenrechte skizziert. Die eine bezieht sich auf die Konzeptionen von Silvia
Staub-Bernasconi und (damit) von Jane Addams; die andere auf die Sozialpädagogik und den
Sozialidealismus Paul Natorps. In einem zweiten Schritt wird dann auf die Bedeutung der
Menschenrechte in der Praxis von Sozialer Arbeit eingegangen. Die leitende Fragestellung
dabei ist: Wie kann die Menschenwürde der Adressat_innen und Klient_innen so bewahrt
werden, dass von einer Einhaltung der Menschenrechte in Institutionen unter Beteiligung Sozialer Arbeit überhaupt die Rede sein kann? Hierfür wird auf eine existenzphilosophische
Dimension (Peter Bieri 2015) der Menschenwürde eingegangen. Diese Überlegungen werden
anhand abschließender Fragestellungen an das Forschungsprojekt Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern mit Bezug auf die Sozialpsychiatrie fokussiert.
Zunächst stellt sich einleitend und exkursiv im Nachdenken über Psychiatrie auch die Frage,
wie es überhaupt zu der Idee kam, dass so genannte wahnsinnige Menschen als eben solche
erkannt wurden. Die Geschichte dieser Idee der Trennung zwischen Vernunft und Wahnsinn,
Normalität und Abweichung, kann bei Michel Foucault (hierzu Foucault 1973) sehr gut nachvollzogen werden. Sie beginnt bereits mit René Descartes, wenn er ausführt: „Ich denke, also
bin ich.“ (Descartes 2011, S. 55 ) Mit diesem Satz wird implizit das Reich der Vernunft des
Menschenrechte und Soziale Arbeit
67
Denkens, das vernünftige Denken, was auch immer darunter verstanden werden mag, vom
Reich des Wahnsinns – in den Dimensionen des Unbewussten, Unterbewusstseins und damit
eher Unkontrollierbaren – abgegrenzt. Die Auswirkungen dieser Trennung von normaler
Vernunft und abnormalem Wahn sind bis heute nicht überwunden. Dies obwohl der Psychoanalytiker Jacques Lacan menschheitsgeschichtlich bedeutsam später die These Descartes
genau umdreht, wenn er feststellt: „Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht
denke!“ (Lacan zitiert nach Pagel 1989, S. 48). Es bleibt daher festzuhalten, dass im Bereich
der psychischen und seelischen Erkrankungen sozial konstruierte Normalitätstheorien und konzepte im Hintergrund wirksam sind, die einer permanenten kritischen Reflexion bedürfen.
1.
Soziale Arbeit und Menschenrechte in theoretischen Kontexten
Soziale Arbeit und Menschenrechte: Vier-Ebenen-Modell
Die aktuelle Definition Sozialer Arbeit der International Federation of Social Workers
(IFSW) rekurriert mit Bezug auf die Normativität in der Sozialen Arbeit auf die Prinzipien der
sozialen Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie der Achtung und Bewahrung der Vielfalt menschlichen Lebens, was auch mit Diversität und Heterogenität bezeichnet werden kann.
Diese Definition zeigt bereits die Relevanz für eine Soziale Arbeit im Kontext der Sozialpsychiatrie. Menschenrechte werden also in der Definition der ISFW explizit genannt. Es ist
notwendig, diese zusammen mit weiteren normativen Maßstäben der Sozialen Arbeit insgesamt zu denken. Wenn wir über eine Konzeption oder eine theoretische Position der Sozialen
Arbeit im Kontext von Menschenrechten sprechen, müssen wir uns zunächst über die Bedeutung der Normativität in der Sozialen Arbeit vergewissern.
Die Frage der Normativität stellt sich in der Sozialen Arbeit in folgenden vier Dimensionen:
•
der professionellen Gegenstandsbestimmung,
•
der begründeten Zielbestimmung professioneller Praxis,
•
der Legitimation Sozialer Arbeit und ihrer professionellen Handlungen
•
sowie der Theoriebildung (vgl. Feldhaus/Oelkers 2011, S. 73).
Eric Mührel
68
Ohne an dieser Stelle die Interdependenzen von Theorie und Praxis in den verschiedenen
Deutungsmöglichkeiten thematisieren zu wollen (siehe z.B. Mührel 2009), erscheint es evident, dass jegliche Theorie(bildung) Sozialer Arbeit die drei erstgenannten Dimensionen der
Normativität in irgendeiner Art und Weise reflexiv und vielleicht kritisch-reflexiv mit behandeln wird. Die Ausgangslagen der Personen (Sitz im Leben) in der Theoriebildung der Sozialen Arbeit werden sich in den jeweiligen Ergebnissen widerspiegeln. Zudem wird eine Theorie nicht auf die Verwendung von Begriffen verzichten können, die normative Prämissen zumindest mit transportieren – und eine gute Theorie wird sich durch den reflexiven Umgang
mit diesen verwendeten Begriffen auszeichnen (dazu Dollinger 2013). Die von Feldhaus und
Oelkers (Feldhaus/Oelkers 2011) aufgestellte These eines vernachlässigten Normativitätsproblems in der Sozialen Arbeit erscheint auf diesem Hintergrund ambivalent. Zu konzedieren ist, dass die sozialwissenschaftliche Wende der 1970er Jahre in den Wissenschaften der
Sozialen Arbeit und den Erziehungswissenschaften eine Zurückdrängung der normativen Fragestellungen zugunsten deskriptiven Vorgehensweisen begünstigt hat, wobei besonders mit
Blick auf die Zielsetzungen und Legitimation professionellen Handelns die normativen Aspekte jedoch nie in Gänze – auch in der Theoriebildung – unbeachtet bleiben konnten. Die
konstatierte Vernachlässigung der normativen Fragestellungen ist vielleicht eher auf das ab
den 1980er Jahren bis zu Beginn des neuen Jahrhunderts weite Teile der Profession Soziale
Arbeit dominierende Handlungskonzept der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch zurückzuführen. Die Konzentration auf das Beschreiben und Verstehen – und eben nicht des bis
dahin dominierenden Normieren – der Alltags- und Lebenswelten der Klient_innen Sozialer
Arbeit in einem etablierten Wohlfahrtssystem der Bundesrepublik zwischen 1970 und 1990
bekam erste Risse nach den Wendejahren um 1990 und der einsetzenden Globalisierung und
Ökonomisierung. Wie auf der einen Seite das Wohlfahrtssystem im ökonomistischen Sinne
nach Effizienz- und Effektivitätszielen Richtung einer Entsolidarisierung und der Eigenverantwortung für Lebensrisiken von Menschen sukzessive umgebaut wurde, so führte auf der
anderen Seite die Pluralisierung der Lebensweisen letztlich zu entfremdeten Sozialräumen
und desorientierten Lebenswelten, die mit dem lebens- und alltagsorientierten Handlungsansatz nicht mehr zu erreichen waren (vgl. Mührel 2007). Beide Phänomene dieser veränderten
Wirklichkeit evozierten und evozieren eine verstärkte Beschäftigung mit normativen Fragestellungen in individual- wie sozialethischen als auch damit verbundenen gesellschaftstheoretischen wie -politischen (Theorie-)Diskursen der Sozialen Arbeit.
Menschenrechte und Soziale Arbeit
69
Welche Bedeutung kommt in diesem Kontext den Menschenrechten und den Demokratieverständnissen zu? Mit Blick auf diese Fragestellung werden im Folgenden zwei Theoriestränge
der Sozialen Arbeit behandelt, die beide – auf historische Wurzeln aufbauend – vor dem Hintergrund der dargestellten wieder erstarkenden Normativitätsproblematiken in der jüngsten
Theoriegeschichte höchst aktuell sind. Zum einen handelt es sich dabei um den an Menschenrechten und einer Demokratie als Lebensform orientierten Strang ausgehend von Jane Addams Democracy and Social Ethics aus 1902 bis hin zu einer Reformulierung durch Sylvia
Staub-Bernasconis Entwurf einer horizontal und vertikal verankerten Demokratie aus 2013.
Zum anderen wird auf die Konzeption einer Theorie der Sozialen Demokratie in Paul Natorps
Werken Sozialpädagogik (1899) und Sozialidealismus (1922) eingegangen. Diese Konzeption
erlangte in aktuellen theoretischen Entwürfen der Sozialpädagogik respektive Sozialen Arbeit
eine Wiederaufnahme (vgl. Müller 2005, Mührel 2013, Mührel/Hundeck 2015).
Eine Theorie Sozialer Arbeit mit einer starken normativen Setzung – von Jane Addams zu
Sylvia Staub-Bernasconi 1
In der folgenden Perspektive stellen sowohl die Menschenrechte als auch ein Verständnis von
Demokratie als Lebensform einen integralen Bestandteil der Sozialen Arbeit in Theorie und
Handlungskonzeption dar. Jane Addams beschreibt in Democracy and Social Ethics ein Programm einer Demokratie als Lebensform in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen, gerade
auch in den Bereichen der Wirtschaft sowie der Bildung und Erziehung. In ihrer Programmatik sind deutliche Übereinstimmungen mit sozialethischen Fundierungen der Sozialen Arbeit,
beispielsweise dem Capability Approach als Grundlage eines gelingenden Lebens aller Menschen (vgl. Ziegler et al 2010), zu finden. Hier wie dort geht es um eine Beteiligungs- und
Befähigungsgerechtigkeit. Schon in der Einleitung von Democracy And Social Ethics beschreibt Jane Addams ihr zentrales Anliegen einer Verknüpfung von demokratischer Lebensform und Sozialer Ethik. Es geht ihr um die Gestaltung einer individuell wie gesellschaftlich
solidarischen Lebensweise. Sie führt aus:
„We know, at last, that we can only discover truth by a rational and democratic interest in life, and to
give truth complete social expression is the endeavour upon which we are entering. Thus the identifica-
1
Im Folgenden greife ich in Teilen auf meinen Beitrag Menschenrechte als integraler Bestandteile der
Sozialen Arbeit zurück. Siehe hierzu Mührel 2012.
Eric Mührel
70
tion with a common lot which is the essential idea of Democracy becomes the source and expression of
social ethics.” (Addams 1964, S. 11)
Nur eine demokratische Lebensform in ihrer sozialethischen Ausprägung ist nach Addams
imstande, die individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen, welche der gesellschaftliche Wandel hervorbringt, zu bewältigen. Dabei betont sie die sich stets erweiternde
Notwendigkeit der Sicherung der Würde der einzelnen Menschen, was sich aus den andauernden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen ergibt. Soziale und
gesellschaftliche Teilhabe in einer Demokratie als Lebensform bedürfen der Befriedigung von
Grundbedürfnissen, um die Menschenwürde zu schützen. Implizit ist damit eine Forderung
nach Fundierung und stetiger Erweiterung der Menschenrechte zum Schutz der Menschenwürde ausgedrückt. Aus der gesellschaftlichen Programmatik Addams lässt sich daher aus
heutiger Sicht ableiten: Demokratie als Lebensform, solidarische Lebensweise und Menschenrechte sind untrennbar miteinander verbunden.
Die Überschriften der einzelnen Kapitel in Democracy and Social Ethics verdeutlichen ihre
programmatische Ausrichtung. So bearbeitet Addams in den letzten drei Kapiteln die Themen
Industrial Amelioration (Verbesserungen), Educational Methods und Political Reform. Ihr
geht es um die solidarisch und demokratisch ausgerichteten Gesellschaftsbereiche Wirtschaft,
Erziehung und Bildung sowie Politik. Darüber hinaus thematisiert sie in einzelnen Kapiteln
besonder die notwendigen Veränderungen im System der Wohltätigkeit, in den Beziehungen
zwischen den Generationen und in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern; auch in
diesen Kontexten bedarf es nach Addams einer Demokratisierung. Sie weist dabei eine Ethik
des individuellen Erfolgs gemäß des American Dream als Grundlage für eine lebendige Demokratie energisch und eindeutig zurück und fordert dagegen eine solidarische Lebensweise
im Sinne einer Demokratie als Lebensform (vgl. Addams 1964, S. 221, S. 255-256 u. S. 269).
Zugespitzt formuliert hängt von der weiteren Demokratisierung der Lebens- und Gesellschaftsbereiche nach Addams die Überlebensfrage der Demokratie ab:
„This is the penalty of a democracy, - that we are bound to move forward or retrograde together. None
of us can stand aside; our feet are mires in the same soil, and our lungs breathe the same air.” (Addams
1964, S. 256)
Die Aktualität der gesellschaftlichen Programms Addams ist offensichtlich. Der Penalty of
democracy wird heute in der aktuellen politischen und sozialen Krise an der Demokratisie-
71
Menschenrechte und Soziale Arbeit
rung der Finanz- und Wirtschaftsmärkte sowie der fortzusetzenden Demokratisierung weiterer
Lebens- und Gesellschaftsbereiche ausgespielt.
Für Addams ergibt sich die Entwicklung der Moralität und einer individuellen wie gesellschaftlichen, sozial und solidarisch ausgerichteten Lebensweise aus empirischen Fakten, die
es über eine Politisierung in der öffentlichen Meinung – de facto induktiv – zu sozialen Haltungen der Gesamtgesellschaft zu transformieren gilt. „Morality certainly develops earlier in
the form of moral fact than the form of moral ideas (…)“ (Addams 1964, S. 227). Von idealistischen Gesellschaftsentwürfen, die deduktiv gesellschaftliche Programmatiken von philosophischen Idealen aus erschließen, ist sie dagegen nicht zu überzeugen.
In dieser Methodik stimmt Addams überein mit der Konzeption der von Hans Joas entwickelten Affirmativen Genealogie der Menschenwürde im Sinne einer Sakralisierung der Person
(dazu Joas 2011). Was ist damit gemeint? Kurz und damit verkürzend gefasst beschreibt Joas
die historische Entwicklung der Menschenwürde und Menschenrechte als einen Prozess der
Sakralisierung der Person, indem die Heiligkeit Schritt für Schritt von Gott auf den Menschen
übertragen wird (vgl. ebenda, S. 81-89). Diese Humanisierung basiert auf einer fortschreitenden Expansion der Empathie mit ausgeschlossenen oder von Ausschluss bedrohten Menschen
im Rahmen von gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Diese Expansion der Empathie
führt zur Forderung der Artikulation jeweils bisher nicht berücksichtigter individueller wie
gemeinschaftlicher Leidenserfahrungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Solche
kontinuierliche Aufarbeitung Kultureller Traumata (vgl. ebenda, S. 123-124), beispielsweise
die Sklaverei oder aktuell die sexuelle Gewalt gegen Frauen, Kinder und Jugendliche in häuslich-familiären oder auch kirchlichen und pädagogischen Bildungseinrichtungen, zieht eine
sich fortsetzenden Brechung kultureller Selbstzufriedenheit nach sich. Dies evoziert eine veränderte individuelle Ethik im Sinne von Welthaltungen und eine veränderte soziale Ethik im
Verständnis von Gerechtigkeit durch gesellschaftliche Institutionen. Ethische Werte sind daher nach Joas kulturell und historisch bedingt; sie sind damit aber auch nicht zeitlos an bestimmte Kulturen gebunden. Dennoch unterliegen sie trotz einer fehlenden Anbindung an eine
metaphysische Wahrheit nicht der Beliebigkeit, da sie in ihrer Entwicklungsgeschichte zu
einem individuell und gesellschaftlich akzeptierten Evidenzgefühl führen (vgl. Joas 2011, S.
Eric Mührel
72
163-164). Damit aber besitzen sie einen affirmativen, bejahenden Charakter eines historisch
verkörperten Sinns (vgl. ebenda S. 190). 2
Im Rahmen einer solchen empirisch und zugleich normativ fundierten, affirmativen Genealogie der Menschenwürde und der Menschenrechte lässt sich die Konzeption des gesellschaftlichen Programms einer Demokratie als Lebensform von Jane Addams verstehen. Ausgehend
von einer Polemisierung und Politisierung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit kann
über eine Empathieerweiterung für und Artikulation von jeweils bisher nicht genügend berücksichtigten Leidenserfahrungen von Menschen und Gruppen von Menschen ein Fortschreiten der Demokratie als Lebensform und die Weiterentwicklung der Menschenrechte im Sinne
einer Ausdifferenzierung und Erweiterung ihres Gegenstandsbereiches initiiert werden (siehe
hierzu auch Braches-Chyrek 2013, S. 163-169).
Den theoretischen Ansatz einer Demokratie als Lebensform von Addams hat StaubBernasconi in ihrer Beschreibung einer horizontalen und vertikalen Demokratie (vgl. StaubBernasconi 2013; dazu auch Hundeck 2013) aufgenommen und weiterentwickelt. Wie Addams beurteilt sie dabei eine Demokratie als reine Regierungsform als nicht hinreichend für
die Entwicklung einer solidarischen und demokratischen Lebensform. Daher gilt es die Demokratie als Regierungsform horizontal auf alle gemeinschaftlichen wie gesellschaftlichen
Lebensbereiche hin zu einer „integralen, sozialen Demokratie“ (ebenda, S. 173) auszuweiten
– so wie Addams es in ihrem Entwurf schon ausführte. Darüber hinaus ist nach StaubBernasconi jedoch auch eine vertikale Erweiterung notwendig. Hierzu führt sie aus:
„Es braucht deshalb ihre Erweiterung in die soziale Vertikale: gemeint ist ein sozialer Ort, wo man über
soziale Regeln und Machtstrukturen sowie die Legitimität, im Unterschied zur Legalität, von Verfassungen, Gesetzgebungen, Policies und Verfahren debattieren kann. Dazu leisten (…) die Menschenrechte als Minimalethik, ihre Begründung durch eine Philosophie / Philosophien der Menschenwürde
und die damit zusammenhängenden institutionalisierten periodischen Überprüfungsverfahren der Vereinten Nationen einen weltweiten Beitrag.“ (Ebenda, S. 173)
In ihrem Verständnis garantiert nur eine solche internationale Institutionalisierung von Legitimitätsdebatten vor dem normativen Hintergrund der Menschenrechte und der Menschenwürde eine umfassende Demokratie als Lebensform. Daran anschließend lässt sich somit auch
2
Zu einer vertiefenden Diskussion eines transkulturellen Ansatzes einer Genealogie der Menschenrechte siehe Brunozzi et al 2013.
73
Menschenrechte und Soziale Arbeit
eine Soziale Arbeit im Sinne einer Menschenrechtsprofession (vgl. hierzu Staub-Bernasconi
1995, 2008 und Prasad 2011 u. 2013) begründen. Denn über diese internationalen Legitimitätsdebatten sind nationalstaatlich legale Menschenrechtsverletzungen und einhergehende
Verbrechen gegen die Menschenwürde zu politisieren. Soziale Arbeit kann somit in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen ihren eigenen professionellen Auftrag finden und
ausführen, indem sie als Katalysator der Menschenrechtsentwicklung im gesellschaftlichen
Wandel fungiert.
Abschließend sei festgehalten, dass die Theorie Staub-Bernasconis aufbauend auf dem Entwurf von Addams die vier von Feldhaus und Oelkers benannten Dimensionen der Normativitätsfrage – professionelle Gegenstandsbestimmung, begründete Zielbestimmung professioneller Praxis, Legitimation Sozialer Arbeit und ihrer professionellen Handlungen sowie Theoriebildung – einschließt. Ohne der noch im Weiteren folgenden Kritik substanziell vorgreifen zu
wollen, kann diese Theorie mit ihrer starken normativen Gewichtung der Menschenrechte und
eines umfassenden Demokratieverständnisses als Lebensform als wissenschaftstheoretischund methodisch fundiert sowie pragmatisch und identitätsstiftend in ihrer Ausgestaltung für
die Profession Soziale Arbeit insgesamt betrachtet werden.
Eine Theorie der Sozialpädagogik als gesellschaftspolitisches Programm für eine Soziale
Demokratie 3
Fast zur gleichen Zeit, in der Addams ihren Entwurf einer Demokratie als Lebensform in Democracy and Social Ethics formuliert, verfasst Paul Natorp eine erste systematisch erarbeitete
Theorie der Sozialpädagogik in seinem Werk Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung
auf der Grundlage der Gemeinschaft (1899). Seine Theorie basiert auf einer Deduktion der
Erziehung und Bildung aus der Individual- und Sozialethik Platons. Am Ende des zweiten
Teils der Sozialpädagogik beschreibt er dabei die Grundlage einer Konzeption eines gesellschaftspolitischen Programms einer Sozialen Demokratie mit den Paradigmen soziale Erziehung, soziale Wirtschaft und soziale Politik (vgl. Natorp 1904, 210-213). Auf seinem platonisch orientierten Bildungssozialismus fußend fordert er eine „Bildung für alle“ (vgl. ebenda,
3
Im Folgenden greife ich in Teilen auf meinen Beitrag Menschenrechte und Demokratie als soziale
Ideale. Zur Aktualität der Sozialpädagogik und des Sozialidealismus Paul Natorps zurück. Siehe hierzu Mührel 2013.
Eric Mührel
74
S. 210). Diese dient als Grundlage für die Entwicklung einer Sozialen Demokratie, deren
Ziel- und Umsetzung Natorp später in seinem Werk Sozialidealismus. Neue Richtlinien sozialer Erziehung von 1920 präzisiert. Ausschlaggebend hierfür waren sicherlich u.a. die unermessliche Tragödie des ersten Weltkrieges und das Ende des Kaiserreichs und die damit einhergehende Gründung der Weimarer Republik als erste Demokratie in Deutschland. Ganz im
wissenschaftstheoretischen und -methodischen Gegensatz zu Addams empirisch-induktiver
Vorgehensweise bleibt er dabei seinem platonisch-deduktiven Verfahren treu.
„Sozial-Idealismus: Das Wort will besagen, dass die Idee sich wieder finden muß zur Gemeinschaft, die
Gemeinschaft zur Idee, wenn dies beides, Idee und Gemeinschaft, in der Menschheit noch ferner bestehen soll. Ein gesunder Idealismus darf nicht in den Weiten lebensferner Ideen hinausschweifen, er muß
mitten im Leben, im härtesten Leben der ringenden Menschheit heimisch werden.“ (Natorp 1922, III)
Um die Idee einer Sozialen Demokratie als ein zu erreichendes Sollen in der Wirklichkeit
umzusetzen, ist eine Sozialpädagogik als gesellschaftspolitisches Programm der Erziehung
und Bildung ausschlaggebend. „Das soziale Leben aber der Idee zu unterwerfen, gibt es nur
den einen Weg der sozialen Erziehung“ (ebenda, IV). Die soziale Erziehung bildet somit das
Fundament seines Ideals einer Sozialen Demokratie, womit nichts anderes gemeint ist als eine
– wie von Addams anvisierte – Demokratie als Lebensform, die sich in einer Demokratisierung aller Lebensbereiche einer Gesellschaft niederschlägt. Ziel des gesellschaftspolitischen
Programms einer Sozialen Demokratie ist die Gewährleistung eines menschenwürdigen und
gelingenden Lebens! So formuliert Natorp:
„Aber die Forderung der menschenwürdigen inneren Lebensgestaltung, nicht für irgendeine schmalere
oder breitere bevorrechtete Schicht, sondern für das ganze Volk bis zum letzten Gliede, muß unbedingt
obenan stehen und für die Gestaltung der wirtschaftlichen und politischen Ordnungen selbst, unter voller Beachtungen ihrer eigenen Bedingungen, immer grundlegend und letztbestimmend sein. Denn der
Mensch lebt nicht, um zu wirtschaften und politisch zu raten und taten, sondern Wirtschaft und Politik
haben als lediglich dienende Organe dem Menschen, d.h. der inneren Lebensgestaltung sich unterzuordnen“ (Natorp 1922, S. 11). 4
Die Beschreibung innere Lebensgestaltung kann mit Selbstbestimmung in den heutigen
Sprachgebrauch übersetzt werden. Grundlage der Sozialen Demokratie ist demnach die Gewährleistung solcher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in Erziehung und Bildung, Wirt-
4
Zur aktuellen Diskussion hinsichtlich der wechselseitigen Beziehung von Menschenrechten Demokratieverständnissen siehe Bornmüller et al 2013, Kapitel 2.
75
Menschenrechte und Soziale Arbeit
schaft und Politik, die ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben im Sinne eines gelingenden Lebens ermöglichen. Es geht also auch Natorp – wie Addams – um Beteiligungs- und
Befähigungsgerechtigkeit. Die Konzeption des gesellschaftlichen Programms basiert auf dem
Ineinandergreifen der drei Gesellschaftsbereiche Erziehung und Bildung, Wirtschaft und Politik. Das Strukturprinzip dieser drei Bereiche ist gemäß einer Demokratie als Lebensform die
Genossenschaft als das „in die Praxis eingelegte Prinzip der Gemeinschaft“ (vgl. Natorp
1922, S. 15 u. S. 57-58)! Erst dadurch kann der Demokratie insgesamt sowie den drei Gesellschaftsbereichen das Attribut sozial zukommen. Alle jeweils im Handlungsprozess Beteiligten
sollen – in dezentraler Autonomie – gleichberechtigt an allen zu treffenden Entscheidungen
beteiligt werden. Eine solche solidarische Handlungsweise ermöglicht erst die Voraussetzungen für ein gelingendes Leben aller, die eine bloße Demokratie als Regierungsform bei Beibehaltung feudaler Strukturen in Wirtschaft, Politik sowie Erziehung und Bildung eben nicht
oder nur begrenzt garantiert und gewährleistet. 5 Wie greifen nun die drei Bereiche der sozialen Erziehung und Bildung, sozialen Wirtschaft und sozialen Politik ineinander? Die soziale
Wirtschaft und die soziale Politik bauen auf der sozialen Erziehung und Bildung auf, denn
„nicht sie können den Menschen, der Mensch kann nur sie schaffen; der Mensch, das heißt
aber: die Erziehung“ (ebenda, S. 11-12). Und diese solidarische und demokratische Gestaltung der Gesellschaft können nur Menschen bewirken, die mit Kopf, Herz und Hand sich so
umfassend bilden durften und dürfen, dass sie in die Lage versetzt sind, ein selbstbestimmtes,
gelingendes Leben zu führen und sich solidarisch mit anderen gegen jede Bedrückung und
Ausbeutung in der Gesellschaft zu wehren verstehen (vgl. ebenda, S. 53). 6
Die Theorie Natorps der Sozialpädagogik als gesellschaftspolitisches Programm zur Entwicklung einer Sozialen Demokratie findet eine Aktualisierung in dem problemgeschichtlichen
Theorieaufriss von Carsten Müller in seinem Verständnis der Sozialpädagogik als Erziehung
zur Demokratie (Müller 2005, auch 2013). Hierbei greift Müller auch auf weitere Quellen und
Bezüge einer ersten Traditionslinie der Sozialpädagogik zurück. Hervorzuheben sind dabei
die Konzeptionen einer Gesellschaftserziehung bei Karl Mager aus der Mitte des 19. Jahrhun-
5
Mit seiner Konzeption eines genossenschaftlichen und dezentralisierten Aufbaus der Sozialen Demokratie setzt sich Natorp zudem deutlich von zentralistischen Auffassungen des Sozialismus ab, der
mittels „unsozialer und antisozialer Wirtschaft und Politik, mit dem Hauptmittel äußerer Zwangsgewalt wirkend denkt“ (Natorp 1922, 16)
6
Zu einer detaillierten Beschreibung der Teilbereiche soziale Erziehung und Bildung, soziale Wirtschaft und soziale Politik siehe Mührel 2013.
Eric Mührel
76
derts und die Theorie einer sozialen Erziehung von John Dewey; prägnant benannt sei hier
dessen Werk Democracy and Education von 1916. Müller folgert aus der Wiederbelebung der
ersten Traditionslinie der Sozialpädagogik neben einer theoretischen Selbstreflexion und vergewisserung der Sozialen Arbeit besonders deren Repolitisierung, denn: „Sozialpädagogik
und Politik gehören untrennbar zusammen! Ihrem Wesen nach ist Sozialpädagogik politisch.
Sie betrifft das gesellschaftliche und gemeinschaftliche Leben der Polis.“ (Müller 2005, S.
289). Soziale Arbeit insgesamt könnte sich daher in ihrem Selbstverständnis eher als Arbeit
mit Menschen und nicht als Arbeit für Menschen verstehen und verorten.
In erkennbarer inhaltlicher Nähe zur Theorie der Sozialpädagogik von Müller nimmt eine
weitere Aktualisierung der Sozialpädagogik Natorps über einen Umweg dessen gesellschaftspolitische Programmatik für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen wieder
auf (Mührel/Hundeck 2015, dazu auch Mührel 2013). Hierbei handelt es sich um das Verständnis der Sozialpädagogik als politisches Programm in einer Ausführung des spanischen
Philosophen Ortega y Gassets in einem Vortrag von 1910 in Bilbao. Ortega bezieht sich dabei
im Besonderen auf die theoretischen Konzeptionen Natorps, bei dem er Jahre zuvor in Marburg studiert hatte. Der Vortrag Ortegas kann als Gründungsakte der Sozialpädagogik in Spanien betrachtet werden. Die sich an den damaligen gesellschaftlichen und politischen Umständen Spaniens orientierende Version Ortegas der Sozialpädagogik Natorps gewinnt besonders in der Verbindung mit dem von Ortega anvisierten Ziel einer politischen Integration Europas hohe Aktualität. Denn eine Sozialpädagogik als politisches Programm könnte in der
heutigen, politisch eher als regressiv zu beurteilenden Situation Europas einen wesentlichen
Baustein für die Entwicklung einer Sozialen Demokratie im Prozess einer verstärkten politischen Integration darstellen.
Zusammenfassend wird erkennbar, dass die Theorie Natorps einer Sozialpädagogik als gesellschaftspolitisches Programm zur Entwicklung einer Sozialen Demokratie – auch in ihren aktuellen Reformulierungen – Menschenrechte und Demokratie als soziale Ideale im Sinne einer deutlich erkennbaren normativen Dimension transportiert. Die Dimension der professionellen Gegenstandsbestimmung tritt dabei zugunsten einer eher allgemein formulierten Aufgabe politischen und pädagogischen Handelns in den Hintergrund. Indessen erhalten die Dimensionen der begründeten Zielbestimmung professioneller Praxis, der Legitimation Sozialer
Arbeit in einem gesellschaftspolitischen Kontext und der Theoriebildung eine deutliche Konturierung.
77
Menschenrechte und Soziale Arbeit
Reflexion beider normativer Modelle
Ein Vergleich der beiden dargestellten Theorien bestätigt zunächst, dass beide insgesamt gesehen einen starken normativen Begründungszusammenhang in der Verbindung eines Verständnisses von Demokratie als Lebensform respektive einer Sozialen Demokratie und der
individuellen Menschenwürde im Schutz der Menschenrechte aufweisen. Der sich auf
Natorps Entwurf berufende und aufbauende Ansatz fokussiert mit seiner stark idealistischen
Konturierung auf Zielsetzungen in den Bereichen der Erziehung und Bildung, der Wirtschaft
sowie der Politik. Der besonders von Staub-Bernasconi vertretene und auf Jane Addams’
Entwurf einer Demokratie als Lebensform aufbauende Ansatz umfasst dagegen deutlich mehr
Aspekte des gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens; hier sei besonders an das
Verhältnis der Generationen und Geschlechter erinnert. Mit Bezug auf eine GenderPerspektive mag diese unterschiedliche Fokussierung zu erklären sein. Gerade vor dem Hintergrund der normativen Dimension der Gegenstandsbestimmung und Legitimation professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit erscheint der auf Addams aufbauende Ansatz mit der
von Staub-Bernasconi eingebauten vertikalen Dimension praktikabler und über – sicherlich
stets notwendige – theoretische Grundsatzdebatten hinausgehend zugänglicher. Der induktive
Zugang wirkt beweglicher als sein deduktives Pendant, wird sich aber dabei seiner normativen
Begründungszusammenhänge ggf. immer wieder eingehender zu versichern haben. Festzuhalten ist, dass beide Theoriestränge insgesamt gesehen eine hinreichende normative Dimension
beinhalten. Eine zukünftige Herausforderung könnte darin bestehen, beide Theoriestränge in
einer neuen, erweiterten Theorie Sozialer Arbeit zu integrieren.
Es stellt sich weiterhin die grundlegende Frage, ob die normative Dimension der Menschenrechte und Demokratieverständnisse überhaupt eine theoretisch-disziplinäre wie auch professionelle integrale Bedeutung beanspruchen kann und soll. Ist diese normative Dimension
nicht viel eher als ein Kritisches Korrektiv zu betrachten, welches die Theorien und Konzeptionen der Sozialen Arbeit immer wieder neu aus der externen Perspektive der Demokratieverständnisse und Menschenrechte zu hinterfragen hat (vgl. Cremer-Schäfer 2008)? Bedeutet
diese normative Implikation letztlich nicht auch eine Überforderung und Selbstüberschätzung
der Sozialen Arbeit als wissenschaftliche Disziplin und Profession? Silke Müller-Hermann
und Roland Becker-Lenz (2013) argumentieren in diesem Zusammenhang mit einer Orientierung der Sozialen Arbeit an bestehenden nationalen sozialrechtlichen Rahmenbedingungen,
damit Soziale Arbeit generell ihre gesellschaftliche Wirksamkeit auszuweisen versteht. In
Eric Mührel
78
diesem Zusammenhang wäre eventuell schon ein großer Schritt getan, wenn die Menschenrechte und ein demokratisches Selbstverständnis innerhalb der Handlungsfelder der Sozialen
Arbeit beherzigt würden (dazu Winkler 2013). Ein darüber hinausgehender Anspruch könnte
eben korrektiv wirken, jedoch in seiner normativen Verabsolutierung kontraproduktiv sein.
Dieser Einwand kann sich m. E. aber nur auf eine Soziale Arbeit des (globalen westlichen)
Nordens beziehen, die überhaupt über solche sozialrechtlichen Rahmenbedingungen verfügt;
er läuft aber bei der gesamten Sozialen Arbeit des Südens ins Leere, da dort solche Rahmenbedingungen meist gänzlich fehlen.
Ein weiterer Einwand gegen eine normative Dimension eines Verständnisses von Demokratie
als Lebensform und Menschenrechten erhebt sich mit Blick auf die vertikale Dimension
Staub-Bernasconis. Es bestehen erkennbare Ambivalenzen in den internationalen Institutionen, auf welche eben diese vertikale Dimension rekurriert. So gibt es immer noch keine einvernehmliche Übereinstimmung über verschiedene Interpretationsweisen der Menschenrechte
in den Vereinten Nationen. Zudem wird dort – wenn überhaupt – von einem Minimalkonsens
bzgl. eines Verständnisses der Demokratie als Regierungsform – und nicht als Lebensform –
ausgegangen (vgl. Mührel, L. und Mührel, E. 2013). Scheitert dann also eine selbstbestimmte
disziplinär wie professionell verankerte normative Dimension an den Paradigmen einer Sozialen Demokratie und der Menschenrechte nicht letztlich auch an den harten Realitäten der Institutionen, auf die eine solche Dimension sich vermeintlich zu berufen versucht? In diesem
Kontext weisen dann auch neuere philosophische Diskurse zu den Menschenrechten und einem Verständnis der Demokratie als Lebensform (siehe hierzu Bieri 2013, Joas 2011,
Schweidler 2013, Misrahi 2013) eine Richtung, dieselben in ihrer Genealogie eher im Sinne
eines schwachen Denkens (vgl. Vattimo 1990) als Ermöglichungskultur zur Förderung eines
selbstbestimmten Lebens – in einer normativ völlig heterogenen Weltgesellschaft – zu verstehen. Eine starke normative Pointierung könnte daher letztlich kontraproduktiv ins Leere laufen.
Auch mit Blick auf die zuletzt genannten Ambivalenzen und reflexiv-kritischen Einwände
bezüglich einer normativen Dimension der Menschenrechte und des Verständnisses einer
Demokratie als solidarischer Lebensform – einer Sozialen Demokratie – in der Theoriebildung der Sozialen Arbeit ist festzuhalten, dass diese eine starke normativ kohäsive Bedeutung
für die weitere Entwicklung eines globalen Selbstverständnisses der Sozialen Arbeit als Profession und wissenschaftliche Disziplin beinhaltet.
Menschenrechte und Soziale Arbeit
79
2.
Menschenrechte in der Praxis Sozialer Arbeit
Mit Blick auf die dritte Dimension des Vier-Ebenen-Modells der Normativität mit Bezug auf
die Soziale Arbeit, der Legitimation Sozialer Arbeit und ihrer professionellen Handlungen, ist
hinsichtlich der Menschenrechte als einer normativen Minimalethik zu fragen, ob die Menschenrechte in Institutionen der Sozialen Arbeit (z.B. Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe) und Institutionen, in denen sie professionell beteiligt ist (z.B. Gefängnisse, psychiatrische Einrichtungen), eingehalten werden. Dies wird dann der Fall sein, wenn in diesen Institutionen die Menschenwürde der Adressat_innen und Klient_innen gewahrt wird. Dabei stellt
sich gleich eine anschließende Frage, was denn unter Menschenwürde überhaupt verstanden
werden kann. Abgesehen von der Berechtigung der eher theoretischen autonomen wie heteronomen Konzeptionen der Menschenwürde (siehe hierzu Mührel/Röh 2013) und der mit Joas
schon angeführten Konzeption der Sakralität der Person könnte gerade für eine praktische
Orientierung in Handlungskontexten der Sozialen Arbeit auf die Beschreibungen Peter Bieris
in Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde aus 2013 rekurriert werden. Bieri
erörtert Würde anhand der nachzeichnenden Perspektive einer weitläufigen Landkarte
menschlicher Existenz. Hierbei soll nicht stark normativ vorgegeben werden, was unter
menschlicher Würde zu verstehen ist, sondern eine reflexive Sensibilisierung für alltägliche
Lebensweisen in all ihrer Vielfalt ermutigt werden. Genau diese von Bieri vorgeschlagene
Perspektive ermöglicht eine reflexive Beobachtung und Thematisierung der Lebensweisen
und Lebenswelten der Adressat_innen und Klient_innen der Sozialen Arbeit. Dabei stehen
gerade keine Wertungen im Sinne von Zertifizierungen und Akkreditierungen im Fokus, sondern alltägliches Feingefühl, Intuition und Reflexion. Darauf aufbauend kann ein Dialog der
Mitarbeiter_innen untereinander und der Adressat_innen und Klient_innen beginnen. Der
Dialog kann dann auf Augenhöhe und in gegenseitiger Würdigung zwischen allen Beteiligten
fortgeführt werden. Dies alles geschieht mit dem Ziel: Wie können wir in unserer Institution
so zusammenarbeiten und ggf. zusammenleben, dass wir alle in einem seelischen Gleichgewicht zu leben vermögen, dass uns die Gefährdungen unseres Lebens als Herausforderungen
bewältigen lässt? Genau hierfür ist jegliche diskreditierende Entwürdigung einer Person zu
vermeiden und gemeinsam dafür zu arbeiten, dass Menschen sich in ihrer Lebensweise gewürdigt fühlen.
Würde erweist sich nach Bieri – immer zerbrechlich und gefährdet – in drei Dimensionen: der
würdevolle Umgang anderer Menschen mit mir, der mich würdigende Umgang meinerseits
Eric Mührel
80
mit anderen Menschen, Würde in der Selbstachtung. Diese drei Dimensionen sind stets bei
der Beschreibung der Landkarte menschlicher Existenz mit zu bedenken. Folgende fiktive
Korridore in dieser Landschaft der Würde als Lebensform benennt Bieri:
•
Würde als Selbständigkeit: Wie kann die Selbständigkeit der Adressat_innen und Klient_innen und deren Partizipation an Gemeinschaft und Gesellschaft gewährleistet
und gefördert werden? Gibt es Möglichkeiten einer Bewahrung einer Inneren Selbständigkeit in sozialpädagogischen, medizinischen und therapeutischen Zwangskontexten? Auf welche Art und Weise können Demütigung und Abhängigkeiten reflektiert und auf ein Mindestmaß reduziert werden?
•
Würde als Begegnung: Wie können sich alle Beteiligten in einem Dialog mit gegenseitiger Wertschätzung und Anerkennung begegnen? Welche Orte und Gelegenheiten
werden für eine Begegnung mit sich selbst eröffnet? Und welche (sozial)pädagogischen und andere pädagogische Methoden werden hierfür angeboten?
•
Würde als Achtung der Intimität: Wie ist zu gewähren, dass zu jedem Zeitpunkt die
Intimität und persönliche Integrität gewahrt werden? Wie können Beschämung und
Demütigung verhindert werden?
•
Würde als Wahrhaftigkeit: Wie kann in der Zusammenarbeit und dem Zusammenleben jede_r Beteiligte sein Gesicht wahren? Wird auch das Gesicht des bzw. der Anderen gewahrt? Und können dabei auch trotzdem die wesentlichen Dinge und Punkte
thematisiert werden?
•
Würde als Selbstachtung: Wie können Menschen mit zerrissener und gebrochener
Selbstachtung wieder aufgerichtet und in ihrer Selbstwerdung begleitet werden? Wie
gestaltet sich eine Institution, in der Menschen sich als Person in ihrem Selbstsein
wahrnehmen und achten aber auch ausprobieren und spielen können? Was bedeutet es,
Verantwortung für sich und seine Lebensweise zu übernehmen?
•
Würde als moralische Integrität: Wie kann ein Dialog aller Beteiligten aussehen, der
auf Augenhöhe stattfindet und keine Scham oder Unterwerfung hervorbringt? Kann
jede_r noch morgens in den Spiegel schauen? Erhalten die moralischen Haltungen der
einzelnen Akteure genügend Raum und Gewicht?
•
Würde als Sinn für das Wichtige: Wird überhaupt gewollt und ggf. auch unterstützt,
dass die Adressat_innen und Klient_innen eine eigene Stimme ihres Lebens suchen
und erfahren dürfen? Erhalten Sie ggf. Unterstützung bei dieser Erkundungsreise nach
Menschenrechte und Soziale Arbeit
81
dem eigenen Lebensgespür und dem eigenen Lebenssinn? Was könnte das Glück für
alle Beteiligten bedeuten? Wie sieht es aus mit dem Zugang zur sinnlichen, ästhetischen und intellektuellen Schönheit der Welt? Welche Medien und Ansprechpartner_innen stehen hierfür zur Verfügung?
•
Würde als Anerkennung der Endlichkeit: Wie gestaltet sich der Umgang mit der eigenen Sterblichkeit und der Sterblichkeit der anderen Menschen? Was bedeutet die Endlichkeit im sich oder auch andere Loslassen in der Demenz? Wie können wir umgehen
mit Suizid und Suizidversuchen? Wie können Menschen in Würde sterben?
Die Perspektive Bieris könnte für das Forschungsprojekt Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern als Hintergrundfolie und Matrix dienen, um daraus Fragen zu entwickeln, wie menschenwürdige Lebensweisen und -verhältnisse in den sozialpsychiatrischen
Handlungsfeldern ermöglicht werden können. Eine herausfordernde und sensible Aufgabe im
oben angeführten Dialog.
3.
Abschließende Fragestellungen an das Forschungsprojekt Partizipation in sozial-
psychiatrischen Handlungsfeldern
•
Soziale Arbeit kann als eine Partizipationswissenschaft verstanden werden, die Prozesse von Teilhabe und Teilnahme in Gesellschaften analysiert und Wege zu deren
Realisierung und Verbesserung aufzeigt. Es geht dabei um eine (sozial-)pädagogisch
reflektierte und organisierte Sozialisation von Menschen (vgl. Mührel 2006). Dies ist
ein interessanter und lohnenswerter Ansatz. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass nicht
kleine Teile in der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit davon ausgehen, dass Partizipation ein Konzept der Vergangenheit sei. Aktuell wird sehr viel häufiger der Begriff der Beteiligungsgerechtigkeit und Befähigungsgerechtigkeit verwendet. Die Frage, die sich hieraus für das Forschungsprojekt ergibt, ist die folgende: Können die die
Erkenntnis leitenden Fragestellungen des Forschungsprojektes sowie dessen Durchführung und Evaluation aktuellen Bezügen in der Sozialen Arbeit gerecht werden?
•
Weiter ist mit Bezug zur vertikalen Dimension sozialer Demokratie von Jane Addams
und Silvia Staub-Bernasconi anzumerken, dass sozialpsychiatrische Handlungsfelder
regelmäßiger Überprüfungsverfahren von außen bedürfen. Die Frage ist, ob es diese in
Eric Mührel
82
der Sozialpsychiatrie gibt. Blicken NGOs und Menschenrechtsorganisationen in die
Einrichtungen hinein? Ziehen die Einrichtungen die Menschenrechtsorganisationen
bei rechtlichen Fragen und Fragen nach einem würdevollen Leben der Adressat_innen
und Klient_innen in den Einrichtungen hinzu?
•
Werden in der Folge des vorherig Gefragten in dem Forschungsprojekt transdisziplinär Akteure der Zivilgesellschaft mit eingebunden? Dient das Forschungsprojekt somit auch einer Demokratisierung der Wissenschaft und Praxis?
•
Die Einführung der gemeindenahen Psychiatrie und die damit gesellschaftliche Öffnung der beteiligten Institutionen seit den 1980er Jahren haben viele Impulse zur Einhaltung der Menschenrechte und damit Bewahrung der Würde der Adressat_innen und
Klient_innen hervorgebracht. Wie lässt sich aber der Ambivalenz von (konstruierten)
psychisch beeinträchtigten Menschen in einer kranken Gesellschaft begegnen? Die
Sozialarbeiter_innen beispielsweise in ambulant betreuten Wohnformen sollen ja ambitionierte Ziele einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft und damit Steigerung
der Partizipation verfolgen. Aber die Frage ist doch, in welche Gesellschaft die psychiatrisierten Menschen nach Beendigung der Hilfe wieder hineingeraten? Es ist zu
konstatieren, dass große Teile der gesellschaftlichen Wirklichkeit Menschen krank
machen. Wie kann daher mit einer Psychiatrisierung gesellschaftlicher Probleme professionell wie zivilgesellschaftlich umgegangen werden? Solche Ambivalenzen sind
beispielhaft an Phänomenen wie Depression und ADHS erkennbar. Teile der Gesellschaft sowie professionelle Praxen der Sozialen Arbeit wie beispielsweise die Kinderund Jugendhilfe entfernen sich ggf. vermehrt von sozialen wie individuellen Problemdefinitionen und psychiatrisieren gesellschaftliche Probleme. Das bedeutet wiederum
nicht, dass die Gestaltbarkeit Sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie dethematisiert
werden darf. Wird das Forschungsprojekt diese Ambivalenzen thematisieren und analysieren?
Literatur
Addams, Jane (1964): Democracy And Social Ethics. Cambridge: Harvard University Press. (Erstveröffentlichung 1902).
83
Menschenrechte und Soziale Arbeit
Bieri, Peter (2013): Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. München: Carl Hanser
Verlag.
Braches-Chyrek, Rita (2013): Jane Addams, Mary Richmond und Alice Salomon. Professionalisierung
und Disziplinbildung Sozialer Arbeit. Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Bornmüller, Falk; Hoffmann, Thomas; Pollmann, Arnd (Hrsg.) (2013): Menschenrechte und Demokratie. Freiburg/München: Verlag Karl Alber.
Brunozzi, Philippe; Dhouib, Sarhan; Pfannkuche, Walter (Hrsg.) (2013): Transkulturalität der Menschenrechte. Arabische, chinesische und europäische Perspektiven. Freiburg/München: Verlag Karl
Alber.
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Menschenrechte und Gesundheit
Alexander Schmid
Das Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ 1 spricht auch die Bedeutung von Menschenrechten an. Dies ist für ein Projekt der Sozialen Arbeit als menschenrechtsorientierter Profession 2 zwingend. Neben der von Mührel vorgenommenen ethischen
Betrachtung ist es ergänzend notwendig, die Bedeutung der Menschenrechte aus juristischer
Sicht zu würdigen.
Im Rahmen dieses Beitrages 3 können die für dieses Projekt relevanten menschenrechtlichen
Fragestellungen allerdings nicht umfassend oder gar abschließend erörtert werden. Jedoch
kann hier ein erster Zugang zur Arbeit mit Menschenrechten aus juristischer Perspektive geboten werden, welcher den Studierenden ermöglichen soll, die Bedeutung der Menschenrechte in den angesprochenen Fragestellungen selbständig weiter zu bearbeiten. 4
Im Unterschied zu einer allgemeinen Orientierung an Menschenrechten muss aus rechtlicher
Sicht immer die Frage gestellt werden, ob Menschenrechte konkrete und rechtlich durchsetzbare Ansprüche gewährleisten (Justiziabilität der Menschenrechte). 5 Somit ist es wichtig zu
prüfen, inwieweit Deutschland völkerrechtlichen Verträgen zum Schutz von Menschenrechten
beigetreten ist. Sind die darin genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen bereits in die nationale Rechtsordnung integriert worden? Tragen diese Rechtsvorschriften den völkerrechtli-
1
Siehe Beiträge von S. Bliemetsrieder, K. Maar, J. Schmidt und A. Tsirikiotis.
Staub-Bernasconi, Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession. In: F. Hochstrasser et. al. (Hrsg),
Die Fachhochschule für Soziale Arbeit. Bildungspolitische Antwort auf soziale Entwicklungen, Haupt.
1997, S.3.
3
Dieser Beitrag stellt die überarbeite und aktualisierte Fassung des Vortrages im Rahmen eines Forschungskolloquiums „Menschenrechte und Soziale Arbeit in der Psychiatrie“ vom 05.05.2015 dar.
4
Eine Übersicht über die verschiedenen Menschenrechte bieten beispielsweise: Ipsen, Völkerrecht, 6.
Aufl., Kapitel 8, Individualschutz im Völkerrecht, S. 817-859; Herdegen, Völkerrecht, 14. Aufl., Kapitel X, Menschenrechte, § 47-50, S. 368-396; Kau, in: Vitzthum/Proeß, Völkerrecht, 7. Aufl., Dritter
Abschnitt, III. Der Einzelne im Völkerrecht, S. 209-227; Prasad/Rabe, Mit Recht gegen Gewalt: die
UN-Menschenrechte und ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit.
5
Schneider, Die Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte, 2004,
www.institut-fuer--menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/studie_die_justiziabilitaet_wirtschaftlicher_sozialer_u_kultureller_menschenrechte.pdf [19.10.2017].
2
89
Menschenrechte und Gesundheit
chen Vorgaben ausreichend Rechnung? Diese Fragen sind als Vorfragen zu beantworten, um
dann zu bestimmen, welche Fragestellungen mithilfe der Bezugnahme auf die Menschenrechte weiterer Bearbeitung bedürfen. Diese Arbeit mit Menschenrechten kann auf der einen Seite
darin bestehen, dass die Bezugnahme auf Menschrechte hilft, den vorgegebenen nationalen
rechtlichen Rahmen zu füllen. 6 Auf der anderen Seite kann die Arbeitsaufgabe die Sichtbarmachung der Umsetzungsdefizite menschenrechtlicher Vorgaben sein.
Bei einer Bezugnahme auf Menschenrechte muss daher an erster Stelle immer die Frage stehen, welches Menschenrecht konkret für die zu untersuchende Ausgangslage Bedeutung haben soll. Menschenrechte finden sich zunächst auf Ebene der Vereinten Nationen 7 und im
Rahmen von regionalen menschenrechtlichen Schutzsystemen. Für Europa ist in erster Linie
die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 8 und die damit verbundene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu nennen. 9 Schließlich finden
sich Menschenrechte in Form von Grundrechten auch im Grundgesetz. 10
Zur Einführung in die juristische Arbeit mit Menschenrechten bietet sich bei einem Projekt in
einem sozialpsychiatrischen Handlungsfeld das Menschenrecht auf Gesundheit an (Teil I.).
Die Frage der Partizipation kann anschließend am konkreten Beispiel der Voraussetzungen
der Zwangsbehandlung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) dargestellt werden (Teil II). Auf
das Zusammenspiel zwischen nationaler Rechtsordnung und Menschenrechten, insbesondere
der UN- Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) kann im Rahmen einer aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) eingegangen werden.
6
Menschenrechte als Auslegungsmaßstab des nationalen Rechts: Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, GG Art. 1 Abs. 2, Rn. 47 ff., 79. EL Dezember 2016.
7
Siehe: www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereintenationen/menschenrechtsabkommen/uebersicht/ [19.10.2017].
8
www.menschenrechtskonvention.eu [19.10.2017].
9
Daneben existieren auch die Amerikanische Menschenrechtskonvention von 1969 (American Convention on Human Rights) und die Afrikanische Charta der Menschen- und Völkerrechte (African
(Banjul) Charter on Human and Peoples' Rights) oder auch die Arabischen Charta der Menschenrechte, siehe: www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/entwicklungspolitik/oft-gestelltefragen/warum-gibt-es-regionale-menschenrechtsvertraege/ [19.10.2017].
10
Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 Abs. 2, Rn. 8, 79. EL Dezember 2016.
Alexander Schmid
90
I. Menschenrechte und Gesundheit
1.
Geltung und Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen
Auch aus menschenrechtlicher Sicht kann die Frage gestellt werden, welches Maß an staatlicher Unterstützung im Bereich der Gesundheit erforderlich ist. In diesem Kontext ist jedoch
immer zwingend zwischen der innerstaatlichen Geltung eines Menschenrechts und der unmittelbaren Anwendung zu unterscheiden.
Geltung erlangt ein Menschenrecht im Regelfall, wenn der entsprechende völkerrechtliche
Vertrag in Deutschland ratifiziert ist. Dies kann am Beispiel der Umsetzung der UN-BRK
erläutert werden. Ausgehend von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR)11
ist in der UN-BRK eine international verbindliche Auslegung und damit eine Präzisierung der
Menschenrechte für Menschen mit Behinderung in einen völkerrechtlichen Vertrag aufgenommen worden. Die UN-BRK ist in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 ratifiziert, also in geltendes deutsches Recht überführt worden. 12 Durch die Ratifikation hat die
UN-BRK allerdings nur die Form eines einfachen Bundesgesetzes erhalten. Die UN-BRK
steht damit zunächst neben den anderen Bundesgesetzen. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers
alle anderen Bundesgesetze darauf zu prüfen, ob diese zur Umsetzung der UN-BRK geändert
werden müssen. Ebenso ist es Aufgabe der Landesgesetzgeber die Landesgesetze nunmehr so
zu gestalten, dass diese der UN-BRK entsprechen.
In der juristischen Literatur ist es umstritten, ob darüber hinaus einzelnen Bestimmungen der
UN-BRK schon vor der Umsetzung des Gesetzgebers unmittelbare Wirkung zukommt, diese
somit unmittelbar anwendbar sind. 13 Zumindest das Diskriminierungsverbot des Art. 5 Abs. 2
UN-BRK hat nach der Rechtsprechung unmittelbare Wirkung. 14 Das BSG sieht dieses Dis-
11
Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar; GG Art. 3 Abs. 3, Rn. 1, 79. EL Dezember
2016.
12
Nettesheim, in: GG Art. 59, Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar 67. Ergänzungslieferung 2013,
Rn. 70. -77.
13
Degener, in: Degener et al. (Hrsg.), Menschenrecht Inklusion: 10 Jahre UNBehindertenrechtskonvention - Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Umsetzung in Sozialen
Diensten und diakonischen Handlungsfeldern, S. 24; Riedel, Arend: Im Zweifel Inklusion: Zuweisung
an eine Förderschule nach Inkrafttreten der BRK, NVwZ 2010, 1346; siehe hierzu auch: Dokumentation der Fachtagung „Menschenrechte in der sozialgerichtlichen Praxis“ des Deutschen Instituts für
Menschenrechte am 6. März 2015 im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin:
http://www.felix-welti.de/MR%20und%20Sozialrecht.pdf [19.10.2017].
14
BSG, Urteil vom 06. März 2012 – B 1 KR 10/11 R –, juris, Rdnr. 29.
91
Menschenrechte und Gesundheit
kriminierungsverbot allerdings nicht als weiterreichend als das bereits in Art. 3 Abs. 3 S. 2
GG enthaltene Diskriminierungsverbot an. Dennoch ist es für das BSG besonders bedeutsam,
dass die UN-BRK generell als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann und dies auch speziell für das Verständnis des
Art 3. Abs. 3 S. 2 GG gilt. 15
2.
Menschenrecht auf Gesundheit?
Die eben genannte Entscheidung des BSG hatte das in Art. 25 S. 1, 2 und 3 Buchst b UNBRK aufgenommene Recht auf Gesundheit zum Gegenstand:
"Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das
erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten,
dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation, haben. Insbesondere…
b) bieten die Vertragsstaaten die Gesundheitsleistungen 16 an, die von Menschen mit
Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden, soweit angebracht, einschließlich Früherkennung und Frühintervention, sowie Leistungen, durch
die, auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst gering
gehalten oder vermieden werden sollen;
[...]"
Weitere in Deutschland verbindliche Menschenrechte auf Gesundheit bestehen in jeweils unterschiedlichen
Ausprägungen
aufgrund
des
UN-Sozialpaktes,
der
UN-
Antirassismuskonvention, der UN-Konvention zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau
und der UN-Kinderrechtekonvention. 17 In der AEMR findet sich das Recht auf Gesundheit
nur als Teil des Rechts auf einen allgemeinen Lebensstandard aufgenommen:
15
BSG, Urteil vom 06. März 2012 – B 1 KR 10/11 R –, juris, Rdnr. 31,33.
Hervorhebungen durch den Verf..
17
Siehe hierzu im Einzelnen: Kennerich, Das Menschenrecht auf Gesundheit, in: Frewer, Bielefeldt
(Hrsg.) Das Menschenrecht auf Gesundheit, S. 60-62.
16
Alexander Schmid
92
„Artikel 25 AEMR
1. Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung,
ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter
sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. 2. (...) 18
Als Erklärung ist die AEMR nicht unmittelbar völkerrechtlich verbindlich. In der Literatur
wird untersucht, ob die AEMR Völkergewohnheitsrecht darstellt und demnach nachvollziehbar die These vertreten werden kann, dass der AEMR in jedem Falle eine höhere Verbindlichkeit als einer bloßen Erklärung zukommt. 19
Welche Bedeutung haben diese in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen aufgenommenen Menschenrechte auf Gesundheit nun für den einzelnen Bürger? Wie oben schon bei der
Umsetzung der UN-BRK erwähnt, enthalten völkerrechtliche Verträge in der Regel keine
unmittelbaren Ansprüche für den Bürger. Die Vertragsstaaten eines völkerrechtlichen Vertrages verpflichten sich zur Umsetzung der darin enthaltenen Menschenrechte. Eine genaue Darstellung, wie das Recht auf Gesundheit in den einzelnen Völkerrechtsverträgen ausgestaltet
ist, kann hier nicht erfolgen. Keiner der völkerrechtlichen Verträge gewährleistet jedoch ein
absolutes Recht auf Gesundheit. Vielmehr wird dieses Recht in unterschiedlicher Ausprägung
festgelegt. Beispielsweise dient im Rahmen des UN-Sozialpaktes das im jeweiligen Vertragsstaat verfügbare Höchstmaß an gesundheitlicher Versorgung als Maßstab. 20
18
www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf [19.10.2017].
Nettesheim, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa,
Band VI/2: Europäische Grundrechte II,
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insbesondere Rdnr. 44.
20
Rixen, Zwischen Hilfe, Abschreckung und Pragmatismus: Gesundheitsrecht der Flüchtlingskrise –
Zu den Änderungen durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20.10.2015, in: NVwZ
2015, 1640 (1643); ders., Gestaltungsspielräume bei der Gewährung von Leistungen an Geflüchtete –
Verfassungsrecht, EU-Recht, Völkerrecht –, in: Der Landkreis – Zeitschrift für kommunale Selbstverwaltung 2016, 268 (272). Siehe auch: ders., Recht auf Gesundheit – Konturen eines wenig bekannten Menschenrechts, S. 6: www.justitia-et-pax.de/jp/aktuelles/data/20161209-10-Rixen.pdf
[19.10.2017].
19
93
Menschenrechte und Gesundheit
Somit wäre nun als nächster Arbeitsschritt eine genauere Untersuchung darüber notwendig,
welche unterschiedlichen Maßstäbe in den einzelnen völkerrechtlichen Verträgen enthalten
sind. Dies kann in diesem Beitrag nicht erfolgen und es kann nur auf weiterführende Literatur 21 und besonders auf die Diskussion über den Menschrechtsansatz im Gesundheitswesen
verwiesen werden. 22
An dieser Stellte muss auch die Frage der Unteilbarkeit der Menschenrechte beachtet werden.
Damit ist gemeint, dass Menschenrechte sich in ihrer Wertigkeit nicht unterscheiden dürfen,
sondern einander bedingen und aufeinander verweisen. 23 Beispielsweise hat das Menschenrecht auf Gesundheit einen starken Bezug zu den Menschenrechten in Bezug auf Bildung. Die
Vertragsstaaten müssen die beiden eben genannten Verpflichtungen in einem angemessenen
Umfang berücksichtigen und dürfen nicht das eine Menschenrecht zu Lasten eines anderen
Menschenrechts umsetzen. Auf der Ebene der konkreten Umsetzung dieser menschenrechtlichen Verpflichtungen, beispielsweise in einzelstaatliche Normen, muss jedoch oft eine Abwägung erfolgen, welches Menschenrecht in der konkreten Norm Vorrang genießt. 24 Der
Grundsatz der Unteilbarkeit der Menschenrechte darf somit nicht zur Argumentation führen,
die Umsetzung sei nicht möglich, da in einer konkreten Norm nicht beide Menschenrechte
verwirklicht werden könnten. Es ist somit wichtig, die Umsetzung der menschenrechtlichen
Verpflichtungen in einer Rechtsordnung insgesamt zu beurteilen. Der Grundsatz der Unteilbarkeit bedeutet auch, dass die mangelnde Umsetzung eines Menschenrechtes nicht mit der
Umsetzung eines anderen Menschenrechtes kompensiert werden kann. Im Einzelfall kann
somit das Menschenrecht auf Gesundheit verletzt sein und insoweit hat der Vertragsstaat auch
seine entsprechende völkerrechtliche Verpflichtung verletzt. Er könnte sich insoweit nicht
damit rechtfertigen, dass er umfassende Bildungsleistungen erbracht habe.
Auch wenn hier keine umfassende Darstellung der einzelnen Menschenrechte auf Gesundheit
erfolgen konnte, kann dennoch festgestellt werden, dass die Menschenrechte auf Gesundheit
21
Kennerich, Das Menschenrecht auf Gesundheit, in: Frewer, Bielefeldt (Hrsg.) Das Menschenrecht
auf Gesundheit, S. 60 ff.; Rixen, Recht auf Gesundheit – Konturen eines wenig bekannten Menschenrechts, www.justitia-et-pax.de/jp/aktuelles/data/20161209-10-Rixen.pdf [19.10.2017].
22
Bielefeldt, Der Menschenrechtsansatz im Gesundheitswesen, in: Frewer, Bielefeldt (Hrsg.) Das Menschenrecht auf Gesundheit, S. 19 ff.
23
Fremuth, Menschenrechte, S. 48 f.
Mahler/Weiß: Zur Unteilbarkeit der Menschenrechte; S. 41, In: Die Menschenrechte: unteilbar und
gleichgewichtig? / Lohmann; Gosepath; Pollmann; Mahler; Weiß: https://publishup.unipotsdam.de/frontdoor/index/index/docId/1435 [19.10.2017].
24
Alexander Schmid
94
eine starke völkerrechtliche Verankerung besitzen. Wie oben erwähnt, sind die von Deutschland ratifizierten völkerrechtlichen Verträge für die Auslegung des innerstaatlichen deutschen
Rechts zu beachten. 25 Dies gilt auch für diejenigen innerstaatlichen Regelungen, die einem
Bezug auf das Menschenrecht auf Gesundheit aufweisen. 26
3.
Recht auf Gesundheit und das deutsche Grundgesetz
Im Gegensatz zur Verfassung anderer Staaten kennt das Grundgesetz kein ausdrücklich formuliertes Recht auf Gesundheit. 27 In Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist zwar als Abwehrrecht formuliert: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Daraus ergibt sich jedoch nicht unmittelbar ein Leistungs- oder Teilhaberecht. 28
Die Rechtsprechung des BVerfG verdeutlicht jedoch, dass auch aufgrund des deutschen
Grundgesetzes über das bloße Abwehrrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Verpflichtungen des
Gesetzgebers zum Gesundheitsschutz bestehen. Ausgehend vom Sozialstaatsprinzip in Art. 20
Abs. 1 GG fordert das BVerfG das Bestehen von Regelungen zum Schutz der Bevölkerung
vor Erkrankungen. 29 Im Zusammenhang mit den aktuellen verfassungsrechtlichen Fragen der
Zwangsbehandlung wird zudem deutlich, dass das BVerfG den Gesundheitsschutz stark in
Bezug zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG setzt. Der Staat habe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen.30 Besondere Erwähnung verdient zudem das
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, welches das
BVerfG aus der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20
25
2 BvR 2365/09; 2 BvR 740/10; 2 BvR 2333/08; Rn 89; 1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11; Rn. 92, 94.
Als weiterführendes Beispiel kann auf die völkerrechtliche Argumentation von Rixen verwiesen
werden, welcher belegt, dass die Regelungen zur Gesundheitsversorgung im Asylbewerberleistungsgesetz aufgrund deren Unbestimmtheit den völkerrechtlichen Vorgaben nicht genügen: Rixen, Recht
auf Gesundheit – Konturen eines wenig bekannten Menschenrechts, S.9: www.justitia-etpax.de/jp/aktuelles/data/20161209-10-Rixen.pdf [19.10.2017].
27
Rixen, Recht auf Gesundheit – Konturen eines wenig bekannten Menschenrechts, S. 2 ff.:
www.justitia-et-pax.de/jp/aktuelles/data/20161209-10-Rixen.pdf [19.10.2017].
28
Di Fabio, in: Maunz/Dürig, 79. EL Dezember 2016, GG Art. 2 Nr. 1 Rn. 51.
29
BVerfGE 123, 186 (242).
30
BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 69 ff., juris.
26
95
Menschenrechte und Gesundheit
Abs. 1 GG hergeleitet hat. 31 Die Relevanz für die handlungsfeldübergreifende Soziale Arbeit
wird anhand der folgenden Ausführungen des BVerfG deutlich:
„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG
sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. 2. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs.
1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben
dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes
Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss
eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch
den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten
hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu." (Rdnr. 135)
Zum menschenwürdigen Existenzminimum gehört auch ein Mindestmaß an gesundheitlicher
Versorgung:
„Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur
Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er
gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche
Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung,
Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit 32 [...], als auch die Sicherung
der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst,
denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen [...]." (Rdnr. 135
a.a.O.)
Obwohl das Grundgesetz somit kein ausdrückliches Recht auf Gesundheit enthält, wird deutlich, dass insbesondere aufgrund der verbindlichen Auslegung des Grundgesetzes durch das
31
32
BVerfG, Urteil vom 9.2.2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09.
Hervorhebung durch den Verf..
Alexander Schmid
96
BVerfG deutliche verfassungsrechtliche Vorgaben zum Schutz der Gesundheit bestehen. Diese sind auch im Rahmen von Verwaltungsverfahren zu berücksichtigen, 33 besonders bei der
Ausübung des verwaltungsrechtlichen Ermessens. 34 Darüber hinaus gilt hier auch der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, mit welcher das BVerfG die Verbindung zwischen dem nationalen Verfassungsrecht und dem internationalen Recht stärkt. Ein Beispiel
findet sich in der Entscheidung des BVerfG im Jahr 2012 zur Sicherungsverwahrung:
„Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ist damit Ausdruck eines Souveränitätsverständnisses, das einer Einbindung in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht nur nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet.“ 35
Aufgrund dieser Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes sind jedoch auch bei der Auslegung des Mindestmaßes an Gesundheit auch die oben erwähnten verschiedenen Menschenrechte auf Gesundheit zu berücksichtigen. Insbesondere kann die UN-BRK als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der hier erwähnten Grundrechte herangezogen werden. 36
Aufgrund des Rückgriffs des BVerfG auf die Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auch im Bereich der Gesundheit
lässt sich gut belegen, dass die Menschen- und Grundrechte heute als Mehrebenensystem gesehen werden müssen. 37 Im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz wird die Menschenwürde 38 zwar zu Recht als Voraussetzung für viele Menschenrechte angesehen, findet sich aber
selbst kaum in Völkerrechtsverträgen und ist ausdrücklich nur in der Charta der Grundrechte
der EU aufgenommen. Die verschiedenen Menschenrechte werden daher als Ausprägungen
33
Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG | VwVfG § 1 Rn. 45 - 51 | 8. Auflage 2014.
Aschke, VwVfG § 40 Ermessen, in: BeckOK VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, 35. Ed., Stand:
01.04.2017, Rn. 52.
35
2 BvR 2365/09; 2 BvR 740/10; 2 BvR 2333/08; Rn 89.
36
BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 88, (juris) mit Verweis auf vgl. BVerfGE
111, 307, 317.
37
Viellchner, Berücksichtigungspflicht als Kollisionsregel. In: Matz-Lück N., Hong M. (eds) Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen, S. 109 ff.
38
Zur weiteren Auslegung vom Begriff „Würde“, aus verschiedenen Professionen betrachtet, empfiehlt sich folgende Publikation: Gröschner; Kapust; Lembcke. (Hrsg.) (2013): Wörterbuch der Würde.
München, Paderborn: Fink.
34
97
Menschenrechte und Gesundheit
besonderer Würdeaspekte gesehen. 39 Insofern schließt das BVerfG den Kreis, indem es bei
der Anwendung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimums ausdrücklich
auf das Asylbewerberleistungsgesetz verweist:
„Zu den Regeln über das Existenzminimum, die in Deutschland gelten, gehören auch
der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.
Dezember 1966 (IPwskR, in Kraft getreten am 3. Januar 1976, UNTS Bd. 993, S.3;
BGBl. II 1976, S. 428), dem der Deutsche Bundestag mit Gesetz vom 23. November
1973 (BGBl. II S. 1569) zugestimmt hat. Der Pakt statuiert in Art. 9 ein Recht auf Soziale Sicherheit und in Art. 15 Abs. 1 Buchstabe a das Menschenrecht auf Teilhabe am
kulturellen Leben.“ 40
Im Ergebnis hat das BVerfG die seit dem Jahr 1993 unveränderte Höhe der Geldleistungen als
evident unzureichend angesehen und darauf hingewiesen, dass das im Urteil von 2010 entwickelte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums 41 einen
Anspruch als Menschenrecht vermittelt. 42
4.
Das baden-württembergische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz, das Grundgesetz
und die Menschenrechte auf Gesundheit
Unter Betrachtung der menschenrechtlichen Grundlagen und den grundgesetzlichen Verankerungen zum Gesundheitsschutz ist zu erwarten, dass bei Gesetzesvorhaben hierauf Bezug genommen wird und insbesondere in der Gesetzgebungsbegründung eine Auseinandersetzung
mit den darin enthaltenen Verpflichtungen erfolgt. Dies ist allerdings beim PsychischKranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG BW) nicht erfolgt. Auf das Völkerrecht wird im Gesetz
und in der Begründung nur im Zusammenhang mit § 22 PsychKHG-Entwurf verwiesen, in
welchem der Schriftverkehr der untergebrachten Person auch aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen geschützt ist. Da die Umsetzung der in der UN-BRK enthaltenen Rechte im
PsychKHG BW durch den zuständigen Landesgesetzgeber erfolgen muss, verwundert es be-
39
Maunz/Dürig/Herdegen GG Art. 1 Rn. 6-8, beck-online; (Meyer-Ladewig EMRK Art. 8 Rn. 7-9,
beck-online.
40
1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11; Rn. 92, 94.
41
BVerfGE 125, 175.
42
1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11; Leitsatz 2.
Alexander Schmid
98
sonders, dass in der Begründung des Entwurfes die UN-BRK nicht erwähnt wird. 43 Im Entwurf aus dem Jahr 2013 zur Änderung der Regelungen zur Zwangsbehandlung nach § 8 im
Rahmen des - bis zum Erlass des PsychKHG BW 44 - gültigen Unterbringungsgesetzes BadenWürttemberg finden sich hingegen Verweise auf die UN-BRK. 45 Eine solche Auseinandersetzung wäre jedoch auch im ein Jahr später erarbeiteten Entwurf zum PsychKHG BW insgesamt erforderlich gewesen.
Mit dieser Feststellung alleine ist noch keine Kritik an den Inhalten des PsychKHG BW verbunden. 46 Weiter zu untersuchen wäre beispielsweise, ob die im PsychKHG aufgenommenen
„Soll“-Verpflichtungen zum Aufbau von Versorgungsstrukturen eine Ungleichbehandlung
beinhalten können, da unmittelbare Rechtsfolgen bei deren Verletzung nicht im PsychKHG
aufgenommen sind. 47 Es könnten somit örtlich sehr unterschiedliche Versorgungsstrukturen
entstehen, die dem Schutzzweck des PsychKHG nicht entsprechen. Genügt der Landesgesetzgeber in diesem Fall den durch das BVerfG festgelegten Schutzpflichten, die zudem unter
Beachtung der Menschenrechte auf Gesundheit ausgelegt werden müssen?
Jedenfalls muss sich auch der Landesgesetzgeber zukünftig mehr mit den menschenrechtlichen Vorgaben auseinandersetzen. 48 Damit kann zum heutigen Zeitpunkt nur auf die Verantwortung der mit der Anwendung des PsychKHG befassten öffentlichen Stellen verwiesen
43
Landtags-Drucksache 15 / 5521 vom 22. 07. 2014, www.landtagbw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP15/Drucksachen/5000/15_5521_D.pdf [19.10.2017].
44
Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (Psychisch-Kranken-HilfeGesetz – PsychKHG). Gesetzesbeschluss des Landtags 12.11.2014. Drucksache 15 / 6129. Verfügbar
unter: https://www.landtagbw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP15/Drucksachen/6000/15_6129_D.pdf [19.10.2017].
45
Drucksache 15 / 3408 vom 23. 04. 2013; www.landtagbw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP15/Drucksachen/3000/15_3408_D.pdf [19.10.2017].
46
Siehe insgesamt zum PsychKHG: Meyder, Wiedwald, Stolz, Warmbrunn, Juchart, PsychischKranken-Hilfe-Gesetz Baden-Württemberg, Praxiskommentar und Arbeitshilfen, 2015.
47
Siehe beispielsweise § 6 Abs. 2 PsychKHG: „Die sozialpsychiatrischen Dienste sollen daher insbesondere eng mit den Hausärztinnen und -ärzten, (...) zusammenarbeiten.“ Weitere Bsp.: § 3 Abs. 3 S.
1; § 7 S. 3, § 8 PsychKHG.
48
Siehe hierzu die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, Drucksache 18/11259, Die
Ausübung von Zwang in psychiatrischen Einrichtungen vom 22.03.2017,
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/116/1811619.pdf [19.10.2017].
99
Menschenrechte und Gesundheit
werden, bei der Auslegung im Rahmen des bestehenden Rechtes auch die menschenrechtlichen Vorgaben zu beachten. 49
Die fehlende Auseinandersetzung des Entwurfes des PsychKHG BW mit der UN-BRK zeigt
die Bedeutung der in der UN-BRK enthaltenen Verpflichtung der Vertragsstaaten zu regelmäßiger Berichterstattung über die Umsetzung der UN-BRK auf. Hierauf soll im Folgenden
eingegangen werden.
II.
1.
Aktuelle Fragen der Umsetzung der UN-BRK
Bedeutung der Staatenberichte an den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Committee on the Rights of Persons with Disabilities,
CRPD)
Deutschland hat den nach Art. 35 Abs. 1 UN-BRK notwendigen ersten Staatenbericht zur
Umsetzung der UN-BRK im Jahr 2011 vorgelegt. 50 Darin wird der deutsche „Weg zu mehr
Inklusion“ beschrieben und sowohl über die bisherigen Umsetzungsmaßnahmen als auch über
den Nationalen Aktionsplan berichtet. Hierzu hat das Deutsche Institut für Menschenrechte in
einem Parallelbericht auf weiterhin ungelöste Fragen in Bezug auf die Rechtstellung von
Menschen in psychiatrischer Versorgung aufmerksam gemacht. Der Umfang der Partizipation
nimmt dabei großen Raum ein. Insbesondere im Rahmen der Aufgabe als Monitoring-Stelle
hat das Deutsche Institut für Menschenrechte folgende Forderung aufgestellt:
„Die Monitoring-Stelle regt an, dass der CRPD-Ausschuss dem Vertragsstaat (Bund
und Länder) empfiehlt, Maßnahmen zur grundlegenden Fortentwicklung der psychiatrischen Versorgung von Menschen mit Behinderungen einzuleiten. Das System muss in
allen Teilen praktisch befähigt werden, Zwang im Zusammenhang mit Unterbringung
und Behandlung zu vermeiden und stattdessen die freie und selbstbestimmte Entscheidung der Person durch geeignete Unterstützung zu fördern. Der Vertragsstaat (Legis-
49
Siehe zur vergleichbaren Fragestellungen innerhalb des Betreuungsrechtes im BGB: Bühler; Stolz;
Ärztliche Behandlung und „unterstützte Entscheidungsfindung“ – Betreuung entbehrlich?, BtPrax
2017, 167-172.
50
www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/staatenbericht-2011.pdf?__blob=publicationFile
[19.10.2017].
Alexander Schmid
100
lative) sollte eine vom Bundestag veranlasste und getragene Initiative durchführen
(etwa in Form einer Enquete mit Empfehlungen) mit dem Ziel, den erforderlichen
Strukturwandel einzuleiten.“ 51
Aufgrund der Prüfung des ersten Staatenberichtes Deutschlands und des Parallelberichtes hat
der zuständige UN-Ausschuss Fragen an die Bundesrepublik Deutschland gestellt. Die Antworten auf die Fragen aus der „List of Issues“ 52 wurden vom UN-Ausschuss geprüft und waren Grundlage für dessen „Abschließende Bemerkungen“ vom 13. Mai 2015. Beispielhaft soll
eine Bemerkung zur Zwangsbehandlung in der Originalfassung auszugsweise wiedergegeben
werden 53:
„Protecting the integrity of the person (art. 17)
37. The Committee is concerned about: (a) the use of compulsory and involuntary
treatment, in particular for persons with psychosocial disabilities in institutions and
older persons in residential care; (b) the lack of data on involuntary placement and
treatment; (c) (...)
38. The Committee recommends that the State party take the measures, including of a
legislative nature, necessary to:
(a) (...)
(b) Ensure that all psychiatric treatments and services are always delivered with the
free and informed consent of the individual concerned;
51
Rdnr. 105 zu: Rechte von Menschen in psychiatrischer Versorgung. Parallelbericht an den UNFachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen anlässlich der Prüfung des ersten
Staatenberichts Deutschlands; www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDFDateien/Parallelberichte/_Parallelbericht_an_den_UNFachausschuss_fuer_die_Rechte_von_Menschen_mit_Behinderungen_150311.pdf.pdf#H1_ARTIKEL_14_22
[19.10.2017].
52
www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDFDateien/Parallelberichte/Beantwortung_der_Fragen_aus_der__List_of_Issues.pdf [19.10.2017].
53
www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDFDateien/Pakte_Konventionen/CRPD_behindertenrechtskonvention/CRPD_Concluding_observations_on_th
e_initial_report_of_Germany_May_2015.pdf [19.10.2017].
101
Menschenrechte und Gesundheit
(c) Investigate human rights violations in psychiatric and older persons care settings
in all Länder;
(d) (...)
Eine weitere wichtige Funktion dieses UN-Ausschuss besteht in der Möglichkeit eine Individualbeschwerde an ihn zu richten. Eine erste Individualbeschwerde aus Deutschland war im
Jahr 2014 erfolgreich. 54
Die Arbeit des UN-Ausschusses und der Monitoring-Stelle findet in Deutschland Eingang in
die fach- und zivilgesellschaftlichen Diskurse und auch in die Arbeit der Parlamente. 55 Auch
hier findet sich damit ein Beispiel für die Mobilisierung von Menschenrechten im Wechselspiel zwischen Völkerrecht, (Zivil-)Gesellschaft und Gesetzgeber. 56 Als Modell zur Beschreibung dieses Vorganges bietet sich das Bild einer Diffusionsspirale an. 57 Dieses in der Rechtssoziologie verwendete Bild erläutert, wie Menschenrechte in eine Gesellschaft diffundieren.
Durch die Arbeit verschiedener gesellschaftlicher Kräfte mit Menschenrechten wird ein Anpassungsprozess des nationalen moralischen Bewusstseins ermöglicht. Im besten Fall kommt
es zu einer Internalisierung und die von diesem Prozess betroffenen Menschenrechte werden
Teil der nationalen Rechtsordnung.
2.
Auswirkungen der UN-BRK auf die deutsche Rechtsprechung
Allgemein findet sich in der Fachdiskussion der Wunsch, die UN-BRK würde in der Rechtsprechung mehr Beachtung finden. 58 Es besteht jedoch ein besonders erwähnenswerter Be-
54
http://juris.ohchr.org/Search/Details/2005 [19.10.2017].
Siehe beispielsweise eine Suche mit dem Begriff „CRPD“ auf der Seite: http://pdok.bundestag.de;
aber auch: Dokumentation der Fachtagung „Menschenrechte in der sozialgerichtlichen Praxis“ des
Deutschen Instituts für Menschenrechte am 6. März 2015 im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin: www.felix-welti.de/MR%20und%20Sozialrecht.pdf. [19.10.2017].
56
Hierzu: Schmid, Das Landeshochschulgesetz Baden-Württemberg und die Verpflichtung gem. Art.
13 des UN-Sozialpaktes, 3. b. bb)., in: Bliemetsrieder, Gebrande, Jaeger, Melter, Schäfferling (Hrsg.),
Bildungsgerechtigkeit und Diskriminierungskritik, 2016.
57
Risse; Ropp; Sikkink (1995): The socialization of international human rights norms into domestic
practices: introduction. In: Risse; Ropp; Sikkink (1995): The Power of Human Rights. International
Norms and Domestic Change. Cambridge: Cambridge University Press, S. 1 ff.; Baer, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung 2011, S. 222.
58
www.felix-welti.de/MR%20und%20Sozialrecht.pdf. [19.10.2017].
55
Alexander Schmid
102
schluss des BVerfG vom 26. Juli 2016, welcher konkret auf die UN-BRK eingeht. 59 Dieser
Beschluss baut auf einer früheren Entscheidung aus dem Jahr 2011 auf, in welcher das
BVerfG die Zwangsbehandlungen im rheinland-pfälzischen Landesgesetz über den MaßregelVollzug für nichtig erklärt hat und dabei auch kurz auf die UN-BRK eingegangen ist. Nach
Ansicht des BVerfG kann die UN-BRK als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt
und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden. 60 In der neueren Entscheidung aus
dem Jahr 2016 prüft das BVerfG nunmehr ausführlich die Frage, ob die UN-BRK der vom
BVerfG festgestellten Pflicht des Staates entgegensteht, dem eines freien Willens nicht fähigen Betreuten in hilfloser Lage Schutz zu gewähren und ihn unter den genannten Voraussetzungen notfalls einer medizinischen Zwangsbehandlung zu unterziehen. Dieser Entscheidung
kommt besondere Bedeutung zu, da anhand dieser gezeigt werden kann, wie die Umsetzung
der UN-BRK durch das Wechselspiel zwischen nationalen, deutschen Grundrechten und Völkerrecht geprägt ist.
Der Entscheidung lag die Situation einer 63-jährige Patientin zugrunde, welche unter anderem
wegen einer schizoaffektiven Psychose behandelt wurde und körperlich stark geschwächt war,
nicht mehr gehen und sich auch nicht selbst mittels eines Rollstuhls fortbewegen konnte. Einen freien Willen, welcher für die Einwilligung der Patientin in ärztliche Maßnahmen notwendig ist, konnte die an Krebs erkrankte Patientin nicht mehr bilden. Sie konnte jedoch im
Rahmen des sogenannten „natürlichen Willens“ ihren Widerstand gegen eine Operation und
eine Chemotherapie kundtun.
Der in § 1906 Abs. 3 BGB verwendete Begriff des „natürlichen Willens“ ist schwierig zu
greifen 61 und hat besondere Relevanz in Hinblick auf die Vereinbarkeit der Zwangsbehandlung mit den Vorgaben der UN-BRK. 62 Dieser Begriff wird in der Literatur wie folgt um-
59
1 BvL 8/15, NJW 2017, 53-60.
BVerfG, Beschluss vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09 –, Rn. 52, juris.
61
Beckmann: Der "natürliche Wille" - ein unnatürliches Rechtskonstrukt, JZ 2013, 604.
62
Hierzu: Masuch, Gmati: Zwangsbehandlung nach dem Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme und UN-Behindertenrechtskonvention NZS
2013, 521. Siehe auch Information der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention zur
Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen; www.institut-fuermenschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Weitere_Publikationen/Informationen_zu_General_Comm
ent_Nr_1_MSt_2015.pdf. [19.10.2017].
60
103
Menschenrechte und Gesundheit
schrieben: „Es geht wohl um eine reflektierte (nicht rein reflexhafte), ausdrückliche oder konkludente Willensäußerung unterhalb der Schwelle der Einwilligungs- oder Geschäftsfähigkeit.“ 63
Da die o.g. Patientin ihren natürlichen Willen gegen die aus medizinsicher Sicht erforderliche
Krebsbehandlung geäußert hatte, musste geprüft werden, ob die Behandlung gem. § 1906
Abs. 3 BGB a.F. unter Zwang durchgeführt werden kann. § 1906 Abs. 3 BGB a.F. sah jedoch
eine solche Zwangsbehandlung nur für Patient_innen vor, die gem. § 1906 Abs. 1 BGB „untergebracht“ waren. Die Patientin konnte sich jedoch nicht aus eigener Kraft fortbewegen und
damit konnte sie nach den Vorgaben des Betreuungsrechtes nicht untergebracht werden, da ja
kein Erfordernis für irgendeine freiheitsbeschränkende Maßnahme bestand.
Vor diesem Hintergrund hat das BVerfG zunächst deutlich gemacht, dass das Grundrecht auf
Leben und körperliche Unversehrtheit nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche
Eingriffe in diese Rechtsgüter gewähre. Sondern dieses Grundrecht stelle zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründe. Danach
habe der Staat die Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen:
„Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber, ein System der Hilfe und des
Schutzes für unter Betreuung stehende Menschen vorzusehen, die in diesem Sinne die
Erforderlichkeit einer medizinischen Behandlung zur Abwehr oder Bekämpfung erheblicher Erkrankungen nicht erkennen oder nicht danach handeln können. Ärztliche Untersuchungs- und Heilmaßnahmen müssen dann in gravierenden Fällen als ultima ratio auch unter Überwindung des entgegenstehenden natürlichen Willens solcher Betreuter vorgenommen werden dürfen. (...) Steht einer in Wahrnehmung dieser Schutzpflicht medizinisch gebotenen Behandlung der natürliche Wille einer nicht einsichtsfähigen Person entgegen, gerät diese Maßnahme allerdings in Konflikt mit ihrem
Selbstbestimmungsrecht und mit ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Dieser
Konflikt zwischen den hier in ihrer Freiheits- und in ihrer Schutzdimension kollidierenden Grundrechten desselben Grundrechtsträgers ist möglichst schonend aufzulösen. Drohen Betreuten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen und überwie-
63
Spickhoff, Medizinrecht, § 1906 BGB, Rn. 14, 2. Auflage 2014.
Alexander Schmid
104
gen die Vorteile eines medizinischen Eingriffs eindeutig gegenüber den damit verbundenen Nachteilen und Risiken, geht jedoch die Schutzpflicht vor, so dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung oder Untersuchung auch gegen den natürlichen Willen der Betreuten vorsehen muss.“ 64
Das BVerfG kommt in dieser Entscheidung zum Ergebnis, dass eine Zwangsbehandlung auch
dann zulässig sein muss, falls eine Person nicht untergebracht werden konnte, da sie sich nicht
mehr fortbewegen kann, aber ansonsten dieselben Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung wie bei einer untergebrachten Person vorliegen.
Nach dieser auf das deutsche Verfassungsrecht bezogenen Argumentation geht das BVerfG
auf völkerrechtliche Verpflichtungen ein. Insbesondere untersucht das BVerfG, ob die UNBRK dem eben genannten Ergebnis entgegensteht:
„Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 23. März 2011 entschieden,
dass die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), (...), kein anderes Ergebnis nahe
legt (vgl. BVerfGE 128, 282, 306 f.). Es hat den Konventionsbestimmungen, die auf Sicherung und Stärkung der Autonomie behinderter Menschen gerichtet sind - insbesondere dem Art. 12 BRK - kein grundsätzliches Verbot für Maßnahmen entnommen, die
gegen den natürlichen Willen Behinderter vorgenommen werden und an eine krankheitsbedingt eingeschränkte Selbstbestimmungsfähigkeit anknüpfen. Denn der Regelungszusammenhang des Art. 12 Abs. 4 BRK, der sich gerade auf Maßnahmen bezieht,
die Betroffene in der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit beschränken,
belegt, dass die Konvention solche Maßnahmen nicht allgemein untersagt, sondern ihre Zulässigkeit unter anderem dadurch beschränkt, dass Art. 12 Abs. 4 BRK die Vertragsstaaten zu geeigneten Sicherungen gegen Interessenkonflikte, Missbrauch und
Missachtung sowie zur Gewährleistung der Verhältnismäßigkeit verpflichtet (vgl.
BVerfGE 128, 282, 307).
Die zwischenzeitlichen Berichte (Art. 39 BRK), Leitlinien (Art. 35 Abs. 3 BRK) und
Empfehlungen (Art. 36 Abs. 1 BRK) des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit
Behinderungen nach Art. 34 BRK zur Auslegung der Konventionsbestimmungen und
insbesondere zur Rechtslage in Deutschland führen zu keiner abweichenden Beurtei-
64
BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 69 ff., juris.
105
Menschenrechte und Gesundheit
lung. Den Äußerungen des für die Abgabe solcher Stellungnahmen zuständigen Ausschusses zur Auslegung eines Menschenrechtsabkommens kommt erhebliches Gewicht
zu, sie sind aber für internationale und nationale Gerichte nicht völkerrechtlich verbindlich (...). Eine Kompetenz zur Fortentwicklung internationaler Abkommen über
Vereinbarungen und die Praxis der Vertragsstaaten hinaus kommt diesen Ausschüssen
nicht zu (...). Es kann dahingestellt bleiben, ob die zu anderen völkerrechtlichen Vereinbarungen ergangenen Aussagen für alle Stellungnahmen des Ausschusses für die
Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung in gleicher Weise gelten.
Jedenfalls ist dem Ausschuss in den Art. 34 ff. BRK kein Mandat zur verbindlichen Interpretation des Vertragstextes übertragen worden. Bei der Vertragsauslegung sollte
sich ein nationales Gericht aber mit den Auffassungen eines zuständigen internationalen Vertragsorgans in gutem Glauben argumentativ auseinandersetzen; es muss sie
aber nicht übernehmen (vgl. - allerdings für Entscheidungen internationaler Gerichte
- BVerfGE 111, 307,317 f; 128, 326,366 ff.,370; stRspr; Christian Tomuschat, Human
Rights Committee, The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Bd. IV,
2012, S. 1058 ,1061, Rn. 14).
Auch in der Sache stehen die Stellungnahmen des Ausschusses der nach deutschem
Verfassungsrecht notfalls gebotenen ärztlichen Zwangsbehandlung nicht entgegen.
Soweit der Ausschuss in seinen Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands vom 13. Mai 2015 (UN Doc. CRPD/C/DEU/CO/1) allgemein
die Regelungen des Betreuungsrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch beanstandet und
unter Verweisung auf seinen Allgemeinen Kommentar Nr. 1 (2014) (UN Doc.
CRPD/C/GC/1 vom 19. Mai 2014) zu Art. 12 BRK fordert, alle ersetzenden Entscheidungen abzuschaffen und ein System der unterstützenden Entscheidung an ihre Stelle
treten zu lassen (ebenda Nr. 25 f.), bleibt seine Kritik im Hinblick auf die hier in Rede
stehenden Fälle medizinischer Zwangsbehandlung unspezifisch. Insbesondere verhält
sie sich nicht zu der im vorgelegten Fall maßgeblichen Frage eines gänzlich fehlenden
freien Willens des Behinderten in einer medizinischen Notsituation. Entsprechendes
gilt für die Leitlinien des Ausschusses zur Auslegung des Art. 14 BRK vom September
2015 (abrufbar unter www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CRPD/GC/Guidelines Article14.doc, zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2016). In ihnen betont der Ausschuss, dass
bei Menschen mit Behinderungen keine Maßnahme der Gesundheitsversorgung vor-
Alexander Schmid
106
genommen werden darf, wenn sie nicht auf dem freien und informierten Einverständnis der betroffenen Person beruht (ebenda Nr. 11). Der Ausschuss fordert die Staaten
deshalb auf, jede Form der Zwangsbehandlung aufzugeben (ebenda Nr. 12). Auch hier
gibt der Ausschuss keine Antwort auf die Frage, was nach seinem Verständnis des
Vertragstextes mit Menschen geschehen soll, die keinen freien Willen bilden können
und sich in hilfloser Lage befinden. Es spricht auch unter Berücksichtigung der Stellungnahmen des Ausschusses nichts dafür, dass diese Menschen nach Text und Geist
der Behindertenrechtskonvention ihrem Schicksal überlassen werden sollten und die
Konvention auch unter den hier von Verfassungs wegen geforderten strengen Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung entgegen steht, zumal auch nach den vorstehend
dargelegten Forderungen des Verfassungsrechts und den geltenden Regeln des Betreuungsrechts das nationale Recht in Übereinstimmung mit der Behindertenrechtskonvention dem Grundsatz des Vorrangs des - gegebenenfalls unterstützten - Willens
des Behinderten folgt.“ 65
Nachfolgend zu dieser Argumentation geht das BVerfG auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
ein:
„Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt
sich aus Art. 8 EMRK ein Recht, sein Leben so zu leben, wie man es selbst bestimmt
hat. Das schließt auch die Möglichkeit ein, Dinge zu tun, die körperlich schädlich oder
gefährlich sind. Die ärztliche Behandlung gegen den Willen von erwachsenen Patienten, die im Besitz ihrer geistigen Kräfte sind, würde selbst dann in die körperliche Integrität eingreifen und damit in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte, wenn die
Ablehnung der Behandlung den Tod zur Folge hätte (...Hinweise auf Rspr. EGMR...).
Voraussetzung dafür, dass Staat und Gesellschaft auch eine nach objektiven Maßstäben unvernünftige und eventuell zum Tod führende Entscheidung akzeptieren müssen,
ist danach jedoch stets, dass diese auf dem Willen einer erwachsenen Person beruht,
die im Besitz ihrer geistigen Kräfte ist. Trifft eine Person aber die Entscheidung nicht
freien Willens und bei vollem Verständnis der Umstände, nimmt der Europäische Ge-
65
BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 88 ff., juris.
107
Menschenrechte und Gesundheit
richtshof für Menschenrechte eine aus Art. 2 EMRK abgeleitete Verpflichtung des
Staates an, diese Person davon abzuhalten, ihr Leben zu riskieren (...). Lehnt ein Patient eine medizinisch indizierte Behandlung ab, mit der Folge, dass sein Leben dadurch
gefährdet wird, hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Staat für
verpflichtet, hinreichende Vorkehrungen zu treffen, damit die behandelnden Ärzte
beim Vorliegen von Indizien, die auf einen fehlenden freien Willen hindeuten, die Entscheidungsfähigkeit der betroffenen Person weiter aufklären (...). Ein Widerspruch der
Europäischen Menschenrechtskonvention zu dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unter
den dargelegten Bedingungen folgenden Gebot einer medizinischen Zwangsbehandlung hilfsbedürftiger Betreuter (oben a bb, Rn. 71 ff.) kann Art. 2, 8 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof danach nicht entnommen
werden.“ 66
Aufgrund dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber § 1906 BGB im Juni 2017 so geändert,
dass nunmehr auch Personen, die nicht untergebracht sind, sich aber im Rahmen einer stationären Einrichtung nicht selbst fortbewegen können, einer Zwangsbehandlung unterzogen
werden können. 67 Sowohl in § 1906 Abs. 3 BGB a.F. als auch in der Neureglung ist eine
Zwangsbehandlung nur als ultima ratio zulässig.
3.
Zwischenstand auf dem Weg zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland
Damit ist in der juristischen Diskussion durch die Rechtsprechung und die eben erwähnte Gesetzesänderung 68 ein Zwischenstand auf dem Weg zur Umsetzung der UN-BRK in deutsches
Recht erreicht. Die an der UN-BRK orientierte fachwissenschaftliche, insbesondere juristische und medizinische Diskussion über die Zulässigkeit der Zwangsbehandlung und deren
konkrete Umsetzung ist damit nicht zu Ende. 69 Wir befinden uns vielmehr auf einer weiteren
66
BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 99 ff., juris.
http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/795/79586.html [19.10.2017].
68
Siehe hierzu auch: Antwort der Bundesregierung auf eine „Kleine Anfrage“ zu „Die Ausübung von
Zwang in psychiatrischen Einrichtungen“, BtDrs. 18/11259,
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/116/1811619.pdf [19.10.2017].
69
Siehe beispielsweise die Tagungen des Betreuungsgerichtstages und die Stellungnahmen des BGT:
www.bgt-ev.de/fileadmin/Mediendatenbank/Stellungnahmen/201567
Alexander Schmid
108
Windung der oben erwähnten Diffusionsspirale. Dieser Gewindegang wird durch den nächsten Staatenbericht über die Umsetzung der UN-BRK, den Parallelbericht der MonitoringStelle und nicht zuletzt durch die Empfehlungen und Berichte des UN-Ausschusses beeinflusst werden.
Ziel dieses aus einem Vortrag entstandenen Beitrages kann es daher auch nicht sein, die eben
angesprochenen Fragen abschließend zu bearbeiten. Vielmehr sollte an diesem Beispiel die
Bedeutung der konkreten Arbeit mit Menschenrechten für die Weiterentwicklung der Rechtsprechung und Gesetzgebung sein. In sehr erfreulicher Weise hat das BVerfG in der o.g. Entscheidung die zentrale Bedeutung der UN-BRK und die Arbeit des UN-Ausschusses herausgestellt. Zumindest bei der Auslegung des deutschen Rechts muss auch die Praxis diese Vorgaben beachten.
4.
Weitere Fragestellungen
Gerade in der Praxis der Zwangsbehandlung werden aber von der Zentralen Ethikkommission
der Bundesärztekammer Mängel benannt. 70 In diesem Zusammenhang ist auch die Stellungnahme eines Chefarztes im Rahmen des o.g. Gesetzgebungsverfahrens zur Neuregelung der
Zwangsbehandlung beachtenswert. Darin wird belegt, dass mit ausreichenden Ressourcen
Zwangsbehandlungen tatsächlich nur noch in wenigen Einzelfällen vorgenommen werden. 71
Allgemein stellt sich auch hier die Frage, in wieweit § 630 e Abs. 5 BGB in der Praxis angewendet wird:
„Im Fall des § 630d Absatz 1 Satz 2 (Hinweis d.Verf: einwilligungsunfähiger Patient)
sind die wesentlichen Umstände nach Absatz 1 auch dem Patienten entsprechend seinem Verständnis zu erläutern, soweit dieser aufgrund seines Entwicklungsstandes und
2017/170416_Aenderung_materieller_Zulaessigkeitsvoraussetzungen.pdf; www.bgtev.de/unterbringung.html [19.10.2017].
70
www.bgtev.de/fileadmin/Mediendatenbank/Themen/Unterbringung/Stellungnahme_Zentrale_Kommission.pdf,
[19.10.2017] Dt. Äbl. 2013, A 1335.
71
Zinkler, Kliniken Landkreis Heidenheim gGmbH Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Stellungnahme zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur
Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten - BT-Drucksache 18/11240, 20.04.2017;
www.bundestag.de/blob/504234/da0474e0d034610f8ff4ec87ba87b43f/zinkler-data.pdf [19.10.2017].
109
Menschenrechte und Gesundheit
seiner Verständnismöglichkeiten in der Lage ist, die Erläuterung aufzunehmen, und
soweit dies seinem Wohl nicht zuwiderläuft. (...)“
Das BVerfG hat zudem die Aufgaben benannt, die für die weitere Entwicklung der Menschenrechte im Bereich der Zwangsbehandlung wichtig sind. Zwar hat der UN-Ausschuss
betont, dass bei Menschen mit Behinderungen keine Maßnahme der Gesundheitsversorgung
vorgenommen werden darf, wenn sie nicht auf dem freien und informierten Einverständnis
der betroffenen Person beruht, im Text des Ausschusses gibt es jedoch keine Antwort auf die
Frage, was nach seinem Verständnis des Vertragstextes mit Menschen geschehen soll, die
keinen freien Willen bilden können und sich in hilfloser Lage befinden. 72 Eine der Fragen, die
sich hier stellen, ist diejenige nach den Möglichkeiten der unterstützten Entscheidungsfindung
im Betreuungsrecht. 73 Eine weitere Frage erforscht, welchen Stellenwert Vorausplanung und
Vorausverfügungen in der Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen haben und
damit Zwangsbehandlungen vermieden oder zumindest eingeschränkt werden können. 74 Keinesfalls vergessen werden dürfen dabei die Sicht und die Erfahrungen der Betroffenen. 75
III.
Ausblick
Auch wenn der Menschenrechtsschutz in Deutschland einen hohen Standard besitzt, darf die
Arbeit mit den Menschenrechten nicht vernachlässigt werden. Gerade das Verfahren zu den
Staatenberichten zeigt, wie wichtig der Austausch der nationalen Sichtweise mit der internationalen Ebene ist. Es bleibt zu hoffen, dass die wichtige Auseinandersetzung des BVerfG mit
den Vorgaben der UN-BRK zu Zwangsbehandlungen fortgeführt und damit sowohl national
als auch international die Rechtsentwicklung vorangebracht wird. Es muss zudem darauf geachtet werden, dass Menschenrechte in allen relevanten Gesetzgebungsprozessen Beachtung
72
Siehe oben und: BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, Rn. 99 ff., juris.
Mayrhofer, Modelle unterstützter Entscheidungsfindung Beispiele guter Praxis aus Kanada und
Schweden,
www.irks.at/assets/irks/IRKS_WP16_Unterstützte-Entscheidungsfindung.pdf; Siehe auch: Unterstützen und Vertreten, Positionspapier des Betreuungsgerichtstages e. V; Bühler; Stolz; Ärztliche Behandlung und „unterstützte Entscheidungsfindung“ – Betreuung entbehrlich?, BtPrax 2017, 167-172
https://btdirekt.de/images/dateien_pdf/Unterstuetzen_Vertreten_140915.pdf [19.10.2017].
74
Borbé, Behandlungsvereinbarungen, Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen, in: Zinkler
(Hrsg.); Laupichler (Hrsg.); Osterfeld (Hrsg.); Prävention von Zwangsmaßnahmen (2016), S. 199 ff.
75
www.psychiatrie-erfahrene-nrw.de/politisches/abschaffung_zwangsbehandlung.html [19.10.2017]
www.bpe-online.de [19.10.2017].
73
Alexander Schmid
110
finden und in die Begründung von Gesetzesentwürfen aufgenommen werden. Sinnvoll wäre
ein regelhaft zu berücksichtigender Gliederungspunkt in Gesetzesbegründungen, ob und in
wieweit Menschenrechte vom aktuellen Gesetzesvorhaben berührt werden. In der Praxis ist
darüber hinaus die Bedeutung der Menschenrechte sowohl für die Auslegung der nationalen
Rechtsvorschriften als auch für die Ermessensentscheidungen der Verwaltung zu stärken.
Soziale Diagnostik und sozialpädagogisches
Fallverstehen (Forschungskolloquium)
Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen
Sozialarbeit
Julia Gebrande
1. Klinische Sozialarbeit
Die Soziale Arbeit ist – wie in diesem Band deutlich wird – eine wichtige Profession und Disziplin in der Sozialpsychiatrie und in vielen weiteren Arbeitsfeldern des Gesundheitswesens.
Allgemeine Konzepte Sozialer Arbeit bedürfen für ihre Praxis im Umgang mit Gesundheit
und Krankheit der Entwicklung einer besonderen fachlichen Spezialisierung, um den Anforderungen einer psychosozialen Beratung, Behandlung und Prävention gerecht zu werden. Aus
diesem Grund wurde analog zur ‚Klinischen Psychologie‘ der Begriff der ‚Klinischen Sozialarbeit‘ entwickelt, um eine Fachsozialarbeit zu beschreiben. Es handelt sich also nicht (einem
verbreiteten Missverständnis zur Folge) um eine Soziale Arbeit in der Klinik, sondern um
jede „direkt beratend-behandelnde Tätigkeit in der Fallarbeit, unabhängig davon, ob dies in
Praxen, ambulanten Beratungsstellen, in Tageseinrichtungen oder in Kliniken und Langzeiteinrichtungen stationär erfolgt“ (Pauls 2013, S.16).
Von Klinischer Sozialarbeit wird ganz allgemein also dann gesprochen, „wenn die Soziale
Arbeit in Behandlungskontexten erfolgt und eigene Beratungs- und Behandlungsaufgaben
wahrnimmt. Ausgehend von einem bio- psycho- sozialen Grundverständnis von Gesundheit,
Störung, Krankheit und Behinderung liegt ihr Fokus auf der psychosozialen Diagnostik, Beratung und Behandlung von Personen im Kontext ihrer Lebenswelt.“ (Sektion Klinische Sozialarbeit, 2017) Klinische Sozialarbeiter_innen handeln dabei in einem breiten Spektrum von
gesundheitsrelevanten Themen: Zielgruppen Klinischer Sozialarbeit sind Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie mit chronischen körperlichen Krankheiten und Behinderungen,
Gewaltopfer und Gewalttäter, traumatisierte Personen (z. B. nach Gewalterfahrung oder
Missbrauch) bzw. ganz allgemein Menschen in schweren Belastungen und Krisen, deren Be-
113
Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit
dürfnisse nach Zuwendung und Unterstützung, nach Aufklärung, Begleitung, Beratung und
Behandlung im Zentrum stehen. 1
„Nötig sind dafür Wissen, Können und eine professionelle Haltung; diese muss ‚klinisch‘ in dem Sinne
sein, dass der diagnostische Blick und eine therapeutische ‚Awareness‘ zum Habitus wird, – ohne die
Person zum Objekt zu machen und ohne ihre soziale Einbettung zu vernachlässigen.“ (Sektion Klinische Sozialarbeit, 2017)
Nach Pauls (2013, S. 16) bestehen die Ziele der Klinischen Sozialarbeit in der Förderung sowie der Verbesserung oder Erhaltung der psychosozialen Funktionsfähigkeit von Individuen,
Familien und Gruppen.
Durch ihren Fokus auf „lebenspraktische Hilfen, die zu einer positiven Veränderung von
Wohn-, Arbeits- und Beziehungsverhältnissen beitragen“ (Mosser & Schlingmann 2013,
S.14) können, stellt die Soziale Arbeit im Gesundheitswesen und insbesondere die Klinische
Sozialarbeit eine wichtige Ergänzung zu den traditionellen Perspektiven auf Gesundheit und
Krankheit dar, die sich allerdings bislang nicht in der gesellschaftlichen Anerkennung und
entsprechenden Bezahlung im Vergleich zu den offiziell anerkannten Heilberufen (wie
Arzt/Ärztin, Psychiater/Psychiaterin, Psychotherapeut/Psychotherapeutin) niederschlägt. Hintergrund sind die traditionell tendenziell unterschiedlichen Logiken, Herangehensweisen, Methodologien und Forschungstraditionen der Handlungsfelder der Sozialen Arbeit im Vergleich
zu den Handlungsfeldern von Psychiatrie und Psychologie. Während die psychiatrischpsychologische Forschung eher komplexitätsreduzierend, symptom- und ergebniszentriert
vorgeht, versucht die sozialarbeiterische bzw. sozialpädagogische Forschung eher, die Komplexität zu erhalten, den Einzelfall zu berücksichtigen sowie system- und prozessorientiert zu
handeln (Schmid 2012, S. 110ff; Gebrande 2017c, S. 316ff), wie nachfolgende pointierte Gegenüberstellung verdeutlicht.
1
Es existieren viele Begrifflichkeiten und Definitionen, die die Zugänge, Arbeitsansätze, Konzepte
und Methoden der Klinischen Sozialarbeit konkretisieren, wie beispielsweise Sozialtherapie, Soziale
Therapie, Soziotherapie oder soziale Interventionen. In manchen Arbeitsfeldern haben sich bestimmte
Bezeichnungen stärker durchgesetzt (wie z.B. in der Behandlung von Sucht und Abhängigkeit, in der
die Soziale Arbeit mit der Sozialtherapie traditionell stark verankert ist), teilweise werden sie aber
auch synonym verwandt.
Julia Gebrande
114
Tabelle 1: Sozialpädagogische und psychiatrisch-psychologische Forschungstradition
(Schmid 2012, S. 111)
Daraus leitet sich meines Erachtens auch direkt die erweiterte Mandatierung der Sozialen Arbeit ab, die sowohl die personenzentrierte Hilfe für den Einzelnen (im Sinne einer Fokussierung des Verhaltens) als auch die Änderungen der Lebensbedingungen und der Gesellschaft
(im Sinne einer Fokussierung der Verhältnisse) beinhaltet. Soziale Arbeit findet sich somit in
einem Spannungsverhältnis unterschiedlicher Aufträge: Einerseits soll sie gesellschaftliche
Befriedung herstellen, gesellschaftliche Funktionen stabilisieren und Menschen in die Gesellschaftsverhältnisse einpassen. Andererseits geht es um Teilhabe und faire Bedingungen, indem die Gesellschaft diskriminierungs-, herrschaftskritisch, gerechtigkeits- und menschenrechtsorientiert verändert wird (Gebrande/Melter/Bliemetsrieder 2017, S. 390ff). Silvia StaubBernasconi hat dieses berufliche Doppelmandat zum professionellen Tripelmandat erweitert.
Das dritte Mandat Sozialer Arbeit stellt den wissenschaftlichen und politischen Anspruch,
dass Soziale Arbeit für eine gerechtere Welt und für die Entfaltung der Menschen agieren soll.
Es umfasst daher einerseits eine Wissenschaftsbasierung ihrer Arbeitsweisen sowie andererseits den gesetzlichen Auftrag in Grundgesetz und den Sozialgesetzen sowie dem internationalen Code of Ethics, dessen Kern die Menschenwürde, die Menschenrechte und das Prinzip
der sozialen Gerechtigkeit bilden (vgl. Staub-Bernasconi 2010, S. 198 ff.).
Eine Klinische Sozialarbeit benötigt daher Wissen und Fertigkeiten, die eine kritische Nutzung von phänomenologischen, deskriptiven Verfahren der klassifikatorischen Diagnostik mit
115
Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit
dialogisch orientierten Aspekten von Biographie und Lebenswelt kombinieren (vgl. auch
Gahleitner u. a. 2014, Gebrande 2017b). Ein Beispiel für die klassifikatorische Diagnostik ist
die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme in der 10. Revision (ICD-10). Zu Recht wird sie für Normalitätskonstruktionen,
Ethnozentrismen sowie für die Prägung durch Macht- und Lobbyinteressen kritisiert. Nichts
desto trotz stellt sie aber eine wichtige Grundlage für relevante Hilfeentscheidungen und Finanzierungsprozesse im deutschen Gesundheitssystem und damit auch für die Soziale Arbeit
mit Menschen mit Erkrankungen dar (vgl. Gahleitner u. a. 2014, DIMDI 2016). Sozialarbeitende benötigen für Kooperationen im Gesundheitswesen auf Augenhöhe Grundkenntnisse
über diagnostische Verfahren und Klassifikationssysteme, gleichzeitig sollten sie aber auch
einen kritischen Blick auf die Gefahren einer Vereindeutigung und Stigmatisierung durch
Diagnosen werfen und ihre ergänzende, ganzheitliche Perspektive auf die Menschen in ihren
sozialen Beziehungen und in ihren gesellschaftlichen Verwobenheiten einbringen.
Es ist in der Klinischen Sozialarbeit zentral, ganzheitlich vorzugehen und unterschiedliche
Perspektiven zu berücksichtigen, um einen umfassenden Bewältigungs- bzw. Heilungsprozess
in die Wege zu leiten. Dabei sollten fachliche Aspekte eines biopsychosozialen Gesundheitsmodells ebenso einfließen wie die Perspektive der Betroffenen selbst als auch die ihres sozialen Umfeldes. Im Folgenden möchte ich am Beispiel der Diagnostik der Posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS) das Spannungsverhältnis und die Vor- und Nachteile von Diagnostik verdeutlichen.
2. Die Geschichte der Anerkennung der Folgen von Traumatisierung
Ein Blick in die Geschichte zeigt das Wechselspiel zwischen der Thematisierung und der Tabuisierung von Traumatisierungen. Die amerikanische Psychiaterin und Professorin an der
Harvard Medical School Judith Lewis Herman beschrieb schon in den 1990er Jahren eine
„periodische Amnesie“, wonach auf „Zeiten intensiver Forschungstätigkeit […] immer wieder
Zeiten [folgten], in denen das Thema in Vergessenheit geriet“ (Herman 1994, S.17). Ihren
Ausführungen zufolge lassen sich diese Wellenbewegungen auf die zentrale Dialektik des
psychischen Traumas zurückführen. Sie besteht aus dem Konflikt „zwischen dem Wunsch,
schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen“ (Herman
1994, S.9); dieser Konflikt wirkt nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene. Bereits Sigmund Freud, der Pionier der Psychoanalyse, entdeckte beispielsweise
Julia Gebrande
116
in seinen frühen Jahren die Ursachen der Hysterie aufgrund der Erfahrungen mit seinen (meist
weiblichen) Patientinnen und postulierte sie als Folge von realer sexueller Traumatisierung.
Er stellte „die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich […] ein oder
mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören.“
(Freud 1896, S.439) Aufgrund der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Ablehnung sowie den „drastischen sozialen Konsequenzen“ (Herman 1994, S. 26) nahm er seine Überlegungen aber wieder zurück und entwickelte stattdessen seine Theorie, wonach die Berichte
seiner Patientinnen Produkte inzestuöser, frühkindlicher Phantasien seien. Mit dieser Abkehr
von der Behauptung, dass sexuelle Übergriffe Realität und Alltag sind, konnte er seine Reputation retten und „aus den Trümmern seiner Theorie zur Entstehung der Hysterie durch frühe
Traumatisierung“ die Psychoanalyse und seine Triebtheorie schaffen (Herman 1994, S. 27).
In der Folge waren Traumatisierungen durch sexualisierte Gewalterfahrungen wieder ein Tabu. Genauer gesagt: Nicht der sexuelle Missbrauch, sondern die Thematisierung desselben
war ein Tabu (Enders 2014, S.11; Gebrande 2017a, S. 301).
Auch
die
Traumatisierungen
durch
Opfer-
und
Tätererfahrungen
von Soldaten, die durch die Kriege im 20. Jahrhundert entstanden sind, wurden lange Zeit
geleugnet. Obwohl die Männer, die in den Schützengräben die Schrecken des Krieges erlebt
hatten, in erschreckend hoher Zahl zusammenbrachen und „ein der Hysterie sehr ähnliches
neurotisches Syndrom“ (Herman 1994, S. 35) entwickelten, wurden Soldaten mit Symptomen
posttraumatischer Belastung (sogenannter „Kriegsneurosen“) sowohl im ersten und zweiten
Weltkrieg
als
auch
später
im
Vietnamkrieg
als
„Drückeberger“,
„Feiglinge“ oder „Rentenjäger“ verunglimpft und es wurde der Zusammenhang von körperlichen und psychischen Verletzungen infrage gestellt. Die Folge dieser Tabuisierung männlicher Schwäche war, dass psychisch verwundete Soldaten eher als „Deserteure“ und „Verräter“ betrachtet wurden und ihnen eine Anerkennung als „Patienten“ verwehrt wurde. Gegen
diese Vorstellungen und Praktiken gab es aber zunehmend Widerstand: Die Vereinigung der
Vietnamveteranen verschaffte sich in den USA mehr und mehr Gehör (Herman 1994, S. 34
ff).
Ebenso stellte die Forschung zu Überlebenden der Shoah den linearen Zusammenhang der
psychischen Zerstörung durch die Erfahrung von realem Horror in den Konzentrationslagern
der Nazis dar. Unter dem Begriff des sogenannten „survivor-syndrome“ konnte der Nachweis
einer Kausalbeziehung zwischen traumatischen Erfahrungen und psychischen Folgen ein-
Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit
117
drücklich belegt werden. In der Wissenschaft und insbesondere im Gesundheitswesen wurden
diese Forschungen allerdings ignoriert oder bestritten. Gutachten konservativer deutscher
Psychiater sahen die Gründe für psychische Auffälligkeiten eher in der „schwachen Konstitution” der Überlebenden als in den traumatisierenden Erlebnissen. (Niederland 1980; Kestenberg 2016)
Eine gemeinsame Initiative der amerikanischen Frauenbewegung, die seit den 1970er Jahren
auf die traumatischen Folgen der alltäglichen häuslichen, körperlichen und sexualisierten
Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam gemacht hat und der Vereinigung der Vietnamveteranen kämpfte für die Anerkennung der „Posttraumatischen Belastungsstörung
(PTBS)“ 2 als psychische Störung. Für sie war klar:
„Vergewaltigungsopfer und Kriegsveteranen, mißhandelte Frauen und politische Gefangene, Inzestopfer und Geiseln, Menschen, die in Konzentrationslagern überlebt haben oder Menschen, die dem privaten Terror eines allmächtigen Familiendespoten ausgeliefert waren – sie alle haben etwas gemeinsam.
Sie alle leiden an den Folgen ihrer traumatischen Erfahrungen, und sie weisen – so unterschiedlich sie
im einzelnen [sic!] die Gewalteinwirkung auch erlebt haben mögen – eine große Anzahl identischer
Symptome auf: ein Leidensmuster, das geprägt ist von Angst und Hilflosigkeit, von Alpträumen, Depression und Selbstverlust, von Schlaflosigkeit und Panikattacken und vor allem von einem fast unüberwindlichen Scham- und Schuldgefühl.“ (Herman 1994, Umschlagtext)
Der griechische Begriff Trauma, der zunächst einmal einfach „Wunde“ bedeutet, kann nicht
nur körperliche, sondern auch seelische Verwundungen (Psychotrauma) beschreiben. Doch
erst 1980 fand die Diagnose erstmals Eingang in das international bedeutsame amerikanische
Diagnose-Manual DSM III, das von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben wird und 1991 zog die International Classification of Diseases (ICD-10) der WHO
nach. In beiden Manualen ist sie die einzige Störung, in der die Ätiologie zur Diagnose dazugehört: Eine PTBS kann nur dann diagnostiziert werden, wenn ein traumatisches Erlebnis (AKriterium nach F 43.1, ICD 10) vorliegt, das als „ein Ereignis außergewöhnlicher
hung 3“ definiert wird, „das bei nahezu jedem Menschen tiefgreifende Verzweiflung auslösen
würde“ (DIMDI 2016).
2
Posttraumatic Stress Disorder (PTSD).
Herman stellt in diesem Zusammenhang klar, dass traumatische Ereignisse nicht deshalb außergewöhnlich sind, „weil sie selten sind, sondern weil sie die normalen Anpassungsstrategien des Menschen überfordern“ (Herman, 1994, S. 53).
3
Julia Gebrande
118
Damit wurde „endlich anerkannt, dass Ereignisse wie Krieg, Verfolgung und Naturkatastrophen – selbst bei physischer Unversehrtheit – schwerwiegende psychische Folgen nach sich
ziehen können. Behandlungszentren für Traumaopfer existieren inzwischen in fast allen reichen Ländern. Aber auch in den Kriegs- und Krisengebieten sind im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit unzählige Projekte entstanden, die versuchen, den Traumatisierten zu
helfen.“ (Becker 2014, S.7)
Die Psychotraumatologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit den Folgen und
Behandlungsmöglichkeiten eines psychischen Traumas befasst. Dabei ist die Haltung der
Fachkräfte ganz entscheidend für die Unterstützung des Heilungsprozesses. Eine zentrale
Botschaft sollte die Arbeit mit traumatisierten Menschen prägen: Traumatisiert worden zu
sein, ist an und für sich keine Störung oder Krankheit. Menschen, die eine traumatische Situation erleben mussten, die überlebt haben, brauchen in ihrem Verarbeitungsprozess kritisch
ambitionierte Unterstützung durch ein Netzwerk von unterschiedlichen Berufsgruppen (Gebrande 2017b, S. 65).
„Viele Menschen erholen sich von alleine oder mit pädagogischer, beraterischer und/oder medizinischer
sowie therapeutischer Unterstützung. Wenn sie aber mit ihrer traumatischen Erfahrung alleine gelassen
werden und ihr Leid nicht als Unrecht anerkannt wird, dann steigt die Missachtung und Gefährdung ihrer physischen, psychischen, kognitiven, moralischen, sozialen und rechtlichen Integrität.“ (Gebrande
2017b, S. 65)
Alle Berufsgruppen im Gesundheitswesen sind hier in der Pflicht, ihren Beitrag für die Versorgung, Behandlung und Anerkennung traumatisierter Menschen zu leisten. Entgegen der
Wahrnehmung in der Öffentlichkeit erfüllt die Klinische Sozialarbeit mit ihren Handlungsansätzen, Konzepten und Methoden der traumasensiblen, psychosozialen Beratung, der
Traumapädagogik und der Stabilisierung in den breitgefächerten Arbeitsfeldern des Gesundheitswesen, der Sozialpsychiatrie und der Beratungs- und Anlaufstellen einen Hauptanteil an
der Arbeit mit traumatisierten Menschen. 4 (Gahleitner 2011)
4
Lange Zeit standen die Psychiatrie und Psychotherapie für die Arbeit mit Traumatisierten weitgehend
alleine in der Verantwortung und bis heute existiert die Vorstellung, dass alleine eine Traumatherapie
„wirklich helfen“ könne, aber durch die Erkenntnis des hohen Stellenwertes des Alltags für die Stabilisierung rückte nach und nach die Soziale Arbeit und die (Trauma-)Pädagogik in den Fokus. Denn
nach Handtke (2012) könne Stabilisierung überall stattfinden, und mit jeder Stabilisierung im Alltag
würde auch die Integration der Traumaerinnerungen vorangetrieben. Es ist daher an der Zeit, „sich von
einer Sichtweise zu verabschieden, der zufolge sozialarbeiterische Hilfen dem medizinischen System
‚zuarbeiten‘ müssen“ (Mosser & Schlingmann 2013).
Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit
119
3. Vor- und Nachteile von Klassifikationen
An dieser Geschichte um den langwierigen Kampf für die Anerkennung von Leiden, die
durch Krieg, Verfolgung, Folter, Gewalt oder andere von Menschenhand absichtlich herbeigeführte Verletzungen entstanden sind 5, kann deutlich abgelesen werden, wie wichtig für
Überlebende die gesellschaftliche Anerkennung für den individuellen Heilungsprozess ist.
Fischer und Riedesser weisen in diesem Zusammenhang auf die soziale Dimension von
Traumata hin:
„Unterliegen diese [die traumatischen Erfahrungen, Anmerkung JG] der gesellschaftlichen Verdrängung, Ausgrenzung oder gar Missachtung, weil sie durch ihr Leid an die „Katastrophe“ erinnern, so ist
für sie die traumatische Situation noch keineswegs beendet“ (Fischer & Riedesser 2009, S. 65f.).
Daher können auch Diagnosen zur Anerkennung von Leid beitragen, wenn sie nicht benutzt
werden, um die traumatischen Erfahrungen und das daraus entstandene Leid zu individualisieren, zu pathologisieren und zu entpolitisieren. Folglich ist die Diagnose zunächst einmal ein
wichtiger Bezugspunkt, denn „nur über sie gibt es eine ‚offizielle‘ Anerkennung für Leiden
durch Gewaltfolgen“ (Brenssell 2013, S.6).
Zudem sind an Diagnosen entlang der internationalen Klassifikationssysteme mögliche Leistungsansprüche im Sozial- und Gesundheitsrecht gekoppelt und entscheiden beispielsweise
über Kostenübernahmen von (Trauma-)Therapien durch die Krankenkassen oder Rententräger. Weitere Vorteile können in der Orientierung und Reduktion von Komplexität und der
(scheinbaren) Eindeutigkeit von Diagnosen bestehen, was zu einer Minderung von Angst und
Verunsicherung beitragen kann (Ningel 2011). Die Vermittlung von Wissen und Informationen, um ein Verständnis und einen besseren Umgang mit einer Krankheit oder einer aktuellen
Belastungssituation zu fördern und die Bewältigung zu unterstützen, wird als „Psychoedukation“ bezeichnet. Symptome, Reaktionen oder Verhalten nach Traumatisierungen werden häufig als beängstigend, unverständlich oder auch beschämend empfunden. Dieses zu verstehen
5
Diese Verletzungen (sogenannte man-made-Traumata) hinterlassen aktuellen Forschungen zufolge
auch tiefere psychische Wunden als akzidentelle, unabsichtliche Traumatisierungen wie sie beispielsweise durch einen Unfall oder eine Naturkatastrophe entstehen können (DeGPT, o.J.). Die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) hat gemeinsam mit der Elfriede-DietrichStiftung ein dreiteiliges Filmprojekt erstellt, der Betroffene und Angehörige, professionelle Helfende
und die Öffentlichkeit über Traumata sensibilisiert und informiert (http://www.e-dietrichstiftung.de/das-filmprojekt.html).
Julia Gebrande
120
und richtig einzuordnen, wird deshalb oft als hilfreich und entlastend erlebt 6 (vgl.
Liedl/Schäfer/Knaevelsrud 2013, Gebrande 2017c).
Genaue Diagnosen ermöglichen zudem die Ableitung von Behandlungsmaßnahmen, die Berücksichtigung von Kontraindikationen sowie die Bestimmung möglicher Prognosen. Last but
not least stellen sie eine Verständigungsbasis zwischen Expert_innen und Adressat_innen
sowie dem Umfeld (Institutionen/Forschung) her und ermöglichen internationalen Austausch
und Forschung. Sie sind damit eine wichtige Grundlage für Lehre, Wissenschaft und Forschung (Ningel 2011).
Gleichzeitig müssen aber auch die Grenzen und Gefahren durch Klassifikationen betrachtet
werden: Die scheinbare Eindeutigkeit psychischer Störungen wird der Komplexität psychischer Erkrankungen nicht gerecht und suggeriert eine Abgrenzung der Störungen untereinander und vom "Normalen", die in dieser Form gar nicht existieren kann, da die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung immer fließend sind und stark durch gesellschaftliche
Werte und Normen beeinflusst werden, die sich immer wieder verändern. 7 Hinzu kommt ein
bis heute mangelndes Wissen über die Entstehung (Ätiologie) psychischer Abweichungen.
Insgesamt werden auch die Qualitätskriterien von Diagnostik kritisch beurteilt: So können
eine mangelnde Validität und Zuverlässigkeit sowie eine mangelnde (Interrater-)Reliabilität
zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen und Interpretationen führen (Ningel 2011). Die
medizinisch orientierte Diagnosepraxis von traumatischen Belastungen führt in mehreren Dimensionen zu einer Reduktion und diagnostische Instrumente können die Komplexität des
Zusammenspiels von (traumatischen) Lebensereignissen, subjektiver Belastung und daraus
entstehenden Auswirkungen gar nicht erfassen. Ein Trauma wäre demzufolge das, „was die
Erhebungsinstrumente zur Erfassung der posttraumatischen Belastungsstörung messen“
(Mosser & Schlingmann 2013, S.7).
Auch die allgemeine Ausrichtung und einseitige Perspektive der (Psycho-)Pathologie wird
angefragt – wo bleibt der Blick auf die Stärken und Ressourcen, wenn immer nur auf das Fehlende, Abweichende, Mangelhafte oder gar Gestörte gerichtet wird? So müssen natürlich auch
6
Gleichzeitig kann aber auch diese Intervention zu einer Hierarchisierung beitragen und birgt „die
Gefahr einer Art ‚Entmündigung‘ hilfesuchender Menschen“ (siehe dazu auch Mosser & Schlingmann
2013; Gebrande 2017c).
7
Beispielsweise wurde Homosexualität bis 1973 von der American Psychiatric Association (APA) in
ihrem Manual der psychischen Störungen (DSM) und sogar bis 1992 von der WHO in der International Classification of Diseases (ICD) als Diagnose einer psychischen Störung geführt.
Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit
121
Prozesse der Stigmatisierung und mögliche Auswirkungen im Sinne sich selbsterfüllender
Prophezeiungen in den Blick genommen werden, wenn über Sinn und Zweck von Diagnostik
verhandelt wird. Gerade durch die (scheinbar) eindeutige Klassifikation kann es zu einer Verschärfung von Vorurteilen, Diskriminierung und Exklusion für Betroffene kommen und daher
kann eine Diagnose auch Angst und Verunsicherung verstärken (Ningel 2011).
Zudem hat es natürlich auch Folgen für die Beziehung im Sinne hierarchischer Machtgefälle.
Wer hat die Expertise und die Macht, abweichendes Verhalten zu diagnostizieren? Was macht
diese Etikettierung mit Betroffenen? (Ningel 2011) So pointiert Weber seine Forderung nach
Selbstbestimmung und Autonomie:
„Wer die ganz auf das professionelle Handeln zugeschnittene Klinik betritt, begibt sich in die Obhut der
Ärzte und vertraut sich fast von selbst deren Handlungsvollzüge und Intentionen an, statt auf die eigene
Kompetenz, Selbstbestimmung und die eigenen Vorstellungen und Wünsche zu vertrauen.“ (Weber
2005, S.98)
Hinzu kommen – insbesondere bei Traumatisierungen – das Problem der Individualisierung
und bestimmte Ausblendungen und Entnennungen. Ariane Brenssell benennt in ihrem Vortrag „Trauma als Prozess – Wider die Pathologisierung struktureller Gewalt und ihrer innerpsychischen Folgen“ (2013) 8 eine Kette von Ausblendungen, die der alleinige Bezug auf
psychiatrische Trauma-Diagnosen zur Folge haben kann:
Menschen, die Gewalt erlebt haben, werden zu traumatisierten Menschen.
Mit ihnen werden Bilder von Störung und Krankheit verbunden.
Die Diagnose-Sprache verschiebt soziale, gesellschaftliche Probleme zu klinischen.
Sie werden an die Medizin delegiert.
Probleme werden herausgelöst aus der gesellschaftlichen Situation.
Das geschieht „Guten Gewissens“, denn es ist ja jemand ‚anderes‘ dafür zuständig.
Damit bleiben die gewaltförmigen Verhältnisse ,quasi‘ normal.
Der Normalzustand, der Gewalt produziert und fortsetzt, bleibt unangetastet
8
Das Manuskript des Vortrages auf der Fachtagung „Trauma und Politik“ am 24. Januar 2013 in Frankfurt am
Main ist im Internet verfügbar
https://www.medico.de/fileadmin/_migrated_/document_media/1/trauma-als-prozess.pdf [16.02.2018].
Julia Gebrande
122
Die Folgen von Gewalt werden also als etwas Individuelles betrachtet. Während die Symptome und deren Bewältigung im Vordergrund stehen, werden der Kontext und die Auslöser für
diese Reaktionen häufig vernachlässigt. Viele Traumatisierungen sind zwar die Folge von
gesellschaftlich bestimmten Machtverhältnissen und Dominanz und Ungleichheitsstrukturen
in Form von struktureller Gewalt und Diskriminierung, werden aber als „Einzelschicksal“
individualisiert und entkontextualisiert (Gebrande 2017b, S. 51ff).
So kann es zu einer Entpolitisierung der Traumatisierung kommen, weshalb David Becker
(2014) der scheinbaren Anerkennung der Traumathematik sehr kritisch gegenüber steht.
„Statt mehr vom Leid der Subjekte in verschiedenen Kulturen und Kontexten zu erfahren, hören wir eigentlich immer einheitlichere und gleichförmigere Klischees. Trauma wird adjektivistisch gebraucht,
gleichbedeutend mit schlimm oder schrecklich. Statt dass der Bezug zwischen sozialpolitischen und intrapsychischen Prozessen deutlicher geworden und besser verstanden worden wäre, gibt es heute eine im
Wesentlichen eng psychiatrisch, ausschließlich symptomorientiert argumentierende Traumaforschung
und eine damit verknüpfte Behandlungspraxis, die ihren extrem reaktionären Charakter hinter einer angeblich apolitischen Haltung verbirgt.“ (Becker 2014, S. 8)
Er fordert ein Umdenken in Bezug auf den Umgang mit sozialpolitischen Traumatisierungsprozessen, einen radikalen Veränderungsprozess in Theorie und Praxis sowie neue Wege der
Reflexion über traumatische Prozesse, um Traumaforschung nicht länger als Krankheitslehre
weiterzuentwickeln und die „Flüchtlingsproblematik in Deutschland“ nicht länger zu psychologisieren. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Traumadiagnose als ein politisches
Problem und die daraus resultierende Forderung nach einer kontextualisierten Beschreibung
traumatischer Prozesse unter Berücksichtigung der spezifischen politischen Verhältnisse sowie der verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexte statt einer universellen, weltweiten
Traumadefinition. Diese Überlegungen münden in die Frage, ob wir eine Sprache finden können, die das Leid der Menschen anerkennt, ohne sie deshalb zu Verrückten zu stempeln. (Becker 2014)
Dabei ist inzwischen klar erwiesen, dass die äußeren Bedingungen einen wesentlichen Einfluss auf die Verarbeitung von Traumafolgen haben. Mit Bezug auf Hans Keilsons Theorie
der sequentiellen Traumatisierung kann Trauma als ein mehrstufiger Prozess beschrieben
werden. Er hat in seiner Langzeitstudie über das Schicksal von niederländischen Kriegswaisen ein Prozessverständnis von Traumatisierung entwickelt: Eine Traumatisierung kann nach
Keilson nicht als ein einzelnes singuläres Ereignis mit pathologischen Folgen angesehen werden, sondern als ein Prozess, auf den viele Faktoren Einfluss nehmen. Hans Keilson fand da-
Kritische Impulse zur Trauma-Diagnostik in der Klinischen Sozialarbeit
123
bei heraus, dass die Zeit nach den ursprünglichen Gewalterfahrungen entscheidend ist für den
weiteren Verlauf der kindlichen Entwicklung und die Schwere der traumatischen Folgeschäden. Es sind also nicht einfache Folgereaktionen auf Ereignisse, sondern der Blick wird auf
die Folgezeit und das umgebende Milieu gerichtet. (Keilson 2005)
Es wurde also deutlich, dass Trauma einerseits als individueller und sozialer Prozess eine Realität darstellt und andererseits als wissenschaftliches Konstrukt eine Erfindung.
„Das theoretische Konzept und die sich daraus ableitenden Behandlungsmethoden können traumatisierten Menschen sowohl helfen als auch ihren Zustand verschlimmern. […] Behandelt man Trauma als
rein intrapsychischen Prozess, verleugnet man die gesellschaftlichen Dimensionen. Spricht man ausschließlich von den politischen und kollektiven Aspekten, verleugnet man die reale individuelle Wunde.“ (Becker 2014, S. 165/166).
Ausblick
Angesichts der (deutschen) Geschichte im Umgang mit Menschen mit psychischen und körperlichen Erkrankungen ist eine kritische Auseinandersetzung mit diagnostischen Verfahren,
Beratungs- und Behandlungszugängen sowie Stigmatisierungs- und Exklusionsprozessen
dringend erforderlich. Dennoch wäre eine Verteufelung und Dramatisierung von Diagnostik
und entsprechender Behandlung wenig hilfreich. Traumatisiert worden zu sein, ist an und für
sich keine Störung oder Krankheit. Statt eine Traumatisierung reduziert als einen biologischen
Stressvorgang im Gehirn, der durch Neurotechniken behandelt werden kann, zu betrachten,
sollten auch die soziale und politische Ebene in den Blick genommen werden, die eine Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse einschließt (Brenssell 2014). „Trauma […] ist
etwas Individuelles und Gesellschaftliches, etwas Politisches und Persönliches zugleich.“
(Brenssell 2014, S. 123) Nur wenn Menschen mit ihrer traumatischen Erfahrung nicht alleine
gelassen werden und ihr Leid als Unrecht anerkannt wird, kann die Gefährdung ihrer biopsychosozialen Gesundheit reduziert werden (Gebrande 2017b, S.65f). Die klinische Sozialarbeit
ist aktuell (noch) eine wenig bekannte und anerkannte Disziplin und Profession, könnte aber
durch ihre Spezialisierung als Fachsozialarbeit neben der Psychiatrie und der Psychotherapie
eine wichtige dritte Säule in der Versorgung traumatisierter Menschen darstellen, die traumatisierte Menschen nicht individualisiert und pathologisiert, sondern eine ambitionierte parteiliche, soziale und politische Unterstützung anbietet.
Julia Gebrande
124
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125
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Julia Gebrande
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Rekonstruktive Fallwerkstätten als Methode (macht)reflexiver
Sozialer Arbeit - am Beispiel der Sozialpsychiatrie
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt, Athanasios
Tsirikiotis
Vom „ärztlichen Blick“ zum Subjekt
Neben der Diskussion eines handlungsfeldspezifischen Partizipationsbegriffs, ist es ein
Anliegen des Projekts „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“, die zunächst
zur Datenerhebung geplante und durchgeführte »rekonstruktive Fallwerkstatt« ebenfalls als
fallanalytischen Zugang für die sozialarbeiterische Praxis fruchtbar zu machen und mit
machtreflexiven Dimensionen zu konfrontieren. Eine rekonstruktive Fallwerkstatt ermöglicht,
dass sich Fachkräfte der Strukturiertheit von Wissen bewusst werden sowie die Genese der
Strukturiertheit nachvollziehen können, um weitere Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten
sichtbar zu machen und dadurch auch eine kritische Professionalisierung anzustoßen
(Bliemetsrieder/ Maar/ Schmidt/ Tsirikiotis 2016; Stumpf/ Bliemetsrieder 2017). Insgesamt
wurden im Rahmen des Forschungsprojekts fünf Fallwerkstätten durchgeführt, davon drei mit
unterschiedlich großen Teams (3-15 Fachkräfte) in ambulanten bzw. stationären
sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Zwei Fallwerkstätten wurden als Workshops an
Fachtagungen (ca. 5-15 Teilnehmer_innen) angeboten.
Das Konzept einer kritischen Professionalisierung scheint vor allem für Soziale Arbeit im
Gesundheitswesen bedeutsam zu sein, weil in diesem Zusammenhang die unterschiedliche
Ausstattung mit Wissen deutlich die Machtverhältnisse unter den Akteur_innen bestimmt.
»Gesundheit« ist ein Bereich, der längst nicht mehr allein von medizinischen Professionen
abgedeckt werden kann, wie beispielsweise Andreas Hanses (2012) aufzeigt. Gesundheit, so
Hanses, ist in zweierlei Hinsicht soziale Praxis geworden: Zum einen ist die Bearbeitung des
eigenen Körpers bzw. die „‚Gesundheitsarbeit‘ produktiver Teil einer gesellschaftlichdiskursiv ‚animierten‘ Subjektivierungspraxis“ (Hanses 2012, S. 35), zum anderen gilt die
„Krankheitsbearbeitung“ von Fachkräften im Gesundheitswesen in Interaktion mit den ihnen
129
Rekonstruktive Fallwerkstätten
begegnenden Subjekten, den Nutzer_innen gesundheitsbezogener Dienstleistungen (vgl.
Hanses 2012, S. 35).
Dabei ist das Gesundheitswesen in mehrfacher Hinsicht von wesentlichen Veränderungen und
Widersprüchen betroffen, in welchen Fachkräfte und Nutzer_innen handeln. Das
Krankheitsspektrum hat sich nach Hanses mit der Zunahme von chronischen Erkrankungen,
Alterserkrankungen, Multimorbidität, sowie psychischen und psychosozialen Problemen
wesentlich verändert, so dass die in der Medizin hauptsächlich vertretene biomedizinische
Ausrichtung bei der Krankheitsbearbeitung an ihre Grenzen kommt (vgl. Hanses 2012, S. 36).
Neben den veränderten Krankheitserscheinungen haben gesundheitspolitische Aspekte einen
großen Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten im Gesundheitswesen. Die Einschätzung der
begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten in diesem Bereich führt zu einer Veränderung von
Finanzierungsmodellen und damit zu massiven Anpassungen der Abläufe in Organisationen,
welche sich hauptsächlich an ökonomisierenden Prinzipien orientieren.
Vor diesem Hintergrund ist „Gesundheitsarbeit“ (Hanses 2012, S. 37) als soziale Praxis vor
die Herausforderung von „Ordnungsfigurationen und (Aus-)Handlungsnotwendigkeiten“
(Hanses 2012, S. 37) gestellt, welche die Analyse von Interaktions- und Wissensordnungen
notwendig macht. Doch professionelles Handeln, vor allem im klinischen Bereich des
Gesundheitswesens, ist laut Hanses neben dem begründeten Wissen gleichzeitig von einem
impliziten Wissen geprägt, dessen Strukturiertheit den Handelnden nicht ständig reflexiv
zugänglich ist: „Handeln ist in diesem Sinne immer auch Ausdruck von sozialen
Ordnungsstrukturen“ (Hanses 2012, S. 39). Die medizinische Ausrichtung des Wissens, derer
sich im sozialpsychiatrischen Handlungsfeld nicht nur die Psychiater_innen bedienen,
sondern auch professionelles Handeln von Sozialarbeiter_innen manifest oder latent
strukturieren kann, zeichnet sich nach Hanses unter Bezug auf Michel Foucault durch einen
„ärztlichen Blick“ (Hanses 2012, S. 40) aus. Dieser „ärztliche Blick“ ist ein an Begriffen aus
dem theoretischen Wissen ausgerichteter Blick, welcher nicht dialogisch Begriffe zwischen
Akteur_innen aushandelt, sondern eine distanzierte Haltung und Beurteilung gegenüber den
als krank bezeichneten Menschen einnimmt. Hanses und Peter Richter haben in ihrer Studie
„Biographische Konstruktion von Brustkrebs“ (vgl. Richter und Hanses 2009, nachzulesen in
Hanses 2012) rekonstruiert, dass es im klinischen Kontext vor allem darum geht, Passung
zwischen den verschiedenen Wissensordnungen zu erreichen. In der Herstellungspraxis dieser
Passung wird deutlich, dass es sich um eine subtile, implizite Praxis handelt, bei der
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
130
Patient_innen vorwiegend die medizinische Sicht übernehmen und eine eigene Positionierung
fast nicht möglich erscheint. Dies ist im klinischen Kontext deshalb sinnstrukturiert, da „eine
Reflexion über diesen Sachverhalt die soziale Situation des professionellen Arrangements
gefährden würde.“ (Hanses 2012, S. 41) So würden Patient_innen eher schweigsam und ihre
soziale Situation wenig in die Gesundheitsarbeit einbezogen. Partizipation wird dabei
strukturell erschwert.
Mit dem Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ im
multiprofessionellen sozialpsychiatrischen Handlungsfeld des Gesundheitswesens möchten
wir Diskurse für den Gesundheitsbereich anbieten, dabei vor allem Psychiatrie-Erfahrene in
ihrem Subjekt-Sein stärken und sie als Akteur_innen der sozialen Praxis bei ihrer
Selbstbestimmung
und
Bemächtigung
in
einem
gesellschaftlichen
Bereich
(Gesundheitswesen) unterstützen, in dem Deutungsmächte zwischen den Akteur_innen sehr
unterschiedlich verteilt zu sein scheinen.
Reflexive Soziale Arbeit und rekonstruktive Zugänge
Angesichts gegenwärtiger gesellschaftsstruktureller Transformationsprozesse, welche sich
neben Endtraditionalisierungs- und Pluralisierungsprozessen auch in einer Ökonomisierung in
nahezu sämtlichen (Lebens-)Bereichen zeigt, sieht sich der Wohlfahrtsstaat im Allgemeinen
und die Soziale Arbeit im Besonderen neuen Herausforderungen gegenübergestellt. Soziale
Arbeit wird zunehmend mit von außen an sie herangetragenen Anforderungen, beispielsweise
in Form der Implementierung managerial ausgerichteter Abläufe oder der Etablierung von an
quantifizierbaren Effizienzkriterien ausgerichteten Instrumenten zur Messung von Erfolg und
Qualität der angebotenen sozialen Dienstleistungen, konfrontiert.
„Gleichzeitig finden sich Hinweise dafür, dass die durch den erwähnten Strukturwandel
hervorgerufenen
Steigerungen
Kompetenzstrukturen
der
erforderlich
Komplexität
machen,
die
sozialer
in
Risiken
den
bisher
erweiterte
Wissens-
gehandelten
und
Varianten
sozialarbeitsspezifischer Professionalität nicht in ausreichendem Maße entfaltet sind“ (Dewe 2013, S.
95).
Ausgehend von den skizzierten Veränderungsprozessen und Herausforderungen plädieren
Bernd Dewe und Hans-Uwe Otto für eine Reformulierung Sozialer Arbeit als reflexive
Sozialpädagogik. „Das zentrale Interesse richtet sich dabei auf die Vermittlung differenter
Rekonstruktive Fallwerkstätten
131
Wissensstrukturen mit den Strukturmerkmalen professioneller Interaktionsprozesse“ (Dewe/
Otto 2005, S.179). Zentral ist dabei auch die Erkenntnis, dass professionelles Handeln in
komplexen und nur schwer bis kaum steuerbaren Handlungsvollzügen stattfindet. „In diesem
Sinne ist professionelles Handeln immer auch durch den Umgang mit Ungewissheit
gekennzeichnet“ (Dewe 2013, S. 96). Die Perspektive der Adressat_innen professionell
erbrachter Sozialer Arbeit gewinnt vor diesem Hintergrund des (Noch-)Nicht-wissen-könnens
der Fachkräfte an besonderer Relevanz.
Ein solches reflexives Professionsverständnis widerspricht einer gegenwärtig im hohen Maße
beobachtbaren Normierung Sozialer Arbeit insbesondere durch wirkungsorientierte bzw.
evidenzbasierte Forschungszugänge. Diese Zugänge können zwar den Erreichungsgrad eines
vorab definierten Ziels quantitativ messen, Aussagen darüber, warum die Ziele erreicht
wurden bzw. welchen individuellen Gebrauchswert die Hilfen für die Adressat_innen haben,
sind jedoch kaum möglich.
„Weder können ForscherInnen und Professionelle aus den empirischen Ergebnissen ableiten, aufgrund
welcher Handlungsweisen die Ziele erreicht wurden und wie diese variiert / kombiniert werden können,
noch wird deutlich, welchen Einfluss die Kontextbedingungen auf die Ergebnisse hatten, womit auch
die Frage der Übertragbarkeit ungeklärt bleibt“ (Albus/ Micheel/ Polutta 2011, S. 246).
Vor dem Hintergrund des Kontextes bestehender Professionalisierungsbedürftigkeit Sozialer
Arbeit, plädiert das Team der Autor_innen für einen verstehenden Fallbezug als Grundlage
professionellen Handelns.
Rekonstruktiv-verstehende Zugänge im Kontext kritischer Professionalisierung
Forderungen nach rekonstruktiv-verstehenden Zugängen, wie z.B. der Objektiven
Hermeneutik, finden sich nicht nur im Kontext einer Professionalisierungs- und
Akademisierungsdebatte in der Schulpädagogik (wie z. B. Universität Hannover) oder der
Sozialen Arbeit (insb. im Bereich des Kinderschutzes), sondern auch in therapeutischen
Settings und Supervisionen und zunehmend auch in den Pflegeprofessionen wieder (vgl. Peter
2006; vgl. Kersting 2011, S. 10). 1 In diesen professionalisierungsbedürftigen Feldern geht es
1
Kasuistisch gewonnener Wissenszuwachs und die Einübung von Handlungspraxen als professionelle
Habitualisierung sind nichts Neues an Hochschulen und Professionalisierungspraxen: Im Medizinstu-
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
132
um Fragen nach dem Fallverständnis, einem spezifischen Krisenbegriff, der Rolle einer
notwendigen, aber meist – im besten Falle – zeitlich befristeten Stellvertretung und einer
(wenn nötig unbefristeten) Nutzer_innenpartizipation. Eine Fallwerkstatt möchte nicht
pathologisieren;
sie
versucht
stattdessen
die
besondere
Lebensbewältigung
von
Adressat_innen in den Blick zu nehmen. Ebenso werden Fragen nach der Einrichtung und
Ausgestaltung eines ermöglichenden Arbeitsbündnisses mit rollenförmigem Handeln und
Handeln als ganzer Person, in widersprüchlicher Einheit, zugleich verhandelt (vgl. Peter
2006, S. 10). Eine diffuse Sozialbeziehung zeichnet Ulrich Oevermann (2008), Sigmund
Freud rekonstruierend, nach: Der Arzt oder die Ärztin nimmt „nicht nur eine geschäftliche
Dienstleistungsbeziehung auf (…), also eine spezifische rollenförmige Sozialbeziehung,
sondern [geht] gleichzeitig eine diffuse Sozialbeziehung zwischen ganzen Menschen, ein
Arbeitsbündnis
mit
dem
Patienten“
(Oevermann
2008,
S.
184),
ein,
damit
Selbstheilungskräfte mobilisiert werden können. Im Hinblick auf diese Selbstheilungskräfte
spielen die Selbstwirksamkeitserfahrungen und eigene Lebensentwürfe eine große Rolle:
Ohne ihre Ermöglichung, würde die Stellvertretung Menschen paradoxerweise paternalistisch
abhängig machen und Autonomieprozessen entgegenlaufen und dadurch Integrität verletzen
(vgl. Oevermann 2005, S. 25). Die Kritikfolie so verstandener Fallwerkstätten liegt vor allem
in der Rekonstruktion der Qualität der Arbeitsbündnisse und der Nutzer_innenperspektiven,
der dabei ermöglichten Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der somato-psycho-sozialen
und kognitiven Integrität (vgl. Oevermann 2005, S. 23) und der Autonomie der
Adressat_innen. Auf diese Weise erleben die Adressat_innen den/die Andere/n in der
widersprüchlichen Einheit „zwar als professionelles Gegenüber, aber doch als Mensch (…),
der, genauso wie ich, von Verletzlichkeit durchzogen ist“ (Bliemetsrieder/ Dungs 2013, S.
288). 2 Dies wird aus der Nutzer_innenperspektive heraus immer wieder als unterstützend und
eröffnend geschildert.
dium (Fragen nach somatischer Integrität) und Jurastudium (Gewährleistung von Gerechtigkeit und
Mediation als rechtliche Integrität) sind fallrekonstruierende Zugänge genauso üblich, wie in einer
Approbation zum/zur PsychotherapeutIn (Fragen nach psychischer Integrität) (vgl. Peter 2006, S. 4;
vgl. Oevermann 2005, S. 26).
2
Dabei darf das Postulat der widersprüchlichen Einheit jedoch nicht instrumentell verkürzt werden
und im Sinne einer Handlungsanweisung für eine gelingende, »Wirkung versprechende« Praxis umgedeutet werden, welche, sich scheinbar am psychoanalytischen Paradigma orientierend, Wärme auf
Kommando [und ( …)] [p]ersönliche Sympathie für den Patienten […] als Mittel zur Herstellung einer
guten Übertragung verordnet“ (Adorno 2003: 38).
Rekonstruktive Fallwerkstätten
133
Fallwerkstätten gehen dabei über ein rein subsumtionslogisches, biomedizinisches und
psychosoziales Fallverständnis (sog. Biopsychosoziales Modell) hinaus, indem sie einen Fall
im Kontext seines biographischen So-geworden-seins, seiner Milieueinbettung, der Frage
nach institutionalisierten und nicht institutionalisierten gesellschaftlichen (z. T. neoliberalen)
(Macht-)Strukturen,
(Träger-)Geschichten
und
Beziehungen
sequenziell
aus
der
festgehaltenen Sprache oder den Ausdrucksgestalten der Adressat_innen zu rekonstruieren
versuchen (vgl. Peter 2006, S. 8). Aber auch die Analyse von Sekundärmaterial (z. B.
vorhandene
Studien,
Akten
usw.)
Professionalisierungsprozesse
in
Bildungsgeschehen
Auch
eröffnen.
kann
gewinnbringend
managerialisierten
die
Verhältnissen
teilnehmenden
für
sein
Fachkräfte
kritische
und
dabei
evaluierten
im
Forschungsprojekt, dass sie neue Erklärungsmuster finden konnten. Diese zeigten sich in
„Aha-Erlebnissen“ und im positiv gedeuteten Irritiert-werden, was zu einer Veränderung der
bisherigen Deutungsmuster führte.
So stellt Karin Kersting (2011) beispielsweise auf Grundlage der sog. Kältestudie (19952000) fest, wie viel Zeit und Muße es im Zeitalter bürgerlicher Kälte, als gesellschaftliche
Struktur und Reaktionsform, auch von (angehenden) Pflegefachkräften braucht, bis z. B.
fraglose Übernahmen (z. B. Handlungsstandards) oder Idealisierungsstrategien der eigenen
oder fremden Praxis überwunden werden können. Hier geht es insbesondere um die Frage,
wie der eben skizzierte normative Anspruch (Autonomie und Integrität) in ökonomischen
Anpassungszwängen (Managerialisierung des Sozialen) aufrechterhalten werden kann bzw.
wie die Widersprüche thematisierbar, bearbeitbar und aushaltbar sind, ohne gleichzeitig in
fatalistisches oder radikal paternalistisches Denken (zurück) zu fallen, sondern Fachkräfte
handlungsfähig und Praxisfelder als gestaltungspflichtige und bildsame Orte erscheinen zu
lassen.
Die
schrittweise
Interpretation
der
Kältestudie
ermöglichte
es
bei
den
Pflegestudierenden, ein Interesse für qualitative Forschung zu wecken und gleichzeitig konnte
die Rekonstruktion Bildungsprozesse initiieren. Bildung wird hierbei verstanden als Selbstund Weltreflexion sowie als Verstehen von Zusammenhängen. Ein forschendes Lernen in
dieser Weise kann im Zeitalter bürgerlicher Kälte zur Empathieentwicklung (angehender)
Fachkräfte beitragen und krisenlösend wirken, ohne dabei in eine Bewältigungseuphorie
hineinzufallen
(vgl.
Kersting 2011,
S.
5-12).
Ein
in
diesem
Sinne gebildetes
Gesundheitsverständnis könnte dabei dann nicht mehr nur als das Gegenteil von Krankheit
gedeutet werden, sondern als die Möglichkeit des Gesundbleibens und -werdens, das sich eine
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
134
konkrete Lebenspraxis vor dem Hintergrund der Bewältigung kritischer Lebensereignisse und
ungleichheitserzeugender Strukturen maximal sowohl ermöglichen als auch (wenn notwendig
stellvertretend) ermöglicht werden kann (vgl. Oevermann 2008, S. 25).
Fachkräfte, Studierende und Wissenschaftler_innen neigen immer wieder dazu, ihren
vorentworfenen (manchmal auch latenten) Gedankengängen zu folgen. Auch diese können
durch Fallwerkstätten reflektiert werden.
Peter Schallberger (2008) rekonstruierte
beispielsweise in einer Studie in einem Schulheim für so genannte „verhaltensauffällige
Kinder
und
Jugendliche“
kulturalistisch,
behaviouristisch,
biologistisch
und
ressourcentheoretisch inspirierte Deutungsmuster der Fachkräfte, welche tendenziell das Ideal
des Zuwachses an Autonomie und Integrität der Kinder und Jugendlichen aus dem Blick
geraten lassen (vgl. Schallberger 2008, S. 304). Konfrontationen mit gesellschaftlichen
Kontexten,
wissenschaftlichem
Wissen,
Aktenmaterial,
Fallgeschichten
und
Stegreiferzählungen von Adressat_innen können im Sinne einer „positiven Verunsicherung“
(Keupp 2002, S. 26) schmerzhaft irritieren. Die Gefahr ist, dass in diesen Momenten der
Irritation immer wieder vereindeutigende Erklärungsversuche gefordert werden. Analysen
gelten jedoch nur auf Zeit in bestimmten Kontexten und gestatten nur in wenigen Fällen
Eindeutigkeiten (außer z. B. in klaren Gefährdungslagen) (vgl. Bliemetsrieder/ Dungs 2011,
S. 209f.). Deshalb ist es notwendig, um möglichst widerspruchsarme, triftige Argumente in
der Fallwerkstatt zu ringen, ohne sich dabei völlig sicher fühlen zu können, „nicht in den
Strudel der Unbestimmtheit hineingerissen zu werden“ (Gamm 1996, S. 7). In dieser
Reflexion würde die kritische Theorie dann dreifach kritisch: in der Kritik von Verhältnissen,
von Verhalten, aber auch der Selbstkritik.
Rekonstruktion und Ungewissheiten
Kritisch wird rekonstruktive Sozialforschung auch dadurch, dass sie sich selbst einer
kritischen Betrachtung stellt. Zunächst einmal kann kein methodischer Zugang die
Lebenspraxen und Verhältnisse voll aufklären. In jeder sozialwissenschaftlichen Analyse wird
es immer latente Reste („das innere Ding an sich“ (Oevermann 2008, S. 171)) geben, die sich
durch rationalisierende Deutungsversuche nicht vollständig einholen lassen. Dieses
Unbewusste kann aber auch gleichzeitig als Ringen um eine „unverzichtbare Quelle von
Lebendigkeit und der Utopie eines guten Lebens“ gelesen werden (Oevermann 2008, S. 170).
Rekonstruktive Fallwerkstätten
135
Die in der rekonstruktiven Analyse entstehenden Fallstrukturhypothesen, welche idealerweise
in rationalisierenden Diskursverhältnissen entwickelt werden und gleichzeitig um ihre
Grenzen der unausdeutbaren, idealistischen Fragen, der notwendigen Mythen im Kontext des
Irgendwoherkommens und Irgendwohingehens (vgl. Wagner o.A., S. 5) informiert sind. Bei
entsprechender Kontrastierung von Fällen sind jedoch darüber hinaus theoretische Annahmen
möglich: „Theorien sind daher nicht das andere der Praxis, sondern ein dem praktischen
Handeln vorausgehender und [zugleich dialektischer] hinterhereilender Erkenntnisprozess“
(Bliemetsrieder/ Dungs 2011, S. 222).
Das Interessante an Fallwerkstätten ist nun, dass sich Studierende, Fachkräfte und
Wissenschaftler_innen dem Ungewissheitsraum, dem Handlungsdruck und der offenen und
unabschließbaren Zukunft der Praxis gemeinsam aussetzen, aus dem sie sich gleichzeitig
versuchen herauszudrehen und während der Analyse unaufhaltsam zeitlich zurückfallen. Die
Fallanalyse hat demnach ein unauflösbares Zeitproblem, sie kann die Praxis zeitlich nicht
einholen. Die Fallrekonstruktion kann auch als ein kritischer Diskurs für eine vor allem auf
die Zukunft gerichtete Praxis sein.
Die Krise der Lebenspraxis (z. B. Verlust an Selbstbestimmungsmöglichkeiten) wird in dem
gemeinsamen Deuten zum Normalfall erklärt (vgl. Oevermann 2005, S. 22). In der Praxis
stellvertretenden Krisendeutens stellt sich eine Annäherung von Theorie und Praxis her,
welche sich nicht zur technokratischen Bevormundung (z. B. radikale Evidenzbasierung)
pervertieren darf (vgl. Oevermann 2008, S. 188).
„Eine wirklich folgenreiche Einheit von Theorie und Praxis wäre dann im Vorfeld als bloß scheinhafte
dekretiert und »pädagogisierend« in Regie genommen, bevor sie sich in der Praxis des professionellen
Arbeitsbündnisses erst ergeben kann“ (Oevermann 2008, S. 188).
In der Informiertheit über Evidenzen und Verfahren lässt sich Forschung und Fallverstehen
dann als „widersprüchliches Zusammenspiel von standardisierten Methoden, Techniken und
theoretischen Wissenselementen einerseits und nicht-standardisierbaren Komponenten des
Erahnens, der Gestalterfassung und der erfahrungsgesättigten Strukturerkenntnis andererseits
fassen“ (Oevermann 2005, S. 30).
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
136
Rekonstruktion und Macht
In dieser knappen Darstellung zeigen sich viele konstruktive Momente von Fallwerkstätten in
professionalisierungsbedürftigen
Praxen
und
akademischen
Orten
und
das
darin
innewohnende Bildungspotential für die Akteur_innen. Das dabei zu Grunde liegende
Professionalisierungsverständnis der stellvertretenden Deutung geht davon aus, dass sich
diese Selbst- und Fremdzuschreibungen der klassischen Professionen noch als gesellschaftlich
tragfähig erweisen (vgl. Somm 2001, S. 675). Gerade in einigen sozialpädagogischen und
sozialarbeiterischen Diskursen hat die unreflektierte und machtunkritische Übernahme der
stellvertretenden Deutung dazu geführt, dass die eigene Involviertheit der professionellen
Praxis in gesellschaftliche Machtverhältnisse dethematisiert und vernebelt wurde (vgl. Somm
2001, S. 677). Irene Somm spricht sich 2001 für eine machttheoretische Revision der von
Ulrich Oevermann formulierten Professionalisierungstheorie aus. Sie möchte dabei an Pierre
Bourdieus Machtbegriff anschließen:
„Macht verweist demnach auf eine bestimmte Position in einem „sozialen Feld“, deren Inhaber_innen
aufgrund einer ungleichen Verteilung von Machtmitteln soziale Autorität für sich beanspruchen können
und – meist unbewusst – die Anerkennung der Unterlegenen finden [können, S.B.]“ (Somm 2001, S.
677).
Keine professionelle Praxis kann sich, wie Oevermann es implizit fordert, nur auf eine
Gemeinwohlverpflichtung hin ausrichten und sich autonom handelnd ökonomischen und
administrativen Kontrollen entziehen (vgl. Somm 2001, S. 678). Es gibt kein Außerhalb aus
ökonomischen und verwaltungslogischen (Rechts-)Verhältnissen und die Fragen nach Macht
können nie ausgespart werden. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Verhältnisse
nicht kritisierbar sind. Macht ist nicht immer legitim, sondern kann auch in Gewalt
umschlagen. Genauso wie es kein Außerhalb von ökonomischen Prozessen geben kann, kann
es auch kein Außerhalb von normativen Ansprüchen geben. So geht es in professionellen
Kontexten um die Stärkung der Autonomie, der Integritäts- und Teilhabeansprüche
(Menschenrechte) der Adressat_innen in ökonomisch machtvoll strukturierten Feldern (vgl.
Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2018). In diesem Sinne stellt Somm fest, dass das
Strukturproblem
der
Sozialpädagogik
„in
der
widersprüchlichen
Einheit
von
gesellschaftslegitimierender, teilhabeorientierter und entlegitimierender, emanzipatorischer
Praxis“ (Somm 2001, S. 682) liegt. Soziale Arbeit muss sich daher sowohl
gesellschaftsstabilisierend, als auch in der widersprüchlichen Einheit von Effizienz und
Rekonstruktive Fallwerkstätten
137
Legitimität institutionalisierungskritisch ausrichten (vgl. Somm 2001, S. 682). Daraus ergeben
sich
auch
normative
Orientierungspunkte
Sozialer
Arbeit,
die
über
eine
Individualisierungstendenz der Fallwerkstätten hinausgehen: in der Rationalisierung von
Gerechtigkeitsempfinden, Achtung der Menschenwürde aller und gesellschaftlicher Teilhabe
sowie Möglichkeiten demokratischer Partizipation (vgl. Somm 2001, S. 683). Es geht
demnach um die Relationen von relativer Autonomie, somato-psycho-sozialer Integrität,
sozialer Gerechtigkeit und Machtstrukturen als Verbindung von Professionalisierung
einschließlich ihrer ethischen Orientierungen (Menschenrechte) und einer Repolitisierung der
Professionen (vgl. Somm 2001, S. 685). Fallwerkstätten nehmen das So-geworden-sein des
Menschen, mit seiner einzigartigen Menschenwürde, in den Blick. Die darin liegenden
Widersprüche müssen von den Professionen und Disziplinen gleichermaßen bearbeitet
werden.
Die stellvertretende Deutung kann im Kontext eines Mittelschichtshabitus der forschenden
Akteur_innen prekarisierte Personen einseitig pathologisieren und praktische Rationalitäten
mit subjektiven Handlungsgründen und Entscheidungen absprechen oder eine unreflektierte
Deutungshoheit kann Kompensationsmöglichkeiten von Anerkennungsfragen Sozialer Arbeit
versprechen (vgl. Somm 2001, S. 687). Daher bedarf es eines hohen Maßes an Reflexivität
durch die forschenden Personen, und zwar ohne latente Arroganz oder eine Hermeneutik des
Sich-permanent-verdächtig-Machens (vgl. Bude 1994, S. 118), sondern gerade auch mittels
Reflexion der eigenen Emotionen der Forscher_innenpersonen, damit diese psychodynamisch
nicht verdrängt werden.
Die Objektive Hermeneutik in diesem Sinne reflexiv betrachtet, ist unter Bezugnahme der
sehr eindrücklichen Rezension von Susanne Friese (2003) ein Analyseverfahren unter vielen,
welche den Vorteil der radikalen Sequenzialität aufweist und in einer sequenziellen
feinanalytischen Untersuchung interessante Momente zu Tage fördern kann (vgl. Friese
2003). Die Fallstrukturhypothese sollte dabei jedoch, anders als von den Gründer_innen
vorgeschlagen, nicht als objektive Sinnstruktur, sondern als Ergebnis von triftigen
Aushandlungsprozessen und rationalen Entscheidungen im forscherischen Tun erkannt
werden, welche an gesellschaftliche Machtstrukturen rückgebunden werden. Das Ergebnis
kann dabei vielmehr als intersubjektive Objektivität verstanden werden, wenn verschiedene
Forscher_innen zu vergleichbaren Einschätzungen kommen (vgl. Bliemetsrieder/ Dungs 2011,
S. 217).
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
138
Für die stellvertretende Deutung im Sinne machtsensibler und gerechtigkeitsorientierter
rekonstruktiver Sozialer Arbeit schlägt Somm folgende Revision vor:
„Stellvertretende Deutung kann nicht mehr in einem quasi machtfreien, außergesellschaftlichen Raum
gedacht werden, sondern ist als gesellschaftliche Tätigkeit zu begreifen, die zwar situativ auf der
Grundlage eines entsprechenden Settings (Arbeitsbündnis) ein symmetrisches Anerkennungsverhältnis
zu realisieren vermag, aber in ihrem Anspruch auf stellvertretende, gesellschaftlich zugebilligte
Autorität gleichzeitig immer Teil eines Systems symbolischer Klassifikationskämpfe ist“ (Somm 2001,
S. 689).
Kritik an den Verhältnissen und Praxen kann in Fallwerkstätten im Sinne Adornos zu einer
immanenten Kritik werden und muss sich von einer kritiklosen, arroganten Kritik
verabschieden, in der Praxen ohne Kenntnis der in ihr eingelagerten Widersprüche
angegriffen werden (vgl. Wagner o.A., S. 3). Dazu braucht es vor allem eine Stärkung der
Sichtweise der Adressat_innen.
Für die Fallwerkstätten kann dies bedeuten, die in einer Sequenzanalyse gewonnene
Strukturhypothese gesellschaftskritisch plausibel zu machen (vgl. Bliemetsrieder/ Dungs
2014, S. 103). Fallwerkstätten könnten dann mit Konrad Paul Liessmann als kritische
Hermeneutik konzipiert werden, „in der Vernunft und Einsicht, Abwägen und Vorsicht,
langfristiges Denken und kluge Überlegungen, wissenschaftliche Neugier und kritische
Selbstreflexion, das Sammeln von Argumenten“ (Liessmann 2012, S. 26) induktiv und
deduktiv
zugleich
machtreflexiv
gemeinsam
erprobt
werden
und
die
gesellschaftsstabilisierenden als auch institutionalisierungskritischen Aspekte herausgearbeitet
werden können. Dabei ist eine Koppelung von Fallverstehen und Aushandlung mit den
Adressat_innen
notwendig,
da
der
Verstehensprozess
sonst
nicht
intersubjektiv
verhandlungsfähig wäre. Gerade Aushandlung kann – anders als Verhandlung – einen
konstruktiven Umgang mit Ungewissheit darstellen, als Prozess der Vergewisserung der
Triftigkeit der Diagnose (vgl. Fendrich/ Lange/ Witte 2004, S. 313).
Methoden an sich geben zunächst erst einmal keine Auskunft darüber, ob sie per se
gesellschaftskritisch sind oder nicht. Doch gerade Verfahren, welche der kritischen Theorie
entspringen, zeigen mehr Spielräume und Optionen für eine Gesellschaftskritik (vgl.
Freikamp et. al., S. 10). So können konkret und reflexiv sowie demokratisch behutsam
Machtstrukturen, herrschaftslegitimierende Ideologien, Ausschluss- und Diskriminierungsprozesse, postkoloniale oder sexistische Praxen analysiert werden. Es geht hierbei um eine
Rekonstruktive Fallwerkstätten
139
heterogene und umkämpfte emanzipatorische (Gesellschafts-)Kritik (vgl. Freikamp et. al., S.
12).
In diesem Sinne versteht Matthias Leanza (2008) das gesellschaftskritische Potential der
Objektiven Hermeneutik paradoxerweise darin, gesellschaftliche und wirkmächtige Latenzen
zu reflektieren und aufzudecken (vgl. Leanza 2008). Auch wenn die Objektive Hermeneutik
weniger der Subjektperspektive stellvertretend eine Stimme geben möchte (wofür sie zu
kritisieren wäre), nimmt sie (hegemoniale) Sinnstrukturen in den Blick, welche die
Handlungspraxen der Subjekte erst erklärbar machen (vgl. Leanza 2008, S. 86). Die Objektive
Hermeneutik versteht es, „gesellschaftlich produzierte Möglichkeiten von Lebenspraxis
sichtbar zu machen“ (Leanza 2008, S. 87) und danach zu fragen, aus welchen Möglichkeiten
des Handelns die prinzipiell autonome Lebenspraxis ausgewählt hat (vgl. Leanza 2008, S.
87). Abschließend stellt Leanza fest, dass Strukturen erst dann kritikfähig werden, wenn sie
rekonstruiert und begrifflich gefasst wurden und nicht nur faktisch wirksam sind.
„Das
kritische
Potenzial
der
Objektiven
Hermeneutik
besteht
genau
darin:
Latente
Organisationsprinzipien von Sozialität können mithilfe dieser Methodologie sichtbar gemacht werden
und als Selektion aus einem Raum von Möglichkeiten begreifbar werden“ (Leanza 2008, S. 103).
Diesen Überlegungen einer stellvertretenden Deutung steht Joachim Ludwig (2015) sehr viel
skeptischer gegenüber. Er vergleicht, allerdings im Kontext von Beratung, strukturalistische
Ansätze (Objektive Hermeneutik) mit subjektwissenschaftlichen Ansätzen (Kritische
Psychologie). Dabei kritisiert Ludwig, dass Krisen in den strukturalistischen Ansätzen das
individuelle Handeln ermöglichen und verunmöglichen. Er wirbt dafür, neben diesen latenten
auch die manifesten Sinnstrukturen herauszuarbeiten, damit die relative Autonomie von
Ratsuchenden gewahrt wird (vgl. Ludwig 2015, S. 300f.). Die Objektive Hermeneutik neigt
dazu, zu vergessen, dass Personen nicht nur von Latenzen des Feldes durchdrungen sind,
sondern gesellschaftliche Verhältnisse durch Verhalten prinzipiell selbst mit herstellen. Das
deutungsfähige Subjekt läuft Gefahr, im Kontext der Objektiven Hermeneutik vernebelt zu
werden. Das Subjekt droht, unter eine Struktur subsumiert zu werden.
„Der Subjektstandpunkt ist der soziale und biographische Ort, an dem der Mensch mit seiner
Lebenslage und sozialen Position sich aktuell befindet und von dem aus er sich selbst und die Welt
betrachtet, seine personale Situiertheit findet“ (Ludwig 2015, S. 303).
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
140
Dabei müssen hermeneutisch die Handlungsgründe des/der Anderen herausgearbeitet werden,
worin über die Latenzen hinausweisend der darin verortete Selbstverständigungsprozess
(innere Gesetzgebungen und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten) nachgezeichnet
werden könnte (vgl. Ludwig 2015, S. 304f.).
Drei Wissensperspektiven als Beitrag emanzipatorischen Fallverstehens
Der vorangegangene Blick auf die Diskurse um eine Professionalisierung Sozialer Arbeit
stellt die Bedeutung einer rekonstruktiven (Forschungs-)Perspektive heraus. Zugleich werden
kritikwürdige Stellen des Paradigmas deutlich, die gerade das Verschleiern von
Machtverhältnissen, eine – verkürzte – Pathologisierung der Adressat_innen oder eine
Entpolitisierung ihrer Anliegen begünstigen könnten. Diese Hinweise aufnehmend, soll es
daher nun darum gehen, die Methode der Fallwerkstätten kritisch zu akzentuieren.
1.
Die
professionelle
Perspektive
und
widerständiges
Erfahrungswissen
der
Nutzer_innen
Wie bereits herausgearbeitet, folgt eine rekonstruktionslogische Perspektive der im Fall
eingebetteten Sinnstrukturen und stößt dabei notwendig an die Grenzen des Rationalisierbaren
und theoretisch Fassbaren (vgl. Oevermann 2008, S. 170-171). So kann Theorie – bzw.
rekonstruktive Forschung – nicht als der Schlüssel der handlungsleitenden Erkenntnis für die
Praxis Sozialer Arbeit verstanden werden. Vielmehr kann das gemeinsame Ringen um
stellvertretende Krisendeutungen, in Fallwerkstätten zusammen mit Wissenschaflter_innen,
Fachkräften
und
Studierenden,
die „konsequente Erweiterung der professionellen
Perspektive“ (Hanses 2007, S. 57) befördern. Das Postulat der Erweiterung leitet Hanses aus
der Praxis Sozialer Arbeit ab, welche durch die Notwendigkeit der Vermittlung zwischen
professionellem – in sozialwissenschaftlichen Diskursen eingebettetem – Wissen und dem
lebenspraktischen Erfahrungswissen der Adressat_innen bestimmt wird. Die Fachkräfte, so
Hanses, stehen vor der Aufgabe, die jeweiligen Fälle „in ihrer Komplexität, Kontextualität
und Eigensinnigkeit“ (ebd., S. 49, Hervorhebungen im Original) zu erfassen, ohne sie
gänzlich „auf ein biomedizinisches, psychologisches oder juristisches Paradigma, wie es
andere Professionen zur vermeintlich exakten Problemdefinition nutzen“ (ebd.) zu reduzieren.
Rekonstruktive Fallwerkstätten
141
Praktiker_innen der Sozialen Arbeit stehen dabei nicht vor der Aufgabe, den Fall auf dem
Feld theoretischer Diskurse über eine – wie auch immer definierte – Wahrheit exakt zu
erfassen. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion des jeweiligen Einzelfalles unter
Berücksichtigung dessen „biographische[r] Anschlussfähigkeit“ (ebd. S. 50, Hervorhebung im
Original) an die Lebenspraxis der konkreten Person. Zwar sind die Angebote der Sozialen
Arbeit interventionspraktisch, „an die Einsicht eines Klienten appellierend, klärend, beratend“
(Oevermann 2008, S. 58) angelegt. Sie unterstützen die tatsächliche Bewältigung der
jeweiligen Krise durch professionelle Hilfestellung zur (Wieder-)Herstellung der relativen
Autonomie der Adressat_innen. Dennoch wäre herauszustellen, dass bereits in dem Konzept
der stellvertretenden Deutung die Möglichkeit der Überformung des lebenspraktischen
Diskurses der Adressat_innen durch die Soziale Arbeit eingelagert ist. Schließlich bleibt das
Erbringungsverhältnis Sozialer Arbeit (vgl. Schaarschuch 2006, S. 86-87) im »medicopädagogischen
Feld«
Beziehungskonstellation
Deutungsmacht.
So
(Ralser
zweier
entscheiden
2010)
eingelagert
Akteur_innen,
zwar
die
in
ausgestattet
Adressat_innen
eine
mit
asymmetrische
unterschiedlicher
darüber,
ob
sie
ihr
Bewältigungshandeln an der Deutung der Fachkräfte orientieren, jedoch determinieren die
professionellen Deutungen das Feld der Praxis – z.B. einer Tagestätte, eines Wohnheims usf. –
dahingehend, dass sie bestimmte Handlungsoptionen eher verunmöglichen bzw. ausschließen.
Innerhalb der professionellen Arrangements sind die Adressat_innen der »symbolischen
Herrschaft« 3 (vgl. Bourdieu 2012) der Praxis unterworfen, welche das Feld – und die darin
möglichen, erwünschten, mit Sanktionierung bedrohten usf. Handlungsoptionen –
strukturieren. Konsequent wäre eine „Erweiterung der professionellen Perspektive“ (Hanses
2007, S. 57) nach Hanses daher gerade dann, wenn sie den Versuch unternähme, jene
Erfahrungen der verunmöglichten Subjektivität der Adressat_innen in den Blick zu
bekommen: also die „disqualifizierten Wissensarten (das Wissen des Psychiatrisierten, des
Kranken, des Krankenwärters, das des Arzets [sic.] – das jedoch parallel und marginal zum
Wissen der Medizin besteht-[…])“ (Foucault 1978, S. 60). Die von Hanses, unter Berufung
auf die Genealogie Foucaults, geforderte Erweiterung bezieht sich also auf jenes Wissen der
Adressat_innen, welches abseits der herrschaftlichen Diskurse der (Natur-)Wissenschaft und
3
„Von symbolischer Herrschaft oder Gewalt sprechen heißt davon sprechen, dass der Beherrschte, von einem
subversiven Aufruhr abgesehen, der zur Umkehrung der Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien führt, dazu
tendiert, sich selbst gegenüber den herrschenden Standpunkt einzunehmen.“ (Bourdieu 2012, S. 202)
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
142
der Fachkräfte im medico-pädagogischen Feld besteht. Es speist sich aus den Erfahrungen der
Widerständigkeit gegen eine vereindeutigende Vorstellung von Normalität. Foucaults Konzept
der Genealogie sollte jedoch keineswegs als Disqualifizierung des Wissens der Theorie und
Praxis
Sozialer Arbeit
gedeutet
werden.
Vielmehr
befürwortet
Foucault
explizit
„genealogische Forschungen, die zugleich gewissenhafte Wiederentdeckungen der Kämpfe
und verschwommene Erinnerungen der Zusammenstöße“ (ebd., S. 61-62) sind. Diese
skizziert er „als Verbindung von gelehrtem Wissen und Wissen der Leute“ (ebd., S. 62), deren
normative Legitimation in der Forderung gründet, dass „die Tyrannei der globalisierenden
Diskurse mit ihrer Hierarchie und sämtlichen Privilegien der theoretischen Avantgarde
beseitigt würde.“ (ebd.)
2. Professionalisierung als die Vermittlung unterschiedlicher Wissensperspektiven
Die Kritik an der bereits formulierten privilegierten Position der Fachkräfte und der
Wissenschaftler_innen erscheint nicht nur aus einer radikalen Adressat_innenorientierung als
problematisch. Die sozialtechnisierte Reduktion der Fachkräfte auf „die Rolle von Experten
und Expertinnen, die Entscheidungen übernehmen“ (Dewe 2015, S. 324, Hervorhebung im
Original) bedroht die Professionalität selbst. Dies ist vor allem dann zu befürchten, wenn die
Fachkräfte nicht als „'Vermittler und Vermittlerinnen' sozialwissenschaftlichen Wissens“
(ebd.), sondern als „Lieferanten von Rezepten“ (ebd., S. 338) zur Krisenbewältigung
herangezogen würden. Mit Bernd Dewe lässt sich sowohl die Ausgestaltung eines Angebots
Sozialer Arbeit als auch die Übersetzung der darin enthaltenen Deutungen in konkretes
Bewältigungshandeln durch die Adressat_innen als Transformationsprozess verstehen (vgl.
ebd., S. 319-320). Wie Dewe hervorhebt, erfordert professionelles Handeln in sozialen
Berufen „kein Verwischen der Unterschiede von Wissenschaft/Profession und Lebenspraxis,
sondern vielmehr umgekehrt deren Anerkennung in den gegenseitigen Erwartungen beider
'Parteien'“ (ebd., S. 320). Der Profession kommt dabei die Aufgabe eines „verwendungsnahen
Vermittlungsdiskurse[s]“
(ebd.,
S.
326)
zu,
welcher
theoretische
Erkenntnisse
lebenspraxisrelevant konkretisieren soll. Diese Vermittlungsaufgabe versteht Dewe, im
Anschluss an Jürgen Habermas (vgl. z.B. Habermas 1984, S. 164), als praktischen Diskurs,
dessen Maßstab, im Gegensatz zu theoretischen Diskursen, nicht der Erklärungsgehalt der
Aussagen ist, sondern die Angemessenheit der professionellen Deutungen, als „sachlich
Rekonstruktive Fallwerkstätten
143
richtig als auch emotional erträglich“ (Dewe 2015, S. 330) im Sinne der „situativen und
biographisch vorgeprägten Bedürfnispositionen der Klientel“ (ebd., S. 326).
Wissenschaft
Profession
Wissen
Können
Lebenspraxis
wissenschaftliches Deutungs- Professionswissen
praktisches
wissen
wissen
Wahrheit
Entscheidungs-
Wahrheit und Angemessenheit Angemessenheit
Steigerung von Begründungskompetenz
Steigerung
bzw.
Wiederherstellung
von
Handlungskompetenz und Autonomie
stellvertretende Problemdeutung
eigenverantwortliche
Entscheidung/
Problemlösung
Tabelle 1: Dewe 2015, S. 330
Wie sich in dieser Abbildung von Dewe (2015, S. 330) zeigt, befinden sich Professionen
zwischen
den
Stühlen
der
Vermittlung
von
wissenschaftlicher
»Wahrheit«
und
lebenspraktischer »Angemessenheit«. Die weiter oben skizzierte, an Foucault anschließende
Kritik fokussiert genau dieses einseitige Weiterreichen der wissenschaftlichen Diskurse in die
Lebenspraxis, wodurch die Deutungshoheit der Wissenschaft und somit auch der Professionen
tendenziell gefestigt wird. In medico-pädagogischen Feldern (vgl. Ralser 2010) wird jedoch
noch
eine
weitere
Problematik
deutlich:
Die
sozialwissenschaftliche
bzw.
sozialphilosophische Grundlage dieser Kritik an der Praxis Sozialer Arbeit steht u. U. durch
die Vermittlung von wissenschaftlichen Wissensbeständen selbst in Frage, wenn Fachkräfte
zur Legitimation von professionellem Handeln in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
verstärkt auf naturwissenschaftliches – also medizinisches – Deutungswissen rekurrieren.
Matthias Nauerth (2014) führt dies auf die unzureichende »Methodisierung« sozialer
Verfahren des Fallverstehens zurück: Die eingeforderte genealogische Perspektive drohe
selbst ein abseitiger Diskurs im Kampf um Deutungshoheit gegenüber anderen
Wissensbeständen – z.B. der Medizin, der Verwaltung usf. – zu bleiben, wenn die Fachkräfte
ihrer Expertise, zugunsten der anderen – z.B. medizinischer, juristischer usf. –
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
144
Bezugswissenschaften, einen geringeren Stellenwert einräumten oder ihre Praxis nicht
genügend nachvollziehbar herleiteten bzw. darstellten. Die Möglichkeit einer Stärkung ihres
Diskurses sieht Nauerth in der »Methodisierung« ihrer Verfahren, wodurch Transparenz und
Nachvollziehbarkeit
professionellen
Handelns
gegenüber
Adressat_innen,
Kostenträger_innen, Kooperationspartner_innen und Öffentlichkeit hergestellt werden
könnten (vgl. Nauerth 2014). In dieser Stärkung des sozialarbeiterischen Diskurses läge dann
zugleich
eine
Schwächung
der
professionellen
Deutungsmacht
gegenüber
ihren
Adressat_innen. Diese würde faktisch den Schutz vor willkürlichen Diagnosen, aber auch die
Einführung
transparenter
und
nachvollziehbarer
„Überprüfungs-
und
Einspruchsmöglichkeiten“ (ebd., S. 318) befördern. Sollen die Angebote Sozialer Arbeit, ihrer
Rolle als Profession entsprechend, in Form von „verwendungsnahen Vermittlungsdiskurse[n]“
(Dewe 2015, S. 326) erbracht werden, ohne dabei die Subjektivierung der Adressat_innen
zugunsten eines verkürzten Normalisierungsdiskurses zu vereindeutigen und dabei subjektive
Wissensbestände zu marginalisieren, bietet sich aus unserer Sicht eine Methodisierung in
Form von Fallwerkstätten, entlang eines rekonstruktionslogischen Paradigmas an. Die darin –
von Fachkräften und Wissenschaftler_innen – rekonstruierte Qualität der Arbeitsbündnisse
und
der
Nutzer_innenperspektiven,
mit
Fokus
auf
die
Wiederherstellung
und
Aufrechterhaltung der somato-psycho-sozialen und kognitiven Integrität (vgl. Oevermann
2005, S. 23), bieten die Möglichkeit der transparenten Darstellung der sozial-diagnostischen
Herleitung der Hilfen.
3. Die Methode „machtreflexive Fallwerkstatt“
Die Begründung einer notwendigen Kombination rekonstruktiver und subsumtionslogischer
Perspektiven führt an dieser Stelle zur Darstellung der Methode ‚machtreflexive
Fallwerkstatt’. Dabei wird die Methode der Objektiven Hermeneutik (Oevermann) mit den
drei Wissensperspektiven (Dewe) zusammengebracht und mit den machtreflexiven und
gerechtigkeitsambitionierten Überlegungen konfrontiert. Zur möglichen Erprobung wird im
Folgenden die Methode handhabbar in Form einer (vagen) Anleitung dargestellt:
Rekonstruktive Fallwerkstätten
145
Vorbereitung einer Fallwerkstatt
•
Aus einem individuellen unterschiedlichen Anlass heraus, bestimmt eine Gruppe von
Fachkräften (z.B. ein Team) ein bis zwei Personen, die eine Fallvignette und eine
Fragestellung für die Fallwerkstatt vorbereiten. Die Fallauswahl ist durch das
Erkenntnisinteresse/ und oder die Praxiskrise der Fachkräfte bestimmt. Geht es um die
Reflexion allgemeiner Handlungsstrukturen der Gruppe, eignet sich ein routinierter
Fall, um auf allgemeine Sinnstrukturen zu stoßen. Die Methode ist auch für die
Besprechung eines krisenhaften Falles geeignet, mit dem konkrete professionelle
Handlungsoptionen erarbeitet werden sollen.
•
Die Fallvignette ist eine eigens für die Fallwerkstatt angefertigte Fallbeschreibung im
Umfang von einer DIN A4-Seite. Eine so verstandene Fallwerkstatt kann in erster
Linie die Deutungsmuster des Helfer_innenteams rekonstruieren, die den Fall in dieser
Weise herstellen. In dem Textmaterial verbirgt sich auch die Fallstruktur der
Adressat_innen. Mit authentischen Interviewsequenzen der Adressat_innen wäre es
möglich, die Sinnstrukturiertheit des Falls zu rekonstruieren. Günstigerweise wird die
Konstruktion des Falles aus Sicht der Fachkräfte mit der Fallstrukturhypothese des
Einzelfalles – unter Einbezug wissenschaftlichen Wissens - miteinander vermittelt.
•
Die Form der Fallbeschreibung bestimmen die Falleingebenden; sie sollte auf die
Fragestellung abgestimmt sein (z.B. biografischer Verlauf, institutionsbezogene
Interaktionen,
Hilfeverlauf
gesamt,
detaillierte
Beschreibung
einzelner
Handlungsabläufe). Die Angaben zu Namen und Orten müssen anonymisiert werden.
•
Die Fallvignette wird allen anderen Teilnehmer__innen erst zum Termin der
Fallwerkstatt vorgelegt, jede_r erhält ein gedrucktes Exemplar.
•
Es sollten eine Gesprächsleitung und ein_e Protokollant_in bestimmt werden. Die
Gesprächsleitung ist für die Einhaltung der Arbeitsschritte und –prinzipien zuständig.
Die Ideen und Aushandlungsergebnisse sowie widersprüchliche Lesarten werden für
alle lesbar (z.B. auf einem Flipchart) dokumentiert.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
146
Interpretationsphase der Fallwerkstatt
•
Für die Fallwerkstatt sollten drei Zeitstunden eingeplant werden.
•
Die Gesprächsleitung eröffnet die Fallwerkstatt, es wird allen Anwesenden eine
Fallvignette ausgeteilt. Die Interpretation beginnt, ohne eine einsteigende Erklärung
des Falls.
•
Die Fragestellung an die Fallwerkstatt wird im Vorhinein kommuniziert und diskutiert
und wenn möglich niedergeschrieben und gut lesbar im Raum platziert.
•
Alle Anwesenden können sich an der Interpretation beteiligen. Die Person, welche die
Frage an den Fall formuliert hat, sollte sich die wesentlichen Lesarten protokollieren.
•
Bei Fallwerkstätten sollten folgende fünf Prinzipien der Textinterpretation
eingehalten werden (vgl. Wernet 2009, S.21-38):
•
Kontextfreiheit: Dies meint einen gedankenexperimentellen ersten Zugriff auf den
Text, in dem Kontexte konstruiert werden, in denen der vorliegende Text
angemessen sein könnte. Das Kontextwissen darf nicht zur Begründung der
Lesarten herangezogen werden. Die Konfrontation mit dem Kontext und die
vorgenommene Kontrastierung ermöglichen es, die Besonderheit des Falls zu
verstehen. (Vgl. Wernet 2009, S. 21-23)
•
Wörtlichkeit: Die wörtliche Interpretation des Textes ermöglicht es, zwischen der
Bedeutungsintention, also dem Inhalt, den der/die Sprecher_in deutlich machen
wollte, und der Textrealisierung, also den dafür verwendeten Wörtern, zu
differenzieren. Da der Text die wissenschaftliche Datenbasis für die Interpretation
ist, muss auch wörtlich vorgegangen werden. Somit unterscheidet sich die
wissenschaftliche
wörtliche
Interpretation
auch
von
lebenspraktischer
Interpretation, weil sie distanzierter analysiert. (Vgl. Wernet 2009, S. 23-27)
•
Sequenzanalyse: Die Analyse der „mit jeder Einzelhandlung als Sequenzstelle
sich von neuem vollziehende, durch Erzeugungsregeln generierte Schließung
vorausgehend eröffneter Möglichkeiten und Öffnung neuer Optionen in eine
offene Zukunft“ (Oevermann 2002, S. 7, Hervorhebungen im Original) ist
unerlässlich. Damit wird der sequentiellen Logik des menschlichen Handelns und
Bildungsprozesses gefolgt. Eine Sequenz ist erstens davon bestimmt, dass eine
bestimmte Lebenspraxis nach Erzeugungsregeln einen gewissen Spielraum
möglicher Anschlüsse zunächst eröffnet und sie zweitens eben aus diesen
Rekonstruktive Fallwerkstätten
147
Anschlüssen nach ihren eigenen Auswahlprinzipien auswählt. Die Ganzheit dieser
Logik der Auswahl in dem Spielraum bestimmt die Fallstruktur. (Vgl. Oevermann
2002, S. 7, 8,12)
•
Extensivität: Dieses Prinzip besagt, dass alle im ausgewählten Text vorliegenden
Textelemente vollständig bei der Interpretation zu beachten sind und alle
möglichen Lesarten der Textelemente beleuchtet werden sollen (vgl. Wernet 2009,
S. 32-35).
•
Sparsamkeit: „Das Sparsamkeitsprinzip verlangt nicht mehr und nicht weniger,
als nur diejenigen Lesarten zuzulassen, die textlich überprüfbar sind. Es behauptet
nicht, dass die unüberprüfbaren Lesarten falsch sind. Es behauptet aber, dass sie
für einen Akt der überprüfbaren interpretatorischen Erschließung wertlos und
hinderlich sind.“ (Wernet 2009, S. 37)
•
Folgende Arbeitsschritte (Sequentielle
Feinanalyse,
Fallstrukturhypothese)
werden bei der Interpretation vorgenommen (vgl. Wernet 2009, S. 39–52):
a) Text in Sinneinheiten (einzelne Wörter, zusammenhängende Ausdrücke oder
Teilsätze) einteilen und jeweils pro Sinneinheit folgende Schritte durchführen:
b) Geschichten erzählen, in denen der Text vorkommen könnte und sprachlich
angemessen ist, die jedoch den tatsächlichen Kontext verlassen. Zur Hilfe
können auch kontrastive Gedankenexperimente gemacht werden oder
Geschichten gesucht werden, welche die Lesart falsifizieren würden.
c) Lesarten bilden und dabei Strukturgemeinsamkeiten der Geschichten finden
und zu Typen gruppieren. Das Angerührt-sein und die Emotionalität der
Fachkräfte kann hierbei gleichzeitig reflexiv in den Blick genommen werden
(vgl. Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. 303). Im Forschungsprojekt beschrieben
Fachkräfte, dass sie das Verfahren als Empathie fördernd erlebt haben. Die
gefundenen
Lesarten
sollen
strukturiert
in
die
verschiedenen
Wissensperspektiven (praktisches Handlungswissen der Adressat_innen,
Professionswissen
der
Praxis,
wissenschaftliches
Deutungswissen
mit
theoretischen Hintergründen) eingeordnet werden. Dabei kann reflektiert
werden,
ob
die
interpretierende
Gruppe
alle
Wissensperspektiven
berücksichtigt oder bestimmte auslässt. Dabei muss kein Konsens erzwungen
werden, sondern unterschiedliche Lesarten können am Text überprüft werden.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
148
d) Lesarten mit tatsächlichem Kontext konfrontieren mit der Fragestellung,
welche Bedeutung die gefundenen Lesarten für den besonderen Fall haben
könnten.
e) Formulierung einer Fallstrukturhypothese, indem die gefundenen Lesarten zu
einer
für
die
Ausgangsfrage
beantwortenden
Fallstrukturhypothese
zusammengefasst werden. Hierbei ist zu reflektieren, dass gleichzeitig geltende
konstitutive
Regeln
sozialen
Handelns,
„auch
in
machtkritischer
Kontextualisierung, die in realen Lebensverhältnissen und ihren gesellschaftlichen, milieu- und schichtspezifischen Normalitätserwartungen ihren
historisch-kulturellen
Ausdruck
finden
(Latenter
Sinn)“
(Stumpf/
Bliemetsrieder 2017, S. 303) und gleichzeitig auch die manifesten Gründe für
Handlung
oder
Nicht-Handlung
mitverhandelt
werden
können
und
rechtfertigbar sein müssen (vgl. Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. 303). Wo
sehen sich die Fachkräfte mit Ungewissheiten und (Noch-)Nicht-wissenkönnen konfrontiert?
In den rekonstruktiven Fallwerkstätten im Forschungsprojekt zeigten sich beispielsweise
folgende, hier unsystematisch dargestellte Themenkomplexe auf den unterschiedlichen
Wissensebenen:
Wissensperspektive der
Adressat_innen
• Thematisierung eigener
Sehnsucht nach
Unverletzlichkeit
• Ohnmachtserfahrungen
• Thematisierung des
Zwangskontextes
• Selbstsorgetätigkeiten
• Wehren gegen diagnostische
Zuschreibungen
• Konstruktionen von „Drinnen
und Draußen“
• Forderungen nach
Rechtfertigungen
• Ringen um Regeln
• Forderung nach
Beschwerdemöglichkeiten
• Ernstnehmen von
Selbstadressierungen
• Gerechtigkeitssuche
• Sich als selbstbestimmte Person
erleben können
Professionswissen
Wissenschaftliches
Deutungswissen
• Herstellung von therapeutischen
Settings
• Bildungsbiographien
ermöglichen
• Aufträge benennen können
• Gefahr, dass klinische
Diagnosen Sinnbegriff für Praxis
werden
• Gefahr der Infantilisierung und
Regressivität durch das System
• Umgang mit psychiatrisierenden
Vorerfahrungen der
Adressat_innen
• Organisationsstrukturen nicht
vernachlässigen
• Unterschiedliche
Adressierungen: Nutzer_innen,
Patient_innen, Besucher_innen
• Normative Bewertungen
• Werben für die Anerkennung des
professionellen
• Konzepte von Integritäten und
Selbstbestimmung als Idee von
Menschenwürde
• Beachtung soziologischer,
theoretischer Positionen
(Ungleichheiten, totale
Institutionen, Anerkennung etc.)
• Gefahr der Verschleierung von
Machtverhältnissen
• Gefahr der Konstruktion von
Linearitäten und Eigentheorien,
die nicht haltbar sind
• Rechtfertigung und Alterität
• Bedeutung und Kritik
unterschiedlicher
Klassifikationsmuster
• Gefahr, pathologisierende
Verhältnisse zu reproduzieren
• Bedürfnistheoretische
Vergewisserung
• Gefahr, Symptome psychischer
Rekonstruktive Fallwerkstätten
149
• Wünsche nach „Leben können“
statt nur „Wohnen müssen“ (zu
Hause haben)
• Normalisierungswunsch nach
einem „Draußen sein dürfen“
• Sich auch entziehen und
Konflikte vermeiden dürfen
• Das eigene Leben, die eigenen
Identitäten erzählen dürfen
• Traumatisches Erzählen können
• Sehnsucht nach Normalitäten z.
B. Partnerschaften, Lohnarbeit
• Sehnsucht nach Anerkennung
und auch anerkennende
freundschaftliche Beziehungen
• Gefühle, Bilder und Emotionen
zum Ausdruck bringen dürfen
• Eigene mythische
Vorstellungen behalten dürfen
• Kreativität entfalten dürfen
• Einen Umgang mit eigener
Elternrolle finden können
• Einen Umgang mit
Ungewissheiten erproben
können
• Selbstmedikationen
thematisieren können
• Verhältnis zur eigenen
Herkunftsfamilie thematisieren
können
Erfahrungswissens
• Strukturen anbieten
• Hilfeplanung und
Institutionalisierung
• Fachsprache in den
Hilfeplankonferenzen
• Erfahrungsgesättigte
Erklärungen, warum eine Person
biographisch so und nicht anders
geworden ist
• Anamnesen erstellen
• Ausbalancieren von Nähe und
Distanz, Eingehen von
Arbeitsbündnissen
• Räume für Entwicklungen bereit
stellen
• Umgang mit Krisen und
Suizidalität
• Historische Kontextualisierung
der „Fälle“
• Umgang mit traumatischen
Erfahrungen der Adressat_innen
• Umgang mit
Datenschutzbestimmungen
• Standardisierungen,
Aktenführung
• Umgang mit Spannungsfeldern
• Paradoxie des Trialoges
erkennen
Erkrankung zu pathologisieren
• Verstehen von Kontexten
• Rechtssubjekte und Recht auf
Rechte
• Verstehen von entgrenzten
Lebensläufen und (Bildungs-)
Biographien sowie Lebenslagen
• Pluralisierung von Lebensstilen
• Identitätskonstruktionen
• Gefahr der Objektivierung der
Nutzer_innen
• Bedeutung von neoliberalen
Strukturen
• Erkennen der widersprüchlichen
Einheit von diffuser und
formaler Sozialbeziehung in
Arbeitsbündnissen
• Erkennen der widersprüchlichen
Einheit von Selbstbestimmung
und reflexiver Stellvertretung
auf Selbstbestimmung hin
• Traumabegriff wissenschaftlich
klären
• Gefahr der Biologisierung und
Subjektivierung von kritischen
Lebensereignissen
• Verstehen von Adoleszenzkrisen
• Bedeutung von Regressionen
erkennen
Partizipation braucht Exploration und eine gleichwertige Anerkennung und/oder Privilegierung der
Wissensperspektive der Nutzer_innen Sozialer Arbeit. Dabei steht die Normalisierungssehnsucht der
Nutzer_innen im Vordergrund. Die Profession muss den Nutzer_innen Deutungsangebote machen.
Wissenschaft muss das Erfahrungswissen der Profession kritisch würdigen und dort machtreflexiv anfragen,
wo Praxis gewaltvoll repressiv handelt und Machtverhältnisse reproduziert. Dabei darf die Wissenschaft den
Handlungsdruck der Profession nicht vergessen. Sie muss sich selbst permanent einer Selbstkritik
unterziehen.
Tabelle 2: Themenkomplexe der Fallwerkstätten im Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen
Handlungsfeldern“, eigene Darstellung
Diskussionsphase nach der Interpretation
•
In der nachträglichen Rekonstruktion ist es bedeutend, machtreflexiv über die
gewonnenen Fallstrukturen hinaus das Verhältnis der eigenen Adressat_innen zur
Gesamtgesellschaft anhand der Rekonstruktionen zu deuten und auch (kollektive)
Integritätsverletzungen
(z.B.
Diskriminierungen
und
Exklusionen)
der
psychiatrisierten Personen herauszuarbeiten (vgl. Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
150
304). Welches wissenschaftliche Wissen findet sich über die Zusammenhänge von
psychischer Diagnose und Exklusion und Diskriminierung? Die Fachkräfte
berichteten, wie erkenntnisgewinnend es für sie war, theoretische Bezüge zu den
Fallkonstellationen herstellen zu können. Daran anschließend stellt sich nun die Frage,
wie das Erfahrungswissen der Adressat_innen privilegiert oder zumindest gleichwertig
gewürdigt werden kann? Wird beispielsweise das Wissen von Widerstands- und
Selbsthilfebewegungen im Sinne eins „Nicht über uns ohne uns“ einbezogen? Welche
Partizipations- und Selbstbestimmungswünsche lassen sich ableiten?
•
Die
Fallwerkstatt
zeigt
einerseits
die
vielfältigen
Wissensbestände
von
Helfer_innenteams, andererseits haben Teamkonflikte einen großen Einfluss auf die
Ergebnisse der Fallwerkstatt. Dagegen wirkt unterstützend, sich stark an der Methode
zu orientieren, damit die Deutungen am Text überprüft werden können und auch die
weiteren Prinzipien eingehalten werden. Irritationen von Deutungsmustern brauchen
einen sicheren Rahmen, in dem sich Fachkräfte und Wissenschaftler_innen revidieren
können. Das Ringen um Deutungen kann daher durch Konflikte erschwert werden,
weil es nicht mehr um das widerspruchsfreiste Argument geht, sondern eher um die
weitere Stärkung machtvoller Sprecher_innenpositionen. Eine machtreflexive
Fallwerkstatt muss die teaminternen Machtverhältnisse berücksichtigen.
•
Das
kann
auch
als
Diskussionsgrundlage
für
professionstheoretische
und
professionsethische Handlungsroutinen für die Fachkräfte (Professionswissen) dienen.
Eine Frage ist, wo Deutungsmuster, herangezogenes empirisches Wissen (ärztlicher
Blick) und Eigentheorien auch in Gefahr stehen, selbst Diskriminierendes und
Gewaltförderndes zu beinhalten oder Gewalt strukturell zu legitimieren? Wann droht
die widersprüchliche Einheit von notwendiger Stellvertretung und echter Partizipation,
in eine abhängigkeitserzeugende Weise vereindeutigt zu werden? (vgl. Stumpf/
Bliemetsrieder 2017, S. 304)
•
Wie kann aus diesen Erkenntnissen die eigene Institution gerechtigkeitsambitioniert
weiter entwickelt werden und Selbstbestimmung und die Förderung der somatopsycho-sozialen und kognitiven, rechtlichen, moralischen und räumlichen Integrität
der
Adressat_innen(-gruppen)
hinsichtlich
v.a.
der
Unverletzbarkeit
ihrer
Körperlichkeit, seelischen Gesundheit, Bildung, Gerechtigkeit, Sinnsuche und
Rekonstruktive Fallwerkstätten
151
Unterkunft (vgl. Oevermann 2008: 59 f.) (wieder) ins Zentrum gerückt werden (vgl.
Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. 304)? Deutungskonflikte zeigten sich in den
Fallwerkstätten zwischen den Fachkräften, zwischen Fachkräften und Leitung,
zwischen Wissenschaft und Praxis und zwischen Kliniken und sozialpsychiatrischen
Einrichtungen.
•
Was könnte diese Erkenntnis (auch zur konstruktiven Konfliktbearbeitung) für eine
induktive (Gerechtigkeitsorientierung) und zugleich deduktive (Institutionen-)Ethik
(Menschenrechtsorientierung) bedeuten? (vgl. Stumpf/ Bliemetsrieder 2017, S. 303)
•
Wie können diese Wissensperspektiven nun relationalisiert werden? Wie können die
nun gewonnenen Erkenntnisse mit den Adressat_innen machtreflexiv – im
Bewusstsein der Begegnung von Personen mit unterschiedlicher Verletzbarkeit –
ausgehandelt werden? Welche Bedeutungen haben diese Erkenntnisse für eine
trialogische Professionalität?
•
Im Nachhinein könnte das Protokoll zur Reflexion des methodischen Vorgehens und
zur Ergebnissicherung allen zugänglich gemacht und evtl. nachbesprochen werden.
In einer Fallwerkstatt im Rahmen des Forschungsprojektes zeigte sich beispielsweise, dass
ein Konzept eines so genannten „Traumamodus“, in welchen sich Adressat_innen
hineinbegeben würden, zum handlungsleitenden Motiv wurde. In der Lesart des Teams zeigte
sich ein Traumaverständnis als eine biologisch determinierte Reaktion eines „überforderten
Gehirns“. Dieses Deutungsmuster der Fachkräfte diente auch zur Entlastung und
Entstigmatisierung der Adressat_innen. Gleichzeitig wurde den Adressat_innen jegliche
Selbstbestimmungsmöglichkeit und Handlungsfähigkeit abgesprochen, genauso wie die
Möglichkeit, kritische Lebensereignisse versprachlichen zu können. Weiter wurde die Soziale
Arbeit von dem Team als nicht diagnostizierend konstruiert. Hierbei zeigte sich, wie Soziale
Arbeit in Gefahr steht, sich im Kontext von Komplexitätslagen einerseits durch „Hype“ zu
technisieren („vom systemischen Arbeiten über psychoanalytische Ansätze bis hin zu
traumapsychologischen Ansätzen“) und gleichzeitig Komplexität massiv zu reduzieren: Das
eben skizzierte Team sah gleichzeitig die Hauptaufgabe der Sozialen Arbeit in dem
sozialpsychiatrischen Handlungsfeld in der so genannten „Beziehungsarbeit“, ohne dabei
eine Idee zu entwickeln, wie Lebensverhältnisse, Lebensvollzüge und Lebensdeutungen der
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
152
Adressat_innen positiv mitgestaltet werden könnten. Die Teilnehmenden der Fallwerkstatt
traten über diese Fragen – entlang der Arbeitsbündnistheorie – in einen interessantkonfliktreichen Aushandlungsprozess ein.
Rekonstruktives Fallverstehen im Kontext eines trialogischen Professionsideals
Einerseits stellten einzelne Fachkräfte die Praktikabilität der im Forschungsprojekt
gemeinsam erprobten Fallwerkstätten in Frage, da sie dafür nicht genügend Zeitressourcen
sehen. Andererseits stellten Fachkräfte positiv heraus, dass das Verfahren Deutungsprozesse
entschleunigen und gegen unangemessenen „Aktionismus“ helfen kann. Dabei würden
bisherige eingefahrene Handlungsroutinen sichtbar und ein biographischer Blick hinsichtlich
der Adressat_innen eingenommen. Hier schließt die Frage an, welche Möglichkeiten eine
solche machtreflexive Fallwerkstatt für eine reflexive Soziale Arbeit in der Sozialpsychiatrie
haben kann?
Interessant wäre es unseres Erachtens, zwischen den manifesten (Partizipation) und latenten
Bedeutungsstrukturen (Advokatorik) zu unterscheiden und beides in der Rekonstruktion
zugänglich zu machen. Dabei ist wichtig, dass die stellvertretenden Deutungen
(Fallverstehen) in einem Aushandlungsprozess mit den Adressat_innen auch verworfen
werden können (müssen), wenn sie nicht rechtfertigbar sind oder die Sinnstruktur für die
Adressat_innen keinen (Eigen-)Sinn stiftet (vgl. Ludwig 2015, S. 310). Das bedeutet jedoch
nicht, dass sich Adressat_innen im Sinne einer advokatorischen Ethik den latenten
Sinnstrukturen vollständig entziehen können und Institutionen sich manifesten Sinnstrukturen
nicht konfrontieren müssten. Hierin liegt doch die Widersprüchlichkeit professionellen und
institutionellen
Zusammenhängen
Handelns.
als
Dadurch
widersprüchliche
würde
Einheit
Professionalität
von
in
institutionellen
advokatorischer
Ethik
und
Nutzer_innenpartizipation anerkannt.
Idealtypisch wäre es, alle drei beschriebenen Wissensperspektiven mit der gleichen Macht
auszustatten, um somit eine „ideale, herrschaftsfreie Sprechsituation [herzustellen,] mit
optimalen Chancen, für das jeweilige Problem die richtige Lösung, das Gute zu finden, da der
je gefundenen Lösung alle zwanglos zustimmen können“ (Dörner 2003, S. 38). Klaus Dörner
verweist darauf, dass sich hierfür das Konzept des Trialogs im sozialpsychiatrischen Kontext
153
Rekonstruktive Fallwerkstätten
im deutschsprachigen Raum seit 1989 etabliert hat. Mit dem Begriff des Trialogs werden
Foren bezeichnet, in welchen sich Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Fachkräfte auf
Augenhöhe begegnen können, um „sich über Fragen der Angemessenheit psychiatrischer
Praxis, Versorgung und Wissenschaft so zu verständigen, dass die Belange aller drei Gruppen
gleichermaßen Berücksichtigung finden“ (ebd., S. 37). Zugleich thematisiert Dörner auch die
notwendigen Voraussetzungen für einen Trialog, die, im Sinne eines Habermas'schen idealen
Sprechaktes, dazu beitragen sollen, eine „systematisch verzerrte Kommunikation“ (Habermas
1984, S. 252) unter den Teilnehmer_innen zu verhindern. So ist neben der Wahl von neutralen
Orten, zu welchen Dörner u.a. „Rathaus, Volkshochschule, Kirchengemeinde, Universität
oder Bürgerzentrum“ (Dörner 2003, S. 38) zählt, auch auf eine neutrale Zeit zu achten (vgl.
ebd., S. 40). Klingen diese Bedingungen voraussetzungsvoll, lassen sie sich immerhin noch
als idealtypische Orientierungspunkte verstehen.
Ein zentraler Punkt allerdings, der in der Auseinandersetzung mit der Forderung nach
Partizipation in der Sozialpsychiatrie die Idee der stellvertretenden Deutung durch Fachkräfte
interessant macht, ist eher pragmatisch. Um sicher zu stellen, dass alle beteiligten Personen
am Trialog nicht nur ihre partikularen Interessen vertreten, sondern auch als Vertreter_innen
der jeweiligen Interessens-Gruppen fungieren können, „gehört [es] daher wohl zu den
notwendigen Voraussetzungen des Trialogs, dass die beteiligten Gruppen sich in
Selbsthilfegruppen organisiert haben“ (ebd.). Diese Forderung steht jedoch im Gegensatz zur
Realität der Angehörigen- und Psychiatrie-Erfahrenen-Initiativen: „So ist festzustellen, dass
es nicht in allen Kreisen überhaupt organisierte Psychiatrieerfahrene und organisierte
Angehörige gibt, ferner gibt es die Erfahrung, dass manche Gruppen nicht stabil sind oder
keine Resonanz mehr finden. Die eigentlich wünschenswerte Mitwirkung auch in
Arbeitsgruppen u.ä. im GPV [Gemeindepsychiatrischer Verbund, Anm. d. V.] personell
sicherzustellen ist vielen Selbsthilfegruppen von Angehörigen wie von Psychiatrieerfahrenen
kaum möglich.“ (LVPEBW 2015, S. 1) Folglich fordert der Landesverband der PsychiatrieErfahrenen auch die Unterstützung der Fachkräfte beim (Wieder-)Aufbau solcher Strukturen.
„Solange es keine stabilen Formen organisierter Selbsthilfe gibt, in denen das in Eigenregie
sichergestellt wird, liegt hier eine unverzichtbare Aufgabe der Professionellen.“ (ebd., S. 3)
Vor diesem Hintergrund wären die Voraussetzungen für Partizipation erst herzustellen. Die
Soziale Arbeit wird durch den Landesverband der Psychiatrie-Erfahrenen gleich doppelt
angefragt. Zum einen als Unterstützer_in und Ansprechpartner_in für den Aufbau von
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
154
Selbsthilfestrukturen. Zum anderen aber – und hierbei können rekonstruktive Fallwerkstätten
eine sinnvolle Methode sein – als parteiliches und solidarisches Gegenüber im Prozess der
Selbstartikulation der Adressat_innen. (Vgl. Bliemetsrieder/Maar/Schmidt/Tsirikiotis 2016)
Auf der Seite der Sozialen Arbeit eröffnet das Ringen um eine fallangemessene Deutung
Professionalisierungs-Räume für die Teams in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Im
Aushandlungsprozess mit den Adressat_innen durchlaufen die erarbeiteten Deutungen weitere
Schleifen und ermöglichen es die Möglichkeits-Räume konkreter auszuleuchten, Selbst- und
Fremddeutungen zu prüfen, zu verwerfen oder - in Ansätzen – zu übernehmen. Auf der Seite
der Adressat_innen können die Aushandlungsprozesse um die Deutungen machtreflexiver
Fallwerkstätten einen Anlass bieten, um Selbst- und Weltverhältnisse zu reflektieren und die
auf Möglichkeiten für Transformationsprozesse hin anzufragen.
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Diagnostik in der Sozialen Arbeit
Hubert Höllmüller
Zugegeben, der Ausdruck ist etwas sperrig, aber es ermöglicht eine integrierende Sichtweise
auf die Soziale Arbeit: Diagnostik ist der am Anfang stehende (und immer wiederkehrende)
Erkenntnisprozess darüber, worin der Fall besteht, wovon er handelt, welches Problem er
beinhaltet, und verknüpft sich mit den Bereichen der Methoden und Techniken und mit denen
der wissenschaftlichen Theorien. Es genügt nicht zu verstehen, worin der Fall besteht, oder zu
wissen, wie ihm gegenüberzutreten ist, welche Methoden die erfolgversprechenden sind oder
welche Theorie hier am besten zum Einsatz kommt: Soziale Arbeit ist ein komplexer Prozess,
der mehrere Grundelemente beinhaltet, von denen keines für ein Gelingen verzichtbar ist.
Professionist_innen
müssen
alle
Bereiche
beherrschen:
die
Diagnose,
die
Interventionsplanung, die Interventionsdurchführung, die Evaluation, die mitlaufende
Reflexion für eine mögliche Korrektur all dieser Schritte und die Rückbindung dieser Schritte
an Theorien. Und eben diesen Zusammenhang legt der Begriff Diagnose nahe. In der
Disziplin wird dem meines Erachtens zu wenig entsprochen. Ganz im szientistischen Gestus
verfangen, ‚zerlegen’ wir unsere Gegenstandsbereiche so weit, dass der Zusammenhang
verschwindet und vergessen die notwendige Kehrseite jeder Analyse, die Kontextualisierung.
Zunächst wird in diesem Beitrag der Begriff ‘Soziale Diagnostik‚ verhandelt und dafür
plädiert, dass die Soziale Arbeit eine handlungsanleitende Diagnostik innerhalb der eigenen
Profession entwickeln muss. ‘Soziale Diagnostik‘ ist hierbei nicht mit Anamnese
gleichzusetzen. Weiters wird in einem kurzen Streifzug angedeutet, welche möglichen
diagnostischen Instrumente Sozialer Arbeit bereits zur Verfügung stehen.
Anschließend setze ich mich mit der Frage auseinander, weshalb innerhalb der Profession
Soziale Arbeit diagnostische Instrumente so wenig Anwendung finden und ich möchte
aufzeigen, warum sich bestimmte Konzepte nicht als Diagnoseinstrument für die Soziale
Arbeit eignen.
Im dritten Abschnitt finden sich drei Interviewpassagen mit Jugendlichen im Kontext einer
Jugendnotschlafstelle, aus denen heraus ich andeuten möchte, wie in ihnen spezifische
161
Diagnostik in der Sozialen Arbeit
Wahrnehmungen, Prozesse der Selbstbeschreibung sowie Selbstwahrnehmungen zum
Ausdruck kommen und wie Fachkräfte häufig pädagogisierend in bestimmten Systemlogiken
darauf reagieren.
Abschließend möchte ich ein Diagnoseinstrument darstellen, das ich mit engagierten
Programmierschüler_innen entwickelt habe und welches kostenfrei der Profession Sozialer
Arbeit zur Verfügung steht.
I. Soziale Diagnostik
Der Begriff ‘soziale Diagnostik‚ mag problematisch erscheinen, weil ‘Diagnostik‚ einem
naturwissenschaftlich-technischen Verständnis entlehnt ist und damit Linearität postuliert und
suggeriert, die in der Sozialen Arbeit nicht zu haben ist. Das naturwissenschaftliche
Verständnis besagt, dass es zuerst einmal einen objektiv feststellbaren Gegenstand, – in
unserem Fall eine Problemlage – gibt. 1 Mit dem richtig eingesetzten Werkzeug lässt sich
dieser Gegenstand erfassen und beschreiben. Diese technische Vorstellung betrifft des
Weiteren die Behandlung der Problemlage und damit ihre Lösung. Bei richtiger Diagnose
folgt in einer Art professioneller Automatik die richtige Hilfe/Behandlung und infolgedessen
die (Auf)lösung der Problemlage.
In der sozialen Arbeit ist jedoch weder die Diagnostik 2 selbst noch der gesamte Hilfeprozess
linear:. Soziale Diagnostik ist zirkulär, Selbstbeschreibungen und Zuschreibungen von Außen
interagieren mit Selbst – und Fremdbeobachtungen und Beobachtungen zweiter Ordnung. In
ihrer Zirkularität ist Soziale Diagnostik zugleich fortschreitend, weil Kommunikation neue
Realitäten schafft, jede Frage bereits eine Intervention darstellt und so aus Möglichkeiten
Wirklichkeiten entstehen oder Unmöglichkeiten. Für dieses Modell der Sozialen Diagnostik
als fortschreitend zirkulären Prozess der Analyse und Kontextualisierung – es gibt auch
1
„Objektiv“ meint, dass dieser Gegenstand unabhängig von einer Beobachtungsperspektive existiert.
2
Meines Erachtens gleichbedeutend ist der Begriff des „Verstehens“ eines Falles. Der Verstehensbegriff schließt an die Diskussion in der Wissenschaft über die eigene Erkenntnismethodik der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften an. Diese Diskussion ist nicht abgeschlossen, aber
de facto haben die Geisteswissenschaften sich längst im Wissenschaftssystem behauptet. Wissenschaftstheoretisch halte ich den Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften für überholt
und die Relativität jeder Erkenntnis für wissenschaftlich belegt und grundlegend. Dazu erscheint es
mir auch nicht sehr schlüssig, Verstehensprozesse objektiv setzen zu wollen.
Hubert Höllmüller
162
andere Modelle, die an Linearitäten festhalten – bestehen ethische und theoretische
Voraussetzungen: die Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Sichtweisen, die prinzipielle
Relativität der eigenen Bewertung, die Eingebundenheit von Individuen in ihre sozialen
Systeme. (also nicht ‚person in environment’ sondern ‚person in systems’).
Die Zirkularität der sozialen Diagnostik steht im Widerspruch zum Handlungsdruck in der
Sozialen Arbeit. Dieser Handlungsdruck drängt wieder Linearität auf: Es gilt zunächst das
Problem zu benennen, um in einem nächtsen Schritt einen Hilfeplan zu verfassen und damit
die vermutete richtige Hilfeform einzusetzen. Im günstigen Fall werden bei der
Hilfeplanerstellung gemeinsam mit den Betroffenen Ziele formuliert, mit deren Erreichen auf
das Problem Einfluss genommen wird – im erfolgreichen Fall ist es gar gelöst. Und in der
Hilfeform werden bestimmte Methoden und Techniken eingesetzt, um die Ziele erreichen zu
können. Der ganze Prozess ist gerahmt von berufsethischen Positionen und theoretisch
rückgebundenen Haltungen. In gleicher Weise ist er darüber hinaus auch von
Organisationsdynamiken und psychischen Dispositionen der handelnden Personen gerahmt.
Was für Wirtschaftsunternehmen gilt, gilt auch für soziale und wissenschaftliche
Unternehmungen. Obgleich wir besonders wenig darauf achten: Es geht auch in der Sozialen
Arbeit bisweilen um Macht, den Zugang zu Entscheidungspositionen oder den Willen, Recht
zu haben, alles verbunden mit mangelnder Selbstreflexion.
Diesem Widerspruch zwischen fortschreitender Zirkularität der Diagnose und Linearität
nahelegendem Handlungsdruck kann die Soziale Arbeit nur pragmatisch begegnen, will sie
nicht einerseits im komplexen Fallverstehen verharren und anderseits Problemlagen nur
verwalten. Es bedarf also einer handlungsanleitenden Diagnostik, die für die Profession
anwendbar ist.
Dabei ist klar, dass das alte Konzept der Anamnese nicht ausreicht: Daten zu sammeln und zu
strukturieren bzw. zu filtern ist kein diagnostischer Akt, denn dazu müssten diese Daten auch
bewertet werden. Dieser Bewertungsschritt wird jedoch gerne vermieden oder nur implizit
ausgeführt; das Motto lautet vielmehr: Die Fakten sprechen für sich (allerdings wirken bereits
Bewertungsprozesse darauf ein, welche Daten wie gesammelt werden und welche nicht). Die
Aufzählung all dessen, was ich als Sozialarbeiter bei einem Hausbesuch beobachte, ist keine
Diagnose. Der Satz „Im Vorzimmer riecht es unangenehm nach Zigarettenauch“ kann vieles
bedeuten. Die Tatsache, dass ich diesen Satz in die Stellungnahme an das Familiengericht
Diagnostik in der Sozialen Arbeit
163
schreibe,
die
im
Rahmen
einer
Verhandlung
über
einen
Obsorgeentzug
zur
Entscheidungsfindung herangezogen wird,, macht daraus eine tendenziell negative Aussage
im Bezug auf die Kompetenzen der Eltern.
Die reale Verfasstheit der Profession stellt sich mir dergestalt dar, dass hochkomplexe
Lebensgeschichten in der Profession schnell zu dünnen Fäden gerinnen, die mit einigen
Knoten versehen sind und versehen werden, wobei für lange (meines Erachtens oft zu lange)
Zeit festgelegt wird, welche Hilfeformen zum Einsatz kommen und welche nicht. An diesen
wenigen Knotenpunkten werden langfristige Entwicklungen entschieden, die kaum
revidierbar sind. Hier spielt zwar die de facto Diagnostik die entscheidende Rolle, aber ohne
explizite Ausformung. Damit bleibt sie intransparent und wird immer wieder als willkürlich
erlebt und beobachtet. Uneingelöst bleibt so auch der Anspruch der Profession, zu wissen und
erklären zu können, was sie tut.
Die Disziplin hat es bislang nicht geschafft, Instrumente zu entwickeln, die nicht nur hohe
reflexive Qualität ermöglichen, sondern auch zu verpflichtenden Standards werden. Die
Profession reagiert auf Vorschläge interessiert; die immer wieder gesetzten Initiativen sind
zwar meist auch sehr ambitioniert, jedoch zu isoliert vom Gesamtprozess innerhalb und
außerhalb der jeweiligen Organisation.
II. Was hat es für einen Nutzen, keine Instrumente sozialer Diagnostik einzusetzen?
Ich stelle diese Frage, weil mir bisher bis auf wenige Ausnahmen keine angewandten
Instrumente der Diagnose in der Profession begegnet sind.
Das bewusste Vagehalten der Lebens- und Leidensumstände der Klient_innen, die zugleich
den Ausgangsgrund jeglicher sozialarbeiterischer Aktivität (und damit den Einsatz von
öffentlichen Geldern) darstellen, ermöglicht viel persönlichen und organisatorischen
Spielraum. Anything goes. Ich kann im Hilfeprozess trotz dieser Unbestimmtheit Ziele ins
Auge fassen – allerdings mit wenig partizipativer Ausprägung –, Interventionen setzen und
meine persönlichen Erfolgsvorstellungen verfolgen. Als Organisation kann ich meine
Ressourcen freier lenken und mich dadurch mehr mit mir beschäftigen als mit dem Lösen von
Problemen meiner Klient_innen. Zu Hilfe kann ich dann psychologisch/psychiatrische
Diagnosen nehmen, denn wenn meine Klient_innen ‘krank‚ sind, ist unbezweifelbar
Hubert Höllmüller
164
klargelegt, dass Handlungsbedarf besteht. 3 Ohne explizite eigene Diagnose bleibt Soziale
Arbeit im psychologisch/psychiatrisch/psychotherapeutischen Feld nur eine Hilfsprofession.
Das Konzept der psychologischen Norm ist für die Soziale Arbeit dabei wenig fruchtbar. Zum
Beispiel weicht die Kinder- und Jugendhilfe selbst grundlegend ab: Während junge
Erwachsene in Österreich im Durchschnitt mit 24 Jahren aus dem Elternhaus ausziehen,
vollzieht das die Kinder- und Jugendhilfe per Gesetz im stationären Bereich mit 18 Jahren, bei
einigen wird bis zum 21. Lebensjahr verlängert: nach wie vor deutlich abweichend von der
Norm. ‘Fremd‘unterbringung bedeutet in Deutschland und Österreich zum größerenTeil
‘Platzierung‚ in Einrichtungen, in denen Kinder nicht-familiär betreut und erzogen werden.
Auch dieser Sachverhalt beschreibt eine Normabweichung. Die Psychiatrische Diagnostik
(ICD10) bescheinigt dies auch in ihrem multiaxialen Klassifikationsschema auf der 5. Achse,
„Abnorme psychosoziale Umstände“ unter „abnorme unmittelbare Umgebung“: „Erziehung
in einer Institution“.
Für
ebendiese
Diagnostik
sind
allerdings
auch
alleinerziehende
Elternteile,
Patchworkfamilien und behinderte Geschwister ‘abnorme Umstände‚. Diese Normperspektive
widerspricht meines Erachtens dem zentralen Ansatz der sozialen Arbeit, Abweichungen zu
normalisieren. Abweichungen sind Verhaltensweisen, die von den Personen zu trennen sind.
Und sie sind nicht per se ein Problem oder gar ein Mangel. Das bedeutet zugleich, dass
Personen nach ihren Möglichkeiten Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen müssen. Der
erste Schritt besteht jedoch darin, das Verhalten so zu akzeptieren (akzeptieren, nicht
gutheißen), wie es nunmal ist.
Peter Pantucek-Eisenbacher, einer der zentralen Autor_innen im Bereich der Sozialen
Diagnostik sprach deshalb beim letzten Fachkongress in Hamburg 2016 auch von der
Notwendigkeit einer ‘Speerspitze‘ gegen die dominierende Diagnostik der Psychologie und
Psychiatrie. Wie angebracht diese martialische Metapher ist, hängt von den multidisziplinären
und multiprofessionellen Einblicken ab, die zur Verfügung stehen. Tatsache ist, dass die
Soziale Arbeit aus der Psychologie (z. B. Psychosziale ressourcenorientierte Diagnostik
(PREDI) oder Person in Environment (PiE)) und der damit kombinierten Familientherapie mit
3
Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe habe ich bisher noch keine plausible Erklärung gefunden, worin der
Unterschied zwischen einer Störung und einer Krankheit liegt. Bedeutet Störung Normabweichung, wodurch die
Umwelt und/oder die Klient_innen selbst belastet bis hin zu verletzt werden? Und Krankheit den Ausschluss von
Verantwortung für eben diese Belastungen und Verletzungen?
165
Diagnostik in der Sozialen Arbeit
ihren sozialpädagogischen Familiendiagnosen (SOFA) bedient wird und damit eher freundlich
umgeht. Die Dominanz der Nachbardisziplinen ist zwar systemlogisch und folgt dem
Ausdifferenzierungsprinzip des Wissenschaftssystems, allerdings ist die Soziale Arbeit selbst
allzu oft in einer sich unterordnenden Haltung. Eine Speerspitze müsste sich also nicht nur
nach außen richten, sondern auch uns selbst auf die Sprünge helfen.
Zwei weitere Erklärungen im Hinblick auf die Abwesenheit von Diagnoseinstrumenten sind
meiner Ansicht nach denkbar: Jene Diagnoseinstrumente fanden bisher schlicht weder in die
Ausbildungs-/ Studienpläne der Ausbildungsinstitutionen noch in die Organisationen der
Profession Eingang. Oder aber die Akteur_innen möchten es gar nicht so genau wissen. Denn
alles, was genau gewusst wird, macht eine Intervention nötig.
III. Betroffene
Die sprachlich geglätteten Interviewpassagen dreier Jugendlicher wurden im Kontext einer
Jugendnotschlafstelle geführt. Das bedeutet, sie waren aktuell von Obdachlosigkeit betroffen
und außerhalb des regulären Hilfesystems. Die Interviews wurden in den dortigen
Aufenthaltsräumen geführt. Die Jugendlichen wurden nach ihrer Jugendhilfebiographie
gefragt, d.h., folgende Fragen wurden insbesondere gestellt: In welchen Einrichtungen waren
die Jugendlichen (inklusive Psychiatrie) untergebracht?. An wen können sich die
Jugendlichen erinnern? Was hat ihnen der Aufenthalt ihrer Ansicht nach gebracht?. Statt einer
klassischen psychologisierenden Textanalyse kombiniere ich Aussagen mit Substantiva, die in
erster Linie die Plausibilität der Erzählungen dokumentieren sollen. Ich habe die drei
Passagen ausgewählt, um die relative Reflektiertheit zu zeigen, mit der die Jugendlichen von
massiven Vorfällen berichten:
III.1
J: Ahm… jetzt fällt's mir wieder ein. In (nennt eine Einrichtung) kann ich mich an meine
Betreuerin erinnern. Die heißt (nennt einen Vornamen). Immer wenn ich schlimm war, hat sie
mich aufgehoben und irgendwo in mein Zimmer getragen. Ich weiß nicht ob es auch ein
Grund war wo sie weg… wo sie zugeschlossen haben, aber es war einmal da wo ich (...)
Hubert Höllmüller
166
regelmäßige Wutanfälle gehabt hab. Da haben sie mich in einen Raum eingeschlossen. Seit
dem zuck' ich aus, wenn irgendwer mich irgendwo einschließt. Ich flipp' aus. Komplett. Ich
krieg' Panikattacken. Wenn mich jetzt zum Beispiel da wer einschließen tät', alleine, ich tät'
ausrasten, ich tät' komplette Angstzustände kriegen. Des war aber meist, da war eine
Matratze am Bett für eine Nacht, für einen Tag und eine Nacht. Dann, wenn ich brav
geworden bin und mich gelernt hab zu benehmen, kann ich wieder 'rauskommen. Das war
schlimm.
Spezifische Wahrnehmung: „da war eine Matratze am Bett für eine Nacht“
Selbstbeschreibung: schlimm sein, Wutanfälle, nicht brav sein, sich nicht benehmen können
Pädagogisierung: „Wenn ich gelernt hab mich zu benehmen“ Es wird nicht nur das
Wohlverhalten verlangt, sondern das Erlernen desselben, um es dauerhaft zu gewährleisten.
Selbstdiagnose: „Seit dem zuck ich aus, wenn irgendwer mich irgendwo einschließt.“
Systemwahrnehmung: Akteurin zuerst die konkrete Betreuerin, dann Wechsel in Mehrzahl:
„sie haben mich in einen Raum eingeschlossen.“
In diesem Fall wurde eine „Heimholung“ durchgeführt, d.h., die/der Jugendliche wurde aus
einer stationären Einrichtung eines anderen Bundeslandes in das Familiensystem
zurückgeführt. Ohne adäquate Unterstützung scheiterte dies.
III.2
I: Wieso bist du da hinein gekommen?
J: .. weil ich von klein auf schon ziemlich aggressiv war und mir war alles einfach scheiß
egal. Ich hab auf Autorität nichts gegeben und das war halt als Kind schon so. Ich bin immer
ausgezuckt und da war dann halt so ein Vorfall, dass ich daheim ausgezuckt bin und da hab
ich dann halt angefangen mit meinem Vater zu raufen, halt meinen Vater zu attackieren und
halt auch noch andere Leute was dort waren. Sie haben mich mit der Rettung und mit der
Polizei in die Psychiatrie gebracht … und dann war ich da drinnen. Also zuerst war ich
knappe 3 Monate geschlossen und den Rest war ich offen.
I: Also 8 Monate insgesamt.
167
Diagnostik in der Sozialen Arbeit
J: Ja.
I: Und kannst du dir im Nachhinein erklären warum du da 8 Monate drinnen warst?
J: Ja das hab ich mir eigentlich also ja ... weil ich in der Woche sicher fünf Mal ausgezuckt
bin. Also ich bin jeden Tag ausgezuckt. So viel wie ich im Gurtenbett verbracht hab, da hätt
ich einiges erreichen können. Es war halt einfach ... weiß ich nicht. Ich hab auf alles
geschissen, zu mir hat einer „nein“ gesagt und ich bin ausgezuckt. Es waren einfach
Kleinigkeiten.
(…)
(lacht) Ich hab der (nennt einen Namen) da ... der hab ich das Waschbecken nachgesalzen,
das was bei mir im Zimmer war.
I: Also zuerst hast es herausgerissen und ihr dann nachgeschmissen.
J: Ja und dann ihr nachgehauen. Also .. wenn man aus'zuckt hat man einfach viel, viel, viel
mehr Kraft.
(…)
I: Was würdest du jetzt so sagen, hast du etwas gelernt von diesen Zwei Betreuern in den
WGs, an die du dich erinnern kannst?
J: Nein .. aber ich sag auch immer … die WGs und die Heime haben mir nichts gebracht.
I: Wieso haben sie dir nichts gebracht?
J: Weil ich war nach den WGs und nach die Heimen immer noch immer gleich wie wo ich 8
war und in die Psych gekommen bin … nur älter.
(…)
Also ..gebracht hat es mir direkt glaube ich nichts … also nicht so was dass was es direkt was
gebracht hat… aber ich glaube schon, dass es mir a bissl geholfen hat … weil ich eben nicht
weiß wie es gewesen wäre weil Italien ist das einzige was geholfen hat, finde ich.
(…)
I: Und die Psychiatrie?
Hubert Höllmüller
168
J: Die hat mich meiner Meinung nach noch fertiger gemacht wie ich vorher schon war. Weil 8
Monate da drinnen zu sein und danach noch gleich drauf zu sein wie vorher ist irgendwie
auch nicht so der Sinn der Sache.//Mh. Gleich drauf war ich war ja .. ein bisschen ruhiger
weil sie mir - weiß ich nicht - Betäubungsmittel gegeben haben wo du ein Pferd
niederstrecken kannst.
(…)
Ja das hat sich einfach nicht vermeiden lassen würde ich sagen. Also es war bei mir immer so
wenn ich ausgezuckt bin, bin ich dann in das Gurtenbett gekommen ...und dann haben sie
dann ewig lang gebraucht bis sie mich da drinnen gehabt haben...Und ich habe halt
Beruhigungsmedikamente bekommen meistens Spritzen und Tabletten weil … am Anfang
waren es halt immer Tabletten weil sie haben mir immer die Wahl gestellt, entweder nimm ich
jetzt die Tabletten oder sie kommen mit der Spritze. //Mh. Und ich bin dann halt ausgezuckt
und dann hab ich halt in dem Moment gesagt ich scheiß auf die Tabletten und dann sind sie
halt mit der Spritze gekommen. Und wenn ich das dann bekommen habe //boa, drei vier
Stunden hab ich dann schon gepennt. Und ja danach haben sie mich dann so eine Stunde
eineinhalb drinnen gelassen, dass sie sicher sein können, dass ich komplett ruhig bin … also
nach dem Aufwachen. Ja und dann haben sie sich mich irgendwann eh herausgelassen.
(…)
Nein geholfen eigentlich nicht .. weil inwiefern sollte das helfen? Das ist ja nicht da dass es
hilft sondern einfach dass es im Moment dass der Moment unter Kontrolle ist. Finde ich. (…)
Also geholfen hat mir das jetzt nicht nein...Es war halt einfach so.
I: Aber es beschäftigt dich auch nicht mehr oder so?
J: Nein...mittlerweile muss ich ehrlich sagen ... hab ich das schon soweit dass zum Beispiel
wie's beim (nennt einen Vornamen) ist ...dass ich ihm Ratschläge und Tipps geben kann dass
er so etwas vermeiden kann. Er nimmt sie eh nicht an aber das ist ein anderes Thema ja.//Jaja
das ist ein anderes Thema ja. Aber mittlerweile hab ich es schon so drauf, also ich bereue es
nicht, ich schäme mich auch nicht dafür... aber ich bin nicht stolz drauf. Aber ich gebe es halt
einfach wenn einer will gebe ich ihm halt Ratschläge weil ich es einfach durchgemacht
habe.//Mh. Und das ist es eigentlich. Das ist das einzige was gut dabei war.//Mh.
169
Diagnostik in der Sozialen Arbeit
Spezifische Wahrnehmung: Waschbecken aus der Halterung reißen und einer Ärztin
nachwerfen. Ohne den Film zu kennen, wird damit eine Schlüsselszene aus „Einer flog über
das Kuckucksnest“ wiederholt. Für alle, die diesen Film kennen ergibt sich eine Kaskade an
Assoziationen, die nichts mit dem Fall zu tun haben.
Selbstbeschreibung: aggressiv sein, auszucken, auf Autorität nichts gegeben
Kontrolle: „Inwiefern sollte das helfen? Das ist ja nicht da dass es hilft sondern einfach dass
der Moment unter Kontrolle ist. Finde ich.“
Selbstdiagnose: Das hat sich nicht vermeiden lassen
Pädagogisierung: „So viel wie ich im Gurtenbett verbracht hab, da hätt' ich einiges erreichen
können.“
Reflexion: „also ich bereue es nicht, ich schäme mich auch nicht dafür... aber ich bin nicht
stolz drauf.“
Systemwahrnehmung: „wenn einer will gebe ich ihm halt Ratschläge weil ich es einfach
durchgemacht habe.“
Selbstbehandlung: weil Italien ist das einzige was geholfen hat, finde ich.
Kritische Reflexion: „aber ich glaube schon, dass es mir a bissl geholfen hat … weil ich eben
nicht weiß wie es gewesen wäre“
In diesem Fall wurde die zuletzt eingesetzte Hilfe, ein Auslandsprojekt in Italien, gegen den
Wunsch des/der Jugendlichen mit 18 beendet, worauf nach einem kurzen Intermezzo zu
Hause die Obdachlosigkeit folgte.
III.3
I: Kannst dich da an die Betreuer erinnern?
J: Ja schon. I kann mi an den Chef erinnern, weil der immer so gewalttätig zu mir war. Ja
wenn i durchgedreht bin, hat er immer meine Händ' g'halten und so und dann wollt ihn meine
Mutter anzeig'n, weil i schon so blau war und dann hat die Sozialarbeiterin immer g'sagt, wir
kennen ihn nicht anzeig'n und so weil er einfach so Argumente bringen kann, weil i
Hubert Höllmüller
170
durchgedreht bin und so. Er hat mich einmal in die Dusch' gstellt einfach mit Gewand, hat
mich abgeduscht.
I: Du hast blaue Flecken g'habt hast am Anfang g'sagt.
J: Ja überall voll, weil er immer so fest gezwickt hat, also so g'nommen hat und gegen Stuhl
gedruckt. Ja, dann hab i`s meiner Mama gezeigt und sie hat's halt der Sozialarbeiterin g'sagt,
Bezugsbetreuerin eben, aber sie hat halt g'sagt des wird nichts bringen anzeig'n.
(..)
I: Dann bist aber trotzdem mit an positiven Abschluss von dort heim gekommen?
J: Ja, des versteh i auch net. Mein' Mama versteht's auch net weil i hab mich irgendwie voll
aufg'führt und dann hab'n sie g'sagt i darf heim.
Wahrnehmung spezielles Ereignis: mit Gewand geduscht werden
Selbstbeschreibung: bin durchgedreht
Kontrollverlust: „hat er immer meine Händ' g'halten und so und gegen Stuhl druckt“
Selbstdiagnose: „i hab mich irgendwie voll aufg'führt“
Pädagogisierung: „wir kennen ihn nicht anzeig'n und so weil er einfach so Argumente bringen
kann, weil i durchgedreht bin und so“
Systemwahrnehmung: „i hab mich irgendwie voll aufg'führt und dann hab'n sie g'sagt i darf
heim.“
Julia Sewing führt im qualitativen Teil der Studie über Abbrüche in stationären
Erziehungshilfen (ABIE-Studie) an, was die Jugendlichen selbst als Gründe für einen
Abbruch angeben:
„Die Hilfe wird als Schaden wahrgenommen/Erneute Verletzungen durch die Maßnahme anstatt
Unterstützung und Schutzraum, Enttäuschung über die Hilfeleistung, Kommunikationsprobleme,
Isolation von Freunden, Beziehung und Familie, Ungerechtigkeit im Hilfealltag, Anschlussprobleme an
Abläufe und Mitbewohner.“ (Sewing, 2012, S. 132f)
Es finden im stationären Bereich der Kinder- und Jugendhilfe Übergriffe statt, von
Jugendlichen zu Jugendlichen, von Jugendlichen zu Betreuer_innen und von Betreuer_innen
Diagnostik in der Sozialen Arbeit
171
zu Jugendlichen. Und daran anschließend entstehen ‚stille Katastrophen‘ die weder
dokumentiert noch analysiert sind. Die Kinder- und Jugendhilfe hat lange Zeit für diese
Jugendlichen sehr viel Engagement eingesetzt und sehr viel Geld ausgegeben und zeigt
danach massives Desinteresse daran, die Wirksamkeit 4 von Interventionen und die Passung
von impliziten und expliziten Diagnosen zu überprüfen um diese Katastrophen zukünftig zu
reduzieren.
IV.
Es wird einmal in einem österreichischen Bundesland
Nach mehrjährigen Diskussionen in einer eigens für die Weiterentwicklung der Kinder- und
Jugendhilfe eingerichteten Arbeitsgruppe eines österreichischen Bundeslandes bestand eine
der Empfehlungen in dem Vorschlag, die verschiedenen Hilfeformen zuerst einmal zu evaluieren. Zunächst wurden die ambulanten Hilfen analysiert.
Ein Ergebnis dieser Analysen und der damit verbundenen Durchsicht der amtlichen Fallunterlagen war, dass keinerlei Instrument sozialer Diagnostik verwendet wurde. Ein ausführliches
Seminar zum Thema Sozialer Diagnostik mit rund der Hälfte aller Jugendamtssozialarbeiter_innen führte zu keiner Klärung darüber, welches Instrument eingeführt werden sollte (Es
wurden die komplexen ‘Klassiker‘ vorgestellt, von PREDI und PiE über die sozialpädagogischen Diagnosetabellen bis zur Inklusionschart und signs of safety. Darüber hinaus wurden
die einfachen tools von Genogramm bis Ecomap präsentiert). Zusätzlich wurde ein Modell
diskutiert, dass ein Jugendamt in engagierter Eigenarbeit entwickelt hatte und selbst als zu
komplex und nicht praxistauglich ansah.
Aber für keines dieser Instrumente ließ sich eine deutliche Mehrheit finden – alle betonten die
Sorge, dass es sich um ein Instrument handeln müsste, dass mit sehr wenig zusätzlichem
Aufwand den sonst impliziten Diagnoseprozess strukturieren sollte.
Auch ein anschließendes Forschungsprojekt zur umfassenden Diagnostik (also sozial und
psychologisch/psychiatrisch) vor einer Fremdunterbringungsentscheidung ergab den Bedarf
4
Wobei hier das Gegenteil nicht Unwirksamkeit ist, sondern Schaden, der durch die Intervention angerichtet wird. Die ursprünglichen Problemlagen verschwimmen hinter den weiteren Belastungen, die
der „Hilfe“prozess produziert.
Hubert Höllmüller
172
eines Diagnoseinstruments, insbesondere an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Psychiatrie. Eine Arbeitsgruppe erstellte auf Grundlage eines Vorschlags meinerseits mit Hilfe eines engagierten Programmierschülers ein Instrument, das inzwischen in der
Kinder- und Jugendpsychiatrie eingesetzt wird. Die Behörde weigerte sich aus Sicherheitsbedenken dieses – kostenlose – externe Programm zu übernehmen und stellte in Aussicht, es
nach zu programmieren. Allerdings mit weitem Zeithorizont. Für die Übergangszeit wurde
nun eine Papierform gestaltet, die von testenden Sozialarbeiter_innen als sehr geeignet betrachtet wird. Derzeit ist offen, ob die zuständige Behörde dieses „Systemblatt“ (Die elektronische Version ist als freeware gratis unter http://www.systemblatt.at herunterzuladen.) verpflichtend für alle Jugendämter einführt oder nicht. Die probeweise Einführung verzögert sich
aktuell aufgrund der Tatsache, dass von der Fachabteilung eine fachliche Befürwortung des
„Systemblatts“ durch den österreichischen Grand Seigneur der sozialen Diagnostik verlangt
wird – dessen erster Kommentar liegt vor, ist aber wenig deutlich. Bereichernd dabei ist der
Hinweis, die Perspektive von Kindern und Eltern ebenso sichtbar zu machen wie die der professionellen Sozialen Arbeit. Andere Diskussionspunkte bleiben derzeit offen. Deutlich werden in der Auseinandersetzung zwei Grundkategorien sozialer Diagnoseinstrumente: Einerseits diejenigen, die auf verbale Einschätzungen abzielen und damit ergebnisorientiert sind
und andererseits die, die in erster Linie Systeme und Strukturen abbilden wollen und damit
prozessbezogen sind.
Die Überlegungen zum „Systemblatt“ sind einfach: Es muss ein Instrument sein, das mit wenig Aufwand einen Fallaufriss ermöglicht. Im Zentrum steht die Darstellung des sozialen Systems des Falles 5, wobei es neben der Familie in mehreren Generationen genauso um andere
wichtige Personen geht. Diese Systemdarstellung soll nach Möglichkeit mit den Betroffenen
gemeinsam erarbeitet werden. Die strukturierenden biographischen Felder sollen vergangene
Beziehungen, Partnerschaften etc. abbilden. (Erläuterungen dazu in der „Anleitung“) Durch
die Aktenanalyse wurde deutlich, dass des Öfteren wichtige Personen innerhalb und außerhalb der Familie ‚übersehen’ wurden und dadurch nicht als Ressource oder Restriktion benannt, geschweige denn aktiviert bzw. überwunden werden konnten. Links und rechts von
diesem Systemfeld befinden sich ein Ressourcenbalken und ein Balken für Hemmnisse, also
5
Passend erscheint mir hier der Ausdruck „service user“, also diejenige Person, die den Dienst, die
Hilfe in Anspruch nimmt. „Service user“ reicht weit über den Begriff Klient_in hinaus, hat aber im
Deutschen bisher keine verwendbare Übersetzung gefunden.
173
Diagnostik in der Sozialen Arbeit
Restriktionen. An dieser Stelle soll verdeutlicht werden, dass diesbezügliche Nennungen die
Beurteilungen von Sachverhalten im Hinblick auf Problembeschreibungen und Sorgeformulierungen abbilden, also die diagnostischen Schritte sichtbar machen, die sonst nur implizit
passieren und damit zumindest zum Teil intransparent bleiben.
Oberhalb liegen die Felder ‚Problem(e)’, ‚Erklärungshypothese(n)’, ‚Sorge(n)’ und ‚Intervention(en)’, in denen die Ausgangslage der Sozialen Arbeit dargelegt werden soll und ein (erster) Blick auf bereits laufende und mögliche zukünftige Hilfen gezeigt wird. Auch hier geht es
darum, nicht umfangreichere Verfahren zu ersetzen, sondern einen klaren Überblick zu geben.
Zusätzlich sollen auch die Perspektiven der Kinder und Eltern abgebildet werden. Ein zentraler Schritt zur Transparenz des diagnostischen Prozesses ist die Festlegung des Gefährdungsgrades am Blattende. In der elektronischen Version wird jede neue Einschätzung mitvermerkt
und ist damit nachvollziehbar.
Die Grundprinzipien des Systemblattes sind Transparenz, Partizipation und die rasche Nachvollziehbarkeit des Falles in seiner Grundstruktur. Das sind Aspekte, die leicht zu benennen,
Hubert Höllmüller
174
aber schwer einzulösen sind. Eine zentrale Problematik in der Aktenanalyse waren verdeckte
Ziele der Sozialarbeiter_innen, deren Wirkungen sich zum Teil als sich selbst erfüllende Prophezeiungen erwiesen: Den Eltern wurde mangelnde Kooperation und Uneinsichtigkeit unterstellt und die Eltern wurden aufgrund der widersprüchlichen Vorgehensweise der Sozialarbeiter_innen immer skeptischer und weniger kooperativ.
Die Partizipation gilt auch für den Entstehungsprozess und die Weiterentwicklung des Instruments. Sinnvoll sind deshalb regelmäßige Reflexionsschleifen über die tatsächliche Verwendung und Nützlichkeit für die Betroffenen auf beiden Seiten der Hilfe. Veränderungen
und Ergänzungen sind erwünscht, auch wenn das „one-page“ Format erhalten bleiben sollte.
175
Diagnostik in der Sozialen Arbeit
Hubert Höllmüller
176
177
Diagnostik in der Sozialen Arbeit
Literatur:
Höllmüller, Hubert (2015): „Geh dich ritzen, Elefant“ - Jugendhilfebiographien In: Soziales Kapital,
on-line-Journal für Soziale Arbeit in Österreich.
Sewing, J. (2012): „Da hatt‘ ich keinen Bock mehr drauf, weil…“ Eigene Sichtweisen Jugendlicher
auf Abbrüche in der Heimerziehung – Ergebnisse einer Interviewstudie in: Tornow, Harald; Ziegler,
Holger (2012): Ursachen und Begleitumstände von Abbrüchen stationärer Erziehungshilfen (ABiE).
EREV-Schriftenreihe, 3/2002, 119-164. Hannover: SchöneworthVerlag.
Wissenschaftliche Reflexionen zur Sozialpsychiatrie
Sozialpsychiatrie,
Migrationsgesellschaft
und
die
Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
Clarissa Hechler, Claus Melter
Einleitung
Dieser Text versteht sich als Annäherung an den Themenkomplex ‚Psychiatrie/ Sozialpsychiatrie und Migration’ aus einer diskriminierungskritischen und migrationsgesellschaftlichen
Perspektive. Als Forschende im Bereich der Sozialen Arbeit sowie der Diskriminierungs- und
Rassismuskritik ist dies somit ein Angebot für Theoretiker_innen und Praktiker_innen der
Sozialpsychiatrie, diese Perspektiven auf die spezifischen Aspekte dieses Bereiches reflektiert
anzuwenden.
Insbesondere im Bereich der Sozialpsychiatrie zeigt sich, dass dieser Arbeitsbereich sowohl
von Theorie- und Praxis-Traditionen der Psychiatrie als auch der Sozialen Arbeit beeinflusst
ist. Historisch gemeinsam ist diesen Bereichen in diskriminierungskritischer Perspektive die
Praxis des Unterscheidens auf den Ebenen von Normalität, Arbeit sowie Gesundheit in sogenannte ‚Normale’ und ‚Nicht-Normale’, in ‚Gesunde’ und ‚psychisch Kranke’, in ‚Arbeitsfähige’ und ‚Nicht-Arbeitsfähige’ (vgl. Ralser 2010, S. 143). Auf den Ebenen von Nation, Kultur, Religion oder rassistischen Unterscheidungen finden ebenfalls Einteilungen in ‚Wir’ und
‚die Anderen’ statt, was im Englischen ‚Othering’ (zu ‚Anderen’ machen) und ‚Selfing’ (zu
Angehörigen der ‚Wir’-Gruppe machen) genannt wird (vgl. Markom 2014, S. 184). Im Rahmen von Psychologie/Psychiatrie und Sozialer Arbeit gibt es seit Ende des 19. Jahrhunderts,
über Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus sowie auch in BRD und DDR
Theorien von ‚Eugenik’ und ‚Rassen’-Biologie. Beides war mit Gruppenkonstruktionen, Abwertungen, Diskriminierung und teils mit Verfolgung und Tötung verbunden (vgl. Kappeler
2000, S. 706ff.).
Soziale Arbeit, Psychologie und (Sozial-)Psychiatrie sind fundamental mit Praxen der Differenz-Herstellung, des Unterscheidens verbunden: Für welche Personen ist eine Einrichtung
territorial (Fragen von Staatsbürger_innenschaft und Aufenthaltsstatus sowie regionalem Einzugsgebiet) und personal (was sind die Kriterien/ Diagnosen von bezahlten Unterstützungsbe-
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
181
darfen?) zuständig und mit welchen Konzepten sowie zu welchen Zielen werden unterschiedliche Personengruppen begleitet, versorgt und interveniert? Im Folgenden sollen nach einer
historischen und aktuellen Skizzierung des Arbeitsfeldes historische Praxen des Unterscheidens dargestellt sowie die Perspektiven Migrationsgesellschaft und Rassismuskritik vorgestellt werden und auf Studien sowie Texten im Themenfeld Sozialpsychiatrie bezogen werden.
Historische Schlaglichter zu Psychiatrie und Rassismus 1
„Darstellungen der Differenz des »Anderen« gehören seit Jahrtausenden zu den durch Warenproduktion, Handel und Kriegsführung hervorgerufenen Migrationsbewegungen in Europa. In diesen Darstellungen wurde der »Andere«, sein Aussehen, seine Eigenschaften und Verhaltensweisen als different
zum eigenen Selbst gezeichnet, wobei sich fiktive Elemente mit den beobachteten Verhaltensweisen,
Traditionen und dem Erscheinungsbild des »Anderen« verflochten.“ (Adams 2013, S. 33)
Möchte man_frau die Geschichte der Konstruktion und des Umgangs mit psychischen Erkrankungen in der Psychiatrie erfassen, lassen sich Berichte hierzu seit der frühe Antike finden. Für so genannte Wahnzustände wurden dabei anfangs übernatürliche Kräfte wie Götter
oder Dämonen verantwortlich gemacht (vgl. Porter 2007, S. 16-17). Dementsprechend kamen
als so genannte Heilmittel gegen Zauber und Besessenheit Beschwörungen, Amulette, Rituale
und Mischungen aus Heilpflanzen, Ölen, Früchten sowie Honig zum Einsatz (vgl. Brückner
2010, S. 11-12).
„Mit der frühen Philosophie im athenischen Stadtstaat im 4. Jahrhundert v. Chr. begann eine Wandlung
von einem Denken in religiösen Dimensionen hin zu einer Erkenntnisgewinnung durch Gebrauch von
Vernunft.“ (Reuter 2014, S. 45)
So führten Sokrates’ und Platons Annahmen zur menschlichen Seele dazu, dass mit Platon
schließlich rationale Individuen (als gebildet, männlich, angesehen) zum politischen, ethischen und gesundheitlichen Normalitäts-Maßstab erklärt wurden. Der Vernunft und Rationalität stand das Irrationale (beispielsweise das Schicksal oder Verlangen) entgegen. Platon verknüpfte weiter das Rationale mit dem Geist sowie das Irrationale mit dem Körper und behauptete somit die Überlegenheit des Geistes (vgl. Porter 2007, S. 38-39). Christian Mürner
1
Vgl. Hechler 2016a.
Clarissa Hechler / Claus Melter
182
weist in seinem Buch „Philosophische Bedrohungen“ (1996) bei den genannten und vielen
anderen Philosophen von der Antike über das Mittelalter und die Aufklärung bis hinein in die
Gegenwart die Abwertung von Menschen ‚mit Behinderungen’ nach.
Das so genannte Temperament wurde in späteren Jahrhunderten in den Konzepten von Veranlagung und Persönlichkeit begriffen (vgl. Porter 2007, S. 43-44). Mit einem als vernünftig
angesehenem Lebensstil und/oder mit medizinischen Maßnahmen konnten die Säfte im Falle
des Ungleichgewichts, der diagnostizierten Krankheit, wieder ausgeglichen werden. Neben
der Diagnose Wahnsinn beziehungsweise Manie rückte, als gegensätzlicher Zustand, die Melancholie (vgl. Ebd., S. 46-47).
Alle skizzierten Verständnisse von Gesundheit und Krankheit bestanden die folgenden Jahrtausende hinweg (teilweise) weiter, was allein an noch heute gebräuchlichen Begriffen wie
‚Manie’‚ ‚Wahnsinn’, ‚Melancholie’ oder ‚Choleriker_innen’ eindrücklich deutlich wird.
„Die Zuschreibung pathologischer Andersartigkeit war ebenso wie diejenige somatischer, charakteristischer oder kultureller Unterschiede Teil von Differenzkonstruktionen. Bereits im Mittelalter griffen Repräsentationen des »Anderen« häufig Vorstellungen auf, die darin bestanden, dem »Anderen« einen
kranken oder abnormen Körper oder Geist zu bescheinigen.“ (Adams 2013, S. 35)
So griff beispielsweise der französische Mönch Bernard de Gordon in seinem 1305 erschienenen Buch „Lilium Medicinae“ auf die hippokratische Medizin zurück, um Stereotype und
angebliche Andersartigkeiten von Menschen jüdischen Glaubens zu erläutern (vgl. Adams
2013, S. 35-36).
„Ferner findet sich hier auch schon die Vorstellung einer andersartigen psychopathologischen Beschaffenheit der Juden, die hier noch als Melancholie und Manie beschrieben wird, später dann als Nervosität
oder generelle Disposition zu psychischen Erkrankungen.“ (Adams 2013, S 36)
Bernard de Gordons Buch galt bis ins 17. Jahrhundert als Standardwerk der Medizin in Europa (vgl. Adams 2013, S. 35-36).
Ab den 1690 Jahren kam es durch John Locke zu einer weiteren Sichtweise auf psychische
Erkrankungen. Locke bildete eine Theorie, die davon ausgeht, dass der Geist zu Beginn leer
ist und psychische Störungen durch Fehler bei der Deutung von Sinneseindrücken entstehen
(vgl. Locke 2000). Lockes Annahmen wurden in die Medizin integriert und von William Cullen ab etwa 1750 zu einem psychologischen Paradigma ausgearbeitet. Er sah zwar die übermäßige Reizung des Nervensystems als Reaktion einer erhöhten Hirnaktivität, betrachtete den
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
183
so diagnostizierten Wahnsinn dabei aber auch als vorschnelle Verknüpfung von Ideen, welche
den Betreffenden falsch urteilen ließe und somit schließlich ungewöhnliche Gefühle zur Folge
hätten. ‚Nervenkrankheiten’ oder ‚Neuroses’ wurden als neue Kategorien eingeführt (vgl.
Brückner 2011: 8; Porter 2007: 125-126). Mit und durch die Aufklärung zunehmend verbreiteten Werten wie beispielsweise Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit oder auch der so definierten Vernunft wurde zeitgleich immer häufiger auch die Kolonialisierung, welche diesen
Werte entgegen stand, in Frage gestellt (vgl. Arndt 2012, S. 15, 59).
„Um Sklaverei zu rechtfertigen, wurden Afrikaner_innen als außerhalb vom Menschlichen stehend deklariert. In der Aufklärung wurde das nicht erfunden, aber theoretisch abgesichert. «Rassen» wurden
wissenschaftlich konturiert, um Afrika jeden Beitrag zu sozialer Dynamik und Fortschritt sowie jedes
Verständnis für Moral, Verstand und Freiheit abzusprechen.“ (Arndt 2012, S. 60-61)
Neben dem Code Civil, der für die männlichen Bürger in Frankreich galt, wurde der Code
Noir (vgl. Taubira 2015, S. 38ff.) beschlossen, der die kolonisierte Bevölkerung in den von
Frankreich unterworfenen Kolonien systematisch entrechtete. Begleitet wurde dies von philosophischen und naturwissenschaftlichen Behauptungen der Existenz und Hierarchie von erfundenen menschlichen ‚Rassen’. So wurden verschiedene ‚Rassen’ aufgrund äußerer Merkmale (genauer der Pigmentierung), ähnlich wie in der Zoologie und Botanik, gebildet. Die als
‚weiß’ oder auch ‚kaukasisch’ deklarierte ‚Rasse’ wurde dabei allen anderen gegenüber als
überlegen dargestellt. Zu den deutschen Begründern der ‚Rassentheorie‘ zählen unter anderem
Immanuel Kant und Johann F. Blumenbach (vgl. Arndt 2012, S. 59-61). Schnell wurden die
verschiedenen ‚Rassen’ auch mit mentalen Unterschieden, die als natürlich und unveränderlich eingeordnet wurden, versehen (vgl. Arndt 2012, S. 62). Die afrikanische Bevölkerung
wurde dadurch beispielsweise als ‚primitiv’ und ‚unzivilisiert’ konstruiert (vgl. Rommelspacher 2009, S. 25).
„Psychiatrisches Wissen über die »eingeborenen Rassen« half den Kolonialherren bei der Legitimation
von Herrschaft, denn kolonialpsychiatrische Diskurse, die die kolonialisierte Bevölkerung als minderwertig, schwach oder unzivilisiert darstellten, wurden als Rechtfertigung für die Vorherrschaft der Weißen in den Kolonien angeführt.“ (Adams 2013, S. 22)
Um sich als eigenständige Disziplin etablieren zu können wurde Ende des 19. Jahrhunderts
versucht, der Psychiatrie ein wissenschaftliches Fundament zu geben, wobei sowohl Darwins
biologistische Theorien, als auch eine experimentelle psychiatrische Forschung verfolgt wurden.
Clarissa Hechler / Claus Melter
184
Eine wichtige Rolle im Kontext von Psychiatrie und Diskriminierung spielt auch Emil Kraepelin. „Kraepelin gehörte zu den rassenhygienisch interessierten Psychiatern der Frühzeit der
Eugenik in Deutschland.“ (Kappeler 2000, S. 382) Er war seit 1891 Professor an der Universitätsklinik Heidelberg und schrieb beispielsweise detailliert die Krankheitsverläufe und
Symptome seiner Patient_innen nieder (vgl. Brückner 2010, S. 110-111; Porter 2007, S. 177178). Kraepelin sicherte zudem etliche Eingangs- sowie Entlassungsdiagnosen, was ihm über
die Jahre hinweg ermöglichte, gewisse Ähnlichkeiten festzustellen und damit auch Prognosen
geben zu können (vgl. Brückner 2010, S. 111). Er erstellte ein grundlegend neues Klassifikationssystem von psychischen Erkrankungen. Seine Aufteilung liegt in überarbeiteter Form
auch den heutigen Klassifikationssystemen psychischer Erkrankungen (ICD/DSM) zugrunde
(vgl. ebd., S. 111). Kraepelin beobachtete die Klient_innen und erstellte Diagnosen, in der
Regel ohne mit ihnen zu kommunizieren und vertrat die Auffassung, dass es ‚rassische‘ und
‚völkische‘ Eigenarten gäbe, die das Wesen der Menschen bestimmen würden (vgl. Adams
2013, S. 232). Zudem war Kraepelin mit anderen Psychiatern ein Befürworter ‚eugenischer’
Ideologien, die im Sinne eines Nutzens eines bestimmten ‚Volkes’ Menschen nach ihrer diagnostizierten vorhandenen oder nicht vorhandenen ‚Nützlichkeit’ und ‚Wertigkeit’ einstuften
(vgl. Kappeler 2000, S. 700ff.); Halmi 2008; Klee 2013) Diese Auffassungen wurden zunehmend verbreitet.
„Ab den 1910er Jahren etabliert sich auch an der Innsbrucker Universitätsklinik für Psychiatrie und
Neurologie eine neue Rede über die ‚Kranken’ und ihre ‚Krankheiten’. [...] Als krank werden ab diesem
Zeitpunkt auch jene bezeichnet, die eine Disposition zur Krankheit aufweisen, deren Anlagen auf vererbungs- und evolutionstheoretischer Grundlage diagnostisch-prognostisch eine aktuell bloß verdeckte,
aber zukünftig mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretende Nervenkrankheit voraussagt, und schließlich
all jene, welche als ‚psychopathisch Minderwertige’ vom Gesundheitsdurchschnitt der Gesellschaft abweichen [...]“ (Ralser 2010, S. 137-138).
Auch Kraepelin war dieser Ansicht und vertrat weiter die These, dass dieses einer ‚natürlichen Auslese‘ entgegenstünde und somit ‚eugenische‘ Maßnahmen relevant machen würde
(vgl. Brückner 2010, S. 114, 121).
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
185
„Ideen des Sozialrassismus und der ‚Eugenik’ wurden während des Ersten Weltkrieges und in der
Weimarer Republik trotz vieler Gegenstimmen populär und fanden ihren Niederschlag sowohl im Bereich der Forschung als auch in der Sozialpolitik. So begründete der angesehene Arzt und Sozialdemokrat Alfred Grotjahn (1869-1931) die Lehre von der Sozialhygiene, die den Zusammenhang zwischen
gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und Krankheiten der Bevölkerung untersuchte.“ (Mecheril/ Melter 2010, S. 119)
Die Menschen verachtende Ideologie und vermeintliche ‚Lehre der Eugenik‘ bezeichnet das
gezielte Einordnen und Selektieren von Menschen entsprechend der Diagnose ihres Erbguts
(vgl. Brückner 2010, S. 125) 2.
Im Juli 1933 wurde schließlich das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, welches die Sterilisation von etwa 400.000 Personen nach sich zog (vgl. Deutsche
Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2016,
S 2).
„Wer an Schizophrenie, manisch-depressiven Erkrankungen, an erblichen Formen von Fallsucht, Chorea Huntington, Blindheit, Taubheit und schwerer körperlicher Missbildung sowie schwerem Alkoholismus litt, konnte auch gegen seinen Willen unfruchtbar gemacht werden.“ (Deutsche Gesellschaft für
Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2016, S. 2).
1939 spitzte sich die Situation weiter zu. Mit der Erfassung und Zwangssterilisierung von als
‚behindert‘ und ‚krank‘ eingestuften Personen begann die fälschlicherweise ‚Euthanasie‘ (dies
bedeutet wörtlich: schöner Tod) genannte Ermordung von als ‚unwert‘ deklariertem, Leben.
In diesem Zusammenhang wurde das Kürzel ‚T4’ bekannt, was für die Zentraldienststelle in
der Tiergartenstraße 4 in Berlin (seit 1940 dort ansässig) steht (vgl. Deutsche Gesellschaft für
Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2016, S. 2). Im Juni
1940 wurden von der Zentraldienststelle Meldebögen an alle Anstalten verschickt, welche
diese wiederum (mit wenigen Ausnahmen) bis im August desselben Jahres ausgefüllt zurückschickten (vgl. Debus/ Kalkowsky/ Schmidt-v. Blittersdorf 2003, S. 84).
„Mit den zum Symbol für die ‚Euthanasie-Aktion’ gewordenen grauen Bussen wurden die durch ein rotes Plus-Zeichen auf ihrem Meldebogen zur Ermordung bestimmten mehr als 70 000 Patienten aus den
Heimen abgeholt und zwischen Januar 1940 und August 1941 nach einem kurzen Aufenthalt in ‚Zwi-
2
„Alfred Grotjahn (1869-1931), neben Alfons Fischer (1871-1936) Begründer der modernen Sozialhygiene und erster Lehrstuhlinhaber auf diesem Gebiet in Deutschland, setzte Schwerpunkte seines
Wirkens auch auf dem Feld der Eugenik. Sozialhygiene und Eugenik standen für ihn in einem besonders engen Verhältnis zueinander.“ (Kaspari 1989, S. 306)
Clarissa Hechler / Claus Melter
186
schenanstalten’ in den sechs Tötungszentren Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna-Sonnenstein,
Bernburg und Hadamar im Gas erstickt.“ (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde 2016, S. 2)
In diesem Bereich besteht weiterhin großer Forschungsbedarf (vgl. Hochmuth 1997). So
spricht Barbara Degen 2014 davon, dass in der Bielefelder Anstalt Bethel mehr als 2.000 Personen durch bewusste Tötungen, medizinische Versuche und durch Verhungern in der NSZeit getötet wurden (vgl. Degen 2014, S. 26ff.). Bethel kritisiert die Forschungen massiv (vgl.
Bethel 2014), legt jedoch – ebenso wie andere Forschungen – keine andere, schlüssige Erklärung für die überdurchschnittlich hohe Zahl von Sterbefällen vor. Die Argumentation, dass
sehr viele Kinder in Bethel bereits unterernährt eingeliefert wurden, überzeugt angesichts der
Versorgungssituation in Bethel nicht.
Auch die Soziale Arbeit wirkte in diesem System der Vernichtung mit.
„Im Nationalsozialismus stand die Jugend- und Wohlfahrtspflege insgesamt sowohl unter dem Primat
der ‚Volksgemeinschaft’ als auch der vorherrschenden Vorstellung von Gesundheit. Aufgabe sozialer
Einrichtungen war es, die als ‚wertvoll’ und dazugehörig (‚arisch’) definierten Kinder und Jugendlichen
zu fördern, die ‚Gestrauchelten’ zu bessern und in die ‚Volksgemeinschaft’ einzugliedern. Die als ‚nicht
mehr besserungsfähig’ oder nicht zugehörig (‚nicht arisch’) Definierten wurden ausgesondert, isoliert,
diszipliniert und verwahrt [...]“ (Mecheril/ Melter 2010, S. 120).
In den so genannten Kinderfachabteilungen fielen mindesten 5.000 psychisch und/oder physisch erkrankte Kinder beziehungsweise Jugendlichen der Euthanasie zum Opfer (vgl. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
2016, S. 3). Letztlich waren demnach sowohl Psychiatrien, als auch Krankenhäuser und
Heimeinrichtungen an den Zwangssterilisierungen und Tötung beteiligt (vgl. Mecheril/ Melter
2010, S. 121). Die Schätzungen, wie viele Menschen Opfer der Euthanasie-Morde in
Deutschland, Österreich, Polen und anderen von Deutschland überfallenen Ländern wurden,
gehen bis zu 250.000 Personen (vgl. Degen 2014, S. 12).
Auch nach der Beendigung der T4-Aktion und dem zweiten Weltkrieg war kaum Besserung
in Sicht.
„Einen traurigen Höhepunkt erreichten die Sterberaten jedoch nach dem Einmarsch der Alliierten: Sie
stiegen 1945 auf rund 50 Prozent; in einigen Anstalten ergriff fast das gesamte Personal die Flucht und
überließ die Patienten ihrem Schicksal, Todesmärsche Halbverhungerter waren an der Tagesordnung.“
(Bühring 2001, S. 2)
187
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
Erst ab den 1960er Jahren entstand eine Anti-Psychiatriedebatte und erste Reformversuche
fanden statt. Vertreter_innen der Anti-Psychiatrie kritisierten, dass ‚psychische Störungen‘ als
krank etikettiert wurden und betrachteten sie stattdessen als eine Folge von sozialen Prozessen
wie beispielsweise Diskriminierungen und Ablehnungen. Mit der Student_innenenbewegung
1968 entwickelte sich eine gute gesellschaftliche Atmosphäre für umfassende Reformen in
der Psychiatrie (vgl. Bühring 2001, S. 2). Kritische Auffassungen gegenüber Psychologie und
Psychiatrie verbanden sich in dieser Zeit, beispielswiese durch den kolonialismus- und rassismuskritischen Psychiater Frantz Fanon, zu einer rassismuskritischen Sozialpsychologie
(vgl. Fanon 1952/1980). Auch die Studien von Horkheimer und Adorno zur Autoritären Persönlichkeit vor, während und nach dem Faschismus verbinden Gesellschaftsanalysen mit sozialpsychologischen Erklärungen (vgl. Adorno 1950/1973).
1971 wurde vom Parlament eine Kommission einberufen, um die Lage der Psychiatrie in
Deutschland zu untersuchen und zu bewerten. Im November 1975 legte diese Kommission
ihren Bericht, die Psychiatrie-Enquete, mit strukturellen Forderungen vor (vgl. Finzen 2015,
S. 2).
„Diese hatte es mit der Forderung nach einer regionalen gemeindenahen psychiatrischen Versorgung
durch psychiatrische Abteilungen Allgemeinkrankenhäusern und teilstationären Einrichtungen – vor allem Tageskliniken – und umfassenden ambulanten Diensten allerdings in sich. Damit schuf sie Voraussetzungen für eine Reform [...]“ (Finzen 2015, S. 2).
Diese ließ zwar noch recht lange auf sich warten, brachte aber bis heute bundesweit unter
anderem Organisationen wie etwa die ‚Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
(DGSP), den Dachverband Gemeindepsychiatrie, den Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker oder den Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen hervor (vgl. Elgeti 2011,
S. 19). Diskriminierungs- und rassismuskritische Perspektiven auf und in Psychologie und
Psychiatrie (vgl. Oberzaucher-Tölke 2014) sowie auf und in Sozialer Arbeit (vgl. Hamburger
2016) stehen vielfach kulturalisierende und diskriminierend-stereotypisierende Konstruktionen von Menschengruppen in diesen Disziplinen und Professionen gegenüber.
Die Verantwortung Sozialer Arbeit und der (Sozial-)Psychiatrie, welche aus den historischen
Schlaglichtern auf diskriminierende Praxen sowie aktuellen professionellen Qualitätskriterien
heraus entwächst, wurde in den vorangegangen Ausführungen dargestellt. Die Reflexion historisch gewachsener Strukturen, Begrifflichkeiten und Verantwortungen den Adressat_innen
Clarissa Hechler / Claus Melter
188
gegenüber, so kann gefordert werden, ist unumgänglich und sollte stets die Partizipation sowie Integritäten 3 aller beteiligten Personen im Blick behalten.
Sozialpsychiatrie
„Die Sozialpsychiatrie befasst sich mit der Häufigkeit psychischer Störungen sowie deren soziokulturellen Bedingungen und richtet sein Augenmerk auf die Beziehung zwischen Krankheit und Gesellschaft.
Im besonderen Blickfeld des Interesses stehen die Auswirkungen von Familienstrukturen, Gewalt oder
sozioökonomischen Verhältnissen auf die seelische Entwicklung.“ (Paulitsch/ Karwautz 2008, S. 14)
Ein im Kontext von Migration und Sozialpsychiatrie bedeutsamer Schritt waren die Sonnenberger Leitlinien.
„Die »Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde « hat bereits 2006
als erste medizinische Fachgesellschaft mit ihrer Sonnenberger Erklärung Standards gesetzt, die für uns
als Herausgeber [des Handbuches Transkulturelle Psychiatrie (Anm. der Verf.)] leitend sind.“ (Hegemann/ Salman 2010, S. 14)
„Die 12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migranten in
Deutschland (Machleidt 2002)
1.
Erleichterung des Zugangs zur psychosozialen und therapeutischen Regelversorgung
2.
durch Niederschwelligkeit, Kultursensibilität und Kulturkompetenz
3.
Bildung multikultureller Behandlerteams aus allen in den Diensten tätigen Berufsgruppen unter bevorzugter Einstellung von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund und zusätzlicher Sprachkompetenz
4.
Organisation und Einsatz kulturell und psychologisch geschulter FachdolmetscherInnen als zertifizierte
Übersetzer und Kulturmediatoren »face to face« oder als TelefondolmetscherInnen
5.
Kooperation der Dienste der Regelversorgung im gemeindeorientierten Verbund untereinander und mit
Schlüsselpersonen der unterschiedlichen Migrantengruppen, -organisationen und -verbände. Spezielle
Beratungs- und Behandlungserfordernisse können Spezialeinrichtungen notwendig machen.
6.
Beteiligung der Betroffenen und ihrer Angehörigen an der Planung und Ausgestaltung der versorgenden
Institutionen
7.
Verbesserung der Informationen durch muttersprachliche Medien und Multiplikatoren über das regionale Versorgungsangebot
8.
Aus-, Fort- und Weiterbildung für in den Regeldiensten tätige MitarbeiterInnen unterschiedlicher Berufsgruppen zu interkulturellen Fachthemen unter Einschluss von Sprachfortbildungen
3
Nähere Erläuterungen hierzu folgen am Ende des Artikels.
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
189
9.
Entwicklung und Umsetzung familienbasierter primär und sekundär präventiver Strategien für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien
10. Unterstützung der Bildung von Selbsthilfegruppen mit oder ohne professionelle Begleitung
11. Sicherung der Qualitätsstandards für die Begutachtung von Migranten im Straf-, Zivil- (Asyl-) und Sozialrecht
12. Aufnahme interkultureller Fachthemen in die Curricula des Unterrichts für Studierende und Auszubildende
13. Initiierung von Forschungsprojekten zu Fragen der interkulturellen Versorgung.“ (zit. in Hegemann/
Salman 2010, S. 13)
„Und diese Thesen setzten nicht nur für die Psychiatrie notwendige Standards. Es reicht aber nicht, Standards zu definieren! Professionelle – jeder Einzelne – stehen vor der Aufgabe, sich verstärkt darum zu bemühen, soziale Distanzen zu mindern und mehr Verständnis für die unterschiedlichen Kulturen, die Lebensweisen, die Wertvorstellungen und das Gesundheitsverhalten der ihnen fremd erscheinenden Patienten
aufzubringen. Dieser Weg kann nur gemeinsam, multidisziplinär und praxisorientiert gemeistert werden.
Transkulturelle Psychiatrie ist aber auch ein Appell an eine stärkere Patienten- oder Kundenorientierung.
Was wollen und brauchen diese Patienten?, so lautet die zentrale Frage. Dazu ist der Aufbau von Versorgungsstrukturen notwendig, was die Möglichkeiten der einzelnen Mitarbeiter – auch der engagiertesten –
deutlich übersteigt. Dieser Prozess kann nur gelingen, wenn sich Einrichtungsleitungen eine transkulturelle
Psychiatrie zum Anliegen machen.
Wir stehen jedoch nicht am Anfang! Wie die Beiträge von Kolleginnen und Kollegen in diesem Buch beweisen, können wir auf Erfahrungen, Wissen und Arbeitsweisen aufbauen, die andere vor uns entwickelt
haben. Wir können uns auf die »Schultern dieser Riesen« stellen, um einen neuen Überblick zu gewinnen,
und müssen nicht alles neu erfinden. Es gilt, diesen interessanten, spannenden und herausfordernden Weg
individuell und institutionell zu gehen, wenn wir unserem Ziel »Gesundheit und Chancengleichheit für alle«
näher kommen wollen
Damit sehen wir Transkulturelle Psychiatrie als eine Dimension einer sozialen Psychiatrie an. Diese scheint
in der gesundheitspolitischen und der fachlichen oder gar wissenschaftlichen Diskussion ihre große Zeit hinter sich zu haben; die klammen öffentlichen Haushalte bieten auch nicht gerade die besten Voraussetzungen
für eine stärker gemeindeorientierte Ausrichtung der psychiatrischen Versorgung, die für eine transkulturelle
Ausrichtung unumgänglich ist.“ (Hegemann/ Salman 2010, S. 13-14) 4
Neben der alleinigen Verwendung der männlichen Benennungsform wird im Ansatz der
transkulturellen Psychiatrie die Trennung in Menschen mit Migrationshintergrund und Men4
Irritierend ist, dass sich Autor_innen der transkulturellen Psychiatrie maßgeblich auf den Psychiater
E. Kraepelin beziehen, der an ‚eugenischen’ und völkisch-rassistischen Publikationen beteiligt war
(vgl. Kappeler 2000, S. 382). Lediglich seine teils eurozentrischen Krankheitsverständnisse werden
kritisiert (vgl. Littlewood 2010, S. 22).
Clarissa Hechler / Claus Melter
190
schen ohne Migrationshintergrund sowie eine Zuschreibung von homogen verstandenen ‚Kulturen’ als gegebene Tatsache behandelt.
Thematisierungen von Migration in der (Sozial-)Psychiatrie
Einhellig wird beschrieben, dass Personen ‚mit Migationshintergrund’ in Angeboten der Sozialpsychiatrie und besonders präventiven Maßnahmen unterrepräsentiert sind – obwohl sie
im Durchschnitt mehr ökonomischen, rechtlichen und rassistischen Belastungen ausgesetzt
sind.
„In Deutschland leben derzeit mehr als 15,7 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die etwa
19,3 % der Bevölkerung der Bundesrepublik repräsentieren. Trotz vielfältiger Bemühungen ist das psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgungssystem unseres Landes bisher dennoch nicht ausreichend
in der Lage, diese Gruppe angemessen zu versorgen. Informationsbedingte, kulturelle und kommunikative Barrieren führen zu den seit langem bekannten Problemen von Unter-, Über- und Fehlversorgung
von Menschen mit Migrationshintergrund mit dadurch erhöhten Kosten für Therapie und Pflege. Eine
Versorgung, die die besonderen Bedürfnisse der Menschen mit Migrationshintergrund berücksichtigen
will, benötigt klare strukturelle Rahmenbedingungen.
Die DGPPN [Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde] möchte erwirken, dass die für die Versorgung verantwortlichen Träger des Gesundheitswesens in ihren Institutionen das Amt eines Migrations-/Migranten-/Integrationsbeauftragten schaffen, um
dadurch wirksame und nachhaltige Verbesserungen in der Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund einzuleiten. Eine erfolgreiche Arbeit ist nur dann möglich, wenn die Migrations-/Migranten/Integrationsbeauftragten die dafür erforderliche Kompetenz erhalten. Ebenso wünschenswert sind multikulturelle Teams sowie ein regelhafter Einsatz von Sprach- und KulturmittlerInnen. Die DGPPN
möchte mit diesem Positionspapier zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen und helfen, bestehende Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten zu klären, die den Umgang mit Patienten mit Migrationshintergrund im Gesundheitssystem teilweise prägen. Zu diesem Anlass veranstaltet die DGPPN
erstmals am 12. September 2012 ein Hauptstadtsymposium mit dem Titel ‚Psychisch krank durch Migration? Perspektiven der Migrationspsychiatrie in Deutschland.’“(DGPPN 2012, S. 1f.)
In der zitierten Passage werden sowohl die Unterstützungs-Ambition und das Engagement als
auch die selbstverständliche Trennung in Menschen mit und ohne so genanntem Migrationshintergrund, in Einheimische und Migrant_innen deutlich. Weiter ist die Rede von ‚kulturellen’ Barrieren, wobei der Begriff ‚Kultur’ undefiniert bleibt.
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
191
„Studien 5 zur psychischen Gesundheit haben für Depressionen sowie psychosomatische Erkrankungen
(…) zumeist höhere Prävalenzen bei Menschen mit Migrationshintergrund gefunden [...]. Die Datenlage
ist jedoch durch große Heterogenität, methodische Probleme sowie in Teilen widersprüchliche Ergebnisse gekennzeichnet [...]. Zudem gibt es Hinweise, dass eine schlechtere psychische Gesundheit bei
Menschen mit Migrationshintergrund stark durch deren niedrigeren Sozialstatus mitbedingt ist [...]“
(Robert Koch-Institut 2015, S. 178).
Zu einem etwas differenzierteren Ergebnis kamen Machleidt, Sieberer, Walter und Zeef in
einer Studie zur psychischen Belastung von Migrant_innen der ersten Generation. Dabei wurden drei Gruppen unterschieden: Aus der Türkei eingewanderte Personen, Aussiedler_innen
und autochthone Personen. So konnte festgestellt werden, dass nach zehn Jahren in Deutschland keine höhere Belastung von Aussiedler_innen gegenüber autochthonen Personen vorliegt. Bei Personen die aus der Türkei eingewandert sind ist allerdings nach 20 Jahren noch
immer eine deutlich höhere Belastung festzustellen (vgl. Machleidt 2013, S. 50).
Der Zusammenhang zwischen sozialer Zurückweisung beziehungsweise sozialem Ausschluss
und dem Schmerzempfinden kann mittlerweile ebenfalls als gesichert angesehen werden.
„Im Schmerzsystem tragen negative Gefühle, die durch soziale Ausschließungsprozesse hervorgerufen
werde, zur Schwellenerniedrigung für Schmerzempfindungen bei. [...] Weitere Experimente zeigten,
dass Menschen mit sozialer Unterstützung eine geringere Schmerzwahrnehmung als andere [zeigen],
die auf diese nicht zurückgreifen können. Für die Behandlung bedeutet dies, dass bei Migranten mit
Schmerzsyndromen (‚türkischer Ganzkörperschmerz’) unter Ausschließungsbedingungen statt der
symptomatischen Behandlung die sozialen Stressoren im Mittelpunkt der therapeutischen Bearbeitung
stehen müssen.“ (Machleidt 2013, S. 61).
Bisherige Forschungsergebnisse zu psychischen Erkrankungen von Menschen mit Migrationsgeschichte weisen weiter auf, dass es offenbar ein erhöhtes Vorkommen von psychosozialen Beschwerden gibt. Der deutlichste Zusammenhang zwischen Migration und Krankheit
besteht bei den psychischen Folgen von Traumatisierungen, die sich vor und während des
Migrationsprozesses ereigneten (vgl. Bilgin/ Knipper 2009, S. 54, 56).
Auch Rassismus und Diskriminierungen haben Einfluss auf die psychische Gesundheit und
können, beispielsweise nach Nancy Krieger, zu einer erhöhten Vulnerabilität (Verletzlichkeit)
sowie nach Grada Kilomba Ferreira zu Traumatisierungen führen (vgl. Prasad 2009, S., 7-8).
Im deutschsprachigen Raum lassen sich allerdings nur sehr wenige Studien hierzu ausmachen.
5
Vgl. Hechler 2016a.
Clarissa Hechler / Claus Melter
192
Auch Dileta Fernandes Sequeira, welche Interviews mit People of Color geführt hat, hält in
ihrem Buch 2015 fest, dass sich diese Menschen hier in Deutschland durch den gesellschaftlichen Rassismus in einem traumatisierenden Umfeld befinden (vgl. Fernandes Sequeira 2015,
S. 31, 50, 51). Zu gleichen Befunden kommt Nkechi Madubuko in ihrer Studie zu Akkulturationsstress für Migrant_innen, deren Handlungsstrategien angesichts von Diskriminierungsund insbesondere Rassismuserfahrungen sie rekonstruiert (vgl. Madubuko 2011).
Auch der Aufenthaltsstatus findet selten Beachtung. 2004 hielten Hunkeler und Müller fest,
dass „[...] die Mehrheit der Migrantinnen ihren unsicheren Aufenthaltsstatus als ihre psychosoziale Gesundheit beeinträchtigend wahrnehmen. Der negative Einfluss eines unsicheren
Status auf Gesundheit ist umso größer, je weniger externe Ressourcen einer Migrantin zur
Verfügung stehen. Eine unsichere Aufenthaltssituation ist mit so vielen Schwierigkeiten verbunden, dass die vorhandenen internen Ressourcen nicht als Schutz für die Gesundheit eingesetzt werde[n] können [...]“ (Hunkeler/ Müller 2004, S. 6; in Prasad 2009, S. 8-9).
Einen Überblick bisheriger Erkenntnisse zur „Versorgung psychisch kranker Patienten mit
Migrationshintergrund“ (2008) bieten Lindert et. al. in ihrem gleichnamigen Artikel, wobei
zumeist Studien zu stationären und präventiven Maßnahmen angeführt werden, was sicher
auch mit den fehlenden Studien zur nicht-stationären Versorgung zusammen hängt. Auch sie
schreiben:
„Die rechtlichen Rahmenbedingungen im Herkunftsland, der Verlauf der Migration (u. a. Gewalterfahrungen während der Migration, Dauer der Migration, Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland) sowie die
rechtliche und soziale Lage im Zielland (u.a. Art der sozialen Unterstützung, finanzielle Ressourcen)
beeinflussen den Migrationsprozess entscheidend. Die rechtliche Lage im Aufnahmeland ist eng an den
juristischen Aufenthaltsstatus gebunden. Der Aufenthaltsstatus wiederum ist, insbesondere bei Unsicherheit bezüglich der Aufenthaltsgenehmigung, eng korreliert mit dem Zugang zu der Versorgung und
mit der sozialen Lage und die soziale Lage wiederum mit dem selbst eingeschätzten Gesundheitszustand [...]“ (Lindert et. al. 2008, S. 125).
Zudem weisen einige Studien darauf hin, dass (hauptsächlich aufgrund der Sprache) Unsicherheiten bei den Mitarbeitenden auftreten können (vgl. Lindert et. al. 2008, S. 126). Die
vorhandene Datenlage verweist weiter darauf, dass Migrant_innen in ambulanten und teilstationären Bereichen unterrepräsentiert, in der forensischen Psychiatrie sowie in stationären
Bereichen hingegen überrepräsentiert sind (vgl. Lindert et. al. 2008, S. 125). Barrieren können
strukturell, finanziell, sprachlich, kommunikativ und aufgrund „[...] schwer einschätzbarer
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
193
Ansprüche und Erwartungen der Mitarbeiter und der Migranten [...]“ (Lindert et. al. 2008, S.
124) bestehen. Zudem können sogenannte ‚kulturelle‘ und soziale Gründe in Betracht kommen.
„Zu den Zugangsbarrieren gehören Informationsdefizite, sprachliche und kulturelle Unterschiede,
Macht- und Perspektivlosigkeiten, zu denen Erfahrungen der Diskriminierung und des sozialen Ausschlusses ebenso beitragen wie Ängste um den Aufenthaltsstatus bei Drogenabhängigkeit. Stärker als
sprachliche scheinen kulturelle Unterschiede im Verständnis psychischer Erkrankungen die Kommunikation mit professionellen Helfern und den Zugang zum Hilfesystem zu erschweren.“ (Lindert et. al.
2008, S. 128)
Die Unterscheidung in Menschen mit und ohne Migrationshintergrund erscheint im Sprechen
über die Themen Migrationsgesellschaft und Sozialpsychiatrie als notwendig, um mögliche
Unterversorgungen und Diskriminierungen dieser konstruierten Gruppe thematisieren zu können; gleichzeitig werden bestehende Unterscheidungen, die oftmals mit Diskriminierung verbunden sind, reproduziert. Zudem wird in der Differenzierung nach ‚Migrationshintergrund‘
die rassistische Diskriminierung deutscher Roma und Sinti, deutscher Muslime, Schwarzer
Deutscher sowie Juden und Jüdinnen als zu ‚Anderen’ gemachten Personen nicht erfasst.
In diesem Spannungsfeld stellt sich zum einen die Frage, ob die Frage des Konstruierens in
‚Wir’ und ‚die Anderen’, in die ‚Einheimischen’ und ‚die Migrant_innen’ sowie in ‚Weiße’
und ‚Nicht-Weiße’ kritisch reflektiert wird. Zum anderen stellen sich die Fragen, ob und wie
gesellschaftliche Kontexte und Lebenslagen sowie die Perspektiven dieser Personen einbezogen werden. Des Weiteren ist zu untersuchen, ob und welche Folgen die rechtlichen Konstruktionen von Staatsbürger_innen und Nicht-Staatsbürger_innen nach sich ziehen und welche sozialen, kulturalisierenden Zuschreibungen mit den Konstruktionen verbunden sind –
und evtl. eingeschränkte Ressourcenzugänge, Bewegungs- und Teilhaberechte oder schlechtere professionellere Unterstützung und geringere Möglichkeiten in den Bereichen Arbeit, Bildung und Wohnungsmarkt (vgl. Melter/ Karayaz 2013, S. 245). In der konkreten Arbeit mit
Adressat_innen in Sozialpsychiatrie und Sozialer Arbeit sind sowohl aufenthalts- und asylrechtliche Themen bedeutsam, als auch Fragen von rassistischer Diskriminierung in der Gesellschaft und die Frage des Umgangs mit ‚Kultur und Kulturalisierung’ in der professionellen
Arbeit.
Clarissa Hechler / Claus Melter
194
Zuschreibende Kulturalisierungen
Wenn von Kulturalisierungen gesprochen wird, sollten verschiedene Verständnisse von ‚Kultur’ erläutert werden.
Idealtypisch unterschieden werden kann zwischen:
1) Dem essentialistisch, biologistisch, ahistorisch, statischem Kulturverständnis. Dieses
Modell wird auch Kugel-, Container-, Kulturkreis- oder Marionetten-Modell von
‚Kultur’ genannt (vgl. Yildiz 2009, S. 18). Gedacht wird zum einen, das jede Person
zu nur einem Land gehört und mit jeweils nur einer und zwar über alle Zeiten gleich
bleibenden ‚Kultur’ lebt und zwanghaft den kulturellen Vorstellungen des Landes, der
Nation, des ‚Kulturkreises’, der ‚Rasse’ oder ‚Ethnie’ entsprechend handeln muss. Die
Menschen werden NICHT als handlungs-, entscheidungs- oder verantwortungs- und
reflexions-fähig angesehen. Sie sind Marionetten, Roboter_innen ihres so konstruierten kulturellen Wesens (vgl. kritisch Leiprecht 2001, S. 28 und Yildiz 2009, S. 18).
2) Dem individualistisch-autonomen Kulturverständnis der europäischen Aufklärung,
welches einerseits als ‚weiß’, europäisch und christlich sowie ‚zivilisiert’, mündig und
aufgeklärt definierten Personen Denk-, Handlungs- und Regierungsfähigkeiten zuschreibt und andererseits durch diskriminierende Rechtsordnungen sowie ideologische
Abwertungen die Gruppen der inneren und äußeren zu ‚Anderen’ gemachten Personen
entrechtet, abwertet, diskriminiert oder gar verfolgt und tötet (vgl. Brumlik 2004, S.
23ff.; Taubira 2015, S. 38; Melter 2016, S. 589).
3) Dem Verständnis von ‚Kultur’ als soziale Handlungspraxen von Einzelpersonen, die
sich einzelnen oder mehreren Gruppen, Ländern und Kontexten zugehörig fühlen
können und in bestehenden Machtverhältnissen situativ Entscheidungen treffen. Dieses Verständnis schließt an Theorien von du Bois, Luxenburg, Gramsci, Freire, Fanon
und Holzkamp an (vgl. Mecheril u.a. 2010; Bernhard 2008).
In den empirischen Studien zur Sozialen Arbeit zeigt sich tendenziell, dass kulturalisierende
Zuschreibungen gegenüber als ‚Migrant_innen’ angesehene Personen angewandt werden,
während gegenüber Personen ohne zugeschriebenen Migrationshintergrund eher das autonome Kulturverständnis angewandt wird. Das dritte, gesellschaftskritische und auf Bündnisangebote, Aushandlung und Selbstbemächtigung zielende Kulturverständnis wurde im Rahmen
195
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
der Antipsychiatrie-Bewegung umgesetzt und heute in Teilen der Sozialpsychiatrie, so zumindest der Anspruch, realisiert. Zudem werden vielfach Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen sowie aufenthalts- und asylrechtliche Fragen wenig aktiv in sozialarbeiterischen
Betreuungsverhältnissen bearbeitet, teils werden diese Themen abgewehrt, minimiert und als
irrelevant seitens der Sozialarbeitenden dargestellt (vgl. Melter 2006, S. 184 ff.).
Migrationsgesellschaftliche und rassismuskritische Perspektiven
‚Migrationsgesellschaft’ kann als Analyseperspektive und Realutopie benannt werden. Migrationsgesellschaft als Perspektive meint nicht vor allem ‚Migrant_innen’ oder ausschließlich
Communities, Gesellschaften von ‚Migrant_innen’, sondern bedeutet, dass alle Menschen in
einer Gesellschaft gemeint sind und betont, dass Migrationsphänomene von Einwanderung,
Auswanderung, Pendel- und Transmigration sowie globale Kontakte grundlegend für fast alle
Gesellschaften sind. Es wird vielmehr gefragt, ob und wie zwischen ‚Einheimischen’ und
‚Mehrheimischen’, zwischen Menschen ohne und mit Migrationsgeschichte oder ‚Schwarzen’
und ‚Weißen’ unterschieden wird und welche Folgen rechtlich, institutionell und sozial damit
verbunden sind (vgl. Mecheril 2010 u.a., S. 17ff.; 2016, S. 8ff.). Eine migrationsgesellschaftliche Perspektive geht also nicht von natürlich bestehenden Gruppen von ‚Wir’ und ‚die Anderen’ oder gar damit verbundenen (Vor-)Rechten versus Entrechtlichungen aus (vgl. Melter
2016, S. 589ff.), sondern untersucht zum einen analytisch die Logiken des Unterscheidens in
Menschengruppen. Zum anderen wird in diskriminierungs- und speziell rassismuskritischer
Perspektive angestrebt, dass alle Menschen faire Ressourcenzugänge sowie Entfaltungs- und
Handlungsmöglichkeiten bekommen und nicht in ihrer Würde durch diskriminierende und
rassistische Denkfiguren sowie Handlungspraxen verletzt werden. Es handelt sich dementsprechend um eine analytische und normativ-handlungsrelevante Perspektive: Wie analysieren wir Interaktionen und Strukturen? Was können wir für eine zu diskutierende gerechtere
Gesellschaft mit den Adressat_innen tun?
Für die (Sozial-)Psychiatrie bedeutet diese Herangehensweise notwendigerweise eine persönliche, professionelle und institutionelle (Selbst-)Reflexion der Logiken und Praxen des eigenen Handelns sowie der Effekte für unterschiedliche, sozial und rechtlich hergestellten Gruppen.
Clarissa Hechler / Claus Melter
196
Die gegenwärtige weltweite Migrationsgesellschaft ist gekennzeichnet einerseits durch die
Rede von Chancengleichheit und Demokratie und andererseits von der Realität fortwährender
einkommens-, behinderungs-, geschlechterbezogenen sowie migrationsgesellschaftlichen und
rassistischen Diskriminierungen, die Ausdruck und Grundlage sozialer Ungleichheit sind. Die
ungleiche Verteilung zeigt sich darin, dass acht Männer mehr besitzen als die Hälfte der finanziell ärmeren Weltbevölkerung (vgl. oxfam 2017). Ungleichheiten werden in der Regel zu
rechtfertigen gesucht. Eine oft verwendete, jedoch nicht hinreichende Erklärung für strukturelle Gewalt bzw. die systematische Diskriminierung beispielsweise der ‚Armen’ sind Stereotype und Vorurteile als Grundlage und Mittel der Differenzherstellung und Ungleichbehandlung („Die wollen nicht arbeiten“ und „die sind faul“ als gängige Vorurteile). Stereotype werden hier als verallgemeinernde Gruppenkonstruktionen und Vorurteile als verallgemeinernde
Gruppenkonstruktionen mit zusätzlichen Negativurteilen verstanden. Möglicherweise finden
Stereotype und Vorurteile jedoch ausschließlich in den Köpfen von Personen statt. Einstellungen können, aber müssen nicht unsere Handlungen beeinflussen. Eine kritischere Erklärung betont, dass in ungleichen Machtverhältnissen bestimmte Gruppen auch durch die Verwendung von Stereotypen und Vorurteilen bevorzugt und andere materiell und sozial diskriminiert werden.
Diskriminierungen beinhalten Gruppenkonstruktionen und damit verbundene Benachteiligungen. Dementsprechend genügt es nicht, „[...] durch Erziehung und Bildung an den individuellen Vorurteilen anzusetzen. Denn so lange diskriminierende Strukturen und Praktiken wirksam sind, entsteht auf Seite der Privilegierten ein Bedarf an Vorurteilen und befinden sich die
Benachteiligten in einer Situation, in der ihre Möglichkeiten der Gegenwehr beschränkt sind.“
(Scherr 2015, S. 15). Dies gilt für kapitalistische und geschlechterbezogene Ungleichheiten
und für Rassismus. So haben in Deutschland lebende Menschen real nicht die gleichen Teilhabechancen in den Bereichen Bildung, Wohnen und Arbeit. Diese Diskriminierungsrealität
widerspricht den Gedanken von Grundgesetz, Menschenrechten und dem Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz in der BRD. In Institutionen sowie auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt erhalten bestimmte Personen und Gruppen nicht den gleichen professionellen
Service wie ihn Angehörige anderer Gruppen erhalten. Die rassismuskritische und migrationsgesellschaftliche Perspektive geht also über die Frage von Vorurteilen, Einstellungen und
Haltungen hinaus und berücksichtigt reale Handlungen, ungleiche Machtverhältnisse und zielt
in reflexiv intervenierender pädagogischer Arbeit auf eine Änderung von personalem Handeln
197
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
und beeinträchtigender Verhältnisse. Um gerechtigkeitsorientiert zu handeln bedarf es des
Wissens darum, dass Soziale Arbeit, Psychologie und Psychiatrie vielfach eher auf problematische Weise an rassistischen Verhältnissen beteiligt waren.
‚Ausländerfeindlichkeit’, ‚Fremdenfeindlichkeit’ oder ‚Rassismus’?
Alltäglich erleben Personen im Kontext Sozialer Arbeit und anderen Bereichen Rassismuserfahrungen: Dies reicht von Fragen wie „Woher kommst du?“ oder der Kommentierung der
Sprachfertigkeiten in der deutschen Sprache („Du sprichst aber gut deutsch!“), über die Erfahrung, in Schulen und bei der Ausbildungsplatzsuche nicht die gleichen Chancen zu haben,
Einlasskontrollen an Diskotheken oder Polizeikontrollen allein aufgrund äußerlicher körperlicher Merkmalen zu erleben, bis hin zu verbalen und physischen Übergriffen. Nicht alle hier
genannten Handlungen erfolgen mit bewusster ausgrenzender oder verletzender Absicht. Aber
sie wirken ausgrenzend und verletzend. Zudem gibt es die Diskriminierung durch das Aufenthalts- und Asylgesetz, die nationalstaatliche Diskriminierung aller, die keine deutsche Staatsbürger_innen sind. Wie können diese Handlungen theoretisch und begrifflich gefasst werden?
Da die genannten Handlungen genauso Personen treffen, die staatsbürgerlich Deutsche sind
und in der BRD geboren und aufgewachsen sind, die also weder ‚Fremde’ noch ‚Ausländer_innen’, sind, können oft genutzte Begriffe wie ‚Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit’ als
offensichtlich ungeeignet angesehen werden. Entscheidend sind vielmehr die Vorstellungen
der bewusst oder unabsichtlich benachteiligend handelnden Personen, für die ‚Deutsch-Sein’
mit Eigenschaften in Bezug auf Körperform und Hautpigmentierung verbunden sind. Nationen-Vorstellungen werden mit ‚Rasse’-Konstruktionen verwoben. Es geht um Rassismus. Es
gibt keine menschlichen ‚Rassen’ und dennoch werden seit langer Zeit Menschen entsprechend rassistischer Kategorisierungen eingeteilt, hierarchisiert und unterschiedlich behandelt.
Die Einteilung in unterschiedliche Gruppen und die Ausübung benachteiligender Handlungen
wird Diskriminierung genannt. Sind systematisch und über einen längeren Zeitraum ausgeübte Diskriminierungen mit ‚Rasse’-Konstruktionen verbunden handelt es sich um das gesellschaftlich ungleiche Machtverhältnis Rassismus. Eine Gemeinsamkeit der gesellschaftlichen
Machtverhältnisse Kolonialismus, Nationalsozialismus (vgl. Otto/ Sünker 1991) und des gegenwärtigen Rassismus ist, dass Menschen mittels nationaler, religiöser, kultureller oder rassistischer Unterscheidungen in unterschiedliche Gruppen eingeteilt und ihnen ungleiche
Clarissa Hechler / Claus Melter
198
Rechte und Möglichkeiten gegeben werden. Eine Gruppe wird systematisch abgewertet und
diskriminierend behandelt, während die andere in das Zentrum von Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Entscheidungen rückt.
Verständnisse von Rassismus
Grada Kilomba benennt Rassismus als Re-Inszenierung kolonialer Situationen von HerrVersklavten-Konstellationen (vgl. Kilomba 2008, S. 7). Gemeint sind hier nicht nur bewusste
und offensichtlich herabwürdigende Handlungen. Es kann sich auch um ‚kleine’ und alltägliche Herstellungen von Differenz und zugeschriebener Nicht-Zugehörigkeit und ‚Minderwertigkeit’ handeln. Birgit Rommelspacher benennt verschiedene Elemente des gesellschaftlichen Machtverhältnisses Rassismus: rassistische Gruppenkonstruktionen, die Homogenisierung/Vereinheitlichung der konstruierten Gruppen, die Behauptung einer natürlichen Essenz
und von biologischen Unterschieden der Angehörigen der konstruierten Gruppen sowie die
Hierarchisierung (Höher- und Abwertung), die Polarisierung (Behauptung der unvereinbaren
Unterschiedlichkeit) und die Kulturalisierung der Gruppenmitglieder (vgl. Rommelspacher
2009, S. 34ff.). Jede Form des (biologischen oder kulturellen) Rassismus operiert mit kulturalisierenden Zuschreibungen, sei es in Bezug auf Religion, Geschlechterverhältnisse und/oder
vorgestellte Einstellung zur Arbeit. Das alltägliche Zusammenspiel von individuellen Denkund Handlungsweisen, von institutionellen und medial-diskursiven Unterscheidungs-Logiken
und Benachteiligungen bewirken die systematische gesellschaftliche Benachteiligung bestimmter Gruppen und beeinflussen die Subjektbildungsprozesse (vgl. Mecheril/ Melter 2010,
S. 150ff; Velho 2015, S. 75ff.). Historisch und aktuell relevant sind die
•
Diskriminierung von als ‚nicht-deutsch’ und/oder ‚nicht weiß’ kategorisierten Personen
•
Rassismus gegen Roma und Sinti (vgl. Randjelović 2015)
•
Antimuslimischer Rassismus (vgl. Attia 2014)
•
Antisemitismus (vgl. Brumlik 2004; Rommelpacher 2009)
•
Rassismus gegenüber als ‚schwarz’ definierten Personen und People of Color (vgl. ElTayeb 2011)
199
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
•
Rassismus gegenüber Menschen aus Osteuropa und Asien
•
Nationalstaatliche Diskriminierung und Rassismus gegenüber Personen, die als geflüchtete Personen oder mit (bestimmtem) Migrationshintergrund gesehen werden.
Ein Teil der Herstellung dieser national, religiös, sprachlich und kulturell oder rassistisch als
unterschiedlich angesehener Gruppen erfolgt auf politisch, medialer Ebene im sogenannten
Integrationsdiskurs, der weiter auf Anpassung und geringere Rechte und Möglichkeiten der
Gruppen der Eingewanderten und der Nicht-Staatsbürger_innen abzielt. Gegen diese Logik
der Einteilung in Menschengruppen, gegen die Höher- und Abwertung und Ungleichbehandlung wendet sich die rassismuskritische Migrationspädagogik. Die Frage, wie Zugehörigkeitsordnungen sozial und formell in Migrationsgesellschaften ausgehandelt sowie mit Diskriminierung und Privilegierung verbunden werden, soll nun mit der Perspektive ‚Migrationsgesellschaft’ analysiert werden. Die migrationsgesellschaftliche Perspektive (vgl. Mecheril 2010) untersucht also, wie in ‚Wir’ und ‚die Anderen’ hinsichtlich natio-ethno-kultureller
sowie religiöser und rassistischer Kategorien unterschieden und dies mit Benachteiligungen
oder Bevorzugungen verbunden wird.
Diskriminierungs- und rassismuskritische Studien im Bereich Soziale Arbeit
Rassismuskritische und pädagogische Studien 6 belegen, dass Sozialarbeitende und Fortbildende wenig über die bei allen Menschen vorhandenen (mehrfachen) Zugehörigkeits- und
Identitätsverständnisse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit zugeschriebener
Migrationsgeschichte wissen und sich wenig dafür interessieren. In der Regel gründen sich
die Vorstellungen der Pädagog_innen und Fortbildner_innen auf Vermutungen und Zuschreibungen und NICHT auf der Kommunikation mit den Beteiligten. Zudem sind die Folgen für
diejenigen, die als ‚mit Migrationsgeschichte oder mit Migrationshintergrund‘, als ‚NichtDeutsche‘, als ‚Nicht-Christ_innen‘ angesehen und behandelt werden, eher negativ im Vergleich zu Ansichten und Handlungspraxen gegenüber als mehrheitsangehörig, ‚deutsch‘,
‚weiß‘ und ‚christlich‘ angesehenen Personen. Interessant ist, dass sich – wie eine Untersu-
6
U.a. Essed (1991); Beinzger, Kallert, Kolmer (1995), Lewis (2000); Deniz (2000); Mecheril (2003);
Terkessidis (2004); Eggers (2005), Seukwa (2006); Melter (2006), Yildiz (2009); Kuster-Nikolić
(2012), Textor (2014); Scharathow (2014) und Velho (2015); Amirpur (2016).
Clarissa Hechler / Claus Melter
200
chung von Lena Dittmer zeigt – Pädagog_innen, die sich bewusst rassismuskritisch qualifiziert hatten, dies im pädagogischen Alltag nicht umsetzten (vgl. Dittmer 2008). Dies verweist
darauf, dass es auf institutioneller, wie auf konzeptioneller Ebene weiterer Anstrengungen
bedarf, eine rassismuskritische, partizipative Praxis weiterzuentwickeln. Wie fanden und finden diese Ideologien und Praxen der Ungleichwertigkeit in Praxen Sozialer Arbeit und Sozialpsychiatrie ihren Niederschlag?
Empirisches Beispiel zu (Sozial-)Psychiatrie und Migrationsgesellschaft
In 7 der Studie von Clarissa Hecher zu „Sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern in der Migrationsgesellschaft“ (Hechler 2016a) zeigte sich im Gespräch mit vier Professionellen, dass natio-ethno-kulturelle Zuschreibungspraxen in allen Interviews eine Rolle spielten. So war unter
anderem auch die Rede von ‚Ethnien’ 8 oder der ‚Flüchtlingswelle’ 9. Rassistische Sprachpraxen werden demnach unreflektiert in den eigenen Sprachgebrauch übernommen und Herrschaftsverhältnisse damit stabilisiert.
Rassismus scheint in der sozialpsychiatrischen Arbeit, laut der Befragten, keine große Rolle
zu spielen. Es gibt zwar Alltagsrassismus, aber das Thema wird von den Fachkräften als weniger relevant für die Arbeit sowie die Einrichtungen eingeordnet bzw. angesehen. Eigene
Strukturen der Mitarbeiter_innenschaft sowie der Zusammensetzung der Adressat_innen oder
eigene möglicherweise kulturalisierende Handlungspraxen wurden kaum hinterfragt und Rassismuserfahrungen der Adressat_innen eher als ‚Sonderfall’ deklariert. Weiter wurde Rassismus in einem Interview als Teil des Wahninhalts und damit nicht zu besprechender Inhalt und
Erfahrungsbereich benannt. Das Sprechen über Rassismus seitens der Adressat_innen führt,
7
Vgl. Hechler 2016a, S. 84 f.
Begriff ‚Ethnie’: Geht auf den Anthropologen W. E. Mühlmann (1960er Jahre) zurück und wurde als
Alternative für die Begriffe ‚Rasse’ sowie ‚Stamm’ angedacht. Hiermit geht die Vorstellung einer
kulturell und sprachlich homogenen Gruppe einher (vgl. Arndt/ Hornscheid 2009, S. 124).
9
Suffix ‚-ling’: Verkleinernde als auch negative Konnotation (wie etwa bei Lehrling oder Feigling)
(vgl. Arndt 2004, S. 1). Wenn in der heutigen Sprachpraxis von den ‚Flüchtlingen’ gesprochen wird,
findet sich eben diese Herabsetzung wieder. Der Begriff der ‚Flüchtlingswelle’ hat zudem eine Wassermetaphorik in sich. „Man assoziiert mit ihr Naturgewalten und Gefahren; eine Flut kann Kulturland, Infrastruktur, Dörfer und Städte zerstören, und Menschen können in den Wassermassen ertrinken. Die Wassermetaphorik verweist aber auch auf Handlungsanweisungen und Problemlösungen: Die
logische Reaktion auf eine Gefahr ist die Kontrolle der Gefahr oder eine Abwehrstrategie.“ (Burger/
Luginbühl/ Schwab 2004, S. 86).
8
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
201
laut Aussagen der Interviewten, so manchmal zu ‚falschen Anschuldigungen’ gegen Personen, rassistisch gehandelt zu haben.
Teilweise wurde der mediale und gesellschaftliche Diskurs aufgegriffen und diskriminierende
Mechanismen festgehalten:
„In Moment isch natürlich Rassismus ’n großes Thema. (.) Also (.), seit (.), seit ma einfach viele (.),
viele Flüchtlinge da haben und (2), äh (.), jeder muslimische Mann als potentielle Gefahr gesehen wird,
(.) da geht’s den Leuten sicher nochmal (1) anders [In: Mhm].“ (Hechler 2016 a, S. 52)
Auch rassistische Strukturen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt wurden teilweise benannt.
Die Ungleichbehandlungen durch aufenthaltsrechtliche Fragestellungen waren für alle Fachkräfte eine Thema. Sie sind in ihrer Arbeit direkt davon betroffen und haben Problemstellungen deutlich vor Augen.
Für alle durch die Befragten vertretenen Einrichtungen kann zudem festgehalten werden, dass
sich Bestrebungen finden lassen, eine interkulturelle Öffnung durchzusetzen. Mit dieser geht
allerdings ebenso das ‚Wissen’ um ‚fremde Kulturen’ und eine interkulturelle Kompetenz
einher, in der ‚Einheimische’ lernen, mit ‚Migrant_innen’ umzugehen. Die Professionellen
werden dabei als ‚einheimisch’ konstruiert und die Menschen ‚mit Migrationshintergrund’ als
nicht-deutsche Adressat_innen. Den ‘Migrant_innen‘ wird je eine unterschiedliche, homogen
und historisch gleichbleibende nationale ‚Kultur‘ zugeschrieben. Der Kulturbegriff an sich
bleibt in allen Interviews schwammig, undefiniert und diffus. Verbunden wird ‚Kultur‘ zumeist mit territorialen bzw. nationalen und religiösen Zugehörigkeiten sowie der (auch familiären) Sozialisation.
„[…] für mich würde jetzt Kultur (.) bedeuten (1), vielleicht (.), ähm (1), so ’ne Mischung aus (2) Sprache, (4) Land (.) oder (.) Land(1)strich, (.) wo jemand herkommt, ne? Also (.), so und (.) oder Region (.)
und (.), äh (2), und (.), ähm (3) Ethnie ((lacht)) (1) und Religion. Vielleicht so (.), so ’ne Mischung (1),
wo ich sagen würde: (.) ‚Des m a c h t (.), jetzt mal in groben Zügen vielleicht (.), ’ne (.) Kultur für
mich aus.“ (Hechler 2016 a, S. 54)
Insgesamt konnte festgestellt werden, dass Deutschland, und teilweise auch Europa, meist
recht differenziert (in Subkulturen) betrachtet und/oder die ‚Kultur’ anhand von Ländergrenzen festgemacht wird. Anders verhält sich das mit den Begriffen ‚muslimische Kulturen’,
‚westliche Welt’ und ‚afrikanische Kulturen’, mit denen größere Kategorisierungen vorge-
Clarissa Hechler / Claus Melter
202
nommen und pauschalere Aussagen getroffen werden. Mehrfachzugehörigkeiten wurden nicht
thematisiert, wohingegen ein ‚zwischen den Kulturen’ häufiger benannt wurde, was wiederum
eindimensional gedachte Zugehörigkeiten und recht statische Kulturverständnisse mit sich
bringt.
Neben der interkulturellen Öffnung, der Zusammenarbeit mit so genannten Kulturdolmetscher_innen und Sprachdolmetscher_innen, Selbstorganisationen (auch von Migrant_innen)
sowie einer gewissen Rücksichtnahme und ‚Befolgung’ gewisser (‚kultureller’) Verhaltensregeln von Seiten der Fachkräfte sind keine extra Angebote bzw. Arbeitsweisen für Personen
mit zugeschriebener Migrationsgeschichte vorgesehen. Eine Auseinandersetzung mit Rassismus als Gesellschaftsverhältnis oder als Handlungslogik in der sozialpsychiatrischen Arbeit
wird nicht eingefordert. Eine Reflexion eigener Vorurteile ist laut Aussagen der interviewten
Personen aber durchaus angebracht.
Bedarfserhebungen speziell auf die Zielgruppe der Psychiatrieerfahrenen mit Migrationsgeschichte bezogen gibt es jedoch keine. Ebenso gibt es keine Studien zu möglicherweise vorurteils-gebundenen Einstellungen und Handlungsmustern der Professionellen. Auch werden
keine speziellen Unterstützungsräume und Angebote für rassismuserfahrene Menschen angeboten (vgl. Velho 2015, S: 207). Es sind somit beispielsweise keine ‚geschützten’ Räume oder
andere Bestrebungen eines Empowerment auszumachen, obwohl solche Räume laut einer
Erzählung sinnvoll wären.
„Ähm (5), wo’s dann unter Umständen schon ’n bissl schwieriger wird is’ (.), wenn schwarze Menschen
reinkommen. (.) Also (.), oder sehr dunkelhäutige (.) Menschen. (.) Also, d a (.), da gibt’s dann schon
als mal die Kommentare. (.) Da haben wir jetzt auch niemand, (.) wo regelmäßig die Tagesstätte besucht […] ich weiß, dass mal einer (.), ’n Schwarzer hier war. (.) Da gab’s dann schon diverse (1), äh
(.), Kommentare über (.) Schwarze. Des (1) fällt dann schon auch auf […]“ (Hechler 2016 a, S. 56).
Diese als ‚schwarz’ angesehene Person, der rassistische Beschimpfungen entgegengebracht
wurden, wird voraussichtlich nicht mehr in die Tagesstätte kommen und dieses Angebot nutzen.
Geschützte Räume könnten, so kann kommentiert werden, eine Möglichkeit sein auch diese
Zielgruppe (wieder) zu erreichen. Auch die Einstellungen von Mitarbeiter_innen mit Migrationsgeschichte, Schwarzen Deutschen und People of Color können als notwendige Professionalisierung angesehen werden, um unterschiedliche Perspektiven und Identifikationsmöglich-
203
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
keiten in den Einrichtungen zu haben. Dies ist –so lässt sich den Konzepten der Einrichtungen
und Aussagen der Mitarbeitenden entnehmen - auch durchaus erwünscht, wird jedoch noch
kaum realisiert: Besondere Bestrebungen, potentielle Mitarbeitende mit Migrationsgeschichte
anzuwerben, gibt es aber keine. Allgemein wurden die eigenen Strukturen der Einrichtungen
(bis auf Einstellungspraxen und das Essensangebot) in den Interviews kaum hinterfragt. Die
Partizipation der Adressat_innen (nicht speziell derer mit zugeschriebener Migrationsgeschichte sondern aller) scheint in einigen Einrichtungen jedoch durch einen ‚Tagesstättenbeirat’ verfolgt zu werden.
Abschließend kann somit festgestellt werden, dass die befragten Professionellen in der Sozialpsychiatrie rassistische und natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen, welche die so
definierten ‚Anderen’ benachteiligen, eher stärken sowie reproduzieren und diese nicht kritisieren oder zu verändern anstreben (vgl. Hechler 2016 b, S. 209). Für die Forschung stellt sich
die Frage, wie erleben Adressat_innen of Color die tendenziell wenig diskriminierungs- und
rassismuskritisch eingestellten Pädagog_innen und Psycholog_innen? Wie gehen Therapeut_innen of Color mit Ihnen gegenüber geäußertem Rassismus ‚weißer’ Adressat_innen
um? Für die ‚Weißen’ und ‚Schwarzen’ Professionellen stellt sich die Frage, ob und wie diese
während der Ausbildung Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen durch monokulturelle
und diskriminierende/rassistische Theorien erleben und damit umgehen?
Im Buch „Multikulturelle Gesellschaft. Monokulturelle Psychologie?“, 1998 herausgegeben
von Iman Attia et. al., werden zum einen die Schwierigkeiten von Personen beschrieben,
kompetente Psychotherapeut_innen in Bezug auf Antisemitismus-/Rassismuserfahrungen zu
finden. Zum anderen werden Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von als ‚Andere’
angesehenen Personen während Aus- und Fortbildungen in den Bereichen Sozialer Arbeit und
Psychologie beschrieben. Zur Verschränkung von Rassismus und Ableismus hat Christiane
Hutson mehrere lesenswerte Artikel verfasst (Hutson 2007, 2009, 2009).
Werden die Perspektiven der zu ‚Anderen’ gemachten Personen mittlerweile als Adressat_innen und Professionelle in Theorie und Praxis berücksichtigt? Welche Widerstandsstrategien gibt es seitens der unterschiedlich positionierten Personen gegen Diskriminierungen
und Rassismen?
Clarissa Hechler / Claus Melter
204
Umgang mit Integritäten-Verletzungen
In diskriminierungs- und rassismuskritischer Perspektive auf die Migrationsgesellschaft zeigt
sich, dass die Integritäten von rechtlich, sozial und medial vulnerabel/verletzbar gemachten
Gruppen vielfach eingeschränkt und bedroht sind – auch im Bereich der Sozialpsychiatrie.
Dementsprechend 10 stellen sich vielfache Herausforderungen für eine Soziale Arbeit, die sich
– was dem gesetzlichen Auftrag entspricht – strukturell, institutionell und adressat_innenbezogen gegen Benachteiligung und Integritätenverletzungen einsetzt.
Als diskriminierungs- und rassismuskritische sowie integritäten-orientiert ambitionierte
Handlungspraxen können u.a. folgende Grundlagen und Zielvorstellungen angesehen werden:
a) Der Schutz und die Ermöglichung von Integritäten aller Menschen;
b) Die Begleitung und Unterstützung von Personen, deren Integritäten verletzt wurden;
c) Die auf Nachvollziehen und Veränderung abzielende Arbeit mit Personen, welche die Integritäten anderer Personen verletzen;
d) Teilhabe-Ermöglichen aller Gruppen an hegemonialen Bildungs-, Lebens- und Arbeitsverhältnissen;
e) Selbstbestimmung und Mitbestimmung aller Adressat_innen in der Weise, dass eigene Integritäten geschützt und ermöglicht sowie die Integritäten anderer Personen nicht verletzt
werden und
f) Kritik und Verändern-Wollen hegemonialer, ausgrenzender, benachteiligender Bildungs-,
Lebens- und Arbeitsverhältnisse, die die Integritäten von Gruppen systematisch einschränken
und verletzen.
10
Vgl. Melter 2017.
205
Sozialpsychiatrie, Migrationsgesellschaft und die Frage
nationaler, religiöser und/oder rassistischer Kulturalisierungen
Aktuelle Herausforderungen einer rassismuskritischen sowie integritäten-orientierten
ambitionierten Sozialen Arbeit und Bildung
Das Muster, dass Opfer von Rassismus und Diskriminierung in der Migrationsgesellschaft
nicht angemessen begleitet, angesprochen werden und ihre Sicht der Dinge schildern können
und gehört werden, dass sie nicht als Opfer von Gewalt angesehen, begleitet und unterstützt
werden, hat eine lange und fortdauernde Geschichte und Gegenwart – auch im Bereich Polizei
und Justiz. Aktuell hat es sich in erschreckender Weise im Kontext der Morde des so genannten NSU gezeigt, wo Polizei, Politik und Justiz die Angehörigen der Opfer fast ausschließlich
als potenzielle Täter_innen behandelten, während Angehörige der deutschen Mehrheitsgesellschaft quasi einen Freibrief der Verfolgungsfreiheit erhielten, da gegen diese kaum oder nicht
ermittelt wurde. Auch in der Debatte zur Situation geflüchteter Personen und den Umgang mit
aktuellen Fragen der Migration wird dieses Muster praktiziert. Es ist die Regel, dass ‚Flüchtlingsgipfel’ und Tagungen zu geflüchteten Personen mit vielen Teilnehmenden stattfinden,
jedoch ohne geflüchtete Personen. In zentralen Fragen, wie geflüchtete Personen wohnen,
gesundheitlich versorgt werden, wie lange der Aufenthalt in der BRD dauern oder wann eine
Arbeitserlaubnis erteilt oder ein Schulbesuch ermöglicht wird, werden die betroffenen Personen nicht einbezogen. Und wenn es darum geht, was gegen die rassistischen Angriffe und
Brandanschläge auf Unterkünfte von geflüchteten und migrierten Personen gemacht werden
soll, werden die bedrohten Personen selten an den Debatten beteiligt. Es findet ein systematisches SPRCHEN ÜBER geflüchtete und migrierte Personen statt, meist ohne deren Beteiligung. 11 Auch die prinzipiell begrüßenswerte Thematisierung von Trauma, Traumatisierung
und entsprechenden Beratungsbedarfen bei geflüchteten Personen können mit einer Koppelung von Trauma mit zugeschriebener eingeschränkter Sprach-, Handlungs- und Mitbestimmungsfähigkeiten einhergehen.
Für alle Arbeitsbereiche Sozialer Arbeit – und somit auch der Sozialpsychiatrie – bedeutet
dies nach wie vor die Verfolgung bzw. Schaffung von Beteiligungschancen und die aktive
Auseinandersetzung mit rassistisch wirkenden institutionellen Rahmenbedingungen, Beschäftigungsstrukturen, Adressat_innen-Zusammensetzungen und Handlungspraxen. Um mit ei-
11
Und die Artikulationen von Selbstorganisationen geflüchteter Personen werden in den meisten Foren nicht zur Kenntnis genommen, z.B. die Texte von refugees4refugees aus Stuttgart, Rex Osa
(https://rdl.de/beitrag/fl-chtlinge-sind-keine-babys-es-braucht-solidarit-t-und-r-ume-statt-alter-kleider)
oder von der Initiative Oury Yalloh (https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/).
Clarissa Hechler / Claus Melter
206
nem Zitat aus dem lesenswerten Buch „Gefangen in der Gesellschaft – Alltagsrassismus in
Deutschland“ von Dileta Fernandes Sequeira (2015) zu enden:
„Eine neue globale Psychologie [Soziale Arbeit und (Sozial-)Psychiatrie (Anm. d. Verf.)] wird benötigt:
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Yıldız, Safiye (2009): Interkulturelle Erziehung und Pädagogik. Subjektivierung und Macht in den
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„Einer muss ja doch mal schließlich damit anfangen.“
Antwort Sophie Scholls am 22. Februar 1943
(ihrem Todestag) im Schauprozess vor dem
NS-Volksgerichtshof auf die Frage von dessen
Vorsitzenden Roland Freisler nach ihren Motiven.
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“ –
Eine differenzreflexive Betrachtung der Partizipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Handlungsfeldern der
Sozialen Arbeit
Stefan Schäfferling
Die Unterschiede zwischen Menschen, ihr ‚Anderssein‘, ihre ‚Differenz‘, die Ungleichheiten
zwischen Menschen und Menschengruppen sind Merkmale, die mit als konstitutiv für die
menschliche Gesellschaft angesehen werden. Der Umgang bzw. Nicht-Umgang mit wirklich
vorhandenen und wahrgenommenen oder nur definierten und interpretierten Unterschiedlichkeiten schafft Interaktionsmuster, Habitusformen, Institutionen, Organisationen, gesellschaftliche Teilsysteme und prägt damit die Gesellschaft bedeutend mit. Diese Unterschiede und
Unterschiedlichkeiten sind außerdem auch Faktoren für Macht und Ohnmacht und ihre Interpretation bestimmt im Extremfall über Leben und Tod im Sinne von „leben dürfen“ oder
„sterben müssen“.
Die Soziale Arbeit als eine der Institutionen, die von der Auseinandersetzung mit ‚Differenz‘
und ‚Anderssein‘, „verstanden als Unterscheidung und Abweichung von einem Normalitätsmuster“ (Mecheril/Plößer 2011, S. 279), geprägt ist, reflektiert als Disziplin und Profession
intensiv die Implikationen dieser gesellschaftlichen Mechanismen. Das „Statement of Principles“ im „Code of Ethics” der „International Federation of Social Workers (IFSW)“ und der
„International Association of Schools for Social Work (AIETS)“ beinhaltet eine grundlegende
Definition von Sozialer Arbeit. Sie lautet:
„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche
Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrech-
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
217
te, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und
auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein. Diese Definition kann auf nationaler und/oder regionaler Ebene weiter ausgeführt werden“ (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. (DBSH) 2016).
In dieser Definition stehen Aspekte wie „soziale Gerechtigkeit“, „Achtung der Vielfalt“,
„Menschenrechte“ und „die Förderung des sozialen Wandels, der sozialen Entwicklung und
des sozialen Zusammenhalts“ an zentraler Stelle. Damit werden diese Aspekte allen in der
Profession und der Disziplin der Sozialen Arbeit Tätigen als Handlungsmaximen für ihr jeweiliges berufliches Handeln nahegelegt.
Mein Augenmerk liegt in diesem Beitrag 1 auf einer differenzreflexiven Betrachtung von Personen, die sich mit ihren Unterschiedlichkeiten und unterschiedlichen Voraussetzungen im
Handlungsfeld der ‚Sozialen Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen‘ begegnen,
und insbesondere auch auf den damit verbundenen Rahmenbedingungen 2. Dadurch werden
einige Schwierigkeiten, Hemmnisse, Dysfunktionalitäten und Widersprüche aufgedeckt. Als
beispielhaft dafür kann auch die aktuelle und intensiv geführte Auseinandersetzung um Themen wie ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘ ‚Inklusion‘ etc. gesehen werden, denn es
gilt hier, theoretische Debatten und akademische Diskussionen der Disziplin mit der erlebten
und auch selbst gelebten Wirklichkeit in der Profession der Sozialen Arbeit zusammenzubringen. Die zentralen Fragen, die sich hier stellen, sind: Warum und aus welchen Gründen tun
sich Sozialarbeitende allem Anschein nach so schwer, wenn es darum geht, diese Begriffe in
reales Handeln umzusetzen und z.B. momentane oder ehemalige Adressat_innen der Sozialen
Arbeit in ihren Einrichtungen teilhaben, partizipieren, etc. zu lassen? Sollten nicht aufgrund
der Aufgaben, die sich aus der Definition der Sozialen Arbeit im „Statement of Principles“
ableiten lassen, Sozialarbeitende bei der Umsetzung einer gleichberechtigten ‚Teilhabe‘ bzw.
1
Dieser Beitrag basiert auf: Schäfferling, Stefan (2016): Partizipation von Menschen mit psychischen
Erkrankungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit – eine differenzreflexive Betrachtung. Stuttgart und Esslingen. (bislang noch unveröffentlichte Bachelorarbeit)
2
Vgl. hierzu auch: Schäfferling, Stefan; Tretter. Manfred (2017): „Es existiert hinter dem Hoftor
Franziskanergasse 7 der Mikrokosmos einer ganzen Welt“ – ein kritisch ambitionierter Blick auf Soziale Arbeit in gemeindepsychiatrischen Tagesstätten. In: Gebrande, Julia; Melter, Claus; Bliemetsrieder, Sandro (Hrsg.): Kritisch ambitionierte Soziale Arbeit. Praxeologische Perspektiven. Weinheim
und Basel: Beltz Juventa.
Stefan Schäfferling
218
von ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ von Adressat_innen und Menschen mit Beeinträchtigungen mit gutem Beispiel vorangehen und auch z.B. bei der Implementierung der UNBehindertenrechtskonvention eine aktivere Rolle spielen? Um diesen Fragen analytisch auf
den Grund gehen zu können, bietet es sich an, eine differenzreflexive Perspektive einzunehmen.
Die differenzreflexive Perspektive
Unter ‚Differenz‘ verstehe ich hierbei das Ergebnis von Unterscheidungspraxen in der Herstellung, in der Aufrechterhaltung, in der Weitergabe, im Bestärken und Abschwächen, im
Be- und Ausnutzen, im Hinterfragen und Nicht-Hinterfragen etc. von ‚Normalität‘ und ‚Anderssein‘ von Menschen und/oder Menschengruppen, das sich auf soziales Handeln auswirkt.
Beispielhaft für derartige ‚Differenzen‘ werden häufig dichotome Unterscheidungskategorien
wie Mann/Frau, Migrant_in/Nicht-Migrant_in, gesund/krank, behindert/nicht-behindert, arbeitsfähig/arbeitsunfähig etc. angeführt. Ich weite hier in Anlehnung an Mecheril/Melter
(2010) die Betrachtung aus auf die Differenzierungspraxen von Adressat_innen und Profis 3 in
der Sozialen Arbeit und habe dabei auch eine soziologische Definition von ‚Differenz‘ im
Hinterkopf, die sie als „Verschiedenheit, Unterschied, das Anderssein von Dingen, die aber
etwas gemeinsam haben“ (Fuchs-Heinritz et. al. 2007, S. 137) bezeichnet.
Unter ‚differenzreflexiv‘ verstehe ich mit Bezug auf Machold/Mecheril (2013) das Nachdenken über die „Produktion von kulturell, gesellschaftlich und (bildungs-)institutionell selbstverständlich geltendem Wissen“ (Ebd., S. 45) und die daraus resultierende kritische Auseinandersetzung mit den „Bedingungen und Konsequenzen der Entstehung gesellschaftlicher
(Differenz-)Verhältnisse – verstanden als im Handeln vollzogene, gedeutete, interpretierte
und sinnhaft geltende Verhältnisse“ (Ebd.). ‚Reflexivität‘ verstehe ich in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Ulrich Beck (1986, 1999, 2007) zudem aber auch als eine besondere,
das Leben und Handeln in der postmodernen Gesellschaft charakterisierende Verbindung von
Reflex, Reflexion und Reaktion. Und zwar in dem Sinne, dass eine Veränderung von gesell-
3
An Anlehnung an Dörner (2017, S. 20) verstehe ich unter ‚Profi‘ einen psychiatrisch tätigen Menschen, „der dafür bezahlt wird, so auf der Beziehungsebene zu sein und auf der Handlungsebene sich
um die Grundbedürfnisse von psychisch Kranken zu sorgen und ihre Störung so zu stören, dass psychisch Kranke ihren Sinn erfassen können und die Störung dadurch überflüssig werden kann.“
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
219
schaftlichen Struktur-, Umwelt-, Arbeits-, Lebensbedingungen, etc. auf eine besondere Art
und Weise auf das Individuum zurückwirkt und es dazu zwingt, sich damit auf eine ganz besondere Art und Weise auseinanderzusetzen – und dass die Art und Weise der Auseinandersetzung oder auch der Nicht-Auseinandersetzung der Individuen mit den gesellschaftlichen
Erwartungen, Anforderungen und Rahmenbedingungen auch auf diese auf die eine oder andere Art und Weise verändernd zurückwirkt. 4
Diese ‚Reflexivität‘ findet sich selbstverständlich auch in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Es bietet sich hier an, ein möglichst breites Verständnis von ‚Handlungsfeldern‘ zu wählen: Demnach können darunter im weitesten Sinne alle Tätigkeitsfelder verstanden werden, in
denen Menschen arbeiten, die als Sozialarbeiter_innen/Sozialpädagog_innen ausgebildet
wurden oder werden und dort in Kontakt mit Adressat_innen stehen, in den von mir dargestellten Fällen in einem jeweils mehr oder weniger partizipativen Verhältnis.
Drei Beispiele für die Partizipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in
Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit
Menschen mit psychischen Erkrankungen sehen sich Stigmatisierungs- und Freisetzungsprozessen (vgl. z.B. Goffman 1967, Hohmeier 1975) ausgeliefert, die sie aus den üblichen sozialstrukturellen Zusammenhängen herauskatapultieren und exkludieren können (vgl. z.B. Goffman 1973). Psychisch zu erkranken ist ein kritisches Lebensereignis, das zumindest zum Teil,
wenn nicht vollständig, die Handlungsfähigkeit raubt. Oftmals resultiert aus der spezifischen
Problemlage der Menschen mit psychischen Erkrankungen Selbstwertverlust, soziale Orientierungslosigkeit und eine Sehnsucht nach Normalisierung (vgl. Böhnisch 2008, S. 49 f.).
Als beispielhaft für Kontaktverhältnisse mit partizipativem Charakter zwischen als Sozialarbeiter_innen/Sozialpädagog_innen
Ausgebildeten
und
Adressat_innen,
Klient_innen,
Kund_innen etc. können Freiwilligenarbeit/bürgerschaftliches Engagement, User Involve4
Soziologisch betrachtet verorte ich mich damit in der Tradition der „Münchner Subjektorientierten
Soziologie“, die sich u.a. vornimmt, „gesellschaftliche Strukturen oder Strukturelemente daraufhin
[zu] analysieren (1) in welcher Weise sie menschliches Denken und Handeln prägen, (2) wie Menschen bestimmter soziohistorisch geformter Individualität innerhalb dieses strukturellen Rahmens
agieren und so u.a. zu seiner Verfestigung oder Veränderung beitragen und (3) wie schließlich die
betrachteten Strukturen selbst einmal aus menschlichen Interessen, Denkweisen und Verhaltensweisen
hervorgegangen sind“ (Bolte 1983: 15).
Stefan Schäfferling
220
ment (UI) und Experienced Involvement (EX-IN) angesehen und exemplarisch differenzreflexiv analysiert werden. Von diesen Beispielen verweist jedes für sich auf eine besondere Art
und Weise auch auf Lothar Böhnischs Lebensbewältigungskonzept (vgl. ebd., S. 33 ff.) und
zeigt u.a. einen Weg auf, wie institutionalisierte Angebote als „Form sozialer Integration“
(Ebd., S. 34) bei der Suche nach sozialem Anschluss und Anerkennung helfen können. Sie
bieten Selbstwirksamkeitserfahrungen, schaffen Gruppenerfahrungen, liefern einen Beitrag
zur Tagesstrukturierung, vermitteln bzw. reaktivieren besondere Kompetenzen, u.v.m., und es
lassen sich an ihnen Beispiele für Partizipations-, Integrations- und Inklusionsprozesse finden.
Sie verweisen aber auch auf einen Begriff, der momentan in der Diskussion um Genesungswege von Menschen mit psychischen Erkrankungen eine zentrale Rolle spielt: „Recovery“.
Ihde-Scholl definiert „Recovery“ wie folgt:
„Beim Begriff Recovery geht es um Gesundung. Gesundung nicht im Sinne von ‚symptomfrei sein‘, sondern Gesundung im Sinne von ‚mit gesunden Anteilen etwas machen können‘ – eine berufliche oder gesellschaftliche Aufgabe übernehmen, auch wenn immer noch Symptome da sind. Bei Recovery geht es um
Hoffnung, Hoffnung, dass Gesundung auch bei schweren chronischen psychischen Erkrankungen möglich
ist. Bei Recovery geht es auch darum, wieder Verantwortung übernehmen zu können für die eigene Gesundung, wieder Kapitän zu werden des eigenen kleinen Schiffs und sich zu entscheiden, welche Hilfeleistungen man möchte und welche nicht. Recovery heißt, Strategien zu erlernen, wie man mit Symptomen besser
umgehen kann, so dass diese einen geringeren Einfluss auf die Lebensqualität haben“ (Ihde-Scholl 2014, S.
3; vgl. zum Thema „Recovery“ insbesondere auch Amering/Schmolke 2007; Burr/Schulz/Winter/Zuaboni
2013; Schulz/Zuaboni 2014).
An den vorgestellten Beispielen werden auch unterschiedliche Teilhabe-, Partizipations-, Integrations- und Inklusionsansätze deutlich. Es soll aber explizit auch auf Dysfunktionalitäten
verwiesen werden, die sich jeweils trotz der positiven Folgen sowohl für PsychiatrieErfahrene, psychisch erkrankte und erkrankt-gewesene Menschen 5 als auch für Menschen mit
5
Anmerkung zum Begriff ‚Menschen mit psychischen Erkrankungen‘: Grundsätzlich können darunter
Psychiatrie-Erfahrene, Menschen, die psychisch erkrankt sind oder waren und Menschen mit einer
Behinderung verstanden werden, deren Zuordnung sich durch medizinische Klassifikationssysteme
(z.B. ICD10) und/oder rechtliche Vorgaben (z.B. §2 SGB IX) und/oder die Zuständigkeit von helfenden Institutionen (z.B. Psychiatrie, Sozialpsychiatrie) ergibt. Wie in der klassischen Mengenlehre
ergibt sich hier eine Schnittmenge zwischen den einzelnen Teilmengen. Aber es sind auch Fälle von
Psychiatrie-Erfahrenen bekannt, die nicht psychisch erkrankt waren oder sind, und selbstverständlich
sind nicht alle Menschen, die psychisch erkrankt waren oder sind, ‚behindert‘. Was aber, und darauf
beziehe ich mich auch in der folgenden Auseinandersetzung, bei allen drei hier erwähnten Gruppen
eine wesentliche Rolle spielt, ist eine ‚Beeinträchtigung‘ durch Stigmatisierungsprozesse, Stereotype,
Ausschlussmechanismen, etc., die sie beim Versuch einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teil-
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
221
Behinderung einerseits und bezüglich der Veränderung von benachteiligten Einstellungen und
Strukturen andererseits abzeichnen.
a) Freiwilligenarbeit / bürgerschaftliches Engagement
Zunächst soll nun in diesem Zusammenhang der Fokus auf die Teilhabe von PsychiatrieErfahrenen als freiwillige ehrenamtliche Helfer_innen in (sozial)psychiatrischen Einrichtungen gerichtet werden. Diesem Thema widmete Andrea Dischler (2010) ihre Dissertation und
analysiert darin zunächst theoretisch, danach empirisch mit Hilfe von problemzentrierten Interviews und „grounded theory“ die Voraussetzungen, Motivationslagen und Auswirkungen
von Freiwilligentätigkeit am Beispiel von Menschen mit Psychiatrieerfahrung.
Ausgangspunkt dieser Untersuchung im „selten explorierten Schnittfeld zwischen Freiwilligenengagement und Psychiatrie“ (Keupp 2010, S. 9) ist die Überlegung, dass es aufgrund der
Entwicklungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit psychischen Erkrankungen immer schwieriger wird, überhaupt eine Chance zu erhalten, dort (wieder) eine Beschäftigung zu finden. Keupp fasst diese Überlegungen im Vorwort zur Veröffentlichung der Dissertation wie folgt zusammen:
„Gesellschaftspolitisch ist von Teilhabe seit einiger Zeit immer weniger die Rede, dafür aber mehr von
‚Exklusion‘ oder vom ‚abgehängten Prekariat‘. Wenn die arbeitsmarktorientierte Teilhabe immer
schwieriger wird, stellt sich die Frage, ob die Perspektive der Inklusion noch sinnvoll ist. Oder gibt es
andere Formen der Teilhabe?“ (Ebd).
Das Ziel der Studie ist es herauszufinden, wie und ob sich durch unterschiedliche Formen
bürgerschaftlichen Engagements Teilhabe und Selbstwirksamkeitserfahrungen von Menschen
mit Psychiatrieerfahrung verbessern lassen.
Sozialwissenschaftlich betrachtet klingen hier Überlegungen mit an, wie sie auch Ulrich Beck
bei seiner Suche nach einer „Weltbürgergesellschaft“ (vgl. Beck 1999) und Jeremy Rifkin
beim Nachdenken über eine Zukunft von Arbeit am „Ende der Arbeit“ (vgl. Rifkin 2004) be-
habe ‚behindern‘ und die für andere Menschen wie ein Label fungiert, an dem Differenzen und Distinktionsmechanismen festgemacht werden können. Und um eben diese Mechanismen und Differenzlinien geht es auch hier und insbesondere um die Frage, wie sie die ‚Partizipation‘ von auf diesem
Wege stigmatisierten Menschen verhindern oder auf eine besondere Art ermöglichen.
Stefan Schäfferling
222
schäftigt hatten. Beide sehen in Formen von ehrenamtlichen, freiwilligen, nicht oder im Sinne
reziprozitärer Gegenleistungen entlohnten Tätigkeitsformen im Rahmen eines bürgerschaftlichen Engagements eine Lösung für Menschen, die aufgrund der Veränderungen, welche die
„Risikogesellschaft“ (Beck 1986) bzw. die „dritte industrielle Revolution“ (Rifkin 2011) bzw.
die Digitalisierung des „Internetzeitalters“ (Castells 2001-2003, 2003) etc. mit sich bringt,
eine sinnhafte und zugleich sinnvolle Beschäftigung und über diese eine Einbindung in ein
neues gesellschaftliches Miteinander suchen. Neben diesen theoretischen Grundlagen übernimmt Dischler in ihrer Arbeit auch Rifkins Modell des „Dritten Sektors“. Freiwilligenarbeit
definiert sie als „jegliche unbezahlte Arbeit außerhalb von Haushalt und Familie“, sie „unterteilt sich in Freiwilligentätigkeit und Ehrenamt“ (Dischler 2010, S. 35).
Freiwilligenarbeit zeichnet sich nach Dischler v.a. durch folgende Funktionsebenen aus (vgl.
Dischler 2010, S. 36f.): (1) auf der individuellen Ebene durch Motive wie Selbsterprobung,
Selbstverwirklichung und Kompetenzerwerb sowie Sinnfindung und „Entwicklung eines eigenen Lebensstils jenseits von Beruf und Familie“ (Ebd.); (2) auf der intersubjektiven Ebene
spielen der Wunsch nach Anerkennung durch andere und zielgerichtete Einflussnahme auf
Dritte eine Rolle, daneben aber ebenso eine „konsequent intersubjektive Ausrichtung“ (Ebd.);
(3) auf der institutionellen Ebene prägen Vereine, Verbände, Non-Profit-Organisationen etc.
das Bild, die z.T. nur aufgrund freiwilligen Engagements existieren und öffentliche Anerkennung und politische Legitimation beanspruchen können; (4) auf der sektoralen Ebene gesellschaftlicher Teilsysteme „bietet [sich] die Möglichkeit, kritische Ungleichgewichte zwischen
gesellschaftlichen Bedarfen und sozialstaatlich realisierten Möglichkeiten neu auszubalancieren“ (Ebd.).
Dischler (vgl. ebd., S. 62ff.) führt mehrere Studien an, die die Motivationslagen der Freiwilligenarbeiter_innen und die Auswirkungen von Freiwilligenarbeit auf ihr psychisches und psychosoziales Wohlbefinden zum Gegenstand haben. Im Mittelpunkt steht Selbstentfaltung und
gemeinsames Erleben mit anderen. Erwerbslose zeigen im Vergleich zu Erwerbstätigen weniger Engagement bei der Suche nach Freiwilligenarbeit, v.a. diejenigen, die sich vor der Erwerbslosigkeit noch nie ehrenamtlich engagiert hatten. Psychiatrie-Erfahrene (die sich z.T.
natürlich auch in der Gruppe der Erwerbslosen befinden) erleben besonders den Kontakt zu
anderen und das gute Gefühl, das ihnen die Tätigkeit gibt, als positiv. Ein Kohärenzerleben
wird angestoßen und ein Übergang zu anderen Tätigkeiten fällt leichter. Es gibt aber auch
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
223
Studien, die vor den negativen Auswirkungen von Freiwilligenarbeit warnen, wenn sich dort
exkludierend wirkende gesellschaftliche Strukturen reproduzieren (vgl. ebd., S. 79).
In ihrer Studie zeichnet Andrea Dischler die Lebenslinien von zehn psychiatrieerfahrenen
Menschen nach. Das zentrale Motiv für Freiwilligenarbeit ist für alle Befragte der Kontakt zu
anderen Menschen, ansonsten variieren die Motive, sie „können eher eigensinnig oder gemeinsinnig sein“ (Ebd., S. 180). Die Erfahrung einer früheren freiwilligen Tätigkeit wurde als
wichtiger Impuls dafür erkannt, wieder eine Freiwilligentätigkeit übernehmen zu wollen.
Wichtig für den Erfolg des Zugangs zu Freiwilligenarbeit ist, dass die Umsetzung aktiv, d.h.
selbst in die Hand genommen und organisiert wird; wichtig sind dabei die eigene Handlungsmotivation und der erste Handlungsimpuls. Nach dem Zusammenhang zwischen Erwerbsarbeit und Freiwilligenarbeit gefragt, bleibt für die meisten der Studienteilnehmer_innen
Erwerbstätigkeit das Ziel:
„Die Erwerbsarbeit hat für die meisten Interviewten noch einen wesentlich höheren Stellenwert als die
Freiwilligenarbeit. Fast allen fällt es sehr schwer, sich von Gedanken erwerbstätig sein zu können, zu
lösen“ (Ebd., S. 198).
Bezogen auf Aspekte, die sich begünstigend oder beeinträchtigend auf die Aufnahme einer
freiwilligen Tätigkeit auswirken, führt Dischler (Ebd., S. 240ff.) an, dass die Passgenauigkeit
der Tätigkeit mit den Voraussetzungen und Ressourcen der psychiatrieerfahrenen Person die
wichtigste Rolle spielt. Die biografische Passung und der Wille der/des Freiwilligen seien die
zentralen Kriterien. Die Psychiatrie-Erfahrung spielt eine weitere wesentliche Rolle, v.a. die
Tatsache, dass oftmals aufgrund der psychischen Erkrankung nicht mehr an zuvor bestehende
berufliche und/oder private Lebenszusammenhänge angeschlossen werden kann: Dies trifft
gerade Menschen in der zweiten Lebenshälfte besonders hart. Eine Gewöhnung an die eigene
veränderte Leistungsfähigkeit ist für die Bewältigung dieser Schwierigkeiten ein wesentlicher
Schritt. Freiwilligenarbeit kann bei dieser Suche nach einer neuen Identität unterstützend wirken.
Freiwilligenarbeit wird von den Befragten als besonders gelingend betrachtet, wenn sie autonom und zugleich sozial eingebunden sein können und eine Kontinuität beim Tätigsein besteht. Hinzu kommen Anerkennung (ausgedrückt als das Gefühl gebraucht zu werden), die
Sinnhaftigkeit der Tätigkeit, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten und bei vielen das Gefühl
einer Erwerbsarbeitsnähe als wesentliche Faktoren (vgl. ebd.: 241). In den Interviews wurde
Stefan Schäfferling
224
auch deutlich, dass soziale und verbale Anerkennung wesentlich höher eingeschätzt werden
als monetäre Anerkennung (vgl. ebd., S. 244).
Für die Soziale Arbeit leitet Dischler (Ebd., S. 243ff.) folgende Handlungsoptionen ab: (1)
Freiwilligenarbeit ist als Möglichkeit des Tätigseins anzuerkennen; (2) Wissen über Tätigkeitsfelder und Arbeitsmöglichkeiten soll an Nutzer_innen und Kolleg_innen in sozialpsychiatrischen Angeboten weitergegeben werden, um Freiwilligentätigkeit z.B. als Vorstufe oder
Ergänzung zur beruflichen Rehabilitation zu vermitteln, insbesondere Nischen-Tätigkeiten
könnten hier für Psychiatrie-Erfahrene geeignet sein; (3) es sollte für Interessierte, d.h. sowohl für Tätigwerden-Wollende als auch für mögliche Anbieter von Freiwilligenarbeit, ein
Leitfaden erstellt werden mit unterstützenden Hinweisen bzgl. der Aufnahme einer Freiwilligentätigkeit und sonstigen wichtigen Aspekten; (4) um die möglichst genaue Passung von
psychiatrieerfahrener Person und Freiwilligenarbeit sicherzustellen, sind Kenntnisse in Biografiearbeit wichtig, die „den salutogenetischen Grundsätzen der Ressourcenerschließung,
Kompetenzfindung und des Empowerments folgt (Ebd., S. 243).
Führt man nun Dischlers Ausführungen und ihre Überlegungen einer kritischen Betrachtung
zu, ist zunächst natürlich keinesfalls die sich aufdrängende stringente Logik von der Hand zu
weisen, dass für Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, die aus bekannten Gründen keinen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt (mehr) finden, Freiwilligenarbeit ein passendes vorübergehendes oder längerfristiges Substitut sein kann. Sie bietet Zugang zu Anerkennung und
Selbstwirksamkeitserfahrungen, vermittelt Gemeinschaftsgefühl und (re)aktiviert brachliegende Kompetenzen, die sogar zum Wohle anderer eingesetzt werden können. Jedoch bleibt
die Orientierung der in Freiwilligenarbeit Tätigen in Richtung allgemeinen Arbeitsmarkt unvermindert bestehen, wie die Studie zeigt. Freiwilligenarbeit kann also auch als eine WENNDANN-Lösung angesehen werden: WENN schon nicht allgemeiner Arbeitsmarkt, DANN
wenigstens Freiwilligenarbeit. Es ist darauf zu achten, dass Freiwilligenarbeit für viele der
dort tätigen Psychiatrie-Erfahrenen nicht zu einer „Ersatzinklusion“ wird und damit im Prinzip zu ihrer ‚Exklusion‘ beiträgt (vgl. Stichweh 2009).
Außerdem ist anzumerken, dass die seit Ende 2006 bestehende und in Deutschland seit 2009
geltende UN-Behindertenrechtskonvention in Artikel 8 nahelegt, einen Bewusstseinswandel
anzustoßen, bzw. in Artikel 27 für Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Arbeit und
Beschäftigung fordert. Die in dieser 2010 veröffentlichen Publikation an mehreren Stellen
225
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
angeführte These, dass eine inklusive Perspektive aufgrund einer als immer schwieriger erachteten Teilhabe psychiatrieerfahrener Menschen auf dem Arbeitsmarkt aufzugeben sei, erscheint vor dem Hintergrund der UN-BRK wie ein Kotau vor übermächtigen gesellschaftlichen Strukturen.
b) User Involvement (UI)
Das Konzept des ‚User Involvements‘ (UI) (oder ‚Service User Involvement‘ (SUI) wie es im
englischen Original heißt) fußt auf der Überlegung, Menschen mit Nutzer_innenerfahrung als
Adressat_innen der Sozialen Arbeit in die Ausbildung von Fachkräften mit einzubeziehen.
Unter ‚service user‘ werden in diesem Zusammenhang „primär Menschen verstanden, die
persönlich Erfahrung mit dem sozialen Hilfesystem gemacht haben bzw. aufgrund benachteiligender Lebenslagen ihren rechtlichen Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen wahrnehmen
oder wahrgenommen haben“ (Leers/Rieger 2013, S. 537). In England ist dies seit dem Hochschuljahr 2003/2004 der Fall und inzwischen hochschulrechtlich verankert. Hochschulen
werden regelmäßig auch dahingehend evaluiert und Ergebnisse in Akkreditierungs- und Zertifizierungsverfahren einbezogen (vgl. ebd., S. 537f.).
Das Ziel von ‚User Involvement‘ ist es, die spezifischen Erfahrungen, die Menschen in „marginalisierten gesellschaftlichen Positionen“ (Leers 2014, S. 145) mit dem Hilfesystem gesammelt haben, im Hochschulkontext zu berücksichtigen, um eine Verbindung von akademisch-theoretischem Wissen mit erfahrungsbasiertem Wissen zu schaffen. „Insiderkenntnisse“ von Betroffenen, die „ausschließlich durch das eigene Erleiden erlangt werden“ (Ebd., S.
147) können 6, werden so in die Ausbildung von künftigen Fachkräften integriert. Dies soll
dazu beitragen, dass Studierende „frühzeitig – d.h. schon im Studium – Stereotype, Vorbehalte und Ängste reflektieren und abbauen können“ (Ebd.), denn sie können „im geschützten
Lernsetting Menschen in benachteiligenden Lebenslagen kennenlernen und mit Menschen
6
Ein Adressat, der an einer englischen Hochschule als ‚service user‘ in das Programm einbezogen ist,
schildert seine Motivation wie folgt: „Man kann nicht nachvollziehen, was es heißt, wegen Depressionen stationär behandelt zu werden, wenn man nicht bereits selbst einmal wegen Depressionen in einer
Klinik untergebracht war. Man kann nicht verstehen, was es bedeutet, einen Selbstmordversuch zu
begehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Was wir jedoch versuchen können, ist Verständnis dafür
zu erzeugen. Wenn ich davon berichte, wie ich versucht habe, mir das Leben zu nehmen, muss ich
mich an sehr dunkle Zeiten zurückerinnern, was nicht angenehm ist. Aber ich tue es, weil ich begriffen
habe, wie wichtig es ist, ein breites Verständnis für solche Themen zu schaffen“ (Leers 2014, S. 148).
Stefan Schäfferling
226
sprechen, deren Lebensweise ihnen fremd ist“ (Ebd.) und lernen, „auch Respekt vor dem persönlichen Erfahrungs- und Wissensschatz von Menschen zu entwickeln, mit denen sie später
arbeiten werden“ (Ebd.). Außerdem werden die Studierenden durch die Einbeziehung der
Adressat_innen an das Thema ‚Partizipation‘ herangeführt und erleben am Beispiel der Zusammenarbeit von Professor_innen, Praktiker_innen und Adressat_innen den Mehrwert von
partizipativen Strukturen (vgl. ebd.). Auf diesem Weg soll zum „Abbau einer expertokratischpaternalistischen Ausrichtung“ (Leers/Rieger 2013, S. 543) beigetragen und die sozialarbeiterische Praxis durch mehr „Lebensweltorientierung“ (Thiersch) und durch die „Responsivität
sozialer Institutionen“ (Schnurr 2011) verbessert werden 7.
Die Möglichkeiten der Beteiligung der ‚service user‘ sind unterschiedlich und weisen eine
große Spannbreite auf: Neben der Einbeziehung als „Informanten“ in Lehrveranstaltungen
bieten sie je nach Hochschule auch eigene Lehrveranstaltungen an, wirken bei der Vorbereitung von Studierenden auf Praktika und der fachlichen Begleitung der Studierenden während
der Praktika mit, können eigenständig Studienleistungen benoten, wirken bei der Auswahl
von Studierenden mit, sind Mitglied in Hochschulgremien und in die Konzeption von Studiengängen und in die Qualitätssicherung mit einbezogen. Einige ‚service user‘ übernehmen an
den Hochschulen auch umfangreiche Koordinationsaufgaben im Rahmen der ‚Service User
Involvement‘-Programme (vgl. Leers/Rieger 2013, S. 537ff.).
Von Seiten mancher Lehrenden an englischen Hochschulen erntete eine derart umfassende
Einbeziehung von ‚service usern‘ Kritik, da es ihnen allem Anschein nach schwerfiel, mit
diesen eine „partnerschaftliche Arbeitsbeziehung“ einzugehen, da sich „Machtverhältnisse
zwischen Studierenden, AdressatInnen und Lehrenden […] verschieben“ (Leers 2014, S.
148f.) können und in dieser „Akteurstriade“ das eigene Rollenverständnis ggf. neu ausgehandelt werden muss 8. Schwierigkeiten bereitet manchen Hochschulen die Finanzierung der ‚ser-
7
„Noch heute erinnere ich mich lebhaft daran, wie erstaunt viele waren, die ich in England interviewt
hatte, als ich ihnen berichtete, dass ich während meines Studiums in Deutschland keine ‚ExpertInnen
aus Erfahrung‘ an der Hochschule kennengelernt hatte. Mit großen Augen fragten sie: ‚Aber wie können Sie dann ausreichend für den Beruf der Sozialarbeiterin qualifiziert sein?‘“ So beschreibt Franziska Anna Leers, die sich in ihrer Masterarbeit mit der ‚Service User Involvement‘-Thematik beschäftigte, Reaktionen, die sie in England erlebt hatte.
8
Ein ‚service user‘ an einer englischen Hochschule verdeutlicht seine Eindrücke so: „Einige Lehrende
fühlen sich etwas bedroht durch die Beteiligung von Service Usern. Es wird als etwas betrachtet, das
‚das Wasser trübt‘. Das heißt, es kann die Dinge etwas in Unordnung bringen. […] Ich denke, aus
diesem Grund handelt es sich an einigen Stellen auch nur um Scheinbeteiligung“ (Leers 2014, S. 149).
227
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
vice user‘-Beteiligung. Die eingesetzten Erfahrungsexperten sollen und müssen für ihre konstruktiven Beiträge auch entsprechend entlohnt werden, denn „Wissensbeiträge müssen nicht
nur ideelle, sondern auch finanzielle Wertschätzung erfahren“ (Ebd., S. 149). Und auch für
die Koordination des Prozesses werden Personalmittel benötigt. Zu bedenken ist auch, dass
die Einbeziehung von Adressat_innen auch infrastrukturelle Veränderungen an Hochschulen
notwendig machen (wie z.B. einen barrierefreien Zugang zu Hochschuleinrichtungen), aber
auch eine personelle Aufstockung erforderlich machen kann, da eine Koordinator_innenStelle benötigt wird, die für die Akquirierung, die Kontinuität und die Qualität des Programmes sorgt, den ‚service usern‘ mit Rat und Begleitung zur Seite steht und mit dem Hochschulpersonal Vorbereitungskurse und ggf. Schulungen durchführt. Hochschulen, die ‚Service
User Involvement‘ praktizieren, berichten vor allem von positiven Veränderungen hinsichtlich Kreativität, Vielfalt, Themen, Lernformen in und von Lehrangeboten. Studierende schätzen die Abwechslung und die Gelegenheit, Fragen zu stellen, die man sonst nicht zu stellen
wagt (vgl. ebd.; vgl. Leers/Rieger 2013, S. 544 f.).
Die Umsetzung des ‚service user involvements‘ wird an englischen Hochschulen mit Hilfe
einer fünfsprossigen „ladder of involvement“ beurteilt (vgl. ebd., S. 542): (1) „no involvement“ (keine Beteiligung), (2) „limited involvement“ (begrenzte Beteiligung, z.B. Gäste in
Vorlesungen), (3) „growing involvement“ (wachsende Beteiligung, d.h. Beteiligung in mindestens zwei der Beteiligungsfelder Konzipierung, Lehre, Auswahl der Studierenden, Bewertung der Studienleistungen, Qualitätssicherung der Lehre), (4) „collaboration“ (Zusammenarbeit als voll anerkanntes Mitglieder des Dozent_innenteams; regelmäßige Trainings- und Supervisionsangebote, Zugang zur Infrastruktur der HS) und (5) „partnership“ (Partnerschaft in
Sinne einer systematischen Zusammenarbeit auf allen Ebenen, alle wichtigen Entscheidungen
werden gemeinsam getroffen).
Außer der Bereicherung des Studiums an Hochschulen hat das Programm aber auch einen
Mehrwert für die beteiligten Adressat_innen. Sie profitieren von den verschiedenen Möglichkeiten zur ‚Teilgabe‘ ihrer Erfahrungen, können neue und andere Rollen im Vergleich mit
anderen peer-group-Netzwerken einnehmen und erfahren ein Gefühl der Aufwertung und
Zugehörigkeit. Es kann für sie ein Gewinn hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsentwicklung sein
sowie eine Basis für Selbstwirksamkeitserfahrungen (vgl. Leers/Rieger 2013, S. 544 f.).
Stefan Schäfferling
228
Im Sinne einer Etablierung eines ‚Meaningful Service User Involvements‘ an deutschen
Hochschulen fordern Leers/Rieger (2013, S. 547) „Innovationsgeist und Mut zur Reform tradierter Bildungswege […], da die Lehr-Lern-Prozesse inhaltlich neu gewichtet, verhandelt
und ausgestaltet werden müssten“. Das Programm müsse aus der jeweiligen Hochschule heraus entwickelt werden, da individuelle und lokale Gegebenheiten berücksichtigt werden müssen.
Kritisch zu sehen ist am dargestellten Modell des ‚user involvements‘ aber, dass es bislang
Benachteiligungsstrukturen an Hochschulen unangetastet lässt. Wie Studien zeigen, die u.a.
im Rahmen von Masterarbeiten angefertigt wurden, machen Studierende mit Beeinträchtigungen an Hochschulen 9 – und insbesondere auch an Fakultäten für Soziale Arbeit – Benachteiligungserfahrungen, die von Lehrenden, Mitstudierenden und dort vorhandenen Strukturen
ausgehen (vgl. Sonnleitner 2014; Lienert 2016; Schäfferling/Wehner 2016). In ‚user involvement‘-Programmen, die Erfahrungsexpert_innen von außen an die Hochschulen holen, sind
keine Ansätze vorhanden, die die Lage dieser Studierenden reflektieren. Die Zielrichtung des
Umdenkens der Studierenden ist auf die berufliche Praxis nach dem Studium ausgerichtet, auf
den „Abbau einer expertokratisch-paternalistischen Haltung“ (Leers/Rieger 2013, S. 543).
Hier stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu einer derartigen Haltung kommen kann und
warum sie wieder abgebaut werden muss bzw. woher die Überzeugung stammt, dass Studierende diese Haltung später ihren Klient_innen gegenüber an den Tag legen werden. Dies wäre
sicher nicht der Fall, wenn an Hochschulen eine Atmosphäre des Miteinander- und Voneinander-Lernens vorhanden wäre, im Sinne von Diversityorientierung und Differenzreflexivität. Wären Studierende und Lehrende offen(er) gegenüber ihren Kommiliton_innen 10 mit Beeinträchtigungen, könnten diese ihrerseits offen(er) als Expert_innen für z.B. psychische Erkrankungen oder als Expert_innen für eine Adressat_innenperspektive, was Angebote der
Sozialen Arbeit betrifft, auftreten. Sie könnten sozusagen als „primi inter pares“ in diesem
Fall noch unmittelbarer und glaubhafter als Personen, die von außen kommen, eine Bewusstseinsveränderung, einen Abbau von Stereotypen, eine Offenheit ihrer Mitstudierenden in der
9
Der Anteil der Studierenden mit Beeinträchtigungen an deutschen Hochschulen und Universitäten
beträgt laut Studien zwischen 8 und 14 Prozent.
10
Hier verstanden im ursprünglichen, universitätslateinischen Sinne als „Mit-Streiter_in in der Studiengemeinschaft“, also Lehrende und Studierende mit einbeziehend.
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
229
späteren Berufspraxis, etc. bewirken – und selbst Selbstwirksamkeitserfahrungen anstatt Benachteiligungserfahrungen machen.
c) Experienced Involvement (EX-IN)
Die Konzeption des Programms „Experienced Involvement“ (EX-IN) baut auf dem PeerGedanken und daraus entstandenen Initiativen auf. Die Peerbewegung entstand in den 1960er
Jahren in England, wo in der Diabetes-Behandlung erfahrene Diabetiker jungen Menschen
mit Diabetes bei ihrer Lebensstilanpassung und beim Erlernen der Insulingabe begleiteten. In
den 1980er Jahren wurden diese Konzepte auf das psychiatrische Handlungsfeld übertragen:
Mit psychischen Erkrankungen erfahrene Menschen nahmen eine Beratungsfunktion für neu
Erkrankte ein, um sie auf dem Weg der Gesundung zu unterstützen. Mancherorts institutionalisierte sich dies in multidisziplinären Teams, in denen Pflegende, Ergotherapeuten, Sozialarbeitende, Ärzte und „Experten aus Erfahrung“ zusammenarbeiteten (vgl. Ihde-Scholl 2014, S.
1f.).
Unter „Peers“ werden in diesem Zusammenhang Betroffene verstanden, die selbst psychisch
erkrankt waren oder sind und somit Experten für die eigene Erkrankung und vor allem der
eigenen Genesung sind. Sie haben im Rahmen einer Ausbildung gelernt, dieses Wissen und
die Handlungsstrategien anderen Menschen zur Verfügung zu stellen.
„Sie begleiten Menschen auf ihrem Genesungsweg, vertreten die Interessen Betroffener in Gremien,
und leiten Gruppen für Betroffene oder Angehörige. Wichtig in der Peerbegleitung ist der Schritt vom
„Ich-Wissen“ zum „Wir-Wissen““ (Ihde-Scholl 2014, S. 1; vgl. Mead 2003, S. 1; vgl. auch
Utschakowski/Sielaff/Bock 2009, Jahnke 2015).
Das „Ich-Wissen“ besteht aus der jeweils individuellen Erfahrung im Erleben und im Umgang
mit psychischen Erkrankungen und seelischen Erschütterungen und den damit in Verbindung
stehenden Reaktionen der Umwelt, der Behandlung und Betreuung im psychiatrischen Versorgungssystem, der Bewältigung von Krisen und der Suche nach Sinn. „Erfahrungen gemacht zu haben bedeutet aber nicht automatisch, auch etwas verstanden zu haben“
(Utschakowski 2015a, S. 38). Erst durch Reflexion und das Mitteilen an andere und die Verarbeitung von deren Reaktionen darauf festigt sich in mehreren Zyklen das „Ich-Wissen“ und
führt zu einer Erweiterung der Perspektive; es schafft die Möglichkeit die Perspektive zu verallgemeinern und zugleich zu verfeinern und wird so Schritt für Schritt zum „Wir-Wissen“
Stefan Schäfferling
230
(vgl. ebd., S. 39). Diese intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie in Verbindung mit Blick auf die Biografien anderer, die ebenfalls Erfahrung mit psychischen Erkrankungen und Genesungswegen haben, wird als „herausfordernd, erschütternd, aber auch als
wichtiger Teil der Gesundung“ (Ihde-Scholl 2014, S. 4) bezeichnet. In dieser Ausbildung geht
es also „mehr um das Erfahren und Erleben, weniger um den Erwerb von Wissen und schon
gar nicht um den Erwerb von Fachwissen“ (Ebd.).
So gesehen hat EX-IN den Charakter eines speziellen Therapieangebotes mit dem Mehrwert,
danach möglicherweise in eine Art von Beschäftigungsverhältnis einzumünden. Die EX-IN
Kursgebühren betragen ca. 2.500 Euro, die die Interessenten z.T. vorab oder ggf. in Raten,
selbst tragen müssen. Hinsichtlich einer Rückerstattung der Kursgebühren oder einer Förderung durch Kostenträger gab und gibt es Diskussionen, ob sie im Rahmen der Eingliederungshilfe („Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“) erstattet werden können oder ob es
sich um eine Maßnahme zur beruflichen Rehabilitation handelt. Die Schwierigkeit entsteht
hier aus der Tatsache, dass der Kurs nicht ausschließlich auf eine berufliche Qualifikation
abzielt, sondern auch von Personen genutzt werden kann, die damit kein berufliches Interesse
verbinden. Die Möglichkeit zur Erstattung bzw. der Art und Weise der Erstattung ist so ggf.
von Erfolg der Maßnahme und dem Weg, der danach eingeschlagen wird, abhängig (vgl. Gemeindepsychiatrie.Info 2013).
Das Ziel von EX-IN Befürwortern und EX-IN Protagonisten ist die Etablierung einer neuen
Kultur, „einer psychiatrischen Kultur, in der Menschen Menschen begegnen“ (Utschakowski
2014, S. 10). Denn: „Mehr Einfluss, mehr Beteiligung, mehr Begegnung, mehr Recoveryorientierung für die Nutzerinnen und Nutzer psychiatrischer Dienste bedeutet mehr Inklusion“
(Ebd., S. 11). Und: „Psychiatrieerfahrung auch als Expertise anzuerkennen, (wieder) einer
Arbeit nachzugehen, wirksam tätig zu sein und Anerkennung als EX-INler zu erfahren, bedeutet mehr Inklusion“ (Ebd.).
Die EX-IN Ausbildung zum ‚Genesungsbegleiter‘ 11 unterstützt diesen Prozess durch ein speziell entwickeltes Curriculum. Das EX-IN Programm entstand im Rahmen eines durch das
Leonardo-da-Vinci-Programm der EU von 2005 bis 2007 geförderten Projekts, in dem, wie in
11
In den EX-IN Veröffentlichungen wird „zur Verbesserung des Leseflusses […] auf sprachliches
Gendering“ (Jahnke 2014, S. 16) verzichtet. Da dies zu Folge hat, dass es dadurch keine weibliche
Bezeichnung für EX-IN Absolvent_innen gibt, übernehme ich diese Formulierung als ‚Genesungsbegleiter‘.
231
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
diesen Programmen vorgesehen, Partner aus mehreren europäischen Ländern zusammenarbeiteten. 2005 fanden in Hamburg und Bremen die ersten Kurse statt, zum Abschluss des Projekts 2007 waren die Standards für die Ausbildung von psychiatrieerfahren Menschen zu
„Genesungsbegleitern“ dann etabliert. Inzwischen gibt es über 20 Ausbildungsstandorte in
Deutschland, Österreich und der Schweiz und es haben mehr als 50 Prozent derjenigen, die
die EX-IN Ausbildung erfolgreich absolviert haben, eine bezahlte Arbeit gefunden, wobei
aber anzumerken ist, dass Art, Umfang und Bezahlung der Tätigkeiten stark variieren. Sie
arbeiten auf psychiatrischen Stationen (Akutpsychiatrie, Tagesklinik), in ambulanten Settings
(in Teams des betreuten Wohnens, im Rahmen des Hometreatments), in Lehre und Forschung
als Honorarkräfte, als freiberufliche Genesungsbegleiter, Konzeptentwickler, Berater, Dozenten. Die Entlohnung reicht von der Vergütung als Zuverdienst zur Rente über die Entlohnung
als 450-Euro-Job oder äquivalent zu einer Pflegefachkraft bis hin zur Beschäftigung auf einer
halben Sozialarbeiter_innen-Stelle (vgl. Jahnke 2014, S. 13; vgl. Utschakowski 2014, S. 9ff.;
vgl. Ihde-Scholl 2014, S. 3ff.).
Die Ausbildung zum EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ umfasst 300 Unterrichtsstunden, die auf
ein Jahr verteilt sind. Die Module umfassen Themen wie Salutogenese, Empowerment, Erfahrung und Teilhabe, Recovery, Trialog, Selbsterforschung, Fürsprache, EX-IN Assessment,
Beraten und Begleiten, Krisenintervention, Lehren und Lernen; zudem sind ein Kurz- und ein
Aufbaupraktikum integriert. Den Abschluss bilden eine Portfolioarbeit und eine Abschlusspräsentation (vgl. Utschakowski 2015a, S. 42ff.).
Es lassen sich in Einrichtungen drei Einsatzebenen von ‚Genesungsbegleitern‘ grob festmachen: (1) der direkte Kontakt mit den Hilfesuchenden mit dem Ziel der Verbesserung des Zugangs der Klienten zu den Angeboten und der Verbesserung der Angebote hinsichtlich
Recovery und Empowerment; (2) der Dialog mit Mitarbeitenden, um den Kontakt und die
Orientierung zu den Klienten zu verbessern; (3) der Austausch mit Management und Gremien
mit der Aufgabe, Recovery und Empowerment in der gesamten Organisation in Abläufen und
Regeln zu fördern (vgl. ebd., S. 46).
‚Genesungsbegleiter‘ haben, so die Aussagen der EX-IN Befürworter, eine größere Sensibilität gegenüber Fremdbestimmung, Machtausübung und der Anwendung von Zwang, da sie
selbst oft mit Entmachtung und „Entpowerment“ konfrontiert waren.
Stefan Schäfferling
232
„Mit der Erfahrung seelischer Erschütterungen und den damit verbundenen Folgen wie Stigmatisierung
oder dem Verlust von Selbstwertgefühl haben die Peerspezialisten besondere Erfahrungswelten betreten“ (Ebd., S. 26).
Dem Modell der ‚Genesungsbegleiter‘ liegt auch die Überlegung zu Grunde, dass eine Distanz (ein „Missing Link“) zwischen Klient_innen und den professionellen Helfer_innen existiert. Und zwar zum einen aufgrund der ungleichen Rollen zwischen Profi und Adressat_in
und den daraus resultierenden Rollenerwartungen, aber auch aufgrund der Tatsache, dass Mitarbeitenden psychiatrischer Dienste in der Regel der Zugang über das „Ich-Wissen“ fehlt, da
sie „keine eigenen Erfahrungen mit seelischen Erschütterungen, Stigmatisierung oder Isolation [haben] und […] die Bewältigungs- und Genesungsprozesse nicht selbst durchlaufen“
(Ebd., S. 11) haben. Die Folge ist, dass „Handlungs- und Denkmuster sowie die Interpretation
von Ereignissen […] daher sehr unterschiedlich sein und zu Misstrauen, Distanz und Missverständnissen führen“ (Ebd.) können. Die Zusammenarbeit der psychiatrischen Fachkräfte mit
den ‚Genesungsbegleitern‘ ermöglicht dagegen „eine neue Qualität der Unterstützung, die
lebensnah, lebensorientiert und nicht stigmatisierend“ (Ebd.) ist. Denn „durch den gemeinsamen Erfahrungshintergrund können Genesungsbegleiter mit den Betroffenen über Erlebnisse
statt über Symptome reden. Es ist eher möglich, eine gemeinsame Sprache zu finden und eine
von Akzeptanz, Verständnis und Empathie getragene Beziehung einzugehen“ (Ebd.).
Es existieren inzwischen eine Reihe von Veröffentlichungen von EX-IN Spezialist_innen wie
Jörg Utschakowski (2009, 2014, 2015a, 2015b), Bettina Jahnke 12 (2014, 2015), u.a., die das
Programm vorstellen, Leitfäden für den Umgang mit „EX-INlern“ geben, bisher gemachte
Erfahrungen reflektieren und Personen, die die Ausbildung durchlaufen haben und nun als
‚Genesungsbegleiter‘ arbeiten, mit eigenen Erfahrungsberichten oder Arbeitgeber_innen, Personalverantwortliche und Kolleg_innen der ‚Genesungsbegleiter‘ in Interviews zu Wort
kommen lassen.
Diese Veröffentlichungen verschweigen aber auch nicht Konflikte, die in Kooperationsbeziehungen zwischen psychiatrischen Fachkräften und ‚Genesungsbegleitern‘ aufgetreten sind
oder auftreten können. So geht es z.B. nicht selten um den „richtigen Umgang“ mit den Ad-
12
Bettina Jahnke ist selbst EX-IN Absolventin und inzwischen auch EX-IN Trainerin. Sie ist Journalistin und wurde nach einem Psychiatrieaufenthalt auf das EX-IN Programm aufmerksam. Sie arbeitet
nun neben einer freiberuflichen journalistischen Tätigkeit auf einer halben Sozialarbeiter_innen-Stelle
als ‚Genesungsbegleiter‘.
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
233
ressat_innen im Sinne einer angemessenen Form von „Nähe und Distanz“. Manche psychiatrische Fachkräfte scheinen sich schwer zu tun, die im Umgang mit den Adressat_innen anders
gezogenen Grenzen der ‚Genesungsbegleiter‘ akzeptieren zu können, denn während die einen
in ihrer langwierigen akademischen Ausbildung regelmäßig auf die für die Ausübung ihrer
Tätigkeit notwendige Einhaltung einer „professionellen Distanz“ verwiesen wurden, ist bei
den anderen eines der Ziele ihrer Schulung zum ‚Genesungsbegleiter‘, explizit „professionelle
Nähe“ (Utschakowski 2015a, S. 25) herstellen zu können.
Weitere Vorbehalte von psychiatrischen Fachkräften, die mehr oder weniger regelmäßig geäußert werden, sind (vgl. ebd, S. 23ff.):
-
Genesungsbegleitung ist nur ein Weg, Geld zu sparen.
-
‚Genesungsbegleiter‘ sind zu instabil und durch die Arbeit überfordert.
-
‚Genesungsbegleiter‘ können die Standards der Schweigepflicht nicht einhalten.
-
‚Genesungsbegleiter‘ unterscheiden sich nicht von Mitarbeitenden mit Psychiatriehintergrund.
-
Mitarbeitende müssen ständig darauf achten, nichts „Falsches“ zu sagen.
-
Psychische Probleme sind heutzutage eine Jobgarantie.
-
‚Genesungsbegleiter‘ dürfen interessanteren Aufgaben nachgehen.
-
‚Genesungsbegleiter‘ können nicht zwischen Freundschaft und Arbeitsbeziehung unterscheiden.
-
‚Genesungsbegleiter‘ stehen der Psychiatrie und Medikamenten kritisch gegenüber.
-
Durch ‚Genesungsbegleiter‘ steigt die Arbeitsbelastung.
Sicherlich entsprechen im einen oder anderen Fall die Vorbehalte wirklichem Erleben von
Kooperationsschwierigkeiten, es wird aber auch deutlich, dass sie mit z.T. leichten Abweichungen weitestgehend mit den Stereotypen übereinstimmen, die in Unternehmen gegen die
Beschäftigung von Arbeitnehmer_innen mit psychischen Erkrankungen vorgebracht werden
(vgl. Bückner/Greca/Schäfferling 2002): Sie sind der Arbeitsbelastung nicht gewachsen, werden bevorzugt behandelt, der Beruf wird dadurch entwertet, sie sind oft krank und die anderen
Stefan Schäfferling
234
Beschäftigten müssen die Ausfälle auffangen etc. Dies zeigt, wie wirkmächtig solche gesellschaftlich tradierten, ansozialisierten Stereotype sind, und dass sie, wenn es um die Einstellung eine_r Kolleg_in mit einer Beeinträchtigung geht, auch bei Fachkräften wirksam werden,
die beruflich regelmäßig mit Menschen mit psychischen Erkrankungen zu tun haben und die
diese aufgrund ihrer Ausbildung und ihren Erfahrungen abgelegt haben sollten. Und es tritt
auch zu Tage, dass, wie auch die Erfahrung in anderen Fällen zeigt, entgegen der Befürchtung
von Minderleistung und/oder Mehraufwand „Psychiatrie-Erfahrene bei der Tätigkeit als ‚Genesungsbegleiter‘ seltener als das übrige Personal krank werden“ (Ebd., S. 23). Diese Befunde
machen deutlich, dass noch ein langer Weg der Bewusstseinsbildung in Sinne von Artikel 8
UN-BRK bevorzustehen scheint.
In dieser Hinsicht erscheint es auch problematisch, dass die Beschäftigung von ‚Genesungsbegleitern‘ die Differenzlinie zwischen ihnen und Mitarbeitenden mit eigener PsychiatrieErfahrung erst explizit sichtbar macht. Auch Utschakowski (2015a, S. 24) konstatiert, dass
„Mitarbeitende, die schon einmal selbst eine seelische Krise durchlebt haben, [diese oft] verschweigen […], weil sie vonseiten des Teams Vorurteile und Diskriminierung erwarten müssen. Auch den Klientinnen und Klienten erzählen sie selten von ihrer eigenen Erfahrung. Dies
geschieht überwiegend aus Sorge, die eigene Professionalität aberkannt zu bekommen.“ Hier
werden altbewährte Stereotype gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich,
einerseits bezogen auf Fachkräfte mit eigenen Erfahrungen, andererseits auch gegenüber den
Adressat_innen mit psychischen Erkrankungen, indem man glaubt wissen und vorweg nehmen zu können, womit und mit welchen Situationen sie zurechtkommen können und welche
Art von professioneller Beziehung sie wünschen. Mit anderen Worten: Mitarbeiter mit Ausbildung im psychiatrischen Bereich halten ihre eigenen Erkrankungen versteckt und verklausulieren ihre Genesungserfahrungen, während eine andere Personengruppe mit einer 300
Stunden dauernden Schulung offen darüber reden darf und u.a. genau dafür angestellt wird,
dies zu tun. Das ist ein Paradoxon, das m. E. einen großen Schatten auf das ansonsten in vielen Punkten positiv zu beurteilende EX-IN Programm wirft. Im Sinne von ‚Inklusion‘ sollten
Strukturen so verändert werden, dass betroffene Fachkräfte offen und ohne Vorbehalte über
ihre Erfahrungen sprechen können, ohne Stigmatisierung oder Nachteile befürchten zu müssen – und dies auch in Gegenwart von und mit Klient_innen. Es kann doch keinesfalls als
Schwäche angesehen werden, mit einem eigenen Erfahrungshorizont auf Klient_innen zugehen zu können. Fachkräfte sollten aufgrund ihrer Ausbildung und Berufserfahrung „Nähe und
235
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
Distanz“ mindestens ebenso gut wie geschulte ‚Genesungsbegleiter‘ reflektieren können.
Wenn das Verständnis von „professioneller Distanz“ dazu führt, dass extra von außen hinzugezogene Arbeitskräfte mit denselben Voraussetzungen, die ein Teil der beschäftigten Arbeitskräfte bereits besitzt, aber nicht zeigen oder nutzen darf, beschäftigt werden, um eine
Mittlerrolle mit Dolmetscher- und Brückenbauerfunktion zwischen diesen Fachkräften und
den Klient_innen zu übernehmen, sollte darüber nachgedacht werden, ob es nicht auch möglich ist, einen „professionellen Mittelweg“ einzuschlagen zu können. Eine halbe Sozialarbeiter_innen-Stelle sollte, anstatt sie mit einem ‚Genesungsbegleiter‘ mit Mehrwert zu besetzen,
mit einem_r Sozialarbeiter_in mit psychischer Krankheitserfahrung besetzt werden, dem/der
man ggf. erlaubt, auf kreative Art und Weise auf Klient_innen zuzugehen und mit ihnen zu
arbeiten, ohne die Befürchtung zu haben, damit auf lange Sicht die eigene Zunft zu schädigen.
Bei allem Verständnis für den dahinterstehenden Pragmatismus sollten ‚Genesungsbegleiter‘,
um sie finanzieren zu können, nicht die Stellen von anderen Berufsgruppen einnehmen (müssen). Hier wären z.B. das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, die Wohlfahrtsverbände, etc. in Verbindung mit öffentlichem Dienst und der freien Wirtschaft gefordert,
ausreichend finanzielle Voraussetzungen ggf. in Form eines Fonds oder einer Stiftung zu
schaffen.
Das Vorgehen, freiwerdende vorhandene Stellen zu nutzen, um ‚Genesungsbegleitern‘ wegen
der unbestreitbar positiven Effekte des Programms für psychisch erkrankte Menschen einerseits und Einrichtungen der Sozialen Arbeit andererseits eine Chance einräumen zu können,
ist natürlich schlüssig, da es ja (noch) keine Stellen für ‚Genesungsbegleiter‘ gibt. Es sollte
aber niemand in die Rolle eines „trojanisches Pferdes“ gebracht werden müssen, um Veränderungen in der Einrichtung etablieren zu können. Die ‚Genesungsbegleiter‘ werden erst einmal
‚integriert‘, sie sollen dann Strukturveränderungen in Richtung ‚Inklusion‘ sowohl bezogen
auf Adressat_innen als auch bezogen auf die Mitarbeitenden bewirken. Wird die Etablierung
von ‚Genesungsbegleitern‘ auf diese Art und Weise betrieben, ist dies zumindest diskussionswürdig: Dahinter steht die Hoffnung, dass die am Wohl der Adressat_innen interessierten
Mitarbeiter_innen in der Kooperation mit den ‚Genesungsbegleitern‘ deren besonderen Fähigkeiten und den Mehrwert für die Adressat_innen und sie selbst erkennen und es ihnen
selbst zum Anstoß für ein Umdenken und für Initiativen zu Strukturveränderungen gereiche.
Diese Vorgehensweise ist nicht „machtfrei“ (vgl. Staub-Bernasconi 2014; Pfeiffer-Schaupp
2014) und es sollten Themen wie Bedürfnisgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit klar im
Stefan Schäfferling
236
Auge behalten und abgewogen werden. Ob der Zweck hier die Mittel heiligt, also ob die Ausübung von Definitions- bzw. Strukturmacht eines personalverantwortlichen Entscheidungsträgers den Startschuss für mehr ‚Inklusion‘ in einer Einrichtung bilden sollte, ist zu hinterfragen. Vorzuziehen wäre es, wenn eine Bewusstseinsbildung in Richtung ‚Inklusion‘ zuvor
stattgefunden und das Team sich einstimmig für die Beschäftigung eines ‚Genesungsbegleiters‘ entschieden hätte. Wünschenswert wäre auch, dass zuvor im Team Offenheit und Akzeptanz für Kollegen mit Psychiatrieerfahrung geschaffen würden, die Fachkräfte im psychiatrischen Bereich eigentlich grundsätzlich haben sollten. Weiterhin ist m.E. auch kritisch zu sehen, dass sich der Expertenstatus der EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ im Laufe der Zeit verändern kann, sei es durch Anpassungen an die Kultur bzw. die strukturellen Gegebenheiten der
Einrichtung, in der sie tätig sind, oder dadurch, dass sich das Wissen um Zusammenhänge im
Feld der psychiatrischen Versorgung im Laufe der Zeit und ggf. auch durch Initiativen von
EX-IN ‚Genesungsbeleiter‘ verändern wird. Daher stellt sich die Frage, wie langfristig eine
Stelle als EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ angelegt sein sollte.
Außerdem erntet das EX-IN Programm auch auf Seiten Psychiatrie-Erfahrener Kritik: Es
handle sich „überhaupt nicht um ein Inklusionsprojekt“ (Jahnke 2014, S. 105), da es nicht
sein dürfe, dass „Menschen ihre Identität […] auf ihre Erkrankung begründen“ (Ebd.) und
dann in der „Sozialpsychiatrie eine ‚neue Heimat‘ finden“ (Ebd.).
Schlussfolgerung: „TIPI-Kompetenz“
Diese drei Beispiel sind sinnbildlich für Paradoxien und Dysfunktionalitäten, die in der Debatte um ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ und dem Nachdenken über die
Implementierung von Programmen und Projekten zu Tage treten, deren Konzeptionen aus
diesen Begriffen abgeleitet sind. Es ist keinesfalls von der Hand zu weisen, dass diese Programme und Projekte Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, Menschen, die psychisch erkrankt
waren oder sind und andere Adressat_innen der Sozialen Arbeit im Sinne von Lothar Böhnischs Lebensbewältigungskonzept (vgl. Böhnisch 2008, S. 33ff.) dabei unterstützen, sozialen
Anschluss und Anerkennung zu finden, Gruppenerleben und Gruppenerfahrungen bieten, Basis für Selbstwirksamkeitserfahrungen und Tagesstrukturierung sind, besondere Kompetenzen
reaktivieren oder vermitteln, und ggf. auch Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten bieten, etc. Zudem können diese Programme und Projekte zu einer Einstellungsänderung gegen-
237
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
über Menschen mit einer Behinderung und zu einem veränderten Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen im Sinne von Artikel 8 der UNBehindertenrechtskonvention führen, und dies sowohl bei beteiligten professionellen Sozialarbeitenden als auch in der Öffentlichkeit. Und sie können Ausgangspunkt für einen Strukturwandel in Einrichtungen und Organisationen in Richtung ‚Inklusion‘ sein. Es ist aber unbedingt darauf zu achten, dass diese Programme und Projekte, die auf ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘‚ ‚Integration‘ und/oder ‚Inklusion‘ abzielen, nicht als Substitute benutzt werden, nicht in
die Sackgasse der „Ersatzinklusion“ bzw. „inkludierender Exklusion“ (Stichweh 2009) führen, keine Dysfunktionalitäten aufweisen, die ihren Erfolg ambivalent erscheinen lassen, nicht
nur einer „Elite“ von Menschen mit Beeinträchtigungen zu Gute kommen und/oder auf Kosten anderer marginalisierter Gruppen (vgl. Kronauer 2010) gehen.
Hinsichtlich der Begriffe ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ wird häufig die
Frage gestellt, welchen dieser Begriffe man denn nun selbst vertrete. Diese Frage ist schwer
zu beantworten, da sich die genannten Begriffe z.T. hinsichtlich ihrer Bedeutungen inhaltlich
überschneiden, ihre Bedeutungen aber auch divergieren und mit den Begriffen z.T. auch bestimmte Konnotationen mitschwingen können. Aus den Diskussionen und Debatten um diese
Begriffe sowie aus der Art und Weise, wie diese geführt werden, lassen sich m. E. die (vorläufigen) Schlussfolgerungen ziehen, dass
• alle vier Begriffe synonym dafür verwendet werden, Einbeziehungsbemühungen zu charakterisieren und sie als ein besonderes Anliegen zu unterstreichen.
• ‚Teilhabe‘, häufig auch mit „gleichberechtigte“ ergänzt, der am wenigsten mit Anderem
konnotierte, alle Arten der Einbeziehung zu umfassen versuchende Begriff zu sein scheint.
Um hervorzuheben, dass Adressat_innen nicht nur passives Teilhaben gestattet, sondern
auch die Möglichkeit gegeben ist bzw. sein sollte, eigene Beiträge zu leisten, kann ergänzend noch der Begriff ‚Teilgabe‘ dazu treten.
• unter ‚Partizipation‘ (als anglizierte/latinisierte Bedeutung von ‚Teilhabe‘) eine Reihe von
Konzepten, Handreichungen und Implementierungsvorschlägen zu finden sind, die häufig
eine Kategorisierung in „mehr“ oder „weniger“ beinhalten bzw. eine Abstufung in mehrere
Schritte oder Ebenen, die ähnliche Einteilungen vornehmen, deren Zuschnitt oder Anzahl
je nach Konzept und Autor_in aber variiert (vgl. z.B. Schnurr 2011, Strassburger/Rieger
2014). ‚Partizipation‘ scheint eine Art Überbegriff zu sein, unter dem die anderen drei Be-
Stefan Schäfferling
238
griffe mit subsumiert werden können. In der Wissenschaft scheint ‚Partizipation‘ der gängigste und anschlussfähigste Begriff zu sein, um Einbeziehungsmöglichkeiten und bemühungen zwischen Profis und Adressat_innen, Nutzer_innen, „Co-Produzent_innen“
(vgl. Schaarschuch 1999, Oelerich/Schaarschuch 2005), etc. zu benennen.
• ‚Integration‘ bedeutet, dass Menschen in vorhandene Strukturen einbezogen werden (sollen). Sie setzt existente oder imaginierte Strukturen voraus, in die Menschen integriert
werden sollen und können, z.B. Migrant_innen in „die Gesellschaft“, Menschen mit Behinderung in „den allgemeinen Arbeitsmarkt“, Adressat_innen in „die Einrichtung“, usw.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die These (vgl. Bude 2015), dass eine Gesellschaft, die so eindeutige Strukturen besitzt, dass sie eine weitreichende Integrationswirkung entfalten und die notwenigen Integrationsleistungen erbringen könnte, gar nicht mehr
existiere. Verantwortlich dafür zeichnen einerseits (1) der gesellschaftliche Wandel, der
aus den alles umwälzenden, unaufhaltsamen und weiter anhaltenden Veränderungen resultiert, die seit den 1970er/1980er Jahren als „Dritte Industrielle Revolution“ (Rifkin 2011)
von statten gehen und deren Auswirkungen je nach Fokus als „Neoliberalismus“ (Butterwegge u.a. 2008), „Globalisierung“ (Beck 1986), „Informatisierung und Digitalisierung“
(Castells 2001-2003, 2003), „Neo-Institutionalismus“ (Meyer/Rowan 2005), „Postdemokratie“ (Crouch 2008), etc. benannt sowie umfangreich diskutiert werden – und andererseits (2) die stetigen Migrationsbewegungen in den letzten Jahrzehnten, die eine Durchmischung von kulturellen Mustern und Habitusformen bewirkt haben und weiterhin bewirken
werden.
• ‚Inklusion‘ bedeutet, dass sich nicht Menschen in Strukturen einpassen und an Strukturen
anpassen (lassen) sollen, sondern sich Strukturen dahingehend verändern sollen bzw. verändert werden sollen, dass ein Zusammenleben aller unter weitestgehender Wertschätzung
von ‚Differenz‘ möglich ist. ‚Inklusion‘ ist auch eine Vision, ein Leitbild, eine Blaupause
für Veränderungen hin zu einer „inklusiven Gesellschaft“ und wird entsprechend kontrovers und auch weltanschaulich diskutiert (vgl. z.B. Schattenmann 2014, Wansing 2015).
Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt sehr klar und eindrücklich den Weg vor, auf
dem „Bewusstseinsbildung“ (Artikel 8), „unabhängige Lebensführung und Einbeziehung
in die Gemeinschaft“ (Artikel 19), „volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens“ (Artikel 26), ein „Recht auf Arbeit und Beschäftigung“ (Artikel 27) u.v.m. neu gedacht und
umgesetzt werden sollen (vgl. z.B. Degener/Diehl 2015).
239
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
Grundsätzlich ist es, wenn man den Blick über Sozialwissenschaften und die wissenschaftliche Disziplin der Sozialen Arbeit hinweg schweifen lässt, nicht ungewöhnlich, dass es mehrere Begriffe gibt, die eine ähnliche Bedeutung haben, die aber inhaltlich nicht ganz deckungsgleich sind (siehe z.B. „soziale Lage“ (Hradil) und „Lebenslage“ (Böhnisch)). Problematisch
ist es m.E. aber, Begriffe unreflektiert so zu benutzen, als seien sie wechselseitig austauschbar. Ebenfalls als problematisch anzusehen ist es, wenn nach einer gewissen Zeit die Begriffsgeschichte verloren geht und in Folge dessen eine ggf. weltanschauliche Konnotation in
Vergessenheit gerät.
Auf Fachkräfte der Sozialen Arbeit kommen mit der verstärkten Orientierung in Richtung
‚Inklusion‘ neue Herausforderungen zu. Insbesondere die Soziale Arbeit sehe ich wegen ihres
Selbstverständnisses und ihres Auftrags, der sich aus der Definition der IFSW/AIETS ableiten
lässt, in der Pflicht, in Richtung ‚Inklusion‘ zu wirken und im Sinne der UNBehindertenrechtskonvention zu handeln. Von Fachkräften der Sozialen Arbeit wird zukünftig immer mehr gefordert werden, momentane und ehemalige Adressat_innen zugunsten eines
Trialogs oder Quadrologs auch Angehörige und Bürger_innen, auf vielfältige Art und Weise
einzubeziehen. Diese Form von Kompetenz in der Implementierung und Durchführung von
‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘ und ‚Inklusion‘ möchte ich fortan als „TIPIKompetenz“ 13 bezeichnen.
Die wichtigste Grundlage für „TIPI-Kompetenz“ ist das Sichbewusstwerden von eigenen Differenzierungspraxen, die sich aus Einstellungen, Stereotypen, unreflektiert hingenommenen
Wissensderivaten und unhinterfragtem Alltagswissen ergeben. Es ist erstaunlich, welche Vorbehalte Fachkräfte, die täglich mit Menschen mit psychischen Erkrankungen zu tun haben,
allem Anschein nach (noch) gegenüber ihren Adressat_innen haben. Dies schlussfolgere ich
aus dem Umstand, wie am Beispiel des EX-IN Programms aus Handreichungen für die Einbeziehung von EX-IN ‚Genesungsbegleitern‘ und aus Interviews mit Fachkräften deutlich
wird, dass es Fachkräfte gibt, die nach Aussagen anderer den Kontakt mit dem Klientel aus
Angst vor Ansteckung möglichst minimieren. Weiterhin ähneln Aussagen von Fachkräften
z.T. verblüffend den stereotypen Pauschalisierungen, die auch Personalverantwortliche von
Unternehmen gegen eine Einstellung von Menschen mit einer psychischen Erkrankung vorbringen. Gegenüber Adressat_innen herrscht häufig ein defizitorientiertes Bild vor, es er-
13
„TIPI“ steht dabei als Akronym für ‚Teilhabe‘, ‚Integration‘, ‚Partizipation‘, ‚Inklusion‘
Stefan Schäfferling
240
scheint daher schwer vorstellbar, mit ihnen auf Augenhöhe in inklusiven Settings, wie es z.B.
das EX-IN Programm vorsieht, zusammenzuarbeiten. Klar sichtbar wird hier eine Differenzlinie gezogen, indem EX-IN ‚Genesungsbegleitern‘ vor allem die Fähigkeit zum richtigen
Umgang mit „Nähe und Distanz“ beim Kontakt mit den Adressat_innen abgesprochen und
ihnen stattdessen zugeschrieben wird, dass sie nur zu diffusem Verhalten gegenüber Adressat_innen fähig seien. Fachkräfte haben gelernt, sich im Sinne von „professioneller Distanz“
abzugrenzen, EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ sollen aber aufgrund ihrer Ausbildung gerade
„professionelle Nähe“ zu den Adressat_innen an den Tag legen. Diese Diskrepanz untergräbt
die Definitions- und Deutungsmacht, die Positionsmacht sowie die formelle Organisationsmacht der Profis (vgl. Staub-Bernasconi 2014) und spricht darüber hinaus aber auch EX-IN
‚Genesungsbegleitern‘ und anderen partizipierenden momentanen und ehemaligen Adressat_innen Reflexionsfähigkeit und grundlegende Interaktionskompetenzen ab. Gleichzeitig
bemängeln Fachkräfte aber, keinen richtigen Zugang zu den Adressat_innen (mehr) zu finden,
weshalb z.B. EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ als „Cheerleader“, „Dolmetscher“, „Brückenbauer“
und als „Tofu-Mitarbeiter, nicht Fleisch und nicht Gemüse“ (Jahnke 2014) willkommen sind.
Ich plädiere dafür, dass Fachkräfte ohne Angst vor Gesichtsverlust auch in der Lage sein
müssen, einen „professionellen Mittelweg“ einschlagen zu können und erkläre diesen zu einem weiteren wesentlichen Bestandteil der „TIPI-Kompetenz“.
Neben der Fähigkeit, im Umgang mit EX-IN ‚Genesungsbegleitern‘ und anderen Menschen,
die möglichst gleichberechtigt einbezogen werden sollen, eigene Differenzierungspraxen,
Machtstrukturen, stigmatisierende Interaktionsmuster, etc. zu hinterfragen, sollten Fachkräfte
ihre Differenzlinien gegenüber anderen Fachkräften, die eine Psychiatrie-Erfahrung gemacht
haben oder eine psychische Erkrankung überwunden haben, hinterfragen. Sie sind im Sinne
von ‚Diversity‘ selbstverständlicher Bestandteil des Ensembles der Fachkräfte im psychiatrischen Bereich und mit ihnen ist bereits das „Expert_innen aus Erfahrung“-Wissen vorhanden,
das Adressat_innen oder EX-IN ‚Genesungsbegleiter‘ von außen einbringen. Die Fähigkeit
zum Abbau dieser zwischenmenschlichen Hürden auf kollegialer Ebene ist Punkt drei der
„TIPI-Kompetenz“. Es ist nicht akzeptabel, dass Fachkräfte im psychiatrischen Bereich, die
Psychiatrie- und Genesungserfahrungen haben, diese aus Angst von Benachteiligung verbergen oder verklausulieren müssen.
In Bezug auf die Vermittlung von „TIPI-Kompetenz“ sehe ich die Hochschulen in einer besonderen Rolle, da an ihnen angehende Sozialarbeiter_innen/Sozialpädagog_innen ihre aka-
241
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
demische Ausbildung erfahren. Ihnen fällt die Aufgabe zu, Wissen über ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ – also sozusagen „TIPI-Wissen“ – zu vermitteln. Inzwischen existiert eine Vielzahl von Handreichungen, Ratgebern und Büchern mit Erklärungen
mit „TIPI-Wissen“, die als Informations- und Orientierungsgrundlage herangezogen werden
können. Die Fähigkeit, diese Informationen aufarbeiten und reflektieren zu können, in der
Praxis der Sozialen Arbeit in Handlungsfeldern an Gegebenheiten anzupassen und umzusetzen ist „TIPI-Kompetenz“ Nummer vier.
Selbstverständlich muss an dieser Stelle mit Blick auf die Berufspraxis der Sozialen Arbeit
deutlich hervorgehoben werden, dass man „berufsbezogenes ‚Gebrauchswissen‘ […] nicht
dadurch [erwirbt], dass man Sätze zur Kenntnis nimmt, die sich mit dem Wissen als mit ihrem
Gegenstand beschäftigen. Vielmehr erwirbt man es immer nur auf dem Wege der Einübung
im Rahmen institutioneller Kontexte“ (Dewe 2012, S. 120). Diese Tatsache führt unausweichlich zu der Schlussfolgerung, dass „TIPI-Kompetenz“ als berufsbezogenes Gebrauchswissen
für ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ am besten an Orten erworben werden
kann, an denen sie auch erlebt und gelebt werden kann. Hochschulen (und Universitäten)
müssen daher zwangsläufig ein Ort sein und/oder zu einem Ort werden, an dem differenzreflexiv, diversitätsorientiert, partizipativ und inklusiv gehandelt und gelebt wird. Insbesondere
für Fakultäten für Soziale Arbeit an Hochschulen (aber auch Fakultäten für Pädagogik an
Universitäten und Fakultäten, in denen Lehrer_innen ausgebildet werden)
14
sehe ich mit
Verweis auf die Definition der IFSW/AIETS, auf die Sichtweise der Sozialen Arbeit als
„Menschenrechtsprofession“ (Staub-Bernasconi), auf Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte und auf die UN-Behindertenrechtskonvention in einer besonderen Verantwortung, ihre Strukturen und Alltagspraxen hinsichtlich benachteiligender und diskriminierender Praxen zu hinterfragen. Hochschulen (und Universitäten) müssen Orte „der Infragestellung vorgegebener Wissensbestände, fertiger Methoden und Regeln, der Abweichung vom
Bewährten, der Überschreitung vorhandener Grenzen“ (Mecheril 2015, vgl. Klingler/Mecheril
2016) sein dürfen. Wie sinnhaft es in diesem Zusammenhang ist, dass Hochschulen (und Universitäten) immer mehr zu Quasi-Unternehmen in einer globalisierten, ökonomisierten und
flexibilisierten Bildungswelt werden (vgl. Münch 2009), dessen struktureller Bodensatz mer14
Weitere Fragen, die sich mir in diesem Zusammenhang mit Blick auf den Genderaspekt aufdrängen,
sind z.B.: Warum sind 80-85% der Studierenden der Sozialen Arbeit weiblich? Warum gibt es in
Grundschulen fast nur Lehrerinnen? Und wie sind im Vergleich dazu Professor_innen-Stellen und
Schulleiter_innen-Stellen besetzt?
Stefan Schäfferling
242
kantilistisch-feudalistische Abhängigkeitsstrukturen beheimatet und in denen benachteiligende, diskriminierende und exkludierende Differenzierungspraxen an der Tagesordnung zu sein
scheinen, ist ein Paradoxon, das ebenfalls dringend hinterfragt werden muss. Außerdem ist es
auch hier nicht akzeptabel, dass Kommiliton_innen 15 mit Beeinträchtigungen oder mit Adressat_innen-Erfahrungen in psychiatrischen Bereich oder anderen Bereichen wie der Jugendoder Suchthilfe etc., ihr Experten_innenwissen aus Angst vor Benachteiligungserfahrungen
verschweigen. Expert_innen, die von Innen und von Außen kommen, und deren „Expert_innen aus Erfahrung“-Wissen sind eine wichtige Komponente der „TIPI-Kompetenz“.
Die Bereitschaft von Lehrenden und Studierenden, gemeinsam zu erkennen, gemeinsam zu
hinterfragen, gemeinsam über mögliche Alternativen nachzudenken 16 und dabei in inklusiven
trialogischen Strukturen Expert_innen zu beteiligen, ist „TIPI-Kompetenz“ Nummer fünf.
Abschließend möchte ich auf eines der berühmtesten Zitate von Theodor W. Adorno verweisen, das aus seinem Werk „Minima Moralia“ (1969) stammt und das lautet: „Es gibt kein
richtiges Leben im falschen.“ Für Studierende, Profis und Lehrende in der Sozialen Arbeit
leitet sich daraus für mich auf Basis der Definition der IFSW/AIETS der Imperativ ab, nicht
nur larmoyant-diskursiv, sondern aktiv gegen strukturelle Benachteiligungen, gegen stigmati15
Hier wiederum verstanden im ursprünglichen, universitätslateinischen Sinne als „Mit-Streiter_in in
der Studiengemeinschaft“, also Lehrende und Studierende mit einbeziehend.
16
In seinem Vortrag im Rahmen des Fachtags „Bildungsgerechtigkeit, Diskriminierungskritik und
Diversity“ am 12.11.2015 an der Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule
Esslingen forderte Paul Mecheril (2015) ein „institutionelles Monitoring“ ein, das als „Selbstdeutungsund Selbstreflektionsressource“ dienen soll. Er schlägt vor ein „differenziertes, elaboriertes Monitoring-System“ zu etablieren, das Differenzlinien und Differenzierungspraxen an Hochschulen (und
Universitäten) aufdeckt. Um deutlich auf die Wichtigkeit eines umfassenden, Strukturen hinterfragenden Monitoringprozesses aufmerksam zu machen, formulierte er pointiert u.a. folgende Beispiele für
Abfragen: „Welche Differenzlinien sind in unserem Rektorat vertreten? Wie viele ‚Schwarze‘ sind im
Rektorat? Wie viele Kolleg_innen im Rollstuhl sind im Rektorat? Wie viele ‚Schwule‘ sind im Rektorat? […] Warum ist das so, dass in der Bundesrepublik Deutschland nahezu jedes Rektorat ‚weiß‘ ist –
wobei die Studierendenschaft alles andere als ‚weiß‘ ist? Mit ‚weiß‘ meine ich jetzt nicht Farbe, sondern ich meine eine privilegierte Position im Rahmen einer migrationsgesellschaftlich strukturierten
Welt. […] Wie sehen […] unsere Drop-Out-Quoten aus? […] nahezu 50 Prozent aller Studierenden
mit einer anderen als der deutschen Staatbürgerschaft verlässt die Hochschule ohne Abschluss. Wie
gelingt uns das eigentlich?“ Des Weiteren fordert er einen „Sommer der Reflexion“ mit Workshops zu
Fragen wie „Wie organisieren wir diese Hochschulbildung? […] Welche Zeiten braucht Bildung? […]
Was lernen die gegenwärtig existierenden Hochschulen von denen, die nicht so ohne weiteres ins
Normalitätsskript der Institution passen?“ Und an anderer Stelle, bezogen auf die konkrete Ausgestaltung der Rolle des/der Lehrenden fragt Mecheril: „Welche Normalitätsannahmen strukturieren mein
Tun in der Sprechstunde? Welche Normalitätsannahmen strukturieren mein Prüfungsverhalten? Welche Normalitätsannahmen strukturieren meine Notengebung? […] Was für Inhalte wähle ich aus? Was
für Inhalte wähle ich nicht aus? All das müsste im Rahmen einer auf Bildungsgerechtigkeit zielenden
Hochschule thematisiert werden.“
Auf der Suche nach der „TIPI-Kompetenz“
243
sierende Stereotypisierungen, gegen Differenzierungs- und Diskriminierungspraxen u.v.m.
vorzugehen. Dabei nicht auf die Unterstützung durch andere zu warten, nicht auf bessere
Chancen in der Zukunft zu hoffen, sondern mit dem Tätigwerden im Hier und Jetzt bei sich
selbst beginnen zu können, ist eine conditio sine qua non und damit „TIPI-Kompetenz“
Nummer sechs.
„TIPI-Kompetenz“ in der Kurzzusammenfassung:
Nr. 1: Das Sichbewusstwerden von eigenen Differenzierungspraxen, die sich aus Einstellungen, Stereotypen, unreflektiert hingenommenen Wissensderivaten und unhinterfragtem
Alltagswissen ergeben.
Nr. 2: Die Bereitschaft und die Fähigkeit dazu, im Kontakt mit Adressat_innen auch einen
„professionellen Mittelweg“ einschlagen zu können.
Nr. 3: Die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Abbau zwischenmenschlicher Hürden gegenüber Adressat_innen und Kolleg_innen mit Psychiatrie-Erfahrung und Genesungserfahrung sowie gegenüber Adressat_innen und Kolleg_innen mit Erfahrungswissen aus
anderen Bereichen.
Nr. 4: Die Fähigkeit, Informationen bezüglich ‚Teilhabe‘, ‚Partizipation‘, ‚Integration‘, ‚Inklusion‘ aufarbeiten und reflektieren zu können, sie in der Praxis der Sozialen Arbeit
in Handlungsfeldern an Gegebenheiten anpassen und umsetzen zu können.
Nr. 5: Die Bereitschaft von Lehrenden und Studierenden gemeinsam benachteiligende Differenzierungspraxen zu erkennen, gemeinsam zu hinterfragen, gemeinsam über mögliche Alternativen nachzudenken und dabei in inklusiven trialogischen Strukturen ‚Expert_innen aus Erfahrung‘ zu beteiligen.
Nr. 6: Die Fähigkeit, nicht auf die Unterstützung durch andere zu warten, nicht auf bessere
Chancen in der Zukunft zu hoffen, sondern mit dem Tätigwerden im Hier und Jetzt bei
sich selbst beginnen zu können.
Stefan Schäfferling
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Psychiatrisierte Personen und Spiritualität
Transzendenz im Lichte philosophischer Diskurse und die Bedeutung für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen
Handlungsfeldern
Johanna Kohler
Spiritualität in einer „entsakralisierten Gesellschaft“ (Lob-Hüdepohl 2003, S.75) zu thematisieren, kann auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen. Spiritualität gar in den sensiblen
Kontext sozialpsychiatrischer Handlungsfelder zu stellen: Ein kritisches Unterfangen. Wenn
dieses Unterfangen in einem behutsamen und reflexiven Sinne gewagt wird, kann eine solche
Verknüpfung meines Erachtens jedoch verdeckte oder gar neue Perspektiven für die professionelle Haltung von Praktiker_innen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern eröffnen. Diesen, durch Spiritualität in den Blick genommenen Perspektiven, wird sich im Folgenden angenähert.
Meines Erachtens rufen historisch entwickelte Ströme der Expertokratisierung, Individualisierung und Biologisierung in sozialpsychiatrischen Kontexten, wie es Klaus Dörner in seinem Beitrag bereits skizziert hat, Praktiker_innen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
auf, eine professionelle Haltung einzunehmen. Auch die biografische Heterogenität der psychiatrisierten Personen, und die damit einhergehenden spezifischen Fragen nach Sinn und
Identität(en), sowie die Komplexität der jeweils neuen Situation im sozialpsychiatrischen Setting und das Eingebettetsein in gesellschaftliche Kontexte, Zwänge, Gestaltungsweisen, setzen eine professionelle Haltung der Fachkräfte voraus. Worin gründet sich eine solche Haltung, die der bereits thematisierten Vielfalt an Lebens- Identität(en)- und Sinnfragen der psychiatrisierten Personen professionell begegnen kann? Haltung bedarf einer fundierten inhaltlichen Auseinandersetzung mit Menschenbildern, da diese für die professionelle Haltung eine
konstitutive Grundlage bilden sollten. Bei der Begründungsbasis für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ist ein Analyserahmen von Nöten, der objektivistischen und vereindeutigenden Kategorien vorgreift und so Raum für das Uneindeutige,
Aufeinander-Verwiesene, Sehnende, Fragende und Unendliche (über den Menschen Hinaus-
251
Psychiatrisierte Personen und Spiritualität
weisende) im Menschsein, das in diesem Beitrag unter dem Begriff „Transzendenz“ zusammengefasst werden soll, eröffnet. Da Spiritualität im von Brückschen Sinne (2002) eine Auseinandersetzung mit der Deutung der Welt, des Lebens und der Rolle der Menschen ist, und
diese Auseinandersetzung sich gerade durch ihre Offenheit gegenüber dem Menschsein innewohnender Transzendenz auszeichnet, kann Spiritualität als Analyserahmen für die Reflexion
des Menschseins dienen (vgl. von Brück 2002, S.10). Dieser Analyserahmen soll im Folgenden auf philosophische Diskurse von Max Horkheimer, Martin Buber und Gerhard Gamm
bezogen werden, da diese das Menschsein gerade auch auf seinen Transzendenzgehalt hin
dekonstruieren. Daran anknüpfend soll diskutiert werden, welche Bedeutung die Berücksichtigung von Transzendenz für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern einnehmen kann.
Max Horkheimer – Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen
Max Horkheimer erläutert im Spiegel-Interview, welches unter dem Titel „Die Sehnsucht
nach dem ganz Anderen“ (1970) erschien, das Wesen der Sehnsucht des Menschen nach dem
ganz Anderen. Die Sehnsucht nach dem Transzendenten ist für Horkheimer nur durch das
Denken des Menschen an die Wahrheit und an dasjenige, das diese impliziert, möglich. Ohne
ein Denken an die Wahrheit ist seiner Ansicht nach kein Wissen um ihren Kontrast, der sich
in der Verlassenheit der Menschen zeigt, denkbar (vgl. Horkheimer 2007, S. 148). Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen meint für Horkheimer die Sehnsucht nach einer universellen
Wahrheit. Diese wird nicht abstrakt verneint, vielmehr ist sie selbst Verneinung dessen, was
in der Welt Ungerechtigkeit, menschliche Verlassenheit und Entfremdung ist. Die Sehnsucht
der Person drückt sich somit in der Verneinung und dem Wunsch der Überwindung der weltlichen Zustände aus. Dabei ist für Horkheimer das Transzendente, im Sinne eines unausdenkbaren unendlichen Glücks, Grundlage für das Bewusstsein des irdischen vergänglichen
Glücks. Das immanente Glück kann jedoch, so Horkheimer, im Hinblick auf die vom Mensch
nicht aufzuhebende Vergänglichkeit nie ohne Trauer sein (vgl. Horkheimer 1970, S. 40). Die
Unmöglichkeit der vollendeten Gerechtigkeit in der Diesseitigkeit ist für Horkheimer Grund,
weshalb die Sehnsucht des Menschen transzendent sein muss und im ganz Anderen ihren
Raum findet. Das ganz Andere kann der Mensch nicht erkennen, da, wie auch immer ein die
Welt der Phänomene transzendierendes, positiv oder negativ Absolutes sich zeigt, sich dieses
Johanna Kohler
252
der Erkenntnis widersetzt. Dies begründet Horkheimer damit, dass alle vom Verstand anerkannte Realität auf die intellektuellen Fertigkeiten des Subjekts zurückzuführen ist und somit
diese als zweifelhaftes Moment zu definieren ist. Die Sehnsucht des Menschen wohnt ihm
inne und ist zugleich nicht greifbar.
Nach Horkheimer meint das Neue Testament in seiner Aussage, Gott war in Christus und das
Wort war, was Gott war, nichts anderes, als „dass Gott die letzte Tiefe unseres Seins, das Unbedingte im Bedingten ist. Das sogenannte Transzendente, Gott, die Liebe, wie immer man es
nennen möge, ist nicht draußen, es wird in, mit, unter dem Du aller menschlichen Beziehungen angetroffen.“ (Horkheimer 2007, S. 226) So ist das Transzendente in menschlichen Beziehungen im Ausdruck der Sehnsucht existent. Die Sehnsucht nach dem Transzendenten
bleibt jedoch für Horkheimer durch seine Unerreichbarkeit, wie angenommen werden könnte,
kein Abstraktum, sondern greift nach konkreten Ausdrucksformen. Ausdruck bekommt die
Sehnsucht in Horkheimers Augen durch Gebote, Vorschriften, durch den Kultus. Die Synagoge [Moschee] oder die Kirche ist demnach der Raum, in dem Menschen durch kultische
Handlungen ihre Sehnsucht nach dem ganz Anderen ausdrücken. Eine Liberalisierung des
Kultischen nimmt der Sehnsucht des Menschen die Möglichkeit, sich zu äußern. So würde ein
Abandonnement der Transzendenz, des Anderen, der Sehnsucht des Menschen jegliche
Rechtfertigung entnehmen (vgl. Horkheimer 1970, S. 46) und wäre nicht ohne Auswirkungen:
„In einer wirklich freiheitlichen Gesinnung bleibt jener Begriff des Unendlichen als Bewusstsein der
Endgültigkeit des irdischen Geschehens und der unabänderlichen Verlassenheit des Menschen erhalten
und bewahrt die Gesellschaft vor einem blöden Optimismus, vor dem Aufspreizen ihres eigenen Wissens als neuer Religion.“ (Horkheimer 1970, S. 54)
Die alte Religion hat dabei, so der Mitbegründer der Kritischen Theorie, die Aufgabe, dem
Menschen sein unumgängliches Leiden und Sterben aufzuzeigen, um in dieser Ehrlichkeit die
Sehnsucht zu erheben, dass das diesseitige Leben nicht das Absolute, das Letzte sein möge
(vgl. Horkheimer 1970, S. 61-62, 67, 71).
Psychiatrisierte Personen und Spiritualität
253
Die verwaltete Welt
Horkheimer wird im Spiegel-Interview nach seiner Einschätzung bzgl. der Entwicklung der
Sehnsucht nach dem ganz Anderen in einer verwalteten Welt 1 gefragt. Horkheimer lässt anklingen, dass die Sehnsucht nach dem Jenseitigen auch noch in einer total verwalteten Welt
bestehen wird. Dies begründet er in der unumkehrbaren Tatsache, dass der Mensch auch in
jenem Moment, in dem alle materiellen Bedürfnisse erfüllt sind, sterben muss. Und so wird
dem Menschen, gerade in der Erfüllung seiner materiellen Bedürfnisse, diese Tatsache in besonderer Weise bewusst sein. Horkheimer drückt seine Hoffnung aus, dass in jenem Augenblick eine echte Solidarität zwischen den Menschen aufkommt, die in seinen Augen dazu beitragen kann, die Nachteile der totalen Verwaltung abzumildern. Horkheimer vermutet jedoch
auch, dass die Theologie in einer total verwalteten Welt aufgelöst wird. Dies impliziert für
ihn, dass das, was der Mensch Sinn nennt, aus der Welt verschwinden wird (vgl. Horkheimer
1970, S. 75):
„Zwar wird große Geschäftigkeit herrschen, aber eigentlich sinnlos, also langweilig. Vielleicht schon in
naher Zukunft wird man von dem, was wir mit allem Ernst in diesem Gespräch getan haben, über die
Beziehungen von Transzendentem und Relativem spekulieren, sagen, es sei läppisch.“ (Horkheimer
1970, S. 88)
Transzendenz klingt bei Horkheimer, so wird deutlich, in der Sehnsucht nach dem ganz Anderen, als Moment der Überschreitung der gesellschaftlichen Verhältnisse an. 2 Die Sehnsucht
nach dem ganz Anderen richtet sich dabei auf das noch-nicht-Diesseitige: vollendete Gerechtigkeit. Dabei muss nach Horkheimer jener Begriff des Transzendenten als Bewusstsein der
Endgültigkeit des irdischen Geschehens erhalten bleiben, auch um die Menschen vor einer
Transzendierung ihrer eigenen Wissens zu bewahren. In der Entwicklung hin zu einer total
verwalteten Welt sieht Horkheimer die Notwendigkeit gegeben, jegliche Selbstbezogenheit zu
überschreiten und sich in Solidarität zum Anderen hinzuwenden.
1
Die immanente Logik der Geschichte führt nach Horkheimer zu einer verwalteten Welt: „Durch die sich entfaltende Macht der Technik (…) durch schonungslosen Wettbewerb zwischen den Machtblöcken, scheint mir die
totale Verwaltung der Welt unausweichlich geworden zu sein.“ (Horkheimer 1970, S.83)
2
Die Sehnsucht des Menschen nach dem Transzendenten, die nach Horkheimer, wie bereits erläutert, vollendete
Gerechtigkeit implizieren würde, findet auch im Konzept der Menschenwürde Eingang. So könnte vollendete
Gerechtigkeit ein Leben, welches die menschliche Würde achtet, implizieren. Die Konkretisierung einer der
Würde entsprechenden Gerechtigkeit wird in den Menschenrechten deutlich. Zur Besprechung transzendenter
und immanenter Elemente der Menschenwürde und Menschenrechte sei das Werk „Das utopische Gefälle. Das
Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte“ von Jürgen Habermas (2010)
empfohlen.
Johanna Kohler
254
Auch der Religionsphilosoph Martin Buber beschäftigt sich in seinem Werk „Ich und Du“
(1974) mit der Überschreitung der Selbstbezogenheit des Menschen.
Martin Buber – das dialogische Prinzip
Bereits am Beginn seines Werkes „Ich und Du“ überschreitet Buber die Vorstellung einer
autonomen Existenz des Menschen: Kein Ich existiert an sich. Existent ist nur das Ich des
Grundworts Ich-Du. Nach Buber kann der Mensch nicht in sich, an sich bestehen, vielmehr
ist das Ich des Menschen immer an ein Du gebunden. Der Mensch, so lässt sich das Grundwort von Ich-Du interpretieren, ist ein transzendentes Wesen: Er lebt in einem größeren, als
nur seinem eigenen Seins-Kontext. Die Person ist darin stets auf ein Du verwiesen. So denkt
Buber statt eines An-Sich-Seins ein Mit-Sein. Dieses Ich-Du Verhältnis unterscheidet er dabei
grundsätzlich von einem Ich-Es Verhältnis. Das Reich des Es, in dem sich das Ich-Es Verhältnis befindet, wird charakterisiert durch die Handlungen des Menschen, die ein Etwas zum
Gegenstand haben. Indem der Mensch das Gegenständliche erfahren will, ist das Reich des
Ich-Es kein transzendentes. Eine Es-Menschheit, welche sich selbst vorstellt, deklariert und
verbreitet, ist seiner Ansicht nach nicht mit einer leibhaftigen Menschheit, zu der ein Mensch
wirklich Du spricht, kongruent. Buber sieht in der stetigen Verwandlung des Menschen zum
Es die Notwendigkeit, dass der Mensch sich immer wieder neu aus dem Es-Zustand entwandeln muss. Das Reich des Du hingegen „hat kein Etwas zum Gegenstand. Denn wo Etwas ist,
ist anderes Etwas, jedes Es grenzt an andere Es, es ist nur dadurch, dass es an andere grenzt.
Wo aber Du gesprochen wird, ist kein Etwas. Du grenzt nicht.“ (Buber 1974, S. 10) Dem
Grundwort Ich-Du wohnt in seinem Überschreiten der Abgrenzungen und Differenzierungen
Transzendenz inne.
In der Begegnung sieht Buber die Gleichzeitigkeit von Ansprechen und Angesprochenwerden. Die Beziehung zum Du ist immediat: Zwischen Ich und Du befindet sich so keine Begrifflichkeit, keine Vorkenntnis. Zwischen Ich und Du ist auch keine Absicht, kein Begehren
und keine Vorwegnahme. Begegnung und Beziehung ist also transzendent, da der Bereich der
Absicht und Vorstellung durch Vorkenntnisse vom Gegenüber überschritten wird. Dabei ist
für Buber Beziehung Reziprozität: Das Du wirkt auf das Ich, wie das Ich auf das Du wirkt:
„Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegenseitigkeit.“ (Buber 1974,
255
Psychiatrisierte Personen und Spiritualität
S. 23) Die All-Gegenseitigkeit so kann Buber verstanden werden, löst den Menschen aus seiner Ich-Bezogenheit und lässt ihn seine Ich-Grenze überschreiten, transzendieren.
Das transzendente Du
Nach Buber ist das Du des Ich-Du Grundworts nie Objekt, das sich in spezifisch erfahrbaren
und definierbaren Eigenschaften manifestieren würde. Buber betont vielmehr das Moment des
Nicht-Wissens: So kennt der Mensch, wenn er einer Person begegnet, nur seinen eigenen
Weg, jedoch nicht den Weg des Gegenübers. Diesen erlebt der Mensch nur in der Begegnung.
Das Andere, so vermutet Buber, kann dem Menschen nur widerfahren, wissen kann er es
nicht. Für Buber ist der Aspekt der Unmöglichkeit einer Festlegung oder Beschreibung des Du
äußerst bedeutsam: Sobald eine Festschreibung oder Beschreibung geschieht, ist das Du nicht
länger. So kann dem Buberschen Du Transzendenz zugesprochen werden. Es versagt sich
stets allen Festlegungen, Vorstellungen und Kategorisierungen. Der Mensch, der mit Du angesprochen wird, bleibt für Buber nicht erfahrbar, gleichwohl steht der Andere mit Du in Beziehung. Auch das Du erlebt sich als seinem eigenem Wissen entzogen: Es tut mehr als es
weiß, es widerfährt ihm mehr, als es weiß.
Die Auseinandersetzung mit Bubers Gedanken zum Menschsein deuten in vielfacher Weise
auf Transzendenz hin: Der Mensch wird in seinem angesprochen-Werden durch das Du aus
seiner Selbstfixiertheit gelöst und erfährt dabei die menschliche All-Gegenseitigkeit. In dieser
Überschreitung regt sich der Dialog mit dem Du, durch den der Mensch zur Person wird.
Auch überschreitet Buber die Möglichkeit der Erfahrung des Anderen, im Sinne eines sichüber-das-Es-Wissen-Verschaffens. Der Andere kann dem Menschen nur widerfahren, so bildet das in-Beziehung-Stehen Momente der Transzendenz ab.
Auch Gerhard Gamm deutet Spuren der Transzendenz im Menschsein an.
Gerhard Gamm: Die Unerreichbarkeit des Selbst
In seinem Aufsatz „Chantals Gesichter. Über die Unerreichbarkeit des Selbst“ (2002) überdenkt Gamm das scheinbare Selbst-Bewusstsein des Menschen und hinterfragt es auf seine
Transparenz. Nicht nur scheint das Subjekt, so schreibt Gamm, zu wissen, was sich in seinem
Johanna Kohler
256
Inneren an Gefühlen, Überzeugungen und Erfahrungen ereignet, es ist auch davon überzeugt,
besser als jedes andere über sich selbst informiert zu sein. So wird bereits am Beginn seines
Aufsatzes deutlich, dass Gamm ein immanentes Subjektverständnis kritisiert, welches annimmt, dass das Subjekt auf dem Weg nach innen tiefe Selbstgewissheit und einen profunden
Grund für seine Existenz erlangen könnte. Gamm wird dabei den Glauben der Philosophie,
dass in der bewussten Selbsterfahrung tatsächlich alles transparent ist oder doch zumindest in
Transparenz transformiert werden kann, hinterfragen:
„Diese Idee, auf den Grund seiner selbst zu kommen, sich wirklich in dem, wer oder was man ist, das
heißt in seiner Autonomie zu erkennen, setzt eine Selbsttransparenz voraus (…).“ (Gamm 2002, S.11)
Selbsttransparenz könnte an dieser Stelle auch als Immanenz interpretiert werden, als ein Innerhalb der Grenzen der Erfahrung des Selbst. Gamm nimmt diese Idee der Immanenz, im
Sinne einer Transparenz und Selbstgewissheit des Subjekts auf, um festzustellen, dass diese
teils deutlich, teils versteckt von einem anderen, wirksamen Gefüge ergänzt wird, welches im
Hintergrund Einfluss übt. Es handelt sich dabei um die profunde wie zweifelslose Annahme,
dass dasjenige, was als „Ich“ oder „Subjektivität“ definiert wird, über Identität bestimmt ist.
Gamm stellt fest, dass in der philosophischen Tradition der Neuzeit Subjektivität als elementare, stetige Größe, als stehendes und bleibendes Ich (wie es bei Fichte und Kant homonym
aufklingt) dargestellt wird, dass Subjektivität durch Selbstbezüglichkeit und Identität (als das,
was bei allen zeitlichen Veränderungen unverändert bleibt) definiert wurde. So haben Religion und Philosophie nach Ansicht Gamms lange Zeit angenommen, dass ein bedeutungsvoller
Kern des Menschen nicht allein seine Individualität, Unverwechselbarkeit (nummerische
Identität), sondern auch sein durch die Gattung definiertes Wesen (qualitative Identität) sicherstellt. Dabei sieht Gamm in Freud und seinem Begriff des Unbewussten einen bedeutsamen Einfluss auf die Sensibilisierung der Existenz der dem Bewusstsein prinzipiell abgekehrte Seite der Selbsterfahrung (vgl. Gamm 2002, S.11). Gamm argumentiert, dass es noch eine
zweite Welt unbewusster Beweggründe hinter der, dem Subjekt-Bewusstsein zugänglichen,
geben muss. Diese zweite Welt lässt sich nach Gamm allein über ihre Konfliktfolgen, die sich
zwischen dem bewussten Wunsch und seiner Abwehr (Projektion, Verdrängung usf.) im
Sprachgebrauch oder in auffallenden Verhaltensweisen zeigen, eruieren. So wird gerade und
nur an den Sinnbrüchen das Verdrängte, Unbewusste und da es dem Menschen nicht zugänglich ist, Transzendente, erkennbar. Gamm beschreibt, wie Motive und Bekundungen des bewussten Subjekts von dem Bewusstsein unbekannten Kräften durchdrungen werden. Diese
Psychiatrisierte Personen und Spiritualität
257
regen Gamm zum Hinterfragen der klassischen Annahme der Transparenz und Autonomie
des menschlichen Bewusstseins an. Er führt an dieser Stelle seines Aufsatzes nicht nur die
psychologische Subjektkritik auf, sondern erwähnt auch Nietzsche. Dieser hat durch das Aufzeigen sprachlicher Strukturen, semantischer Einheiten und grammatischer Schemata (die
allem menschlichen Wollen vorausliegen) das seiner selbst transparente und wirkvolle Subjekt dekonstruiert. Zur Dekonstruktion des autonomen Subjekts im gesellschaftlichen Bereich
zieht Gamm den Marxschen Diskurs heran. Dieser hat seiner Ansicht nach offenbart, wie sich
eine Gesellschaft unter dem Regime kapitalistischer Konkurrenz – der Selbstverwertung des
Werts – über die Überzeugungen und Situationsinterpretationen, welche die Subjekte mit ihren Taten verknüpfen, erhebt. So folgen laut dem Marxschen Diskurs die Subjekte als Träger_innen von spezifischen Klasseverhältnissen und Belangen, ungenannten, objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Fortgänge – und demnach nicht dem, was sie an subjektiven Absichten zu realisieren glauben.
Die Identität des Subjekts
Um seine eigene Dekonstruktion des Subjekts zu illustrieren, verwendet Gamm die Metapher
der unterschiedlichen Gesichter (das lustige Gesicht, das seriöse Gesicht usf.), die – gleichsam wie Masken – auf- und absetzbar sind und wie Folien übereinander geschoben werden
können, um dann anschließend zu fragen: Wem gehören die Gesichter? Durch wen oder was
wird ihre Verbindung erzielt? Wer weiß von ihnen? Gamm beantwortet diese Fragen mit dem
Schlagwort Identität:
„Identität der Person steht für die Verbindung beider Gesichter. Sie [er] selbst vertauscht sie bei Gelegenheit. Das Sie [Er] selbst deutet ganz offensichtlich auf das Distanz-nehmen-Können zu jedem Gesicht, auf Gesichts- oder Selbstdistanz.“ (Gamm 2002, S. 13)
Das Selbstsein ist in der Gammschen Philosophie essentiell verknüpft mit den Gesichtern:
Der Mensch manifestiert sich in ihnen, jedoch gründet sich darin nur noch der Nachklang
oder Schatten des Selbst. Die Person selbst und die Möglichkeit des Distanznehmens von jedem Gesicht meinen dasselbe. So entsteht nach Gamm Identität zwischen den zwei oder
zwanzig Gesichtern. Gamm begreift Identität nicht als bedeutungsvollen Kern (Immanenz)
hinter den Gesichtern. Identität „ist nichts weiter als diese synthetische (verbindende) Handlung im Moment ihres gesichtsersetzenden (differenziellen) Vollzugs.“ (Gamm 2002, S. 13)
Johanna Kohler
258
Gamm bezeichnet diesen Vollzug als ein Drittes, das die verschiedenen Gesichter vermittelt.
Dieses Dritte existiert und existiert nicht, es ist eine Leerstelle (Transzendenz), die Übergangsmöglichkeit selbst. Das Dritte wird dabei nicht als ein erneutes Gesicht bezeichnet, sondern als bedeutsame Leere, die jedoch mit verschiedenen Gesichtern okkupiert werden kann
(vgl. Gamm 2002, S. 12-13). Gamm unterstreicht seine Vorstellung von Identität mit Schelling:
„Macht man aber von allem Vorstellen sich frei, um seiner ursprünglich bewusst zu werden, so entsteht
nicht der Satz: Ich denke, sondern der Satz: Ich bin, welcher ohne Zweifel ein höherer Satz ist. In dem
Satz: Ich denke, liegt schon der Ausdruck einer Bestimmung oder Affektion des Ich; der Satz: Ich bin
dagegen ist ein unendlicher Satz, weil es ein Satz ist, der kein wirkliches Prädikat hat, der aber eben
deswegen die Position einer Unendlichkeit möglicher Prädikate ist.“ (Schelling 1966, S. 367)
In Schellings Aussage wird der transzendente Charakter des menschlichen Ich bin deutlich,
der sich in seiner Unendlichkeit und somit seinem Überschreiten von jeglichen Kategorien
oder Differenzierungen ausdrückt. Dem Ich bin sind unendlich viele Gesichter zugehörig, die
durch die synthetische Handlung des Subjekts entstehen. Will das Subjekt diese jedoch bestimmen, so entrinnen sie ihm. Dasjenige, was die Identität hervorruft, entsagt sich so selbst
der Definition, weswegen Gamm von einem „verschwindenden Vermittler“ (Gamm 2002, S.
14) spricht, der sich nur über das was er nicht ist, zeigt. Folglich ist das „Ich“ bzw. „Selbst“
im Gammschen Sinne von einer paradoxen Struktur der bestimmenden Unbestimmbarkeit,
die auch als Transzendenz in der Immanenz bezeichnet werden könnte, durchzogen.
Conclusio dessen ist, dass jedes Gesicht, welches das Subjekt intentional oder nicht intentional aufsetzt, den Menschen verfehlt. Dies begründet Gamm nicht etwa darin, dass der Mensch
etwas zu verheimlichen oder sein echtes Gesicht noch nicht gefunden hätte, sondern in der
Existenz einer signifikanten Stelle (die der Mensch nach Gamm ist), die für alle zu erwägenden Gesichter oder Blicke leer, frei und unbestimmt bleiben muss. Er ist somit der Ansicht,
dass es keine Identität in Form eines letzten (wahren) Gesichts der Gesichter geben kann,
sondern nur eine verborgene und, so kann interpretiert werden, transzendente Gegenwart/Signifikanz des Selbst in jedem Gesicht. Das Gesicht des Subjekts weist dabei stets kulturelle Markierungen auf, die das symbolisierte Allgemeine und nicht das Eigene darstellen.
Die Transzendenz des Menschen, die stets darauf hinweist, dass der Mensch mehr ist als all
seine Prädikate, zeigt sich auf paradoxe Weise, so kann Gamm gedeutet werden, in der Immanenz der verschiedenen Gesichter. Die Struktur der Identität impliziert Gamms Ansicht
259
Psychiatrisierte Personen und Spiritualität
nach die Synthese der Gesichter, die nur durch ihre Differenz hindurch bewirkt und erfasst
werden kann. Nur in der Verschiedenheit der Gesichter zeugen sie von Identität, in ihrer
Trennung sind sie eins. Dabei ist der Gebrauch, den andere Subjekte in Form ihrer Interpretationen von den verschiedenen Gesichtern machen, essentieller Teil der Konstitutionsvoraussetzungen der menschlichen Identität. Subjekt ist nach Gamm so niemals Substanz, wie auch
kein zeitlos bestehendes Seiendes: „Das Subjekt ist nicht, es ist nicht etwas, es ist nur dieser
Impuls, diese Kraft des Überstiegs oder des Umsteigens auf ein neues Gesicht.“ (Gamm 2002,
S. 14) Transzendenz kann so als Argument dafür dienen, weshalb das Subjekt nicht unter die
gewöhnlichen gegenstandskonstitutiven Voraussetzungen des menschlichen Verstandes, der
nach Kategorien urteilt, fällt. Gamm konkretisiert seine Anschauungen, in dem er die
Verhältnisse, die das Subjekt betreffen, in einer an die zeitgenössische Sprachphilosophie
angelehnten Terminologie beschreibt: Die inhaltslose und undefinierte Mitte des Subjekts
kann nicht frei bleiben, sie fordert stets nach dem, wordurch sie sich ausdrücken, zeigen oder
abbilden kann, um gleichzeitig erkennbar zu machen, dass sie durch keine Manifestation
umfassend erschöpft werden kann. Ungeachtet dessen, in welcher Weise sie sich ausdrückt, in
welcher Rede sie über sich spricht oder in welcher Überlegung oder Zusammenhang sie sich
manifestiert –immer verneint sie, dass sie je durch ein Prädikat der menschlichen Sprache
hinreichend erfasst werden kann. Das Subjekt hat sich so im Verlauf der Prädikation immer
schon in den transzendenten Horizont seiner selbst entfernt. Die Positivierung des
Unbestimmten begründet Gamm damit, dass jedes Prädikat, welches das Subjekt sich zuweist,
durch den Zuweisenden in seiner Ausführung überschritten wird: Das Subjekt macht etwas
anderes, als es sagt. Indem das Subjekt es jedoch sagt, hat es sich über seine Bestimmung
hinweggesetzt, weil sein Urteil einen Sprecher einbringt, der in der Druchführung seines
Urteils (indem er sich explizit über sich ausdrückt) allezeit bereits vorausliegt: „Der Sprecher
ist in der Performativität, dem Vollzug seines Urteils präsent, ohne dass seine Präsenz im Urteil positiv artikuliert werden könnte.“ (Gamm 2002, S.14) Diese nicht positivierbare Gegenwart ist für Gamm die Grundlage der Vermittlung der Gesichter. Allein mittelbar, reziprok
und über die Gedanken, die seine Prädikate darstellen, wird sich das Subjekt seines Seins bewusst (vgl. Gamm 2002, S. 14).
Johanna Kohler
260
Kritik an der Kolonialisierung des Selbst
Aus der Unbestimmbarkeit des Menschen heraus ist für Gamm das Verharren auf einem
Schemata der Subsumtion 3, die Definition der menschlichen Identität über die Abgrenzung zu
anderen Lebewesen, beispielsweise über seine Sprach- und Vernunftbegabung, unzulänglich.
Vielmehr muss diese, so Gamm, aufgrund des zerbrechlichen menschlichen Gleichgewichts,
der nicht konstitutiven Mitte des Menschen, der nicht festgesetzten Struktur des menschlichen
Handelns und Denkens, für verschiedenste Besetzungen offen sein. Sie ist für Gamm unverschlossen gegenüber den unterschiedlichsten Bildern und Modellen, gerade weil sie keinen
durch ein „esse“ verdeutlichten ontologischen Gegenhalt aufweist. Dabei kritisiert er den
nicht endenden Strom an Bildern und Modellen, welche die sich zersetzende Mitte des Selbst
festzuschreiben und zu kolonialisieren versuchen. Auch hinterfragt Gamm die Tendenz, nach
immer neuen positiven Festlegungen zu streben sowie die unreflektierte Bezugnahme auf etwas, das scheinbar so gegeben ist, das als dem Gegenstand analog als “etwas“ erkannt werden
kann. 4 Als Differenzierungsmerkmale, wem moralische Achtung und Anerkennung zuteilwerden sollen, dienen dann Reflexivität, intentionale Kompetenz, aufgeklärtes Selbstinteresse, Rationalität, Empathie etc. Gamm bestreitet nicht, dass diese Merkmale auch gewisse Züge des menschlichen Wesens beschreiben könnten – die Schwierigkeit besteht jedoch darin,
dass sie die vielfältig gebrochene und sich auflösende Mitte des Menschen in eine unannehmliche Positivität einschließen. So wird die Mitte des Menschen durch die Identifikation als
„etwas“, abermals in ein Objekt transformiert, seine qualitative Offenheit wird darin geleugnet und in dieser Zuschreibung eines „objektiven“ Charakteristikums wird schließlich auch
über seinen Existenzanspruch entschieden.
Die unerreichbare Ferne des menschlichen Wesens
Gamm schließt sich im Folgenden Kants 5 Überzeugung, dass der Mensch weder Objekt noch
Sache ist, an. Der Mensch hat für Gamm im kantschen Sinne keinen Preis, sondern Würde.
3
In Anlehnung an die Biologie.
Gamm kritisiert demnach an diesem Punkt, dass die Frage nach den Kriterien des Person-Seins in der Gegenwart häufig objektivistisch geklärt wird.
5
An dieser Stelle gilt es zu kritisieren, dass Kant in seinen Werken einen traditionellen Antijudaismus wie auch
einen modernen Antisemitismus vereint.
4
261
Psychiatrisierte Personen und Spiritualität
Vom Menschen, der seine Höchstplatzierung im Person-Status erzielt, kann deshalb nicht von
einem gewöhnlichen Seiendem unter anderen Seienden gesprochen werden. So kann der
Mensch auch nicht durch Kategorien charakterisiert werden, er hat keinen Wert, der gegen
andere Werte aufgerechnet werden könnte. Diese Überzeugung bringt Gamm zu der Aussage:
„Das Wesen des Menschen ist für uns in eine unerreichbare Ferne gerückt.“ (Gamm 2002, S.
335) Damit fordert Gamm, die totale Unzulänglichkeit des menschlichen Wesens anzuerkennen und sich der Radikalität dieses historischen Apriori zu stellen. Er sieht sich an dieser Stelle zur „Paradoxierung“ seiner eigenen Rede gedrängt: Die Bestimmung des Menschen konstituiert sich darin, keine zu besitzen. Dies beinhaltet, dass kein Wesenskern vorzufinden ist.
Gamm sieht sich in Plessners Aussage bestätigt: „Die Unfassbarkeit des Lebens und die Unerschöpflichkeit menschlichen Könnens lassen den Menschen nunmehr als Macht und offene
Frage zurück.“ (Plessner 1981, S. 189)
Der Auseinandersetzung mit Transzendenz im Lichte philosophischer Diskurse folgt nun ein
Abschnitt, der sich der Frage widmet, welche Bedeutung Transzendenz für eine professionelle
Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern einnimmt.
Die Bedeutung der Transzendenz als Überschreiten der diesseitigen Wirklichkeit für eine
professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
In Horkheimers Sehnsucht nach dem ganz Anderen klingt die menschliche Hoffnung einer
Überschreitung der diesseitigen, gesellschaftlichen Wirklichkeit, hin zu mehr Gerechtigkeit
an. So sollte auch durch die professionelle Haltung von Praktiker_innen die Sehnsucht der
psychiatrisierten Personen nach dem noch-nicht-Sichtbaren, Gerechterem Raum finden. Die
Sehnsucht selbst kann dabei die/den Praktiker_in in ihre/seine Profession rufen, be-rufen, um
darin auf die Hoffnungen der psychatrisierten Personen zu antworten – für diese „Verantwortung“ zu übernehmen: Durch den Anderen ge-rufen in eine professionelle Haltung der
Gestaltung aus Hoffnung. Eine professionelle Haltung, die sich dem So-Seienden nicht beugt,
es vielmehr wagt, das Geheimnis einer noch nicht vorhandenen Realität auszusprechen
(Horkheimer), wird gemeinsam mit der psychiatrisierten Person die Diesseitigkeit (sprachlich
aber auch praktisch) zu überschreiten versuchen. Das gemeinsame Transzendieren der Realität als Ausdruck, dass vor dieser und ihrer Ungerechtigkeiten nicht in Resignation kapituliert
werden darf und muss. Das gemeinsame Transzendieren der realen Verhältnisse als Ausdruck
Johanna Kohler
262
des Respekts gegenüber der Sehnsucht der psychiatrisierten Person nach dem ganz Anderen –
worin dieses ganz Andere auch immer bestehen mag. Das gemeinsame Transzendieren der
gesellschaftlichen Kontexte als Ausdruck der Suche nach Möglichkeiten, diese Sehnsucht,
Hoffnung im Alltag zu konkretisieren. Das gemeinsame Transzendieren als Ausdruck einer
Haltung der Offenheit gegenüber dem Gegenwärtigen. So fordert von Brück, das Diesseitige,
dasjenige, das ich für heilig halte, nicht zu verabsolutieren, sonst sei Hoffnung nicht möglich:
„Die Offenheit zu akzeptieren ist vielmehr Inbegriff der Hoffnung. Die Haltung der Hoffnung ist das
Gegenteil einer Haltung des Fixierens, die sich bemüht, alles dem eigenen Zugriff zu unterwerfen.“
(von Brück 2002, S. 74)
Eine professionelle Haltung, die der Sehnsucht der psychiatrisierten Person Raum zuspricht,
bewahrt (so ist zu hoffen), die/den Praktikerin/Praktiker in der Kontrastierung der Diesseitigkeit von dem jeweils Ersehnten, vor einer Verschleierung, Anerkennung gesellschaftlicher
Unverhältnisse durch sozialpsychiatrische Tätigkeiten. Eine Haltung, die es wagt, das Geheimnis des noch-nicht-da-Seienden auszusprechen; eine Haltung, die es wagt, das Transzendente als Differenz zur Immanenz zu suchen, wird sich verpflichtet sehen, in der Suche nach
sozialer Gerechtigkeit auch politisch 6 zu werden. Im von Brückschen Sinne kann die Hoffnung der Unterdrückten und Benachteiligten auf eine andere Welt die ausgleichende Gerechtigkeit bringt, nicht gesellschafts- und machtneutral sein. So wird Hoffnung konkret, wenn es
um die Behebung eines bestimmten Mangels geht, der als solcher empfunden wird (vgl. von
Brück 2002, S. 73).
Die Bedeutung der Transzendenz als Verweis auf das Jenseits der Selbstbezogenheit für
eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
Der Andere, das Du, das mich anspricht überschreitet meine Selbst-Bezogenheit und be-ruft
mich in die Ver-antwortung. Eine professionelle Haltung der Ver-antwortung sieht sich nicht
nur auf den Anderen verwiesen, sie überschreitet auch die Selbst-bezogenheit der/des Anderen, indem sie sie/ihn auf aktuelle gesellschaftlichen Strukturen und Zwänge verweist. So
richtet sich der Blick der Praktiker_innen nicht allein auf die subjektiven Verhaltensweisen
6
Zur politischen Dimension Sozialer Arbeit vgl. Wagner (2008): „Die Politik der Sozialen Arbeit. Überlegungen
zur politischen Produktivität Sozialer Arbeit jenseits des Mandatsbegriffs.“
263
Psychiatrisierte Personen und Spiritualität
und Lebensstile der psychiatrisierten Person, sondern auch auf die Verbindung der jeweiligen
menschlichen Notlage mit den herrschenden Gestaltungsweisen des Sozialen (vgl. Kessl
2005b, S. 36). Nur eine solche, das Individuum überschreitende, Haltung der Profis kann vor
einer Individualisierung und gesellschaftlicher Dekontextualisierung sozialpsychiatrischer
Problemlagen schützen.
Die Bedeutung der Transzendenz als Verweis auf das Jenseits jeglicher Kategorisierung/Erfahrung des Menschseins für eine professionelle Haltung in sozialpsychiatrischen
Handlungsfeldern – im Anschluss an Erik Mührel
Die Andersheit der psychiatrisierten Person entzieht sich der Verfügungsmacht der/des Praktiker_in. Die Transzendenz des Anderen überschreitet jegliche kategoriale oder substantielle
Festlegung der psychiatrisierten Person. Meines Erachtens wird Mührel in seinem, an Lévinas
Philosophie angelehnten, Entwurf einer verstehenden und achtenden Haltung dem Menschsein-innewohnenden Aspekten der Transzendenz gerecht, weshalb diese nun skizziert werden
soll. Die Paradigmen „Verstehen und Achten“ sind dabei als Pole einer professionellen Haltung zu verstehen (vgl. Mührel 2008, S. 155).
Verstehen
Mührel sieht fachliche Interventionen auf einer Diagnose basierend, der ein Verstehen der
psychiatrisierten Person unabdingbar vorausgeht. Verstehen kann dabei als dialogischer Prozess verstanden werden, indem durch Sprache mit dem Gegenüber über eine Sache (die
Mührel als „Drittes“ benennt) Verständigung stattfindet (vgl. Mührel 2008, S. 71, S. 90). Dabei kommt der Frage im Dialog eine bedeutende Rolle zu. Im Gespräch wird „durch die
Kunst des Fragens und Weiterfragens (…) die zu verstehende Sache auseinandergelegt und in
dieser Dialektik ins Offene gebracht, dessen Offenheit eben unabschließbar ist.“ (Mührel
2008, S. 91) Offenheit, die ein nicht-Bewerten des Gesagten miteinschließt, impliziert, dass
die zu verstehende Sache nie eindeutig erkannt und verstanden werden kann. Verstehen
meint, sich reflektierend durch die Erkenntnis der Differenz der psychiatrisierten Person zu
mir selbst zu distanzieren. Verstehen denkt Mührel folglich als ein Befragen der Lebensweisen des Gegenübers, „um mit und für den Klienten [die Klientin] auf diesem Verständnis auf-
Johanna Kohler
264
bauend unter den Aspekten der Fachlichkeit Sozialer Arbeit Anregungen zur aktiven Veränderung seiner [ihrer] Lebensweise zu entwickeln und umzusetzen.“ (Mührel 2008, S. 155)
Das Verstehen richtet sich somit auf die Lebensweise der psychiatrisierten Person. Die Lebensweise meint dabei sowohl die äußeren Lebensumstände (gesellschaftliche und familiäre
Verhältnisse, psychische und körperliche Dispositionen) als auch das innere Ich. Das innere
Ich denkt Mührel im Sinne von Jose Ortega y Gasset als Daseinsentwurf des Menschen:
„Es gibt kein abstraktes Leben. Leben bedeutet die unerbitterliche Notwendigkeit, den Daseinsentwurf,
den ein jedes Individuum darstellt, zu verwirklichen. Dieser Entwurf, aus dem das Ich besteht, ist keine
Idee und kein von dem betreffenden Menschen erdachter und frei gewählter Plan.“ (Ortega y Gasset in
Mührel 2008, S. 75)
Verstehen im Mührelschen Sinne bedeutet somit: „hinter den Ausdruck der Lebensweise zu
kommen (...) um die Kräfte und Gegebenheiten zu verstehen, die die Dynamik des Lebens
(…) kennzeichnen.“ (Mührel 2008, S. 73) Verstehen darf jedoch, wie bereits angedeutet,
nicht in einem absoluten Sinne verstanden werden. Die Begrenzung des Verstehens begründet
Mührel mit Lévinas im Antlitz des Anderen:
„Im Antlitz des Anderen wird die Idee des Anderen in mir überschritten. Liegt die Wahrheit des Gesichts nicht in dem Aufruf: ‚Zerstöre mich nicht in deinem Erkennen?‘“ (Mührel 1997, S. 43)
So würde Verstehen in seinem Erfassen, Diagnostizieren ohne einen Gegenpol zu einer Auflösung der Andersheit des Du führen. Dies bringt Mührel dazu, den Gegenpol des Achtens
aufzuführen.
Achten
Mührel denkt das Achten als „Bewegung zur absoluten, transzendenten Andersheit des Anderen, die eben nicht anerkennende und verstehende Aneignung des Anderen ist, sondern Gastfreundschaft, Empfang des Anderen ohne Bedingung, in einer Asymmetrie des Interpersonalen.“ (Mührel 2008, S.110, S. 112) Das Achten bezieht sich auf die unendliche Andersheit des
Anderen, die Mührel auch als radikal fremd tituliert, um darin die unaufhebbare Differenz
zwischen Ich und Du auszudrücken (vgl. Mührel 2008, S. 112). In der Heiligkeit und Transzendenz des Anderen manifestiert sich die Ver-antwortung, die unendliche Andersheit seiner
zu achten. Dabei denkt Mührel Achten als „Wahren des Gesichtes des Anderen.“ (Mührel
265
Psychiatrisierte Personen und Spiritualität
2008, S. 150) Eine Haltung der Achtung ist so in letzter Konsequenz eine Haltung, mit der die
unantastbare, unveräußerliche Würde der psychiatrisierten Person anerkannt wird. Achtung ist
als Würdigung der Personalität der pschyiatrisierten Person zu deuten. Die handlungslogische
Konklusion besteht somit darin, die Menschenrechte für die psychiatrisierte Person einzufordern und auf deren Verwirklichung hinzuwirken. Nach Mührel manifestiert sich eine Haltung
des Achtens im Besonderen im Hören. Im Akt des Hörens wird der/die Praktiker_in zum/zur
Gastgeber_in des Gehörten und bekennt sich so verantwortend. Das Hören meint nach Mührel
keine Technik, vielmehr offenbart sich im Hören eine achtende Haltung des im so-seinLassens. Eine solche Haltung widersetzt sich somit allen Tendenzen der effizienten Diagnosestellung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Eine achtende Haltung darf folglich nicht
mit den Messgrößen „Effizienz“ oder „Wirkung“ bestimmt werden. Achtung stellt nach
Mührel keine messbare Größe dar, die in irgendeiner Form gerechtfertigt werden müsste (vgl.
Mührel 2008, S. 150-151).
Wie können jedoch Verstehen und Achten zusammen gedacht werden?
Synthese des Verstehens und Achtens
In Gadamers Verständnis von Verstehen sieht Mührel die Möglichkeit, Verstehen und Achten
in einer Haltung zu verknüpfen. Gadamer bezeichnet die Lebensweise der Anderen als Objekt
des Verstehens, und nicht deren geheimnisvolle Personalität. Verstehen ist so nicht als absolut
zu denken, sondern als Verstehen des Ausdrucks der Selbstgestaltung der psychiatrisierten
Person in ihren/seinen Lebensbezügen (vgl. Mührel 2008, S. 158-160). Da „sich das Verstehen am Achten orientiert und nur dadurch in seiner Offenheit gehalten werden kann“ (Mührel
2008, S. 158-160), können die Pole des Achtens und Verstehens in einer Haltung emergieren.
Verstehen, das sich im Achten der unendlichen Andersheit gründet, kann so das Gesicht der
psychiatrisierten Person wahren. Die Gleichzeitigkeit der Pole Achten und Verstehen erstreckt sich auf einer asymmetrischen (Nicht-) Beziehung der Achtung sowie einer symmetrischen, gegenseitigen Beziehung des Verstehens (vgl. ebd., S. 148, S. 161). So verneint
Mührel ein diametrales Entgegensetzen von Verstehen und Achten; vielmehr regt er an, eine
professionelle Haltung zwischen diesen Polen aufzuspannen (vgl. ebd., S.156, S. 161).
Johanna Kohler
266
Resümierend lässt sich festhalten, dass die Bedeutung transzendenter Elemente für eine professionelle Haltung im Verstehen und Achten des Anderen, in der Ehrfurcht vor den Sinn- und
Identität(en)fragen und Hoffnungen der psychiatrisierten Person begründet ist. Die Bedeutung
manifestiert sich in der Ver-antwortung für die/den unendlich(en) Andere(n), der dem Profi in
sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern gegenüber tritt. Die theoretische Auseinandersetzung
mit Transzendenz kann dabei verdeutlichen, dass Spiritualität auch in einer entsakralisierten
(säkularen) Gesellschaft Legitimität beanspruchen kann und somit kein Fremdkörper in sozialpsychiatrischen Kontexten bleiben muss. Ähnlich Maio (2010), der einen Raum für Spiritualität in der Medizin fordert, da sich Patient_innen durch Krankheiten ihrer eigenen Endlichkeit bewusst werden, und somit das Sprechen über Sinnfragen häufig zentraler erscheint, als
die bloße Wiederherstellung physischer Funktionsfähigkeiten, kann dieser Raum auch für
sozialpsychiatrische Kontexte angedacht werden. Obgleich sich die Adressat_innen sozialpsychiatrischer Handlungsfelder nicht stets im existentiellen Sinne mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert sehen, befinden sie sich doch häufig in Krisen, Konflikten oder prekären
Lebensverhältnissen, die Fragen nach dem Sinnstiftenden, nach Identität(en) und der unbestimmten Zukunft evozieren können. Spiritualität könnte so im Sinne Maios (2010) auch für
die Vergegenwärtigung der letzten (transzendenten) Fragen dienen (vgl. Maio 2010, S. 5-6).
Weiterhin sollte Spiritualität, wie Dungs zu bedenken gibt, „als Antrieb der Kritik im Verhältnis zu (…) gesellschaftlichen Verengungen und Spaltungen (…)“ somit als „Seismograph
für gesellschaftliche Verengungen“ und als „Medium der Sensibilisierung für alles, was (…)
uns in der Welt begegnet“ (Dungs 2016, Z. 58-65) dienen. Eine Spiritualität, die nicht, wie
Dungs kritisiert, als „maßgeschneidertes und entpolitisierendes Anpassungsprogramm (…) an
eine Welt, die uns aber erschüttert“ (Dungs 2016, Z. 83-84) verstanden wird, könnte folglich
gerade auch in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern auf exkludierende Tendenzen aufmerksam machen. Sicherlich stellt die Forderung nach einem Raum für Spiritualität in sozialpsychiatrischen Kontexten in Zeiten der Kürzung staatlicher Sozialbudgets eine Herausforderung für Praktiker_innen dar, da zeitliche/personelle Ressourcen für das Hinschauen auf professionseigene und gesellschaftliche Zustände sowie das Hinhören auf Sinn- und Identität(en)fragen begrenzt erscheinen. Um dieser Herausforderung dennoch nachzukommen, bedarf es meines Erachtens zunächst der Implementierung eines Pflichtseminars „Professionelle
Haltung“ innerhalb der für sozialpsychiatrische Kontexte relevanten Studiengänge.
267
Psychiatrisierte Personen und Spiritualität
Bereits die „Novizen und Novizinnen“ sollten dort inhaltliche Grundlagen einer selbstreflexiven Haltung des Verstehens und Achtens erlangen, aber auch zur kritischen Reflexion vereindeutigender und expertokratischer Perspektiven angeleitet werden. In der Ausbildung einer
für die Transzendenz der psychiatrisierten Person offenen Haltung könnten angehende Praktiker_innen darauf vorbereitet werden, im jeweils neuen Hier und Jetzt der Praxis ethisch verantwortlich zu handeln. Gewiss wäre es auch erstrebenswert, dass Profis regelmäßig in Supervisionen zur Reflexion ihrer eigenen Haltung angeleitet werden. Supervisionen könnten
auch dazu dienen, dass Praktiker_innen darin geschult werden, einen, wie Dungs es nennt,
„Sinn für das Unverfügbare“ (Dungs 2016, Z. 5-6) zu entwickeln. Dieser Sinn für das Unverfügbare bzw. der Sinn für das Unbestimmte sollte einen Gegenpol zu historisch gewachsenen
Vereindeutigungen in sozialpsychiatrischen Kontexten bilden. Einen Gegenpol, der die Begrenztheit des Menschlichen, des menschlichen Wissens und das Aufeinander-AngewiesenSein des Menschen berücksichtigt. Einen Gegenpol, der mit Dungs Praktiker_innen in sozialpsychiatrischen Kontexten zu einem „Sinn für Bescheidenheit und Begrenztheit“ (Dungs
2016, Z. 55-56) aufrufen könnte.
Literatur
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München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Buber, Martin (1974): Ich und Du. Gerlingen: Lambert Schneider Verlag.
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Dungs, Susanne (2016): Expertinneninterview über Spiritualität. Stuttgart, Kärnten.
Gamm, Gerhard (2008): Chantals Gesichter. Über die Unerreichbarkeit des Selbst. In: Der blaue Reiter. Journal für Philosophie, S. 11-17.
Habermas, Jürgen (2010): Das utopische Gefälle. Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte. Berlin: Blätter für deutsche und internationale Politik,8/ 2010, S. 4353.
Horkheimer, Max (1970): Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von
Helmut Gumnior. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
Johanna Kohler
268
Kessl, Fabian (2005): Soziale Arbeit als aktivierungspädagogischer Transformationsriemen. In Dahme, Heinz-Jürgen; Wohlfahrt, Norbert: (Hrsg.): Aktivierende Sozialarbeit. Theorie – Handlungsfelder
– Praxis. Hohengehren: Schneider Verlag, S.30ff.
Lewkowicz, Marina; Lob-Hüdepohl, Andreas (Hrsg.) (2003): Spiritualität in der sozialen Arbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus Verlag.
Lob-Hüdepohl, Andreas (2003): Kritik der instrumentellen Vernunft. Soziale Arbeit in einer entsakralisierten Gesellschaft. In: Lewkowicz, Marina ; Lob-Hüdepohl, Andreas (Hrsg.): Spiritualität in der
sozialen Arbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus Verlag.
Maio, Giovanni (2010): Zur Hilflosigkeit der modernen Medizin im Hinblick auf die Frage nach dem
Sinn. Verfügbar unter:
https://www.freidok.unifreiburg.de/fedora/objects/freidok:7371/datastreams/FILE1/content
[03.08.2016]
Mührel, Eric (2008): Verstehen und Achten. Philosophische Reflexionen zur professionellen Haltung
in der Sozialen Arbeit. Sozialpädagogik in der Blauen Eule. Band 8. 2., überarbeitetet und erweitert
Aufl. Essen: Die Blaue Eule.
Plessner, Helmuth (1981): Gesammelte Schriften, 10 Bde. Ln, Bd.5, Macht und menschliche Natur.
Berlin: Suhrkamp Verlag.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1966): Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener
Vorlesungen. Berlin: Holzinger.
Wagner, Thomas (2008): Die Politik der Sozialen Arbeit. Überlegungen zur politischen Produktivität
Sozialer Arbeit jenseits des Mandatbegriffs. In: Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. Heft 6/2008, S. 632-644.
Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern. Dokumentation der Forschungsergebnisse
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar, Josephina Schmidt und
Athanasios Tsirikiotis
1. Einleitung
Soziale Arbeit ergänzt die medizinischen und therapeutischen Professionen im sozialpsychiatrischen Arbeitsfeld um eine explizit ethische Orientierung an Menschenrechten und sozialer
Gerechtigkeit (vgl. z.B. DBSH 2016). Insbesondere vor dem historischen Hintergrund der
Psychiatrie, welcher stets auch von Verwahrlosung, Dämonisierung, Isolation, Unterdrückung, Aberkennung der Menschenrechte, Gewalt und Mord zeugt (vgl. Brückner 2010;
Zimmermann/ Lob-Hüdepohl 2007: 286f), ist dies von besonderer Relevanz. Gerade hinsichtlich dieser paternalistischen Verwerfungen wird Partizipation in der Psychiatrie schon länger
gefordert (vgl. z. B. Aktion Psychisch Kranke 2012; Bundesverband evangelische Behindertenhilfe: Kerbe 3/2011; Reichhart et al. 2008, S. 111) womit an die Psychiatriereform sowie
die Antipsychiatrie-Bewegung in den 1960er und 1970er Jahren angeschlossen wird (vgl.
Keupp 2011). Psychiatrie-Erfahrene insistieren öffentlich auf die Teilhabe an Entscheidungsprozessen in der Psychiatrie und einen respektvollen Umgang mit ihrem Erfahrungswissen als
Expert_innen:
„Ein sehr wichtiges Ziel der Beteiligung Psychiatrie-Erfahrener ist es, dem Erfahrungswissen der Betroffenen im Verhältnis zum professionell erworbenen Wissen einen höheren, möglichst gleichrangigen
Wert zu verschaffen" (Prins 2005,S.10).
Dem Begriff »Partizipation« kommt allgemein in den letzten Jahren zunehmend politische,
soziale und persönliche sowie handlungsfeldübergreifende Bedeutung in der Sozialen Arbeit
zu (z.B. Schnurr 2005). In diesem Sinne wird zunehmend ein Perspektivenwechsel von der
Professionist_innen- hin zur Adressat_innenperspektive gefordert (vgl. z.B. Graßhoff 2012;
Bitzan/ Bolay/ Thiersch 2006; Schaarschuch 2003, 1999). Auch im (internationalen) rechtlichen Kontext wird Partizipation zunehmend gefordert (vgl. §1 und §9 SGB IX; Weltgesundheitsorganisation
2006,
S.
105).
So
wird
Partizipation
in
der
UN-
271
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
Behindertenrechtskonvention fokussiert, in welcher die Rechte auf Achtung der individuellen
Würde, Autonomie und Freiheit im Vordergrund stehen (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen 2009, S. 5). Diese Freiheitsrechte sind jedoch nur
in Verbindung mit Schutzrechten (z.B. das Recht auf „Sicherung der leiblichen und sozialen
Bedingungen eines Lebens mitten in der Gesellschaft, auf angemessene Behandlung von
Krankheit und angemessenen Umgang bei Hilfebedürftigkeit“ (Wunder 2009, S. 33)) zu sehen. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) 2009 durch die Bundesrepublik Deutschland und der Entwicklung eines neuen Psychisch-Kranken-HilfeGesetzes in Baden-Württemberg (PsychKHG) am 01.01.2015, erlangt das Thema gegenwärtig an tagespolitischer Relevanz.
So deutlich die Forderung verschiedener Gruppen nach Partizipation zu vernehmen ist, so
diffus scheint das jeweils dahinterliegende Verständnis von Partizipation zu sein. Dieses Verständnis bzw. die Definition von Partizipation aus der Perspektive unterschiedlicher Akteur_innen zu rekonstruieren und gegenüberstellend zu diskutieren, waren die zentrale Zielsetzungen des Forschungsprojekts „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“,
das von 2014-2016 an der Hochschule Esslingen durchgeführt wurde 1. Zum Thema Partizipation in der Sozialpsychiatrie gibt es bereits einige Positionierungen verschiedener Akteur_innen (Betroffene, Angehörige und Professionist_innen) sowie Forschungsprojekte, die
zu Beginn der nachfolgenden Ausführungen kurz vorgestellt werden. Im Anschluss daran
wird begründet, warum eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Begriff „Partizipation“ aus der Perspektive einer Kritischen Professionalisierung notwendig ist, wie die Bezugnahme auf postmoderne Identitätskonzepte dafür fruchtbar gemacht werden kann und wie sich
mit einem rekonstruktiven Zugang zu sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern eine Kritikfolie
für eben jene Felder entwickeln lässt.
2. Partizipation, Soziale Arbeit und Sozialpsychiatrie – ein Überblick
Sich mit Partizipation im sozialpsychiatrischen Kontext auseinanderzusetzen ist keine neue
Idee. Im Folgenden wird ein Überblick über die hier relevanten aktuellen Diskurse gegeben.
1
Siehe auch hier: http://www.hs-esslingen.de/de/hochschule/fakultaeten/soziale-arbeit-gesundheitund-pflege/forschung/projekte/abgeschlossene-projekte/partizipation-sozialpsychiatrie.html
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
272
Daran schließt eine Darstellung von Erhebungen und Einschätzungen zur Umsetzung von
Partizipation in der Sozialpsychiatrie an. Seit der Psychiatriereform werden aus der sozialpsychiatrischen Praxis heraus Modelle, Methoden und Handlungspraxen entwickelt, welche das
Ziel einer größeren Beteiligung und Mitbestimmung von Psychiatrie-Erfahrenen an ihrem
Hilfeprozess verfolgen. Das Kapitel 2.3. versucht die verschiedenen Ideen auf dieser Ebene
zusammenzutragen.
2.1.
Partizipationsbegriffe
Partizipation wird oftmals als selbstverständlicher Begriff verwendet, der keiner weiteren Erklärung bedarf. Der Sinn wird jedoch sehr unterschiedlich gedeutet. Partizipation bedeutet für
Strassburger und Rieger (2014) beispielsweise ganz allgemein, an Entscheidungen mitzuwirken und damit Einfluss auf das Ergebnis nehmen zu können. Partizipation basiert demnach
auf klaren Vereinbarungen, auf Basis derer eine Entscheidung gefällt wird und der Gültigkeitsbereich des Rechts auf Mitbestimmung definiert wird (vgl. Strassburger&Rieger 2014, S.
230). Diese Definition grenzt Partizipation von Formen der Beteiligung ab, bei denen die
Meinung der Mitwirkenden keine Auswirkung auf das Ergebnis einer Entscheidung hat oder
bei denen nicht sicher ist, inwiefern ihre Meinung in den Entscheidungsprozess einfließt.
Im Kontext Sozialer Arbeit definiert Stefan Schnurr (2005) Partizipation als „das Ziel einer
Beteiligung und Mitwirkung der Nutzer (Klienten) bei der Wahl und Erbringung sozialarbeiterischer/ sozialpädagogischer Dienste, Programme und Leistungen." (Schnurr 2005, S.
1330, Hervorhebung im Original). 2 Verschiedene Formen von Partizipation, welche grundsätzlich von einer Machtasymmetrie zwischen Nutzer_innen und Anbieter_innen bestimmt
sind, findet Schnurr in dem Stufenmodell von Arnstein 1969 passend dargestellt:
2
Die theoretische Begründung einer erweiterten Nutzer_innenpartizipation liegt nach Schnurr in Demokratieund Dienstleistungstheorien. Partizipatorische Demokratietheorien, welche den Begriff für Soziale Arbeit prägen, sehen in der Beteiligung das Element für politische und soziale Integration, welches einen Eigenwert hat,
anstatt für Machtverhältnisse ein Instrument zu sein. Mit dienstleistungstheoretischen Veränderungen professionellen Handelns ist die Seite der Nutzer_innen gegenüber der Anbieterseite gestärkt und ihre Autonomie betont
worden. Partizipation bzw. Mitwirkung der Nutzer_innen, welche an den Bürgerstatus anknüpfen, ist eine Voraussetzung für gelingende Dienstleistungen, im Gegensatz zu eher konsumeristischen Dienstleistungen (vgl.
Schnurr 2005, S. 1330–1336).
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
273
• 1. Manipulation
• 2. Therapie (in Abgrenzung von einer Befähigung zur Beteiligung)
Nicht-Beteiligung
Schein-Beteiligung/
Alibi-Beteiligung
Verortung der Macht bei
Bürger_innen
• 3. Information
• 4. Konsultation/Beratung/Anhörung
• 5. Beschwichtigung
• 6. Partnerschaft (Beteiligung in Aushandlungssystemen)
• 7. Übertragung von Macht an die Bürger (Bürger besitzen
Entscheidungskompetenzen für bestimmte Planungsabschnitte/Programme)
• 8. Kontrolle durch Bürger (Bürger besitzen volle Entscheidungskompetenz)
Abb 1: Arnsteins Stufenmodell der Partizipation, eigene Darstellung nach Schnurr 2005:
1336
In der Unterscheidung verschiedener Ebenen sieht, Schnurr den größten Mangel und die größte Diskrepanz zwischen der Folgenhaftigkeit von Entscheidungen und Partizipationsmöglichkeiten der Nutzer_innen auf Ebene der Einzelfallentscheidungen. Dort geht Mitwirkung kaum
über eine passive Beteiligung der Nutzer_innen hinaus und sind kaum verfasste Partizipationsmöglichkeiten entwickelt. Soziale Arbeit, so Schnurr; hat daher ebenfalls die Aufgabe,
Fähigkeiten zu Partizipation zu stützen und sich an der Demokratie- und Moralerziehung zu
beteiligen. Schnurr fordert zusammenfassend eine rechtliche Verankerung von Partizipation
für Nutzer_innen, welche unbedingt mit einer Veränderung hin zu partizipativen Organisationskultur einhergehen soll (vgl. Schnurr 2005, S. 1338–1343). Für eine Idee Kritischer Professionalisierung Sozialer Arbeit (vgl. Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2016) liegt
eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Partizipation daher nah.
Die in der Sozialpsychiatrie nicht erst mit der UN-BRK diskutierten Konzepte von Teilnahme
und Teilhabe als zwei unterschiedliche Formen von Partizipation als Handlungs- und Organisationsprinzip definiert Albert Lenz wie folgt:
„Die Teilnahme-Strategien beruhen in ihrem Kern auf dem ‚Top-down‘-Modell. Das heißt, die Probleme und Ziele werden nicht von den Betroffenen, sondern im Wesentlichen von ExpertInnen identifiziert
und definiert." (Lenz 2006, S. 13) Teilhabe geht darüber hinaus, denn: „Die Teilhabe beruht dagegen
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
274
auf sogenannte ‚Bottom-up‘-Strategien. Ausgehend von ihren individuellen Bedürfnissen, Problemen
und spezifischen Ressourcen übernehmen in diesem Ansatz die Betroffenen, entsprechend ihrer Fertigkeiten und Kompetenzen, von Anfang an Verantwortung für das weitere Vorgehen." (ebd., S. 13)
Da Lenz feststellt, dass die Diskussion um Partizipation vor allem auf einer Handlungsebene
stattfindet, plädiert er für eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Prinzip und diskutiert die psychologische Bedeutung von Partizipationserfahrungen auf Bewältigungsverhalten
von Personen (vgl. Lenz 200, S. 14). Er betrachtet Partizipation also aus der Ressourcenperspektive:
„So gibt es deutliche Hinweise, dass Partizipation im Sinne von Teilhabe und Teilnahme an Entscheidungsprozessen, Möglichkeiten des aktiven Gestaltens und der aktiven Einflussmaßnahme eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung bzw. Stärkung und Aktivierung personaler Ressourcen wie Kontrollüberzeugung, Selbstwirksamkeitserwartung, Widerstandsfähigkeit und Kohärenzgefühl schafft."
(Lenz 2006, S. 30)
Besonders hebt er den Zusammenhang zwischen Partizipationserfahrungen und dem Kohärenzgefühl hervor, welches nach dem salutogenetischen Modell von Antonovsky einen Einfluss auf die psychische Gesundheit, die Stresswahrnehmung und die Krankheitsverarbeitung
hat. Übertragen auf die Handlungsebene psychosozialer Arbeit empfiehlt Lenz daher die Arbeitsweisen der Gemeindepsychologie, wie beispielsweise das Empowerment-Konzept. (Vgl.
Lenz 2006, S. 30–32) Diese Sinnzuschreibung bietet sich also besonders für sozialpsychiatrische Handlungsfelder an und verweist auf die Notwendigkeit einer theoretischen Auseinandersetzung mit Partizipation, wie sie hier im Text erfolgt.
Zusammenfassend zeigt die vorangegangene Skizzierung exemplarischer Partizipationsverständnisse, wie Partizipation in unterschiedlicher Weise von einer bloßen Beteiligung abgegrenzt wird und weitere Aspekte wie Entscheidungsmacht, Bedürfnisorientierung und Selbstwirksamkeitserfahrungen hinzu gedacht werden. Ebenso scheint Partizipation auf verschiedenen Ebenen gedacht zu werden, als konkrete Handlungsidee, politische Kategorie oder theoretische Dimension im Prozess der Professionalisierung. Bevor der Zusammenhang von Kritischer Professionalisierung und Partizipation anhand der Forschungsergebnisse dargestellt
wird, drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, wie die Umsetzung von Partizipation aus der
Perspektive der Menschen mit Psychiatrieerfahrung und weiterer Akteur_innen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern bisher eingeschätzt wird.
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
275
2.2.
Zur aktuellen ‚Lage der Partizipation‘
Die Einschätzung folgt von Andreas Heinz zunächst sehr eindeutig und umfassend:
„Menschen mit psychischen Erkrankungen sind zu wenig beteiligt an der Leistungsgestaltung, Leistungsbewilligung, Leistungsdurchführung, der Gestaltung des Sozialraumes und der Gesetzgebung."
(Heinz 2013, S. 42)
Tatjana Reichhart, Werner Kissling, Elfriede Scheuring und Johannes Harmann (2008) analysierten mehrere Studien- und Forschungsergebnisse zum Thema Partizipation PsychiatrieErfahrener und belegen in ihrer Literaturrecherche für die psychiatrische Behandlung, dass
eine gelungene Einbeziehung von Patient_innen in Entscheidungen zu einem besseren Behandlungsergebnis in der Psychiatrie führen. Nach Aussage der Autor_innen haben psychiatrische Patient_innen ebenso wie somatische Patient_innen den Wunsch nach Mitbestimmung
bzw. nach Information, Aufklärung und Beteiligung an wichtigen Entscheidungen, vor allem
bezüglich der Medikamentenauswahl. Andererseits, so die Rechercheergebnisse der Forscher,
gibt es auch Patient_innen, die nicht beteiligt werden wollen, weshalb grundsätzlich der Wille
der Einzelnen zu berücksichtigen ist. Über die Aussagen einzelner befragter Patient_innen
hinaus zeigtt ihre Studie, dass vor allem Betroffenenverbände, wie zum Beispiel Aktion psychisch Kranke e.V. (APK) und der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE) Beteiligung auf politischer und institutioneller Ebene fordern. (Vgl. Reichhart et al. 2008, S. 112–
113)
Dass Partizipationsansätze bisher von Adressat_innen als sehr wenig umgesetzt erlebt werden, wird in der quantitativen Studie zum Konzept des „Responsiveness“ 3 in ambulanten und
stationären Betreuungssettings der Psychiatrie von Anke Bramesfeld, Susanne Bisson, Felix
Wedegärtner, Stefan Bartusch und Jan Blanchard (2010) deutlich. Die Forscher_innen fanden
heraus, dass die befragten Adressat_innen die Aspekte „Wahlmöglichkeit" und „Partizipation" als am schlechtesten umgesetzt bewerten. Dabei ist interessant, dass die Befragten aus
dem ambulanten Setting Partizipation sehr hoch gewichten, während im stationären Bereich
das Thema als nicht sehr wichtig bewertet wird (vgl. Bramesfeld et al. 2010, S. 776–777).
3
Konzept der WHO zur Überprüfung der Erfüllung der Aspekte „Patientenorientierung" und „Respekt
vor der Person" im Gesundheitswesen.
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Ein
großes
Forschungsprojekt
Eingliederungshilfemaßnahmen
ist
276
zur
das
Teilhabe
Projekt
Psychiatrie-Erfahrener
BAESCAP
(Bewertung
in
aktueller
Entwicklungen der sozialpsychiatrischen Versorgung auf Basis des Capabilities-Approaches
und der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen) eines Forschungsverbandes in
Hamburg. Hier wurden Teilhaberisiken und -chancen bei Menschen mit chronisch
psychischen Erkrankungen in der Eingliederungshilfe erforscht (vgl. Daum, Höptner, Speck,
Steinhart 2017, S. 108). Teilhabe wird im Projekt als Befähigung verstanden und mit dem
Capability-Approach theoretisch gerahmt (vgl. Baumgardt, Daum, von dem Knesebeck,
Speck, Röh 2017, S. 2). Die Forschungsfrage, wie Klient_innen der Eingliederungshilfe ihre
individuellen Teilhabechancen bewerten, beantwortet das Forschungsteam wie folgt (vgl.
Speck 2017, S. 35):
•
Zum Thema Teilhabe ist mit den Menschen selbst zu sprechen, um qualifiziert und
differenziert über Teilhabe berichten zu können
•
Selbstbestimmung und Peer-Arbeit sind weiterhin „offene Baustellen“ (ebd., S. 35)
•
Menschen mit Eingliederungshilfebezug haben vielfältige Teilhabeeinschränkungen in
den Bereichen: „soziale Kontakte, Gesundheit, Zugang zu Bildung und Arbeit,
Digitale Teilhabe“ (ebd., S. 35)
•
Die Biografien wesentlich seelisch behinderter Menschen sollten deutlicher in den
Vordergrund gestellt werden, um frühe Erkrankungen und die Folgen in den Blick zu
bekommen
•
Teilhabechancen in Heimen werden subjektiv hoch bewertetet, daraus folgern sie, dass
Unterstützungssicherheit in der eigenen Wohnung verbessert werden müsste
•
Insgesamt wird festgestellt, dass ambulante Unterstützungssysteme neu gedacht
werden müssten
Auf eine stets andauernde paternalistische Haltung der Sozialpsychiatrie als Grund für eine
mangelhafte Orientierung am Prinzip Partizipation weist Asmus Finzen (2011) hin. Er diagnostiziert, dass die gewalttätigen und unterdrückenden Zeiten der Psychiatrie heute zwar vorbei sind, es aber trotzdem weiterhin überzeugte Haltungen unter Professionist_innen gibt,
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
277
welche eine Selbstbestimmung Psychiatrie-Erfahrener aufgrund ihrer Erkrankung für unmöglich erachten:
„Geblieben aber sind Haltungen und Vorstellungen, die darauf hinauslaufen, dass hospitalisierte psychisch Kranke ihr Schicksal angeblich nicht selbst bestimmen könnten. Dass sie nicht zu selbstständigen Entscheidungen fähig seien, da sie keine Einsicht in ihre Krankheit haben und dass man deshalb für
sie handeln müsse." (Finzen 2011, S. 11)
Vor allem dann, wenn es um Selbst- und Fremdgefährdung geht, sind die Grenzen der Partizipation schnell erreicht – so das Argument vieler. Damit wäre Partizipation also keine grundsätzliche Dimension sozialarbeiterischen Handelns, sondern eine zusätzliche Möglichkeit,
wenn keine Gefährdung vorliegt. Michael Wunder (2013) beschreibt dazu das Dilemma von
Selbstbestimmung bzw. Teilhabe Psychiatrie-Erfahrener am Beispiel von Zwangsbehandlungen. Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention „Gleiche Anerkennung vor dem Recht" 4
ist nach Wunder so auszulegen, dass Menschen auch in akuten psychotischen Krisen rechtsund handlungsfähige Personen sind und auch bei Geschäftsunfähigkeit einen „rechtsbeachtlichen, natürlichen Willen" (Wunder 2013, S. 33) haben. Dieser darf nach genannter Konvention nur dann mit Zwang gebrochen werden, wenn Grundrechte dieser oder anderer Personen
bedroht sind und dies nicht mit anderen Mitteln abgewendet werden kann. Die bundesdeutsche Rechtslage, so Wunder, argumentiert hingegen, dass der Wille durch die Erkrankung so
verändert sein kann, dass der Wille „unfrei und unbeachtlich" (ebd., S. 33) ist und durch die
Zwangsmaßnahme erst wieder ermöglicht werden soll. Wunder weist darauf hin, dass bei
Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie eine Trennung zwischen Repression- und Schutzhandeln nicht klar möglich ist (vgl. Wunder 2013, S. 24–35). Psychiatrie-Erfahrene selbst weisen
ebenfalls darauf hin, dass ihnen durch Professionist_innen die „grundsätzliche Befähigung zur
Mitwirkung" (Prins 2005, S. 9) abgesprochen wird. Sibylle Prins sieht darüber hinaus die
Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Partizipation dadurch begründet, dass ein Abhängigkeitsverhältnis von Adressat_innen in einer Einrichtung zu sozial erwünschtem Verhalten
führt und ein höherer Aufwand und mehr Reibungspunkte durch die Einforderung von Teilnahme und Teilhabe vermieden würden. Partizipation setzt laut Prins außerdem voraus, dass
4
Zum Nachlesen: Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen 2009 a:
Alle inklusive! Die neue UN-Konvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmte Übersetzung. Berlin., S. 16.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
278
die Inhalte, Sprache und Arbeitsformen in Gremien angepasst , der finanzielle Mehraufwand
für Zeit- und Reisekosten geklärt und die Beteiligung Psychiatrie-Erfahrener nicht nur ehrenamtlich organisiert, sondern auch Finanzierungsmodelle entwickelt werden müssten. Oftmals,
so Prins, handelt es sich nur um eine „Pseudo-Beteiligung", was auch daran liegt, dass Partizipation bisher wenig rechtlich festgeschrieben ist. (Vgl. Prins 2005, S. 9–10).
Vor diesem Hintergrund muss die konkrete partizipatorische Praxis auf der Grundlage der
ausformulierten Menschenrechte in der UN BRK weiterhin stets ausgehandelt und vor allem
in Spannungsfeldern gedacht werden – wie im hier vorliegenden Text.
Nach einer zusammenfassend bisher wenig grundsätzlich entwickelten Praxis und Haltung zu
Partizipation werden nun ein paar Beispiele zusammengefasst, welche Ideen es für Partizipationskonzepte in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern geben kann.
2.3.
Beispiele praxisbezogener Partizipationskonzepte
Aus der Betroffenenperspektive heraus betrachtet fertigte Sibylle Prins (2005, S. 8-9) eine
ausführliche Liste möglicher und nötiger Betroffenenbeteiligung auf unterschiedlichen Ebenen an:
1. Individuelle Behandlungs- und Betreuungsebene
•
Rückmeldungen
einholen
und
ernst
Beschwerdekästen/ Fragebögen),
•
Behandlungsvereinbarungen abschließen,
•
selbstbestimmte Arzt- und Klinikwahl,
•
Beschwerdestelle,
•
Rechtsweg
nehmen
(informell/formell;
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
279
2. Institutionelle Ebene
•
Versammlungen
•
Heimbeirat/Werkstattrat
•
Klientensprecherrat
•
Beirat in anderen Institutionen z.B. Klinik, Krisendienst
•
Teilnahme an einrichtungsinternen Gremien
•
Einstellung Psychiatrie-Erfahrener zur Beratung Betroffener
3. Nicht einrichtungsgebundene Gremien/Ebene
•
Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften
•
Hilfeplankonferenzen
•
regionale Beiräte,
•
gemeindepsychiatrische Verbünde,
•
überregionale Verbände,
•
Besuchskommissionen
•
Psychiatrie-Erfahrene als Lehrende in der Ausbildung
•
Beteiligung Psychiatrie-Erfahrener an Forschung
Jörg Utschakowski (2013) beschreibt ergänzend das Konzept „EX-In“ (Experience
Involvement) als ein aktuelles Beispiel für praktizierte Partizipation Psychiatrie-Erfahrener. In
einer
EX-In-Ausbildung
können
seit
2005
Psychiatrie-Erfahrene
als
Genesungsbegleiter_innen oder Dozent_innen ausgebildet werden, um anschließend in
verschiedenen
sozialpsychiatrischen
Bereichen
wie
zum
Beispiel
Tageskliniken,
Krisenhäuser, Hometreatment, ambulante psychiatrische Pflege, Wohnheime, betreutes
Wohnen, Tagesstätten arbeiten zu können. Dies berührt laut Utschakowski zwei Ebenen von
Partizipation: Einerseits wirde die Partizipation von Adressat_innen der jeweiligen Hilfen
gestärkt, weil sie sich durch gelingendere Kommunikation sowie besseren Vertrauensaufbau
stärker in den Behandlungsablauf einbringen können und somit angemessenere Unterstützung
bekommen – außerdem steigt die Qualität der Angebote. Andererseits ermöglicht die Arbeit
als Genesungsbegleiter_in auch eigene Partizipationserfahrungen, wenn die als Ex-Inler
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
arbeitenden
Menschen
sich
als
kompetent
280
erleben,
als
Expert_innen
mit
dem
Erfahrungswissen in der Organisation integriert und respektiert werden und mit einer
Berufstätigkeit am Arbeitsleben teilhaben. (Vgl. Utschakowski 2013, S. 226–231)
Die Forschungsarbeit Andrea Dischlers (2010) beschäftigt sich mit der Frage, ob „sich durch
Freiwilligenarbeit die gesellschaftliche Integration und Teilhabe von Menschen mit
Psychiatrie-Erfahrung“ (Dischler 2010, S. 96) verbessert. Mit einem rekonstruktiven
Forschungsdesign ermittelt Dischler die subjektbezogene Sinnhaftigkeit und Angemessenheit
von Freiwilligenarbeit für Psychiatrie-Erfahrene. Eingebettet in eine historische Rückschau
der Funktionalisierung von Arbeit in der Psychiatrie für unterschiedliche Zwecke (Strafe,
Unterdrückung, Zeitvertreib, Ablenkung vom Leid und systemisch-therapeutischer Zweck)
arbeitet sie heraus, dass Freiwilligenarbeit für Psychiatrie-Erfahrene eine Möglichkeit ist,
ihrem Wunsch nach Tätigsein nachzukommen. Dies liegt nach Dischler vor allem daran, dass
die zeitliche und inhaltliche Ausrichtung sehr flexibel ist und daher gut an die Person der/des
Freiwilligen angepasst werden kann. Entgegen der bundesweit ermittelten großen
Engagementbereiche
von
Freiwilligen
(Sport/Bewegung,
Schule/Kindergarten,
Kirche/Religion) engagieren sich laut Dischler Psychiatrie-Erfahrene-Freiwillige eher in
sozialen, kulturellen oder politischen Bereichen. Dabei sind weniger Vereine oder Kirchen für
sie interessant, sondern vielmehr Selbsthilfegruppen, Initiativen, Projekte oder selbst
organisierten Gruppen. Motive für das freiwillige Engagement Psychiatrie-Erfahrener sind, so
Dischler, der Wunsch nach Kontakt mit Menschen, die Nähe zur Erwerbstätigkeit und
Sinnhaftigkeit des Tätigseins. Dischler rahmt diese Motivationen eindrücklich mit den
Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen Psychiatrie-Erfahrener und ihrem erlebten
Bruch einer Erwerbsarbeits-Biografie, die häufig mit der Psychiatrie-Erfahrung in
Verbindung steht. (Vgl. Dischler 2010, S. 45–241) Inwiefern Partizipation als Kritikfolie für
die Bedeutungszuschreibung von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit sowie Tätigsein in der
Psychiatrie genutzt werden kann, gilt es vor diesem Hintergrund genauer herauszuarbeiten.
Das Konzept des Trialogs meint die gleichberechtigte Teilnahme am Diskurs zu psychischen
Erkrankungen von Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Professionist_innen und kann
somit als das am längsten mit der Sozialpsychiatrie verbundene Partizipationskonzept gesehen
werden. Mit den Hamburger Psychose-Seminaren ab 1989 begann der Versuch eines „ansatzweise herrschaftsfreien Diskurs[es]" (Bock 2012, S. 368) zwischen Erfahrenen, Angehörigen und Professionist_innen mit dem „Bemühen um eine gemeinsame Sprache und einen
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
281
Versuch wechselseitige Vorurteile zu überwinden" (ebd., S. 368). Gemeinsam sollte das Ziel
verfolgt werden „Psychosen wieder in ihrer individuellen Vielfalt und subjektiven Bedeutung
sowie im sozialen/familiären Zusammenhang wahrzunehmen und entsprechend den Blick auf
höchst verschiedene Hilfebedarfe zu öffnen." (ebd., S. 368) Dies kann als außerinstitutionelle,
subjektorientierte Antwort auf die beschriebenen verdinglichten Umstände in unterdrückenden Institutionen der Psychiatrie verstanden werden. Das Miteinander-Sprechen erlangt vor
dem Hintergrund der „sprachlosen Psychiatrie" (ebd., S. 369) im Nationalsozialismus seine
besondere historische Bedeutung. Der verbandliche Trialog war ab 1992 möglich; zu diesem
Zeitpunkt gründete sich der Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen. Interessanterweise
hat sich der Bundesverband der Angehörigen schon zehn Jahre zuvor konstituiert, die Professionist_innen fanden sich aus der 1968er-Bewegung heraus in der Deutschen Gesellschaft für
soziale Psychiatrie zusammen. Bock differenziert zusammenfassend drei Gründe, auf Basis
derer er einen Einbezug von Angehörigen für eine partizipatorische Sozialpsychiatrie in Form
des Trialogs befürwortet (vgl. ebd., S. 376):
1. Angehörige sind von psychischer Erkrankung mitbetroffen
2. Angehörige sind wichtig für Integration und nachhaltige Genesung
3. Psychiatriepolitische Reformen haben größere Chancen, wenn sie von Angehörigen
und Psychiatrie-Erfahrenen gemeinsam vorwärts gebracht werden.
Bock weist jedoch darauf hin, dass eine aktive Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen an
ihrer Behandlung nicht zu jedem Zeitpunkt angemessen sein muss, sondern in bestimmten
Situationen eben auch eine „haltende[] Geborgenheit" (ebd., S. 367) von Nöten sein kann.
Dass die medizinische Unterwerfung einer einseitigen Compliance von PsychiatrieErfahrenen als Gegenteil von Partizipation verstanden werden kann, führt Bock eindrücklich
aus: Die in der »Psychoedukation« immer noch übliche Dominanz medizinischer Sprache sei
lediglich darauf ausgerichtet, dass Psychiatrie-Erfahrene Einsicht in ihre Erkrankung erhalten,
um anschließend mit der Behandlung beginnen zu können. Dies bedeutet eine Stützung der
Asymmetrie zwischen herrschenden Professionist_innen und Information empfangenden Psychiatrie-Erfahrenen. (Vgl. Bock 2012, S. 367). Schließlich unterscheidet Bock zwischen innerer und äußerer Partizipation. Mit innerer Partizipation meint er die „Wiederaneignung des
krankhaft Erlebten" (ebd., S. 370) eines Menschen in sich selbst. Äußere Partizipation ist
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
282
dann die gelebte Beteiligung und Selbstbestimmung in Bezug auf die »Behandlung« der Erkrankung.
Die Rekonstruktion des »subjektiven Sinns« von Psychosen, die im Hamburger Projekt
„SuSi“ von Thomas Bock, Kristin Klapheck und Friederike Ruppelt beforscht wurde, macht
die Relevanz der subjektiven Erzählung der psychischen Befindlichkeit und den dadurch
möglichen Bildungsprozessen deutlich (vgl. Bock, Klapheck &Ruppelt 2014).
Aus dem klinischen Handlungsfeld heraus nennen Reichhart et al für die psychiatrische Behandlung von Patient_innen in ihrer Metastudie folgende Praxisbeispiele für Partizipation
(vgl. Reichhart et al. 2008, S. 113–116):
•
qualitative,
verständliche
und
evidenzbasierte
(mit
Forschungsgrundlage)
Informationen über psychische Störungen zur Verfügung stellen, z.B. im Internet,
•
„shared-decision-making“ (Geteiltes-Entscheidungen-Finden): führt nach Studien bei
psychiatrischen Patient_innen zu einer reduzierten Rehospitalisierungsrate, einem
besseren Wissen über die Erkrankung, bessere Zufriedenheit und Therapietreue, ist
allerdings noch nicht weit in der Praxis verbreitet.
•
Patientenfürsprecher_innen und Beschwerdestellen
•
„Peer-Counseling“:
Patientensprechstunde;
von
zeigt
ausgebildeten
bei
Psychiatrie-Erfahrenen
schizophren
Erkrankten
eine
geleitete
„signifikante
Veränderung des Krankheitskonzepts in Richtung bessere Compliance" (Reichhart et
al. 2008, S. 116).
•
Nutzer_innenbeteiligung in der Forschung: wird vor allem in Großbritannien positiv
erlebt und auch in der Bundesrepublik Deutschland wird Patientenbeteiligung bei der
Entscheidung für die Vergabe von Forschungsmitteln mit einbezogen
•
Persönliches Budget
Ebenfalls im klinischen Kontext können Behandlungsvereinbarungen oder Patient_innenTestamente Hilfen bei der Achtung des Willens der Adressat_innen sein, so Wunder (2013, S.
34-35).
Er
weist
jedoch
darauf
hin,
dass
sie
nicht
grundsätzlich
aus
dem
Entscheidungsdilemma herausführen, da auch in diesen Vereinbarungen/Verträgen nicht
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
283
genau der eingetroffene Sachverhalt beschrieben sein kann, denn: Situationen können nicht
exakt vorgeplant werden. Daher kann immer zur Debatte stehen, in welcher Verfassung die
Person bei der Verschriftlichung war und dass diese Konzepte bei Ersterkrankten selten zum
Einsatz kommen können. In Bezug darauf analysierten Juliane Grätz und Peter Brieger
zwischen 2005 und 2007 die Implementierung von Behandlungsvereinbarungen in einer
psychiatrischen Klinik sowohl quantitativ als auch qualitativ und befragten entsprechend des
dialogischen Konstrukts der Behandlungsvereinbarung alle Beteiligten (Patient_innen,
Ärzt_innen
und
Sozialarbeiter_innen).
Ihre
Studie
ergab,
dass
die
Behandlungsvereinbarungen grundsätzlich einen positiven Effekt auf die Beziehung zwischen
den Beteiligten haben und damit die Partizipation an den Behandlungsprozessen gefördert
wurde. Konkrete Effekte auf Zwangsmaßnahmen konnten allerdings nicht nachgewiesen
werde, wobei dies und die Nebenwirkungen von Medikamenten der häufigste Grund für die
Betroffenen war, eine Behandlungsvereinbarung abzuschließen. Allerdings wird darauf
hingewiesen, dass nur sehr wenige Psychiatrie-Erfahrene eine Behandlungsvereinbarung
abschließen und es in dieser Studie vor allem gut im Versorgungssystem vernetzte und
emanzipierte Personen waren. Daher sehen Grätz und Brieger einen Aufklärungsauftrag bei
Selbsthilfe- und Begegnungsstätten sowie anderen psychosozialer Einrichtungen. (Vgl. Grätz
und Brieger 2012, S. 388–393)
Aus der Klinik heraus, auf die sozialpsychiatrische Arbeit in Einrichtungen von
Wohlfahrtsverbänden blickend, können die Ideen von Christel Achberger (2006)
herangezogen werden, die aus einem langjährigen Projekt des PARITÄTISCHEN
Wohlfahrtsverbands entwickelt wurden, welches gemäß dem strategischen Ziel des Verbands
die Stärkung von Nutzer_innen forcieren wollte. Zusammenfassend stellt Achberger fest, dass
bei der Umsetzung von Partizipation auf Verbandsebene verschiedene Zielgruppen
berücksichtigt und miteinander vernetzt sein müssen: Dazu zählen das Management der
Verbände,
Mitarbeiter_innen,
Wohlfahrtspflege
und
Nutzer_innen,
Sozialpolitiker_innen.
Vertreter_innen
Zwischen
diesen
der
öffentlichen
Akteur_innen
sind
verschiedene organisationale Prozesse auszuhandeln, wie beispielsweise Leitbildprozesse,
Organisationsentwicklung, Konzeptentwicklung, Qualitätsmanagement, interne und externe
Beschwerdeverfahren, Fortbildung, Personalentwicklung und Bürger_innenbeteiligung.
Beteiligungsverfahren sind in der Definition von Art und Weise der Beteiligung (Information,
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
284
Anhörung, Mitsprache, Mitbestimmung) für einzelne Einrichtungen zu vereinbaren 5. (Vgl.
Achberger 2006, S. 55ff.) Daran knüpft die Evaluation der Einführung von „Mindeststandards
zur KlientInnenbeteilgung" von Cornelia Frieß und Marcus Hußmann (2005) an, die in
ambulanten und stationären Einrichtungen einer sozialpsychiatrischen Organisation
durchgeführt wurde. Auch bei den Mindeststandards dieser Einrichtungen ist Partizipation in
drei Stufen aufgeteilt worden, welche für unterschiedliche Prozesse im Alltag gemeinsam
festgelegt
wurden:
Information,
Mitberatung
und
Mitbestimmung.
Zu
diesen
Mindeststandards halten Frieß und Hußmann vier zentrale Ergebnisse fest:
1. Beteiligung ist ein vorsichtiger (Wieder-)Aneignungsprozess, welcher einer subjektorientierten Anwendung bedarf, da Nutzer_innen und Professionist_innen unterschiedliche soziale Realitäten und Erfahrungen diesbezüglich haben.
2. Professionist_innen fühlen sich in ihrer Professionalität herausgefordert und befürchten Machtverluste dahingehend, dass sie zu ausschließlichen Dienstleister_innen
werden und ihre Fachlichkeit nicht mehr einbringen können. Die befragten Nutzer_innen beschreiben, dementsprechend letztlich doch nicht selbst Entscheidungen
treffen zu können, sondern die Mitarbeiter_innen weiterhin die letzten Entscheidungen
träfen.
3. Konkrete positive Erfahrungen mit den Mindeststandards sind Situationen, in welchen es gelungene Auseinandersetzungen gegeben habe, mit „dem Austausch von Argumenten, der gegenseitigen Verständigung über unterschiedliche Sichtweisen, dem
Aushandeln von Handlungsalternativen und einem offenen Ohr für Beschwerden oder
Anregungen" (Frieß und Hußmann 2005, S. 35)
4. Die Mindeststandards bringen ebenfalls Veränderungen auf struktureller Ebene der
Organisation, da Nutzer_innen sich in Organisationsstrukturen einmischen konnten,
gleichzeitig jedoch ebenfalls an „unüberwindliche(.) institutionelle(.) Grenzen" (ebd.,
S. 35) stießen. Auf dieser Ebene ist insbesondere der eingerichtete Klient_innenrat
hilfreich, welcher als Ombudsstelle fungiert und vermittelnd oder stellvertretend mit
den Professionist_innen kommuniziert.
5
Das Beispiel einer konkreten Einrichtung führt Achberger in ihrem Text weiter aus und kann dort
nachgelesen werden.
285
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
Insgesamt hat die Einführung der Mindeststandards das Maß an Partizipation gesteigert, sodass die Autor_innen folgern, dass für die Stärkung der Nutzer_innenbeteiligung die gemeinsame Entwicklung und Einführung von Mindeststandards und deren die Umsetzung in der
alltäglichen Kommunikation zwischen Professionist_innen und Nutzer_innen zu empfehlen
ist. Für die Nutzer_innen ist dabei der menschliche Aspekt des respektvollen und konstruktiven Umgangs mit Konflikten am wichtigsten. (Vgl. Frieß und Hußmann 2005, S. 34–35)
Welche professionstheoretischen und normativen Bezüge für eine Aushandlung dieser Beteiligungsprozesse für professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit in konkreten Einzelfällen
herangezogen werden könnten, wird jedoch nicht ausgeführt. Christina Tappe (2015) argumentiert in ihrem Text aus der Perspektive eines Verständnisses Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession heraus, dass Teilhabe ein Menschenrecht und daher zweifelsfrei Aufgabe der Sozialen Arbeit ist (Tappe 2015, S. 91). Dabei argumentiert sie, dass Partizipation in
den Qualitätsdiskurs Sozialer Arbeit eingebracht werden muss, um den „Erfolg“ Sozialer Arbeit zu erhöhen: „Insofern wird der Erfolg der Sozialen Arbeit an den gebotenen Möglichkeiten von Partizipation gemessen.“ (Tappe 2015, S. 99) Diese gebotenen Möglichkeiten in der
Sozialpsychiatrie bedeuten für Tappe, psychosoziale Interventionen (Empowerment-Modell,
Recovery-Konzept, Weddinger Modell) durchzuführen, welche Psychiatrie-Erfahrene zur
Partizipation befähigen. Mit einem wichtigen Hinweis der stärkeren Diskussion von Partizipationsmöglichkeiten bleibt Tappe jedoch in einem funktionalistischen Diskurs verhaftet, der
Partizipation als Weg zu einem zu definierenden Ziel versteht. Immanent kritisiert bleibt Tappe damit hinter ihrem Anspruch zurück, Partizipation von „Psychisch Erkrankten" in Wechselwirkung zwischen Subjekt und Gesellschaft zu verstehen, da sie mit ihrer Lösung von Interventionsmöglichkeiten auf der Ebene der Adressat_innen Sozialer Arbeit sieht und den
Diskurs um Partizipationsfähigkeit führt, der letztlich individualisiert.
Mit Blick auf die Strukturen des sozialpsychiatrischen Versorgungssystems beschreibt
Manfred Lucha (2013) am Beispiel eines Gemeindepsychiatrischen Verbunds, wie unter der
Beteiligung von Politik, Professionist_innen und Betroffenen die Psychiatrielandschaft
gemeinsam gestaltet werden kann. Zu den Erfolgen zählt er beispielsweise die Verwendung
des mit Betroffenen entwickelten Instruments IBRP (Integrierter Behandlungs- und
Rehabilitationsplan), die hohe Anwesenheit Betroffener in den Hilfeplankonferenzen (15%),
die Einrichtung von Beschwerdestellen, die Förderung der EX-In-Ausbildung und die
Aufnahme kritischer Berichte zu den Entwicklungen von Betroffenen. (Vgl. Lucha 2013, S.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
286
121–125) Da diese Strukturen, z.B. IBB-Stellen, im PsychKHG Baden-Württemberg
festgeschrieben wurden, sind hier nach dem Beispiel einiger Regionen flächendeckend
partizipative Strukturen möglich.
Dass Partizipation nicht eine konkrete Handlung sein kann, sondern vielmehr eine
grundsätzliche Haltung in einem partizipativen Milieu, wird von Luc Ciompi (2011), dem
Gründer der Soteria Bern, vertreten. Die Soteria, eine 1984 gegründete offene therapeutische
Wohngemeinschaft von Menschen, die an einer schizophrenen Psychose leiden, rückt eine
angemessene Milieugestaltung in den Mittelpunkt. Aus den Erfahrungen und Untersuchungen
der Soteria, so Ciompi, ist bekannt, dass die Fähigkeit zur Selbstbestimmung steigt und die
Notwendigkeit von Bevormundung und Zwang sinkt, wenn das Milieu adäquat, klein,
möglichst »normal«, entspannt und reizgeschützt ist. Weiterhin werden diese positiven
Auswirkungen durch respektvollen und einfühlsamen Umgang mit den Menschen unterstützt.
(Vgl. Ciompi 2011, S. 19–21)
Dass das Konzept der Partizipation stets auf seinen ideologischen Gehalt und die Funktionalisierung hin zu kritisieren ist, macht Michael Opielka (2005) noch einmal deutlich, indem er
die sozialpsychiatrischen Prinzipien der Partizipation und der Personenzentrierung auf den
Prüfstand der Funktionalisierung für sozialpolitische Interessen stellt. Er bezieht sich dabei
auf die Soltauer Impulse (2004), welche eine Personenzentrierung aus Gründen der Ökonomisierung für widersprüchlich halten: Instrumente wie der Integrierte Teilhabe- und Rehabilitationsplan (ITP oder IBRP), Persönliches Budget (SGB XII) oder die Hilfeplankonferenz sind
Ausdruck einer zunehmenden Marktorientierung und im Kontext des New Public Managements kommunaler Sozialstrukturen zu verstehen. An dieser Sichtweise der Personenzentrierung scheiden sich nach Opielka die Geister. Zusammenfassend stellt er als Spannungsfeld
von Partizipation fest, dass „eine feine Linie zu ziehen [ist] zwischen zu offen formulierten
Kontrakten einerseits, in denen Profitmotive einfließen und durch Qualitätsminderung Kostenersparnisse erzwungen werden können, und den zu restriktiv formulierten Kontrakten andererseits, durch die eine Kommodifizierung sozialer Hilfe entsteht, welche die Rolle professioneller Praxis schwächt und die Qualität sozialer Dienste mindert." (Gilbert 2000, zit. nach
Opielka 2005, S. 31)
Im Zwangskontext wird häufig die Grenze für Dialog und Partizipation gesehen (vgl. Wunder
2013, S. 24–35; Seckinger 2006, S. 7–9). Zwangsmaßnahmen wie Freiheitsentzug und
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
287
Zwangsbehandlung sind für viele Psychiatrie-Erfahrene zur Realität in klinischen und außerklinischen Institutionen geworden, die Anzahl der Unterbringungen steigt sogar jährlich an.
Darüber hinaus sind auch weitere Praktiken Sozialer Arbeit als Zwang gemeint und/oder werden als Zwang erlebt. Freiheit und Zwang sind Tatbestände sozialen und kulturellen Lebens,
welche durch moderne Gegenwartsgesellschaften dergestalt verändert werden, dass „die sie
lange auszeichnenden Strukturen eines manifesten, in den Biografien sich wiedergebenden
Zwang" (Winkler 2012, S. 146) aufgelöst und die weiterhin vorhandenen Zwangselemente
subtiler werden. In diesem entobjektivierten Alltag finden Individuen keine Aneignungsgegenstände mehr, welche Stabilität erzeugen könnten. Das heißt, die Freiheit ist nicht zu bewältigen und zu gestalten, weil es keinen Gegenstand mehr im Gegenüber gibt. Für professionelle Soziale Arbeit in der Psychiatrie ist es daher notwendig darauf hinzuarbeiten „dass Subjekte aus Freiheit und im Wissen um die Zwänge handeln, welchen sie ausgesetzt sind und die
sie wiederum nutzen können, um ihre Freiheit zu wahren." (Winkler 2012, S. 159) Soziale
Arbeit trifft in diesem Spannungsfeld autonomiefördernde oder integritätsverletzende Entscheidungen.
Aus den vorgestellten Studien und theoretischen Überlegungen ergeben sich viele Anlässe,
sich auf empirischer Grundlage intensiver mit „Partizipation in der Sozialpsychiatrie“ auseinanderzusetzen:
•
Aus der Geschichte einer unterdrückenden, vernichtenden und exkludierenden
Psychiatrie heraus sind Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft als Gegenentwurf stark und stärker zu machen.
•
Psychiatrie-Erfahrene fordern Partizipation schon lange ein, wobei sie die Umsetzung bisher als unzureichend bewerten bzw. Partizipation als Schein wahrnehmen.
•
Partizipation wird vor allem von Psychiatrie-Erfahrenen auf der Einzelfallebene
als relevant markiert und scheint gleichzeitig hier am wenigsten in der konkreten
Fallarbeit berücksichtigt zu werden.
•
Partizipation wird häufig als Methode verstanden, ohne auszuweisen, welches Ziel
oder
welchen
Inhalt
Partizipation
unterschiedlicher Perspektiven bedarf.
haben
könnte
bzw.,
dass
es
dazu
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
•
288
Die Spannungsfelder, welche Partizipation ausmachen, werden bisher wenig
berücksichtigt, da von einem eindimensional zu befürwortenden Projekt
ausgegangen wird
•
Partizipation birgt die Gefahr im Kontext von Ökonomisierungs- und Verbetriebswirtschaftlichungsprozessen 6 zum Zweck des Kostensparens und der Individualisierung von Lebensverhältnissen funktionalisiert und verkürzt zu werden.
Nach dieser zur Nachvollziehbarkeit ausführlichen, aber dennoch nur exemplarisch bleibenden Zusammenschau ist festzustellen, dass die bisher ausgearbeiteten Partizipationskonzepte
hilfreiche Ideen für die Ausgestaltung einer professionellen Praxis darstellen. Jedoch bleibt
Partizipation bisher in »positiven« Beispielen verhaftet, die es weiter auszubreiten gilt und
wird weniger als Kritikfolie einer nicht standardisierbaren Praxis und einer grundsätzlich, sich
selbst und der eigenen Praxis gegenüber, Kritischen Professionalisierung gedacht. Darüber
hinaus fehlen für die Soziale Arbeit außerhalb der Klinik Forschungsergebnisse. An dieser
Stelle setzt das hier zugrundeliegende Forschungsprojekt an. Es geht insbesondere darum, die
Diskussion um Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern zu erweitern und in
den Kontext einer Kritischen Professionalisierung Sozialer Arbeit einzuordnen.
3. Theoretische Vorüberlegungen zu Identität und Partizipation aus der Perspektive
Kritischer Professionalisierung
Wie im Text zur Forschungsmethodik in diesem Band ausführlicher beschrieben, sind wir in
der Rekonstruktion des erhobenen Datenmaterials auf der Suche nach Hinweisen zur Entwicklung eines Partizipationsbegriffs auf induktive Kategorien gekommen, die wir in Verbindung mit den Identitätsdimensionen des Sozialpsychologen und Psychiatriereformers Heiner
Keupp (2002) setzen. Keupps theoretischen Überlegungen zu Identitäten und Identitätsarbeit
seien an dieser Stelle kurz vorgestellt.
6
Zur Auseinandersetzung mit dem umstrittenen Begriff der „Ökonomisierung“ siehe auch: Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2016.
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
289
3.1.
Identität und Identitätsarbeit
Heiner Keupp beschreibt die Arbeit an der eigenen Identität als lebenslange, bewusste und
unbewusste Aushandlung verschiedener Erfahrungen bzw. Anforderungen und die Herstellung eines Passungsverhältnisses. Dafür stehen in spätmodernen Gesellschaften keine eindeutigen Schablonen mehr zu einer Übernahme bereit, sodass ein ständiger Anpassungsprozess
notwendig geworden ist. Identität muss also von jedem Menschen ständig in einer „Nichtstillstellbarkeit der Bewährungsdynamik“ (Oevermann 2008, S. 62) konstruiert werden. Keupp
hat damit eine in der Soziologie und Sozialpsychologie geteilte Annahme zur Identität mitgeprägt, nach der mit Identitätsarbeit der Prozess der Herstellung von Identität, vor allem durch
körperlichen Ausdruck, gemeint ist; dieser verläuft zeitlich nicht kontinuierlich, sondern ist
stets in Wandlung – eine Konstruktionsleistung, mit der Ein- und Ausschluss bestimmter Diskurse (bin ich das – bin ich das nicht…) gemeint sind und durch die sich kollektive und individuelle Identität aufteilen lässt. Keupp spricht außerdem von verschiedenen Identitäten, die
konstruiert und miteinander in Passung gebracht werden müssen (z.B. in Familie/Partnerschaft, Arbeit, Freizeit...).
Identitätsarbeit hat, so Keupp, zwei miteinander verbundene Ausrichtungen: einerseits eine
retrospektive Selbstreflexion im Sinne einer narrativen Einordnung von Erfahrungen. Andererseits entwickeln Individuen Identitätsentwürfe (eher Utopien und Träume), die zu Identitätsprojekten (beschlossene Vorhaben) und dann in der alltäglichen Lebensführung umgesetzt
(Praxis der Projekte) werden. Ein Identitätsentwurf wird durch die Reflexion der vorhandenen
Ressourcen zu einem Identitätsprojekt (vgl. Keupp 2008, S. 193–194). Dabei hate die Arbeit
an der Identität, die Herstellung eines Passungsprozesses zwischen inneren und äußeren Veränderungen und der Einordnung von Erfahrungen auf der zeitlichen, der lebensweltlichen und
der differenzbezogenen Dimension, nicht zum Ziel, ein harmonisches, ganzes „Selbst“ zu
entwickeln, sondern ist, gerade im Gegenteil, durch ein Zusammenhalten von Spannungen
geprägt. Keupp stellt in diesem Sinne fest, „daß die Konstante des Selbst nicht in der Auflösung jeglicher Differenzen besteht, sondern darin, die daraus resultierenden Spannungen zu
ertragen und immer wiederkehrende Krisen zu meistern“ (Keupp 2008, S 196).
Das Gelingen des Identitätsprozesses, also der Übergang zwischen Identitätsentwürfen zu
Identitätsprojekten und der praktischen Umsetzung, hängt von der Wahrnehmung und der
Erschließung der Subjekte von verschiedenen Ressourcen ab. Die Idee der Ressourcen baut
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
290
Keupp hauptsächlich auf den Kapitalsorten von Pierre Bourdieu auf (materielles, kulturelles
und soziales Kapital). Relevant für die Identitätsentwicklung ist jedoch nicht nur das bloße
Vorhandensein der Ressourcen, sondern vielmehr inwiefern dieses Kapital für die Identitätsentwicklung transformiert wird, d.h., wie Menschen das vorhandene Kapital als Optionsraum
(Wahrnehmung vorhandene Möglichkeiten zur Verwendung), subjektive Relevanzstruktur
(Welche Möglichkeiten sind im eigenen Kontext passend/unpassend) und als Bewältigungsressource (wie können Ressourcen für fortlaufende Identitätskrisen genutzt werden) für ihre
Identitätsentwicklung übersetzen (vgl. Keupp 2008, S. 198; 202-204).
Keupp setzt sein Identitätskonzept, verstanden als eine individuell zu leistende Aufgabe, immer in Bezug zu sozialen, d.h. gesellschaftlichen Verhältnissen. Identitätsarbeit kann vor dem
Hintergrund des Ressourcenverständnisses nur in der Auseinandersetzung mit diesen und somit mit anderen Menschen stattfinden und gleichzeitig kann die Anerkennung von Identitätskonstruktionen nur durch andere stattfinden. Dies fasst Keupp in diesem Zitat pointiert zusammen:
„Obwohl Identität «in unserer Kultur monologisch gedeutet» (Keupp 1997b, S. 13) wird, entsteht sie
stets in einem Prozeß dialogischer Anerkennung. Die Verwirklichung individueller personaler Identität,
ihre Anerkennung und ihre Beglaubigung geschehen in sozialen Beziehungen, sowohl auf der Ich-Duwie auch auf kollektiver Ebene. Hier wird Identität wirklich im Sinne von real und im Sinne von wirkend. Quantität und Qualität sozialer Ressourcen sind besondere Herausforderungen und Stützen für
Identitätsarbeit der Subjekte. Am alter ego, insbesondere den signifikanten Anderen, arbeite «ich» mich
mit meiner Identitätsarbeit ab und finde zugleich nur dort die Bestätigung meiner Identitätskonstruktion.“ (Keupp 2008, S. 201)
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
291
Abbildung 1: Keupp 2008: 202.
Für die Identitätsarbeit hat Keupp (2008) auf Basis einer Studie mit jungen Erwachsenenverschiedene Identitätskategorien entwickelt:
•
Identität und Erwerbsarbeit
•
Identität und Intimität
•
Identität und soziale Netzwerke
•
Kulturelle Identität
Dabei sind die verschiedenen Identitätsbereiche ausschließlich zum Zweck der Analyse künstlich voneinander getrennt. Für die Menschen hängen alle Bereiche miteinander zusammen, sie
bedingen sich gegenseitig, durchkreuzen und überlagern sich, ergeben eine paradoxe Einheit.
Dieses Verständnis von Identitäten und Identitätsarbeit eignet sich besonders gut zur Analyse
sozialpsychiatrischer Handlungsfelder. Wir gehen einerseits davon aus, dass es sich bei Identifikation und Identitätsarbeit um bewusste und unbewusste, lebenslange Prozesse handelt, die
besonders in gesellschaftlichen Zeiten in den Mittelpunkt rücken, in denen keine klar umrissenen Schemata zur Übernahme vorhanden sind und es darum geht, stets ein Passungsverhältnis auszuhandeln. Das Selbstbild wird dementsprechend aus unterschiedlichen Lebenserfahrungen fragmentiert zusammengesetzt und ist widersprüchlich (vgl. Liebsch 2016, S. 141).
Diese fragmentarische Zusammensetzung des Selbstbildes bzw. das Nicht-Gelingen einer
Passung dieser widersprüchlichen Elemente kann mit Klaus Dörner als Definition psychischer
Erkrankungen verstanden werden: Dörner verwendet den Begriff der „Störung“ für das, was
medizinisch „psychische Erkrankung“ genannt wird vor dem Hintergrund, dass mit „Störung“
vor allem die Krisenzustände gemeint sind, in denen es um „Tumult, Kampf, Sturm“ (Dörner
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
292
2004, S. 18) geht. Identitätsarbeit besteht stets in diesem Kampf, dessen Auswirkungen auf
Leid und Teilhabe vielleicht bei psychiatrieerfahrenen Menschen am deutlichsten sichtbar
wird.
Das Interesse dieses Textes ist jedoch nicht primär Identitäten Psychiatrie-Erfahrener zu beschreiben oder zu erklären, sondern vielmehr herauszuarbeiten, welche Potentiale für Partizipation mit dieser Identitäten-Brille erkannt werden können, wie sich dies für das Handlungsfeld gestaltet und welche Ideen Einrichtungen der Sozialpsychiatrie daraus entwickeln können.
3.2.
Partizipation und Identitätsarbeit
Es sei an dieser Stelle nochmals auf den Zusammenhang von Partizipation und Identitätsarbeit
hingewiesen. Partizipation ist, wie bereits beschrieben, ein häufig verwendeter Begriff, der als
grundsätzlich »gut« eingeschätzt wird und bei dem es hauptsächlich darum geht, den Grad an
Partizipation zu messen. Keupp stellt darüber hinaus jedoch einen interessanten Zusammenhang zwischen Partizipation und Identitätsarbeit her, der bei der Entwicklung eines gesellschaftlichen, dialektischen Partizipationsbegriffs für sozialpsychiatrische Handlungsfelder als
heuristische Folie dienen kann:
„Partizipation ist eine zentrale Rahmenvoraussetzung für produktive Projekte der Identitätsarbeit in einer spätmodernen Gesellschaft. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass es keine dauerhaften und stabilen
Bezugspunkte für die individuelle Lebensführung gibt. Identitätsarbeit kann heute nicht als Übernahme
von traditionellen kulturellen Entwurfsschablonen gelingen, sondern erfordert einen aktiven Prozess
identitärer Passungsarbeit. Daraus folgt erstens, dass Partizipation nicht nur als eine „Schönwetterkür"
angesehen werden darf, sondern als eine „Verwirklichungschance" für gelingendes Leben gelten muss,
und zweitens, dass die reale gesellschaftliche Ungleichverteilung dieser Ressource durch Empowermentstrategien zu verändern ist.“ (Keupp 2014 o.S.)
Damit geht mit Keupp ein erweitertes Verständnis von Partizipation einher, das im Anschluss
an Pierre Bourdieus Kapital-Theorie nicht nur eine bessere Ausstattung mit Ressourcen meint
(als notwendige Voraussetzung für eine Übersetzung), sondern auch eine gelingende Nutzung
dieser (Transformation) für die eigene Identitätsarbeit. Sein Partizipationsverständnis kann an
dieser Stelle so zusammengefasst werden, dass sowohl die Teilhabe (Verfügbarkeit) als auch
die Teilnahme (Übersetzung für das eigene Leben) an den auf den Kapitalien aufbauenden
293
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
Ressourcen notwendig sind. Wollen wir also mit einem Konzept von Partizipation in der Sozialen Arbeit auf Keupps Feststellungen zur Identitätsentwicklung antworten, so geht es vor
allem um die Erschließung und den Übersetzungsprozess vorhandener Kapitalien in identitätsrelevante Ressourcen zur Verwirklichung von Identitätsprojekten von Menschen mit Psychiatrieerfahrung.
Mit der Idee einer Kritischen Professionalisierung Sozialer Arbeit, wie wir sie (2016) formuliert haben, kann die Partizipationsidee Keupps an verschiedenen Stellen angefragt werden.
Wir Autor_innen stellten in diesem Zusammenhang fest, dass Soziale Arbeit dann notwendig
wird, wenn Subjekte nicht genügend Ressourcen zur Vermittlung ihres Selbst mit der Gesellschaft haben (vgl. Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2016, S. 38-40). Soziale Arbeit
hat somit einerseits die Aufgabe Menschen, die über wenig oder qualitativ schlechtere Kapitalien verfügen, Zugang zu diesen zu ermöglichen und sie, mit Keupp sprechend, für die jeweiligen Identitätsprozesse nutzbar zu machen. In diesem Fall ist Partizipation in dem Sinne zu
verstehen, als dass hier einerseits stellvertretend Ressourcen vermittelt werden können oder
andererseits die Menschen dazu befähigt werden, sich selbst Ressourcen zu erschließen. Allerdings greift dies vor dem Hintergrund einer Kritischen Professionalisierung zu kurz, denn
dadurch werden nicht die Verhältnisse verändert, mit denen erst die ungleiche Verteilung von
Kapitalien ermöglicht wird, sondern sie würden mit Hilfe Sozialer Arbeit aktualisiert. Im Sinne der Nutzer_innenorientierung muss hier also über Keupp hinaus reflektiert und gefragt
werden, welche allgemeinen Bedingungen die Hilfebedürftigkeit überhaupt beeinflusst haben.
Der zentrale Bezugspunkt Sozialer Arbeit ist damit das „Interesse an der Entfaltung und Steigerung der Handlungs- und Lebensmöglichkeiten des Nutzers [/der Nutzerin, Anm. d. Verf.]
im Hinblick auf seinen Status als Bürger [/Bürgerin, Anm. d. Verf.] des Gemeinwesens und
seiner Beteiligung am politischen Prozess“ (Schaarschuch 2006, S. 91). Denn so ist eine Beteiligung, auch an der Aushandlung über die Verteilung von Kapitalien bzw. Ressourcen und
über die Relevanz- bzw. Wertzuschreibung bestimmter Identitätsprojekte, mitgedacht, in der
die Nutzer_innen selbst zur Sprache kommen und ihre Bedürfnisse in ihrer Sprache (auch
neu) definieren. Daraus ergibt sich für Soziale Arbeit eben auch der Auftrag die Kollektivierung der Adressat_innen nicht zu verhindern und im besten Fall dazu beizutragen, dass sie als
relevante politische Akteur_innen an den öffentlich bzw. diskursiv hergestellten Verhältnissen
gesellschaftlicher Gruppen wahrgenommen werden.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
294
4. Partizipation als Ressourcenarbeit auf verschiedenen Identitätsdimensionen
Im Anschluss an die oben genannten Feststellungen zum Sinn von Identität und Partizipation,
haben wir ein Partizipationsverständnisaus der Analyse verschiedener Kategorien entwickelt.
Die einzelnen Kategorien und Folgerungen für das hier zugrundeliegende Erkenntnisinteresse
werden im Folgenden zur Nachvollziehbarkeit erläutert.
Die Kategorien ergaben sich aus der Rekonstruktion der Lebensbereiche, die von PsychiatrieErfahrenen im Forschungsprojekt als relevant markiert wurden, und der festgestellten Nähe
zum Konzept der Identitätsarbeit von Keupp et al (siehe oben). Dieses Konzept haben wir
stellenweise für die Sozialpsychiatrie handlungsfeldspezifisch umformuliert. Daraus ergeben
sich die in Tabelle 1 dargestellte Kategorien für die Entwicklung eines Partizipationsbegriffs
(rechte Spalte):
Kategorien Heiner Keupp et al
(vgl. Keupp et al 2008)
Kategorien „Partizipation in sozialpsychiatrischen
Handlungsfeldern“
Identität und Erwerbsarbeit
Identitäten und Erwerbsarbeit
Identität und Intimität
Identitäten und Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein
Identität und soziale Netzwerke
Identitäten und soziale Netzwerke
Kulturelle Identität
Identitäten und Zugehörigkeiten, Zuschreibungen,
Nicht-Zugehörigkeit, Politik, Widerstand
Tabelle 1: Analysekategorien "Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern"
Für die einzelnen Kategorien wird im Folgenden anhand der im Forschungsprojekt erhobenen
Daten beschrieben, welche Lebensbereiche Psychiatrie-Erfahrener darunter zusammengefasst
werden können, welche Identitätsentwürfe und Identitätsprojekte von den Adressat_innen
formuliert werden, welche vorhandenen Ressourcen dafür thematisiert werden und welche
Rolle (Ermöglichung/Verhinderung) Soziale Arbeit bei der Transformation der Kapitalien in
identitätsrelevante Ressourcen spielt. Anhand dieser Ausführungen möchten wir herausarbeiten, wie die Identitätsarbeit zwischen Privatem und Politischem (Öffentlichen) und die gesell-
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
295
schaftliche Rahmung thematisiert wird. Zur Darstellung haben wir uns für die Beschreibung
einzelner deutlicher Fallbeispiele 7 zu den jeweiligen Kategorien entschieden, die exemplarisch für die Identitätsarbeit und die Unterstützung und oder Verhinderung durch Soziale Arbeit stehen. Jeweils am Ende der Ausführungen stellen wir zu den am im Rahmen des Forschungsprojektes organisierten und durchgeführten trialogisch ausgerichteten Fachtag diskutierten Kategorien die Positionen von Teilnehmer_innen vor, die an einigen Stellen noch über
die Interview-Daten hinausweisen.
4.1.
Identitäten und Erwerbsarbeit
Wir beginnen, angelehnt an Keupp et al (2008), mit der Kategorie „Identität und Erwerbsarbeit“, die eine der zentralen Drehpunkte für Identitätsarbeit und Partizipation in der Sozialpsychiatrie ausmacht, wie im Folgenden herausgearbeitet wird. Bevor die Ausgestaltung dieser Kategorie anhand des empirischen Materials beschrieben wird, sei an dieser Stelle kurz
erklärt, welche Inhalte Keupp et al für diese Identitätsdimension vorgesehen haben.
Für Keupp spielen das sich wandelnde Verhältnis von Erwerbsarbeit und psychosozialer Situation von Menschen in sich zunehmend individualisierenden und modernen Gesellschaften in
vielen seiner Texte und Arbeiten eine zentrale Rolle. So gehört für ihn zur Identitätsentwicklung dazu, sich von der Illusion zu lösen, einen den eigenen Bedürfnissen entsprechenden
Arbeitsplatz zu finden (vgl. Keupp et al 2008, S. 113). Darüber hinaus haben Menschen mit
physischen oder psychischen Einschränkungen weniger familiäre Unterstützung und – damit
verwobenen – geringere schulische Qualifikationen – infolgedessen haben sie oftmals weniger Möglichkeiten überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden (vgl. ebd., S. 114). Erwerbsarbeit
wird daher als „Existenzproblem“ (ebd., S.116) diskutiert. Gleichzeitig hat Arbeit eine zunehmend subjektiv-sinnhafte Bedeutung (Arbeitsinhalte, soziales Klima, Selbstverwirklichung, Kontakte), die von den meisten Menschen wichtiger gewertet wird als die materiellreproduktionsbezogene Bedeutung (Einkommen und materielle Arbeitsbedingungen) (vgl.
7
Die Inhalte der verschiedenen Identitätsbereiche wollen wir dabei keinesfalls für alle Menschen mit
Psychiatrieerfahrung gleichsetzen, sondern eine aus dem erhobenen Material heraus gelesene Bandbreite an möglichen Auslegungen beschreiben und dabei Widersprüche in und zwischen ihnen nicht
glätten, sondern geradewegs auf sie hinweisen.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
296
ebd., S. 116-123). Dies gerät mit einem eingeschränkten Zugang zu Arbeitsplätzen in Konflikt, wenn dieses Erleben eigener Sinnhaftigkeit nicht für jeden Menschen möglich ist.
Keupp et al arbeiten heraus, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit die größte Angst im Jugendalter ist und hier gesellschaftliche Probleme individualisiert werden (vgl. ebd., S. 117). Bzgl.
der Erwerbsarbeit stellen sie fest, dass sich Identität hier stets wandelt, zwischen Identitätsdiffusion, dem Infrage stellen bisheriger Annahmen und stellenweise der Übernahme von Rollentraditionen.
Beziehen wir diese Überlegungen auf die Situation Psychiatrie-Erfahrener, sind die genannten
Themen, wie der Zugang zu Arbeitsplätzen und der der Arbeit zugeschriebene Sinn, sowie
darüber hinaus handlungsfeldspezifische Themen wie Arbeitslosigkeit und Armut, belastenden Arbeitsbedingungen, dem Ausschluss vom ersten Arbeitsmarkt, die Ausgestaltung des 2.
Und 3. Arbeitsmarktes und der Reha- und Integrationsmarkt für die Analyse in den Blick zu
nehmen.
Kurzbeschreibung der Inhalte
Wie erwähnt, wird das Tätigsein, einer Beschäftigung nachzugehen, eine Erwerbsarbeit bzw.
eine Tagesstruktur zu haben, in den verschiedenen sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
sehr bedeutsam gemacht. Die Aussagen der Befragten konnten vier Themenfeldern zugeordnet werden:
•
Allgemeine Bedeutung von Arbeit
•
Institution als Arbeitgeber
•
Begründung für Zuverdienst
•
Arbeitsbedingungen im Zuverdienst
Die Befragten formulieren allgemein zur Bedeutung von Arbeit, dass Erwerbsarbeit ihr
vorrangigsten Ziel sei, eine Befragte schildert dies eindrücklich, als sie von ihrem Klinikaufenthalt nach einer Verbrennung berichtet:
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
297
„B: die haben in der verbrennungsklinik einen platz für mich gesucht [I: mhm] und ich hab nicht gewusst wo ich hinkomm=ich hab immer gedacht ich müsst arbeiten das sei mein ziel (.) aber ich war SO
SCHWER verletzt 8“ (Interview Frau B., Abs. 10)
Der hegemoniale Normalitätsdiskurs zu Arbeit, dass nur diejenigen, die einer Erwerbsarbeit
nachgehen auch an der Gesellschaft teilhaben können, wird von den meisten Befragten reproduziert: „weil man muss ja auch arbeiten und geld verdienen von nichts kommt nichts“ (Interview Herr O., Abs. 241). Im Bemühen um eine Festanstellung bei einem Arbeitgeber, so berichtet ein junger Befragter, habe er auch gegen den Rat seines Psychiaters weiterhin unbezahlte Überstunden geleistet und dies habe seine psychische Gesundheit stark beeinträchtigt(siehe hierzu auch untenstehendes Fallbeispiel). Die Verbesserung der eigenen ökonomischen Situation wird teilweise nur in der Aufnahme einer entlohnten Tätigkeit gesehen. Für
einige handelt es sich bei ihrer Arbeit auch um sinnhafte „schön[e]“ (Interview Frau D., Abs.
29) Tätigkeiten, um Identitätsprojekte, wie eine Befragte hinsichtlich ihrer Pflegetätigkeit
beschreibt. Andere Befragte ziehen arbeitsbezogene Angebote anderen Gruppenaktivitäten
vor:
„T: bei WAS (.) also bei der HAUSversammlung […] hin und WIEDER [.] wenn es halt die ZEIT ZUlässt (.) aber da ARBEITE ich halt LIEBER (.) damit ich dann AUCH noch FERTIG werde“ (Interview
Herr T., Abs. 85).
Wird in einer sozialpsychiatrischen Institution (in allen im Sampling auftauchenden Formen
wie Wohnheim, Sozialpsychiatrischer Dienst und Tagesstätte) die Möglichkeit geboten, für
eine Tätigkeit Geld zu bekommen, wird sie von den Befragten häufig mit einem Arbeitgeber
gleichgestellt, als „Firma“ (Interview Herr I., Abs. 29) verstanden und als Arbeitssetting mit
Kolleg_innen (ebenfalls Psychiatrie-Erfahrene) und Vorgesetzten (Mitarbeiter_innen) beschrieben:
8
Die hier angeführten Sequenzen sind Auszüge aus Transkriptionen der als Audiodatei aufgenommenen Interviews mit Psychiatrie-Erfahrenen verschiedener sozialpsychiatrischer Handlungsfelder, wie
Tagesstätten, Wohnheimen, Sozialpsychiatrischen Diensten. „I“ steht hier für Interviewer_in und die
Buchsten als Pseudonyme der Befragten. Bei den Transkriptionen haben wir uns an Transkriptionsregeln gehalten, welche die Interpretation durch die Schreibenden möglichst gering halten, so dass bspw.
keine Satzzeichen verwendet werden und Großbuchstaben dort stehen, wo laut oder betont gesprochen
wird. Pausen sind unter Angabe der Sekunden mit runden Klammern (), Einschübe mit eckigen
Klammern [] und gleichzeitiges Sprechen mit geschweiften Klammern {} gekennzeichnet. Ebenfalls
in eckigen Klammern ist gekennzeichnet, wenn die hier abgebildete Sequenz einige Auslassungen
ggü. dem Original hat, und Kürzungen zur besseren Lesbarkeit vorgenommen wurden: […].
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
298
„I: […] die ARbeit das ist ein SCHÖNES ARbeiten auch von den VORgesetzen her das ist wirklich
SCHÖN kann man nichts sagen das ist wirklich EINwandfrei (2) und auch von den von den BUFfdis ist
es GUT von den koLLEGEN her ist es gut kann man NICHTS sagen gell“ (Interview Herr I., Abs. 35)
Für einige ist die Möglichkeit, sich als Arbeiter_in zu verstehen, der einzige Grund, die Einrichtung zu nutzen: „also ich komm so wenn nichts zum arbeiten da ist komme ich nich“ (Interview Frau R., Abs. 7). Auch im stationären Wohnheim ist die Ergotherapie ein Angebot zur
Ausbildung oder Aufrechterhaltung einer beruflichen Identität, z.B. als Lackierer:
„ich hab die et (.) da kann ich dann was machen „E: ergotherapie (.) ich bin lackierer=also (.) ich lackier
das holz (3) und tu wenn mal kein holz zu lackieren ist selber feilen“ (Interview Herr E., Abs. 34-36)
Begründungen für die Arbeit im sogenannten Zuverdienst sind für die Befragten ganz
unterschiedlich. In den Worten eines Befragten ist die Arbeit im Zuverdienst eine von Zwängen befreite Tätigkeit:
„das ist für ähm psychisch KRANKE leute die wo (2) nur noch schaffen können (.) wenn sie halt wenn
es ihnen GUT geht (.) also MUSS man nicht kommen (.) ist auch keine ZEIT vorgeschrieben keine
STÜCKzahl nichts also (.) da kann man eigentlich komm- ähm arbeiten so wie (.) man (.) sich FÜHLT
halt ja da ist KEIN ZWANG dahinter (.) das ist für mich eigentlich so das WICHTIGSTE das ich da
dann (.) KEIN ZWANG hab ja jetzt muss ich da (.) zu dem ZEITpunkt da sein (.) das ist WICHTIG“
(Interview Herr P., Abs. 5)
Die einen sehen die Arbeit hier als Form von Therapie:
„P: ja das ist WICHTIG (.) also das man halt beSCHÄFTIGT ist (.) wenn ähm die AUFträge GAR nicht
da wären dann würden die leute halt daHEIM <lachend> rumhängen> (.) ja das ist auch nicht so günstig
für die (.) PSYCHE“ (Interview Herr P., Abs. 19)
Für diese Gruppe geht es darum, beschäftigt zu sein und eine Struktur des Tages und der Woche zu haben, was hier stärker gewichtet wird, als die geringe Entlohnung. Dadurch kann
Rückzug verhindert und von anderem abgelenkt werden, die Arbeit im Zuverdienst ist insgesamt ein hilfreicher Aktivierungsanlass. Positive Folgen des Zuverdienstes sind hier das durch
Handlungsroutinen gewonnene Selbstbewusstsein, es ergibt sich, so die Befragten, mehr
Energie für die Arbeit im eigenen Haushalt und die Arbeit dort macht mobil und flexibel. Andere betonen die gute Möglichkeit, das verfügbare Budget durch die Einnahmen aus dem Zuverdienst zu erhöhen „und seit VIELEN jahren dann (.) bin ich natürlich beim ZUverdienst [.]
um mir was daZU zuverDIENEN“ (Interview Herr T., Abs. 5)
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
299
Gemeinsam scheint den Befragten die Ausweglosigkeit ihrer beruflichen Situation zu sein, die
keine besondere Differenziertheit der Identitätsentwürfe mehr vorhält: Alternative Beschäftigungen bzw. Arbeitsstellen sind aufgrund des Arbeitsmarktes, der Angst vor Diskriminierung
und der selbst als gering eingeschätzten Belastbarkeit häufig nicht denkbar.
Die Arbeitsverhältnisse im Zuverdienst werden dabei jedoch nicht nur als therapierender
Schonraum beschrieben, sondern lassen auch belastende und individualisierende Deutungen
zu.
Viele berichten von einer starken Abhängigkeit von Aufträgen großer Auftraggeber_innen,
die zu einer schwankenden Auftragslage führt, wovon der Umfang und der Inhalt der Tätigkeiten jeweils abhängen. Die Folge davon ist eine Konkurrenz um Aufträge für den Zuverdienst mit anderen preisgünstigen Anbieter_innen, so dass man dankbar sein muss, dass überhaupt noch Aufträge kommen:
„das ist SOwieso auch SCHWIEIRG (.) und man kann auch FROH sein (.) dass überHAUPT (.) noch
an so WERKstätten überhaupt ARbeit AUSgeliefert wird (2) weil die können das vielleicht wo ANDERS (.) NOCH GÜnstiger produzieren (.) in der HEUtigen ZEIT (.) da muss man vielleicht FROH
sein dass überHAUPT noch ARbeit KOMMT (2) das NICHT irgendwie jetzt verLAGERT wird (.) was
AUCH viele FIRMEN machen“ (Interview Herr T., Abs. 127)
Wer die jeweiligen Auftraggeber_innen sind, ist allerdings, so manche Befragte, nicht bekannt, da dies durch die Institution geregelt wird und die Beschäftigten keine Mitsprache dabei haben. Intransparent ist auch die Finanzierung bzw. Subvention des Zuverdienstes. Bei
den Tätigkeiten handelt es sich meistens um industrielle bzw. Montagetätigkeiten, für die es
keinen Nachweis der Arbeitszeit gibt, sondern eigenständig die Wochenstückzahl nachgewiesen wird:
„ich hab das AUCH schon gemacht mit den SCHRAUBEN aber (.) seit zwei DREI jahren bin ich jetzt
an der WASCHmaschine und das gefällt mir halt (.) BESSER ja (.) wie das mit denen SCHRAUBEN
(.) das ist ein bisschen zu EINFACH <<lacht>> das mit den schrauben“ (Interview Herr P., Abs. 13)
Dass es sich beim Zuverdienst um eine nicht klar arbeitsrechtlich geregelte Beschäftigung
handelt, ahnen einige Beschäftigte:
„P: nein also (1) das ist irgendwie so ein GRAUzone […] also es ist KEINE beHINDERTENwerkstatt
in DEM (.) die sind (.) ich weiß nicht wie das RECHTLICH geREGELT ist (.) das ist irgendein zwischen-DING (.) also zum beispiel wenn ein ARbeitsUNfall passieren würde (.) ich wüsst NICHT WER
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
300
das ZAHLT (.) weil ich bin ja nicht ANgestellt ich bin ja <<lacht>> hab kein ARbeitsvertrag NICHTS
also ich weiß nicht wie das RECHTLICH dann geREGELT ist“ (Interview Herr P., Abs. 53)
Viele sind sehr zufrieden mit den Arbeitsbedingungen, was vor allem an einer nicht autoritären, bedürfnisorientierten Arbeitsatmosphäre, der Flexibilität der Arbeitszeit und des Arbeitsortes sowie dem geringen Arbeitsdruck und der Freiwilligkeit liegt.
Einige berichten jedoch auch von beschwerenden Arbeitsbedingungen, z.B. körperlichen Belastungen, u.A. weil es unterfordernde, bewegungsarme Tätigkeiten sind. Außerdem führt die
Bezahlung nach Stückzahl zu einer Konkurrenz um das Arbeitstempo im Zuverdienst.
Den Lohn sehen einige, wie oben erwähnt, zwar als nachrangig an, wobei Konsens darüber
besteht, dass die Bezahlung (in einem Fall „ein euro fünfzig die stunde“ (Interview Frau R.,
Abs.9) in einem anderen sechs bis acht € für drei Stunden (vgl. Interview Herr T., Abs. 37))
unangemessen niedrig ist:
„das was ich da SCHAFF da krieg ich wahrscheinlich nicht ähm das beZAHLT was was (.) was des eigentlich WERT wäre also ich kriege das vielleicht FÜNFZIG euro oder SECHZIG im MOnat und (.)
jetzt schaff ich VIER einhalb mal in der WOche DREI stunden“ (Interview Herr P., Abs. 17)
Dies hatte sich auch im Laufe der Zeit verschlechtert: „aber im verGLEICH zu früher verdient
man jetzt WEsentlich WENIGER (.) im Zuverdienst“ (Interview Herr P., Abs. 25).
Fallbeispiel
Herr Q., ein junger Mann Mitte zwanzig, nutzt das Beratungsangebot eines Sozialpsychiatrischen Dienstes seit einem knappen Jahr. Vor diesem Kontakt machte er bereits in seiner
Kindheit und Jugend Erfahrungen mit diversen (sozial-)pädagogischen und psychiatrischen
Unterstützungsangeboten: „ich hab schon probleme seit der kindheit (.) also (.) ja eigentlich
schon immer auch schon mit der grundschule da fing das ganze schon an (.) ähm auch mit
konzentration und allem möglichen halt und so (.) manchmal depression“ (Interview Herr Q.,
Abs. 28). Zur Bewältigung der beschriebenen „probleme seit der kindheit“ wurde ein Netzwerk verschiedener Unterstützungsangebote eingerichtet, welches Herrn Q. den Abschluss
einer Berufsausbildung zum Friseur ermöglichte.
„da hab ich auch schon förderung gehabt (.) also da hab ich zum beispiel so ne schulbegleitsperson und
ähm (.) auch in der ausbildung noch so begleitsperson und dann war ich auf einmal ARBEITEN und
dann hat ich auf einmal GAR NICHTS mehr (.) und auch am anfang gleich als VOLLzeit und so und es
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
301
war halt echt richtig krass (.) und so vom (.) weil ich hatte immer überall jemand wo mir geholfen
hat=wo ich auch gebraucht hat weil ichs anders nicht HINbekommen hab=auch nochmal zum lernen
nach der SCHULE und so (.) war ich immer bis abends noch in so nem förderzentrum wo man gefördert
wurde und (.) ja und dann auf einmal hatte ich halt so irgendwie NICHTS mehr“ (Interview Herr Q.,
Abs. 30)
Mit dem Ende des Bildungs-Moratoriums reduzierte sich die Unterstützung auf Herrn Q.s
Mutter und seinen Psychiater, deren Vorstellungen eines gelingenden Umgangs mit seiner
Situation stark voneinander abwichen:
„die hat mich immer irgendwie getriezt mit AUSBILDUNG und das und jenes […] und dann hat sie mir
halt auch gesagt JA du hast die chance auf n FESTvertrag da bleibt man halt länger und immer so das
gegenteil von dem was der psychiater gesagt hatte“ (Interview Herr Q., Abs. 30).
Gleich zu Beginn des Interviews benennt Herr Q. die Schwierigkeiten mit seinem ehemaligen
Arbeitgeber als einen zentralen Bereich, in dem er auf die Unterstützung des sozialpsychiatrischen Handlungsfelds angewiesen ist.
„Q.: […] also wenn ich jetzt selber zum beispiel bei meinem alten arbeitgeber angerufen hatte (...) dann
haben die mich irgendwie voll verARSCHT (.) und wenn die Frau J angerufen hat und hat halt gesagt ja
hier spricht [Name der Einrichtung] blablabla dann auf einmal haben sie es geschickt innerhalb von ner
woche wars dann da“ (Interview Herr Q., Abs. 8).
Das Ende des Arbeitsverhältnisses zog sich über eine lange, für Herrn Q. sehr beschwerliche
Zeit, in der er sich durch unbezahlte Mehrarbeit für eine Entfristung seines Arbeitsvertrags
engagierte. Die Umstellung von der Unterstützung in der Berufsausbildung durch eine „begleitperson“ zu einer Anstellung als Friseur in Vollzeit stellte sich als sehr fordernd heraus.
Alle Versuche seinerseits, die Arbeitszeit mit seiner psychischen Erkrankung zu vermitteln,
konnten die belastende Situation nicht verbessern.
„ich habs immer probiert=probiert dann bin ich immer weniger runter auf TEILzeit und hab dann versucht halt äh weniger zu ARBEITEN (.) dann bin ich auf teilzeit runter und irgendwann ging es dann
nicht mehr und dann hat auch mein psychiater schon gesagt gehabt JA es hat so keinen SINN ich würd
sie gern krank schreiben und ich hab gesagt NEE (.) weil ich hab gekämpft dort damals noch um son
festvertrag weil dann die zwei jahre rum waren (.) aber da wurd ich auch ein bisschen verarscht ich habs
aber so nicht gesehen ich hab halt die chance gesehen dann endlich mal so ne festanstellung zu kriegen
wo man dann lange bleiben kann oder so [I: ok] und dann ähm hat der dann aber auch schon gesehen
und so weil ich halt überstunden gemacht hab ohne ende unbeZAHLTE (.) dann hieß es immer ja sie
wollen doch n festvertrag blabla und ich war halt irgendwie ganz blöd zu dem zeitpunkt ich habs ein-
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
302
fach so nicht gesehen (.) und dann irgendwann hats n knall gegeben da wars zu viel auf einmal alles und
da konnte ich nicht mehr und dann hat er mich auch krank geschrieben“ (Interview Herr Q., Abs. 28)
Gegen den Rat des Psychiaters, der zu diesem Zeitpunkt einen Antrag auf Grundsicherung bei
Erwerbsminderung und sozialpsychiatrische Unterstützung empfahl, begab sich Herr Q. auf
Wunsch der Mutter auf eine Rehabilitation zur Wiedereingliederung.
„dann hat er mir irgendwas empfohlen gehabt hier in Stadt1 oder sowas äh wegen erwerbsminderung
aber meine mutter wolllte das auch nicht (.) und hat gesagt NE unser jung und bla (.) und dann REHA
hat meine mutter dann […] war doch das blödeste was ich hätte machen können ja und dann [..] war
ganz schlimm danach gings mir noch viel schlechter“ (Interview Herr Q., Abs. 28)
Nach mehreren Klinikaufenthalten des Sohnes ließ sich auch die Mutter auf den Vorschlag
des Psychiaters ein und unterstützte Herrn Q. bei der Kontaktaufnahme mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst und dem Antrag auf ambulant betreutes Wohnen. In Zusammenarbeit mit
der dortigen Sozialarbeiterin und dem Psychiater stellt Herr Q. nun einen Antrag auf Grundsicherung und hofft auf eine Tätigkeit auf dem zweiten Arbeitsmarkt. Er verspricht sich davon
eine weniger belastende Tätigkeit, in der er weniger „Druck“ erlebt und in der die Ansprüche
an seine Leistungsfähigkeit geringer sind. Die Möglichkeit geringerer Anforderungen an ihn
sind für ihn logisch mit einer (noch) geringeren Bezahlung bzw. subventionierten Entlohnung
verknüpft. Vor dem Hintergrund seiner Angst vor Überforderungen und den psychischen Folgen des „Drucks“ ist ein reduziertes Gehalt jedoch für ihn hinnehmbar.
„wir hatten eigentlich geplant so mit zweitem arbeitsmarkt oder irgendwie sowas ähnliches mit ähm (2)
wo man halt dann so (3) wo man so ähm ohne DRUCK [I: mhm] ich kann auch druck nicht ertragen für
mich ist druck ganz GANZ schlimm (1) ist für mich irgendwie wie wenn ich keine luft mehr KRIEG
und ähm dass man dann halt so ohne druck auf dem zweiten arbeitsmarkt aber man trotzdem eine andere quelle hat was=wo das geld herkommt und man dann aber irgendwas macht wo nichts=äh wo die
keine ge=so krasse verLANGUNGEN o=äh so krasse ANSPRÜCHE haben quasi (.) weil=weil sie auch
nicht so bezahlen müssen oder so“ (Interview Herr Q., Abs. 46)
An diesem Fallbeispiel werden die Möglichkeiten und Grenzen sozialarbeiterischer Unterstützung der Partizipation Psychiatrie-Erfahrener deutlich. Obwohl Herr Q. von Beeinträchtigungen berichtet, die in seiner Grundschulzeit begannen, gelang es, ein trialogisches, Autonomie und somatopsychosoziale und kognitive Integrität wahrendes Netzwerk zu knüpfen,
welches ihm den Abschluss einer Berufsausbildung ermöglichte. Dieses Netzwerk fiel aller-
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
303
dings aus, sobald er sich in einem Normalarbeitsverhältnis 9 befand. Dem subjektiv empfundenen Druck und den Erwartungen an unbezahlter Mehrarbeit versuchte er solange zu begegnen, bis er so krank wurde, dass schließlich das Arbeitsverhältnis beendet wurde; nun ist für
ihn eine „Integration“ in den ersten Arbeitsmarkt keine Option mehr. Wie sich auch an anderen Stellen der geführten Interviews zeigt, bedeutete Teilhabe an Normalität auch die Teilhabe
an den belastenden Anforderungen an Arbeitnehmer_innen (siehe hierzu auch das Kapitel
„Identitäten und Zugehörigkeiten etc.“). Das Identitätsprojekt »Arbeitnehmersein« kann durch
das sozialpsychiatrische Handlungsfeld offenbar nicht im Modus der Teilnahme an Normalität unterstützt werden. Vielmehr muss Herr Q. in ein nicht erwerbsfähiges Adressat_innenSubjekt transformiert werden, um an den Angeboten des ambulant betreuten Wohnens und
des zweiten Arbeitsmarktes partizipieren zu können. Faktisch wird dadurch aus dem Identitätsprojekt »Arbeitnehmersein« eines jungen Mannes vorerst das Projekt eines erwerbsgeminderten Psychiatrie-Erfahrenen. An dieser Stelle wird die Paradoxie der Wiedereingliederung deutlich, dass ihre Unterstützungsangebote nur auf der Grundlage des Ausschlusses der
jeweiligen Adressat_innen greifen.
Ergebnisse Fachtag
Wie im Text zur Forschungsmethodik (Anhang) ausführlicher beschrieben, wurden die ersten
Ergebnisse des Forschungsprojekts am Fachtag mit den Gästen in Form eines Worldcafés
diskutiert. Dafür wurden den Sinngehalt und die Spannungsfelder deutlich machende „Invivo-Codes“, also Zitate aus Interviews oder Gruppendiskussionen, anonymisiert auf Plakate
geschrieben und als Impulse für einen Austausch gegeben. Am Diskussionstisch „Identität
und Erwerbsarbeit“ wurden folgende Zitate ausgewählt:
„Ich bekomme für meine Arbeit nicht das gezahlt, was sie eigentlich wert ist.“
„Wenn die Aufträge wegfallen und damit der Zuverdienst geschlossen wird, kommen auch die Leute
nicht mehr. Wenn der Zuverdienst läuft, ergibt sich alles Weitere.“
Die Gäste des Fachtags diskutierten in diesem Zusammenhang, wieviel Partizipation es im
Bereich von Erwerbsarbeit überhaupt geben kann und dass das Ausmaß doch einfach zu än-
9
Zur Begriffsdefinition des Normalarbeitsverhältnisses (vgl.
https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/Methoden/ Normalarbeitsverhaeltnis.html)
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
304
dern sein müsste. Ein großes Thema war das Für und Wider eines bedingungslosen Grundeinkommens, wobei von allen Akteur_innen betont wurde, dass Arbeit Selbstwert und Stabilität
schafft. Sollte daher, so eine weitere Diskussionsfrage, der 1. Arbeitsmarkt nicht so verändert
werden, dass alle Menschen dort arbeiten können? Dagegen spricht laut der Diskussionsteilnehmer_innen jedoch, dass Erwerbsarbeit erst dazu führt, dass viele Menschen (psychisch)
krank werden.
4.2.
Identitäten und Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein
Nachfolgend sind die Interviewstellen zusammengefasst, die sich in die Identitätsdimensionen
Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein einordnen lassen. Diese Kategorie haben Keupp et al
ursprünglich „Identität und Intimität“ (Keupp et al 2008, S. 129-152) genannt. Keupp et al
verstehen unter dieser Identitätsdimension die Aspekte von Geschlechtsidentität, welche die
Integration von Sexualität sowie die Identifikation von Geschlechterrollen meint (unter Berücksichtigung der Differenzierung zwischen »sex«, der biologischen Geschlechtsidentität,
und »gender«, den sozialen Aspekten der Geschlechterrollen) (vgl. Keupp et al 2008, S. 129
und 132). Die Geschlechtsidentität beinhaltet für die Autor_innen die Ausgestaltung der Emotionalität (vgl. ebd., S. 132), der Partnerschaften (vgl. ebd., S. 133-134), die Ausgestaltung
familiärer Beziehungen, sowohl zur Herkunftsfamilie als auch bezogen auf die Gründung
einer eigenen Familie (vgl. ebd., S. 134-135) sowie die gesellschaftliche Anerkennung der
gelebten Lebensformen (vgl. ebd., S. 146-147). Keupp et al verweisen auf den sozialhistorischen Zusammenhang dieser Identitätsdimension mit der Entwicklung der Arbeitsgesellschaft, in der sich durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung „traditionelle[] Geschlechtsrollen“ (ebd., S. 130) herausgebildet haben, die jedoch gleichzeitig in der Offenheit
der (Post-)Moderne unsicher und wählbar sind.
Vor dem Hintergrund, dass die Diskussion um Intimität von Adressat_innen in der Sozialen
Arbeit jedoch nicht ohne die Reflexion von sexualisierter Gewalt in Institutionen Sozialer
Arbeit geführt werden kann (vgl. dazu z.B. Melter 2017a,b), wurde die Kategorie „Identität
und Intimität“ im Kontext des Forschungsprojektes umbenannt. Zudem wurde sie um den
Aspekt des „Fürsichseins“ erweitert, da dieser in den Interviews eine große Rolle gespielt hat.
In Orientierung an Hegel verstehen wir damit die Beziehung auf sich selbst, die „Unmittelbarkeit (…) das in sich selbst Unterschiedslose, damit das Andere aus sich Ausschließende“
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
305
(Hegel 1830: §96), der Teil, der Für sich allein und mit sich allein sein will, der sich auf eine
Welt mit anderen bezieht, aber doch ein eigener Teil ist (vgl. ebd.).
Kurzbeschreibung der Inhalte
Zu dieser Kategorie konnten drei Code-Gruppen (aus den einzelnen Aussagen zusammengefasste Themenbereiche) ausgemacht werden:
•
Familie
•
Biographische Krisen
•
Selbsteinschätzung der psychischen Befindlichkeit
Es konnten vielfältige Aspekte familiärer Beziehungen Psychiatrie-Erfahrener anhand des
Interviewmaterials rekonstruiert werden: Familie als Unterstützungssystem, Familie als Adressat_innen, Familie als Ursache und/oder Verstärkung psychischer Krisen, familiäre Beziehungen zu Nicht-Verwandten. Einige Befragte äußern deutliches Interesse daran, dass ihre
Familienangehörigen mehr in ihren, vom Hilfesystem geprägten, Alltag eingebunden werden.
Beispielsweise wird der Wunsch genannt, dass Verwandte bei den Aufführungen des Theaterstücks der Theatergruppe dabei sind oder dass die Mutter in die Beratungsgespräche als Fürsprecherin mit einbezogen wird. Einige können aus der sozialpsychiatrischen Institution heraus einen regelmäßigen Kontakt zu ihren Angehörigen pflegen und werden dabei unterstützt,
beispielsweise bei der Organisation von Reisen zu ihren Verwandten. Für manche ist die einzig vorstellbare Alternative zum Leben in einer stationären Einrichtung wieder mit der Herkunftsfamilie zusammen zu wohnen. Für die Gestaltung der sozialpsychiatrischen Hilfen spielen Familienangehörige für manche eine entscheidende Rolle und es werden Konflikte zwischen der Einschätzung von Professionist_innen und Angehörigen deutlich. Ein Befragter
berichtet beispielsweise von den widersprüchlichen Hilfeempfehlungen des Psychiaters und
der Mutter.
Die Gründung einer eigenen Familie steht für die von uns befragten Mütter im Mittelpunkt
ihrer Identitätskonstruktion. Die eigenen Kinder werden teilweise als einzige Gründe für die
Empfindung von Glück und Liebe genannt.
Über die Herkunftsfamilie und die eigene Familie hinaus werden familiäre Bindungen auch
an andere Menschen, Orte und Tiere beschrieben, um die sich die Identität als jemand, die
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
306
oder der gebraucht und anerkannt wird, gestaltet. Beispielsweise beschreibt eine Frau, dass sie
sich bei ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit in einem Kindergarten wie ein Familienmitglied fühlt
und dies einer ihrer wichtigsten Lebensinhalte ist:
„ist mein HAUPTleben mi- mi- mit den KINDERN [...] ja das ist SCHÖN (2) dies sind die sind so
GOLDIG und dann sagen sie (.) du bist wie eine MAMA du bist wie eine OMA“ (Interview Frau D.,
Abs. 15-17).
Eine weitere Interviewte beschreibt eine intensive Beziehung zu ihrer Katze, die sie erziehen
und pflegen musse und sich in einer Mutter-Kind-Beziehung mit ihr fühlt. Für Befragte in
stationären Einrichtungen wird die Beziehung zu den anderen Mitbewohner_innen und den
Professionist_innen als explizit „familiär“ beschrieben, denn dieses Verhältnis, so die Beschreibung, zeichnet sich im Alltag durch täglichen Kontakt, reden und gemeinsamen Essen
aus und ähnelt dementsprechend einer Familie.
Am kontroversesten wurde in den Interviews die Wahrnehmung des Trialogs diskutiert. Darunter verstanden die Befragten die Zusammenarbeit von Betroffenen, Angehörigen und
Fachleuten, bei der alle als Expert_innen ihrer jeweiligen Perspektive gelten. Allgemein werden Trialoggruppen als Fortschritt in der Sozialpsychiatrie gesehen und ein höheres Angebot
derselben als Verbesserungsvorschlag angebracht. In der Beschreibung konkreter Beratungssituationen mit Angehörigen und Psychiatrie-Erfahrenen werden jedoch große Befürchtungen
und Ablehnungen gegenüber dem Einbezug der Angehörigen formuliert. Es wird befürchtet,
dass vertrauliche Informationen, die Betroffene in der Beratung äußern, an Angehörige weitergegeben werden oder Angehörige an die Beratenden Informationen weitergeben, welche
die Betroffenen nicht in die Beratung mit einbringen wollten. Daher wird gefordert, dass die
Beratung von Angehörigen in der gleichen Einrichtung oder von der gleichen Person transparent dargestellt wird. Besonders verletzt fühlen sich Psychiatrie-Erfahrene, wenn in akuten
Krisensituationen die Situationsdeutungen der Angehörigen denen der Psychiatrie-Erfahrenen
vorgezogen und sie eben nicht mehr als Expert_innen anerkannt werden: Professionist_innen
sollten eher für den Schutz der Psychiatrie-Erfahrenen vor ihren Angehörigen verantwortlich
sein. An einer anderen Interviewstelle wird außerdem explizit die Angst geäußert, dass die
eigene Beratungsfachkraft sich mit jenen Angehörigen austauscht, die in der Vergangenheit
schon Gewalt gegenüber den Betroffenen ausgeübt haben und nun über den Kontakt mit der
Beratung den Betroffenen weiter schaden.
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
307
Des Weiteren seien hier einige biografische Krisen benannt, die berichtet wurden und die für
das Verstehen der Identitätsgestaltung in Bezug auf familiäre Bindungen und ein Fürsichsein
unerlässlich sind. Befragte berichteten von Vernachlässigungen und Unterversorgungen im
frühkindlichen Alter, von gewaltvollen Bestrafungen im Kindesalter, von psychischer Gewalt
in Form von religionsmoralischen Sanktionsandrohungen bei sexuellen Handlungen, bis hin
zu sexuellem Missbrauch in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.
Die Beschreibung, Einschätzung und Erklärung der psychischen Befindlichkeit der Befragten spielte eine zentrale Rolle in den Interviews – ohne, dass konkret danach gefragt wurde. Die eigene Geschichte erzählen zu können, scheint ein wesentlicher Moment für Partizipation zu sein. Eine Adressatin beginnt bspw. das Interview mit einer Erzählung und Deutung
ihres Traums, eine andere Befragte berichtet als erstes, dass sie schlecht geschlafen hat. In den
Interviews ist es vielen Befragten wichtig, ihre eigene Erklärung psychischer Erkrankung
deutlich zu machen. Beispielsweise wird der Umgang der Eltern mit einer Befragten im Kindesalter als Ursache verstanden. Zum Ausbruch einer psychischen Erkrankung komme es
dann, wenn
„also wenn die SEEle nicht mehr AUS kann also so QUASi ja <<lacht>> so <<lacht>> so WENN ALLes so ENG ist oder weil man so HYPERsensibel ist oder wie auch IMMER war was bei der WAHRnehmung oder der FILTER oder wie auch IMMER was“ (Gruppeninterview T, Abs. 185).
Dass eine psychische Erkrankung eine Ausprägung menschlichen Empfindens und die Reaktion auf Ereignisse ist, erklärt diese Sequenz eindrücklich:
„also drUM es kann ja auch JEDER (.) ähm irgendwann in so ein diLEMMA KOmmen weil weil es
KEnnt JEDER MAnische zuSTÄNDE schon allein in der verLIEBTheit oder wie auch IMMER was
<<lacht>> ja das ist auch nichts ANderes ja <<lacht >> [D: (??) wenn die horMONE verRÜCKT spielen und keine AHNung ja (.) bis zu (.) SCHICKsalsschlägen wenn einem der JOB WEGholt oder der
PArtner stirbt oder ein UNfall oder es ist ja auch wurst es gibt ja VIELE AUSlöser für irgend- ganz
trauMATISCHE geSCHICHTEN nur WEIß ich das ja VORher Auch NICHT ja (.) dass ich SO auf das
reaGIER“ (ebd.)
Die innerpsychische Krise als zentrales Moment einer psychischen Erkrankung benennt diese_r Befragte:
„ich denke halt dass es ähm GRAD bei PSYCHISCHE erkrankungen […] das ist eine ANsichtssache
aber ich denke halt es (.) ist in ERSTER linie ein KONFLIKT mit dem man mit sich SELBER hat“ (Interview Herr I., Abs. 25).
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
308
Zu den verallgemeinerten Erklärungsmodellen psychischer Erkrankungen werden viele individuelle Krankheitswege erzählt. Von einer aufsteigenden Sportler_innenlaufbahn bis zum
Alkohol als Bewältigungsstrategie persönlicher Verluste, von langjährigen Verläufen
schlimmer Krankheitserlebnisse bis zu Selbstverletzungen und als gelungen empfundene Bewältigungen. Das Erleben von Symptomen wird ebenfalls zum Gegenstand der Interviews
gemacht. Dazu wurden auch der erlebte innere Druck und selbstschädigende Reaktionen darauf detailliert beschrieben. Die Übernahme der klinischen Diagnose in die Identitätskonstruktion wird hier deutlich: „ja bei mir ist gewesen so ich hab sehr viele selbstmordversuche
gemacht gehabt und dann bin ich borderline (.) und schneide mich“ (Interview Frau R., Abs.
3)
Die Angst, erneut eine psychische Krise zu erleben, bestimmt das Leben vieler Befragter, die
in diesem Kontext ihre eigenen Bewältigungsstrategien entwickeln. Krankheitsphasen stören
das subjektiv empfundene Gleichgewicht: „dadurch dass ich jetzt eine depression hab wieder
ist das AUCH wieder (2) eh (4) ein bisschen wie soll ich sagen (4) halt alles ins WANKEN
geraten“ (Interview Frau B., Abs.6). Die Linderung des Krankheitserlebens wird teilweise im
Zusammenhang mit den institutionellen Angeboten der Sozialpsychiatrie gesehen:
„also ich hab alle drei bis vier wochen mit der frau [Name 1] ein gespräch [I: mhm] und es hilft mir oft
wobei ah das kann=das gefühl also ein gespräch kann bei mir das gefühl nicht reparieren [I: mhm] (1)
ich hab ein gespräch fühl mich eigentlich ganz gut aber (.) die depression die ist so hartnäckig und so
die steht so im raum“ (Interview Frau B., Abs. 35)
Das Essen bleibt für diesen Befragten manchmal die einzige erlebte Freude:
„also ich bin früher immer gerne nach vorne gegangen und wollte neue dinge ausprobieren und so weiter und das FEHLT mir jetzt im moment in meinem status (4) für mich ist es traurig aber es ist so dass
das ESSEN das einzige ist wo ich mich noch freuen kann“. (Interview Frau B., Abs. 99)
Fallbeispiel
Im Folgenden wird am Beispiel eines Interviews mit Herrn O. die Bedeutung des Identitätsbereichs Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein für die Identitätsarbeit psychiatrieerfahrener
Menschen dargestellt. Herr O. ist ein Mann mittleren Alters und lebt seit zwölf Jahren in einem stationären, sozialpsychiatrischen Wohnheim. Davor lebte Herr O. bereits zehn Jahre in
einem anderen Wohnheim, aus dem er nach eigenen Angaben ausziehen musste, „irgendwie
wurde das dann nicht mehr bezahlt von dem amt“ (Interview Herr O., Abs. 200). Bereits als
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
309
Kind wurde er im Alter zwischen 9 und 12 Jahren in ein Wohnheim der Jugendhilfe aufgenommen, in dem er Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Herr O. hat als Erwachsener bisher
nicht außerhalb vollstationärer Einrichtungen gelebt.
Im derzeitigen Wohnheim hat er ein eigenes Zimmer und einen zuständigen Bezugsmitarbeiter, zu dem er nach eigenen Angaben einen guten Kontakt hat. Mit ihm führt Herr O. Gespräche oder geht auch mal in einem Restaurant mit ihm essen. Tagsüber nimmt er an Angeboten
der Ergotherapie teil. Herr O. hat außerhalb der Einrichtung noch Kontakt zu zwei seiner Geschwister.
Die Beziehungen in der Einrichtung beschreibt Herr O. als familiär und daher unterstützend.
„O: was gefällt mir hier gut=so der zusammenhalt und es ist wie eine familie ein bisschen (1) so familiär (1) die leute sind alle sehr nett (.) ja I: sprechen sie da von ihren mitbewohnerinnen oder von den mitarbeiterinnen O: von allen beiden“ (Interview Herr O., Abs. 6-8)
Die familiäre Qualität wiederholt er an mehreren Stellen des Interviews. Auf Nachfrage, was
er damit meint, erklärt Herr O.:
„ja halt dass man sich halt so TRIFFT und KAFFEE trinkt und vielleicht was frühstückt und dann redet
was man am nächsten tag macht oder (.) was man HEUTE macht was HEUTE ansteht und so [I: mhm]
ist eigentlich ganz ok“ (ebd. Abs.55).
Hier wird die besondere Herausforderung der Gestaltung eines Arbeitsbündnisses in vollstationären Settings deutlich, in welchem ein Teil persönliche Beziehung mit diffusen Anteilen
notwendig und unterstützend für Herrn O. wirkt. Andererseits schließt das Arbeitsbündnis
aber auch den institutionellen Auftrag mit ein. Vor diesem Hintergrund betrachtet beschreibt
Herr O. hinsichtlich der Beziehung zwischen ihm und seinem Bezugsmitarbeiter verschiedene
Spannungsfelder unterstützender Beziehungen zwischen Professionist_innen und Adressat_innen in Institutionen: Einerseits das Spannungsfeld zwischen einem zu viel oder zu wenig an Beziehung:
„I: wie oft haben sie da gespräche (1)
O: je nach bedarf (1) einmal in der woche oder so
I: mhm und wie oft hätten sie's gerne
O: ein paar mal (.) vier fünf mal
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Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
310
I: in der woche
O: aber wir sprechen immer wenn er da ist sprechen wir viel (2)“ (ebd., Abs. 260-265)
Andererseits berichtet Herr O. sowohl von dem Spannungsfeld zwischen der Offenheit im
Arbeitsbündnis – also dass Herr O. von seinem Leben erzählen bzw. neue Erfahrungen machen kann – als auch davon, dass er vor dem Hintergrund seiner traumatischen Erlebnisse vor
Re-Traumatisierung durch rahmenlose Erinnerungen oder Beziehungsabbrüche geschützt
wird und die Institution also gleichzeitig Zutrauensraum und Schutzraum ist:
„mir geht's hier gut (.) ich fühl mich WOHL (1) ich bin beschützt (.) hab einen rahmen wo ich wohn- alles ansprechen kann oder wo=wo=wo ich beschü- also ja wo ich halt beschützt bin“ (ebd., Abs. 152)
Dieser Schutzraum wird auch von der Familie von Herrn O. in der Einrichtung gesehen:
„I: und unterstützen sie ihre schwestern auch dabei bei dem wunsch irgendwann mal auszuziehen O:
nee (2) meine halbschwester sagt ich soll hier bleiben weil hier wär ich gut aufgehoben (3) hier also bin
ich beschützt (4) (ebd., Abs. 233-234).
Im Interview mit Herr O. wird somit die nahtlose Fortführung seiner institutionellen Biografie
erkennbar, was auf ein Spannungsfeld sozialpsychiatrischer Praxis hinweist: Einerseits
braucht es institutionelle Rationalitäten und andererseits ist Erinnerungsarbeit, bzw. Biografiearbeit notwendig.
Ergebnisse des Fachtags
Auf dem Fachtag wurde, bezogen auf die in diesem Zusammenhang relevante Dimension,
folgendes Zitat diskutiert:
„Die stationäre Einrichtung ist mein zu Hause geworden. Wenn ich mal bei Verwandten bin, möchte ich
schnell wieder heim. Hier habe ich mein eigenes Zimmer und kann mich zurückziehen.“
Es kam die Hauptfrage auf, wie legitim Einrichtungen der Sozialpsychiatrie heute noch sind
und wie das Verhältnis von Institution als Schutzraum oder als Gewaltraum einzuordnen ist.
Im Schutzraum, so die Überlegungen, können die Einrichtungen eine Heimat auf Zeit – ein
„Anker“, sofern es keinen anderen gibt – und auch ein Ort des „Zutrauens“ sein, an dem
selbstständiges Leben geschützt erprobt werden kann, beispielsweise ein Leben ohne Medikation. Gleichzeitig gilt es aber immer zu prüfen, ob es sich nicht vielmehr um einen Gewaltraum handelt, der sich u.a. durch die Verletzung der Intimität und die nicht selbst gewählte,
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
311
zum Teil familienähnliche Gemeinschaft kennzeichnet. Im Bereich Beziehungen, Bindungen
Fürsichsein kann die sozialpsychiatrische Institution also einerseits ein hilfreicher sozialer
Kontaktraum sein; andererseits werden Beziehungsabbrüchet durch angestrebtes Verlassen
der Hilfe und Wechsel der Bezugspersonen bzw. der institutionellen Settings institutionell
hergestellt. In den institutionellen Beziehungen wird eine gegenseitige Verantwortlichkeit
hergestellt, die familienähnlich ist und somit auch die belastenden Seiten von Bindungsverantwortungen mit sich bringt.
Das Thema Tagesstruktur wurde in der Diskussionsrunde im Rahmen des Fachtags ebenfalls
in einem Spannungsverhältnis gesehen: Auf der einen Seite ermöglicht eine vorgegebene Tagesstruktur, sich autonomiefördernde Routinen anzueignen; auf der anderen Seite kann eben
dies eine Autonomie im Sinne eines eigenständigen Bildungsprozesses verhindern und somit
eher „hospitalisieren“. Die Eingangsfrage wurde von der Gruppe damit beantwortet, dass Institutionen nur legitim sein können, wenn sie Menschenrechte berücksichtigen.
Als zweiter Diskussionsimpuls diente folgendes Zitat zur Thematik des Trialogs:
„Ich sehe den Trialog nicht nur positiv. Die Angehörigen brauchen eine eigene Gruppe.“
Es wurde herausgearbeitet, dass es sich hier nicht um ein »entweder oder« handelt, sondern
um ein »sowohl als auch«: Es sind Trialoggruppen und Angehörigengruppen notwendig. Außerdem wurde angeregt, den Trialog zum Tetralog zu erweitern und Bürgerhelfer_innen bzw.
Ehrenamtliche (FsE) mit einzubeziehen. Darüber hinaus fehlt in vielen Diskussionen noch der
Austausch mit der Verwaltungsebene, also dem Kostenträger sozialpsychiatrischer Hilfen, die
ebenfalls eingebunden werden sollten. Dabei unterschieden die Anwesenden verschiedene
Ebenen des Trialogs:
•
Fallebene (kann stark konfliktgeladen sein)
•
Gruppenangebote (auch themenbezogen)
•
Politische Dimension (Steuerungsinstrument im Hilfesystem)
Offen blieben die Fragen, wie eine Vernetzung von Trialog und Selbsthilfe aussehen und wie
Trialog konkret gestaltet werden könnte. Als Forderungen wurde geäußert, dass man die Geschichte der Sozialpsychiatrie aus Sicht der Angehörigen schreiben sollte.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
4.3.
312
Identitäten und soziale Netzwerke
Unter dieser Identitätsdimension fassen Keupp et al (vgl. 2008, S. 153-170) die unmittelbare
Ausgestaltung sozialer Netzwerke, also der personalen, vielfältigen Verbindungen, die Menschen untereinander haben. Dabei handelt es sich in einer modernen Gesellschaft immer mehr
um »Wahlverwandtschaften«, »Zwangsgemeinschaften« werden dagegen immer seltener (vgl.
ebd., S. 153). Dies bedeutet jedoch auch mehr Verantwortung der Subjekte für die eigene soziale Integration, die besonders bei einer knappen Beteiligung an Erwerbsarbeit und Kapitalien erschwert wird, denn: Soziale Netzwerke können als Ressource zur Krisenbewältigung
und als Hilfe bei der Auswahl verschiedener Handlungsmöglichkeiten dienen. Zu dieser Dimension wird vor allem der Freizeitbereich der Menschen gezählt, der sich für Keupp et al in
verschiedene Netzwerktypen, wie Clique, Paarorientierung, traditioneller und modernisierter
Familien-Clan, Vereinsstrukturen, soziale Isolation, individualisierte Freundschaftsnetzwerke
und Zugehörigkeit zu subkulturellen Szenen einordnen lässt. Die Freizeit- und Netzwerkgestaltung hängt dabei stark von der individuellen Ressourcenlage (Kapitalien, Interessen,
Kompetenzen) und der regionalen Angebotsstruktur (Stadt/Land) ab. „Soziale Netzwerke
werden so gestaltet, daß [sic] die Identitätsprojekte einer Person darin Einbindung, Anerkennung und Unterstützung finden.“ (ebd., S. 170) Bezogen auf den Prozess der Identitätsarbeit
dienen soziale Netzwerke zusammengefasst bei der Verwirklichung von Identitätsprojekten
als Optionsräume und soziale Relevanzstrukturen, in denen aus den vorhandenen Möglichkeiten die vom sozialen Netzwerk als wichtig markierten Möglichkeiten ausgewählt werden.
Für das Handlungsfeld der Sozialpsychiatrie sind darüber hinaus Aspekte der Kollektivierung
oder Zwangsgemeinschaften in Institutionen relevant, da Netzwerke evtl. weniger frei
gewählt sind. Außerdem wird vor dem Hintergrund eines emanzipatorischen Verständnisses
an dieser Stelle in den Blick genommen, wie Kollektivierung von Psychiatrie-Erfahrenen
ermöglicht wird. Vor dem Hintergrund der im Teilhabebericht (BMAS 2013) formulierten
Feststellung eines verkleinerten sozialen Netzwerks von Menschen mit Beeinträchtigung und
damit verbundenen eingeschränkter sozialer Unterstützung (BMAS 2013: 78-79) wird im
Folgenden auch die Bedeutung eines Helfer_innennetzwerks für die Adressat_innen
beleuchtet.
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
313
Kurzbeschreibung der Inhalte
Hier konnten drei Code-Gruppen zusammengefasst werden, die im Folgenden ausgeführt
sind:
•
Kontaktgestaltung mit Mit-Nutzer_innen
•
Soziale Kontakte außerhalb der Institution
•
Freizeitgestaltung
Die Erzählungen über die Gestaltung des Kontakts zu anderen Nutzer_innen sozialpsychiatrischer Angebote werden durch die institutionellen Ermöglichungsräume (z.B. Fernsehzimmer, Zuverdienst, Freizeitangebote usf.) gerahmt. Diese scheinen Orientierungspunkte für die
Begegnungen innerhalb und außerhalb der Institutionen zu bilden, auf welche sich die Adressat_innen positiv beziehen können. Sie ermöglichen es, dem Wunsch nach Kontakt und/oder
Kollektivierung in einer strukturierten Umgebung nachzugehen, in dem Wissen, über einen
sicheren Rückzugsraum (das eigene Zimmer in der Einrichtung, die eigene Wohnung usf.) zu
verfügen, welchen man bei Überforderung aufsuchen kann bzw. eine zuständige Fachkraft der
Einrichtung, welche bei Konflikten hinzugezogen werden kann. Die andere Dimension dieser
Ermöglichungsräume besteht in dem fast vollständige Fehlen von Kontakten außerhalb dieser
gerahmten Räume: Es wird nur vereinzelt von gegenseitigen Besuchen auf den Zimmern bzw.
in der jeweiligen Wohnung berichtet.
Innerhalb dieser Code-Gruppe scheinen sodann auch vier wesentliche Dimensionen auf. Als
erste sei hier die Kollektivierung mit anderen Nutzer_innen vor dem Hintergrund einer familialen bzw. infantilisierenden Identifikation als Geschwister benannt. Aussagen wie die Folgenden sind ein Hinweis hierauf:
„es ist hier wirklich wie eine FAMILIE“ (Interview Frau D., Abs. 37),
„was gefällt mir hier gut=so der zusammenhalt und es ist wie eine familie ein bisschen (1) so familiär“
(Interview Herr O., Abs. 6)
An anderen Stellen erscheint das Thematisieren der Kollektivierung mit anderen Nutzer_innen als Erfahrung mit einer jugendlichen Peer-Group auf einer Freizeit oder einem Angebot der offenen Kinder- und Jugendarbeit: „wir haben ZIEGEN hier (.) die ich versorge mit
ein paar anderen jungs und mädels“ (Interview Herr E., Abs. 38). In diese Figurationen
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Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
314
scheint die Macht-Asymmetrie der Institutionen eingeschrieben, welche die Fachkräfte als
Eltern oder „betreuerinnen“ (Interview Frau X, Abs. 3) den Nutzer_innen diametral entgegensetzt und eine Begegnung auf Augenhöhe erschwert. Die Konflikte mit anderen Nutzer_innen,
die vor diesem Hintergrund geschildert werden, sind an diese Erzählung anschlussfähig. So
wird z.B. von Streit bei den gemeinsamen Mahlzeiten berichtet:
„ja und da gibt es halt welche die nehmen ganz viel zum essen (1) zum essen dass die anderen dann fast
gar nichts kriegen (.) oder beim abendessen sind immer die meisten vorne dran (.) dass niemand zu kurz
kommt (.) ich kaufe mir mein abendessen meistens selber von meinem taschengeld weil ich die wurst
nicht mag die abgepackte“ (Interview Frau L., Abs. 29).
Der geschilderte Konflikt über eine Benachteiligung beim gemeinsamen Essen orientiert sich
an familialen Strukturen und erinnert an einen Streit unter Geschwistern, der sich um die Anerkennung der Bedürfnisse der Beteiligten rankt. 10 Auch die Autonomie eröffnende Lösung
des Konflikts, das Einsetzen des eigenen ‚Taschengeldes‘, verbleibt in der familialen Figuration und thematisiert die sprechende Person in einer machtasymmetrischen Beziehungskonstellation, in der andere ihre finanziellen Ressourcen rationieren. Auch mögliche Lösungen für
die benannten Konflikte schließen an die familial konstruierte Erzählung an:
„I: was müsste sich aus ihrer sicht denn verÄNDERN in der [Einrichtung] (.) oder WIE könnte man
diesen streit ANders (1) lösen […] L: ja jedes mal halt seine sachen machen (.) und nicht immer denken
man wäre im hotel und gläser stehen lassen oder flaschen oder tassen oder gläser (1) sach auch aufräumen und nicht immer denken da kommt ein anderer der kann's ja machen“ (Interview Frau L., Abs.
107).
Die sprechende Person bezieht sich an dieser Stelle auf die umgangssprachliche Figur des
»Hotel Mama« 11, durch welche das Moratorium der Adoleszenzbewährung hinausgezögert
wird und hält die Erzählung auch darin anschlussfähig an die familiale Figur. Die andere Seite
dieser Konflikte wird an der Schilderung der Vereinzelung, der Einsamkeit und der erschwerten Kontaktgestaltung sichtbar. Die Herstellung einer familialen Situation erscheint vor diesem Hintergrund als sinnhaft:
10
Siehe dazu auch: Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik
sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
11
Vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ImFokus/Bevoelkerung/HotelMama.html.
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
315
„die LEUTE wollen EINfach HIER zum (Name der Einrichtung) so die NÄHE suchen weil sie NICHT
(.) ALLEINE sein WOLLEN (.) oder KÖNNEN (.) ich denke diese RICHTUNG geht das“ (Interview
Herr T., Abs. 121).
Jedes Interview, in dem die Frage nach dem Wohnen im eigenen Wohnraum thematisiert
wurde, beleuchtet auch das Spannungsfeld zwischen der Sorge vor Einsamkeit und dem
Wunsch nach einer größeren Selbstbestimmung in der Gestaltung des Alltags. Vor diesem
Hintergrund liegt der Nutzen der Einrichtung auch im Eröffnen von Kontakten:
„ja und so hab ich=ich hab auch freunde hier viele (1) das finde ich ganz gut dass man hier auch nicht
ganz alleine ist (.) tagsüber wohl in der wohnung wenn man doch dann viel alleine und das ist nicht so
mein fall“ (Interview Frau L., Abs. 18).
Gerade in den nicht sozialpädagogisch gestalteten Situationen, dem Leben in einer Einrichtung, das durch alltägliche Routinen der Bewohner_innen selbst strukturiert wird, fällt die
Aufnahme von Kontakt, die nicht im Rückbezug auf eine Fachkraft verweist, häufig schwer:
„O: ja [I: mhm] manchmal denk ich mir ja guck doch mit den leuten gemeinsam fernseher dann kommst
du ins gespräch (1) oder man hat die gemeinschaft aber ist manchmal gar nicht so einfach.
I: mhm (1) was ist da nicht so einfach.
O: mit den leuten ins gespräch zu kommen oder=oder sich dahin zu setzen und mit denen zu gucken ich
gucke lieber alleine fernsehen also nicht immer aber (2) ich setz mich schon mal dazu (2) aber wenn
dann nur 10 minuten oder so und bin dann wieder weg (Interview Herr O., Abs. 182-184).
Auf diesen Erfahrungen basiert auch die Schilderung des Umgangs mit Ermöglichungsräumen innerhalb der Institutionen. Diese erweisen sich vor allem dann als nutzbringend, wenn
sie eine gemeinsame, identitätsstiftende Grundlage ermöglichen. Exemplarisch greifen wir an
dieser Stelle die Beschreibungen der Erfahrungen im Zuverdienst auf. Gerade die Räume, in
welchen Identität eröffnet wird – an dieser Stelle die kollektivierende Erfahrung, anderen eine
Kollegin bzw. ein Kollege zu sein – scheinen die Einrichtung zu überformen und sie zu einem
Arbeitsplatz – in diesem Fall positiv – zu vereinseitigen:
„ja also ICH finds (Name der Einrichtung) eigentlich recht SCHÖN von der atmosphäre her ist es schön
(.) die leute sind (.) OKAY ja (2) doch also ich finds (.) GUT als guter UMgang (.) GUTE umgangsformen miteinander das muss man echt sagen (.) das ist echt schön (.) auch von den vorgesetzten her jetzt
auch“ (Interview Herr I., Abs. 11).
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An dieser Sequenz wird deutlich, dass das Angebot nur als Arbeit erlebt und folglich auch so
besprochen wird. Der Kontakt zu anderen Nutzer_innen oder Fachkräften wird vor dem Hintergrund der Identität als Arbeiter_in der Werkstatt verhandelt. Und auch diese Schilderungen
werden vor dem Hintergrund einer Machtasymmetrie konstruiert, in welcher die Fachkräfte
der Einrichtung als Vorgesetzte erscheinen und die Erwartungen an diese auch aus der Perspektive der Subordination formuliert werden. Analog zur familialen Figur, wird der Kontakt
zu anderen Nutzer_innen hier als Arbeitssituation geschildert, die anderen Nutzer_innen erscheinen nicht als Geschwister, sondern als Kolleg_innen:
„die ARbeit das ist ein SCHÖNES ARbeiten auch von den VORgesetzen her das ist wirklich SCHÖN
kann man nichts sagen das ist wirklich EINwandfrei (2) und auch von den von den BUFdis 12 ist es GUT
von den koLLEGEN her ist es gut kann man NICHTS sagen gell“ (Interview Herr I., Abs. 35)
In einem Handlungsfeld, welches durch einen hohen Grad an Institutionalisierung gekennzeichnet ist, und in welchem Begriffe wie Pathologisierung, Stigmatisierung, Exklusion und
Vereinsamung den Diskurs um die sozialen Netzwerke der Adressat_innen akzentuieren,
können die sozialen Kontakte außerhalb der Institution einen Aspekt der Frage nach Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern beleuchten.
In der Auseinandersetzung mit den Daten wurde deutlich, dass eine Vernetzungseuphorie,
welche soziale Netzwerke als Königsweg zur Partizipation exkludierter sozialer Gruppen hervorhebt, der Komplexität der Erfahrungen der Adressat_innen nicht gerecht wird. Zunächst ist
durchaus festzuhalten, dass die Bedeutung außerinstitutioneller sozialer Kontakte in nahezu
allen Interviews bestätigt wurde. Diese können zweifellos eine Brücke zu Erfahrungen alltäglicher außerinstitutioneller »Normalität« bilden. Allerdings bergen gerade jene NormalitätsErfahrungen auch das Risiko der Stigmatisierung, da die außerinstitutionelle Normalität, an
der die Adressat_innen in diesen Fällen partizipieren, auf jenen normativen Prinzipien gründet, die auch die Exklusion sog. psychisch Erkrankter bedingen. Teilhabe an Normalität kann
dann auch Teilhabe an Ausschließung bedeuten. In einem Gruppeninterview findet sich folgender exemplarischer Wortwechsel zweier Psychiatrie-Erfahrener:
„A: das ist […] dann wie eine SCHUBlade […]
12
Bundesfreiwillige, Anm. d. Verf.
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
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B: naja das ist so eine STIGMAtisierung (.) und da bist du SCHOn einmal F
ESTgelegt“
(Gruppeninterview K, Abs. 177-179)
Das Bekanntwerden der Diagnose hängt, dieser Eindruck ließ sich beim Durcharbeiten der
Daten gewinnen, wie ein Damoklesschwert über den Interaktionen und gestaltet das Aufnehmen und Pflegen sozialer Kontakte außerhalb institutioneller Arrangements zusätzlich
schwieriger. Die Sorge vor einer möglichen Enttarnung und die sorgsame Vorauswahl privater Informationen gegenüber Kommunikationspartner_innen erschweren die Aufnahme von
engeren Beziehungen 13:
„B: ja und (.) das verHINDERT dann auch eigentlich WIRklich eine beGEGNUNG […] man kann so
VIELE (.) ähm beGEGNUNGEN ver-verHINDERN wenn man sich verBIRGT“ (Gruppeninterview 1,
Abs.
174)
So können z.B. Bekanntschaften, die über Kooperationen der Institutionen entstehen, in den
Räumen der Einrichtungen – z.B. in Tagestreffs, Aufenthaltsräumen usf. – aufrechterhalten
und verstetigt werden. Eine der von uns interviewten Personen berichtete von gegenseitigen
Besuchen zwischen einer Zuverdienst-Werkstatt eines Trägers der Sozialpsychiatrie und einer
Kindertagesstätte.
D: „und mich beSUCHEN sie AUCH manchmal (.) oder mit den KINDERN dann singen sie dann
spielen sie mit den SCHRAUBEN das heißt sie M=MONTIEREN sie auch (.) spaßeshalber
und
dann (.) singen sie LIEDER und tun FRÜHSTÜCKEN und (.) wir haben es auch einmal besucht wir sie
auch“ (Interview Frau D., Abs. 15)
Ambivalent bleibt die Orientierung an Institutionslogiken jedoch dann, wenn diese die Interaktionsmöglichkeiten der Subjekte dahingehend strukturieren, dass das Aufnehmen von sozialen Kontakten außerhalb der Institutionen am besten in eher geschlossenen Systemen funktioniert, wie z.B. in streng ideologisch strukturierten religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen. Und auch die alltäglichen Kontakte derjenigen Adressat_innen, die sozialpsychiatrische Unterstützung im eigenen Wohnraum erhalten, machen deutlich, dass diese Form der
Normalisierung nicht ausschließlich positiv erlebt wird. Zwar berichteten die interviewten
Personen von Unterstützung, die sie durch Nachbar_innen erfahren haben.
13
Sieh dazu auch Goffman, Erving (1963/1975): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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318
R: „so zur zeit mache ich das halt mit den anderen gut jetzt dass ich meine fenster da hanne putzen lasse
für fünfzig euro also das mache ich auch nicht mehr da hanne (.) weil der im haus da dem gebe ich dann
immer der solls dann machen der freut sich der der sagt schon was gibts noch zu machen bei dir (.) naja
so tut der sich aufbessere aber das sage ich nicht wenn ich ihn nicht gehabt hätte hätte ich auch die
wohnung äh äh äh nicht“ (Interview Frau R., Abs. 103)
Soziale Kontakte werden allerdings nicht nur als Bereicherung empfunden. Gerade in psychischen Krisen können diese als zusätzliche Belastung empfunden werden. In einem Transkript
findet sich folgender Satz eines Interviewten:
U: „teilweise wars bei mir sogar so=ich hab ja jetzt eigentlich gar keine freunde mehr=aber ist mir auch
egal=ist mir auch lieber so=weil es war für mich mehr ANstrengend (.) wie das ich mich gefreut hab
dass mich jemand besucht oder sowas“ (Interview Herr U., Abs. 32)
Hierin wird erneut deutlich, wie anstrengend Interaktionen von Psychiatrie-Erfahrenen erlebt
werden können. Neben der positiven Bewertung der erfahrenen Unterstützung und gegenseitigen Wertschätzung, die durch außerinstitutionelle Kontakte eröffnet werden, werden in den
Interviews die ständige Sorge um eine potenzielle Stigmatisierung und die zusätzliche emotionale Belastung durch alltägliche Konflikte oder Überforderung bei der Gestaltung von Beziehungen betont.
Wie bei der Frage nach Kontakten außerhalb der Institutionen, lässt sich auch der Blick auf
die Freizeitgestaltung in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern nicht rekonstruieren, ohne
die wirkmächtige Position der Institutionen zu berücksichtigen. In diesem Kontext sind damit
Bereiche wie Tagesstruktur, Ergotherapie und Stimmungsregulierung (z.B. in manischen Zuständen, Grenzen durch Professionist_innen zu setzen) angesprochen, die sich als professionelle Unterstützung bei der Gestaltung von Aktivität und Passivität, Produktion und Reproduktion, Verausgabung und Erholung verstehen. Auch an dieser Stelle, bei der Frage nach der
Freizeitgestaltung, stießen wir an die Konstruktion eines Innerhalb und Außerhalb der Institutionslogik. Während der Begriff der »Freizeitgestaltung« unberücksichtigt lässt, dass diese
Zeit für viele befragte Personen ebenfalls in der Institution – und i.d.R. durch sie – organisiert
wird, impliziert der Begriff der frei »verfügbaren Zeit«, dass diese auch aktiv ausgestaltet
wird 14. Exemplarisch greift diese implizite Aktivierungslogik eine interviewte Person auf, die
14
Die Angemessenheit des Begriffs »Freizeit« muss vor allem diskutiert werden, wenn z.B. über Adressat_innen in vollstationären Einrichtungen oder betreuten WGs die Rede ist, deren Zeit fast gänzlich institutionell gerahmt ist. Besser wäre, von frei verfügbarer Zeit zu sprechen und auf jene Zeit
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
319
nicht an den institutionalisierten Freizeitangeboten teilnimmt, jedoch gleichzeitig darauf hinweist, dass sie ihre Zeit aktiv nutzt: T: „ich bin sonst halt auch noch PRIVAT AKTIV“ (Interview Herr T, Abs. 15). Sprechen wir hier von Freizeit, so ist damit die Zeit gemeint, welche
Adressat_innen nicht in den stationären oder ambulanten (Unterstützungs-)Angeboten der
Sozialen Arbeit verbringen, die Zeit vor und nach den tagesstrukturierenden Maßnahmen oder
den Angeboten in Tagesstätten, beim Zuverdienst usf.. Zunächst lässt sich festhalten, dass
sich die von uns interviewten Adressat_innen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten
bewegen und daher auch Zugang zu sehr unterschiedlichen (Freizeit-)Angeboten haben. In
der Regel sind sie aber über die vorgehaltenen Angebote informiert. Die Freizeitangebote,
von welchen wir erfuhren, werden überwiegend in den jeweiligen Institutionen organisiert
und durchgeführt und beziehen sich oftmals auf andere bestehende Angebote oder Räume
innerhalb der Einrichtung. So richten sich Freizeitangebote z.B. an Gruppen, die auch in den
tagesstrukturierenden Maßnahmen, der Ergotherapie usf. Zeit miteinander verbringen sind
und greifen meist dieselben Themen und Tätigkeiten auf. Ebenfalls angeboten werden (Tages)Ausflüge oder Freizeiten über mehrere Tage, welche sich an alle Adressat_innen einer Einrichtung richten.
Diese Angebote, von einer interviewten Person als »Urlaub« bezeichnet, werden von Professionist_innen geplant, „L: die frau [Name der Sozialarbeiterin] schaut sich verschiedene sachen an (.) was für uns das passendes=passende wäre“ (Interview Frau L., Abs. 43), wobei die
Einflussmöglichkeiten auf die Reiseziele und die Aktivitäten vor Ort variieren. Die von uns
interviewten Personen bewerten diese Angebote unterschiedlich. Einerseits wird darin eine
Möglichkeit gesehen, die Institution zu verlassen und nicht-alltägliche Erfahrungen in einem
anderen Kontext zu machen.
L: „da haben wir da ein zimmer gehabt mit küche wohnzimmer und schlafding (.) das war sehr schön (.)
da sind wir immer in die stadt gegangen=am strand entlang (.) haben immer eingekauft (.) jeden tag
frisch eingekauft (2) haben selber gekocht (2) unter schwierigen umständen mit unseren zwei herdplat-
abzuzielen, über die Adressat_innen selbst bestimmen können. Angesichts der institutionellen Rahmung des Alltags – bzw. wiederkehrenden institutionalisierten Episoden, z.B. in psychiatrischen Kliniken – vieler Psychiatrie-Erfahrener, erscheinen beide Begriffe eher wie Euphemismen. Erwähnenswert ist an der Stelle der historische Kontext des Begriffs »Freizeit«, welcher zuerst bei Friedrich Fröbel auftaucht. Fröbel definiert den Begriff vor dem Hintergrund des Spannungsfelds Unterrichtszeit/religiös bzw. politisch verordnete freie Zeit und verweist damit bereits auf die strukturierende
Macht der Institution. (Vgl. Fröbel 1823/1914: 236)
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ten gell <<lachen>> […] da haben wir gegrillt=mal haben wir fisch gegrillt (.) mal fleisch und wurst (.)
da mussten wir immer salate machen (.) frühstück haben wir immer brötchen gehabt und croissants“
(Interview Frau L., Abs. 47)
Den institutionalisierten Alltag emotional und geographisch zurücklassen zu können und der
Ausblick auf neue positive Erfahrungen, sind für einige der interviewten Personen ein Grund
zur erneuten Teilnahme.
O: „ja (.) dieses jahr fahren wir wieder in urlaub (1) nach ehm (4) weiß nicht wie's heißt […] aber auch
ein bisschen weiter weg […] ja ich freu mich schon“ (Interview Herr O., Abs. 38-40)
Die Teilnahme an den Reisen setzt allerdings eine finanzielle Beteiligung an den Kosten voraus. Diese vor dem Hintergrund der verfügbaren finanziellen Ressourcen hohen Kosten können die Teilnahme einiger Adressat_innen verhindern. Frau L. berichtet davon, dass die meisten Adressat_innen hierfür ein ganzes Jahr sparen müssen: „L: ja das muss man selber zahlen
(.) die meisten leute sparen dann das ganze jahr auf die freizeit“ (Interview Frau L., Abs. 55).
Um die Teilnahme zu ermöglichen, kann es vorkommen, dass die Institution in Vorleistung
geht, wodurch das Ansparen für eine Freizeit selbst zu einem machtvollen Wechselspiel aus
Verschuldung und Verpflichtung in der Institution werden kann. Im folgenden Abschnitt beschreibt die interviewte Person, wie sie versucht, der zusätzlichen Verknappung der finanziellen Mittel entgegenzuwirken, indem sie der auszahlenden Instanz der Institution vormacht, es
gäbe eine andere Spar-Vereinbarung mit der persönlichen Bezugsmitarbeiterin.
„L: ja manchmal will ich sie auch bescheissen weil da=dann sag ich dann manchmal die frau [Name der
Bezugsmitarbeiterin] hat gesagt ich krieg so und so viel taschengeld (.) und dann fällt sie manchmal darauf rein aber da kriegt sie ärger mit meiner frau [Name der Bezugsmitarbeiterin] […]
L: ja ich muss wieder=ich krieg zwanzig euro die woche (.) und dann haben wir ausgemacht ich krieg
bloß fünf euro die woche bis ich wieder ein bisschen geld gespart habe […]“ (ebd., Abs. 218)
Für eine andere Person verhindert der finanzielle Aspekt allerdings grundsätzlich die Teilnahme an solchen Freizeitaktivitäten. Verbunden mit dem – unterstellt – eher geringen Autonomiegewinn stellt die Eigenbeteiligung an dem Freizeitangebot eine Hürde bei der Bereitschaft zur Teilnahme dar.
T: „nein für mich scheidet das AUS (.) und zwar FINANZIELL […] wenn ich einen urlaub machen WÜRDE (.) dann möchte ich gerne auch das machen WAS !ICH! WILL […] also mit ohne da irgendwelche (1)
DINGER zu unterSETZEN“ (Interview Herr T., Abs. 21)
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
321
Die strukturierten Freizeitaktivitäten eröffnen für Herrn T. nicht genügend Möglichkeiten zur
selbstbestimmten Tagesgestaltung. Grundsätzlich wird eine Teilnahme jedoch nicht ausgeschlossen, in der Vergangenheit nahm Herr T. gelegentlich an Aktivitäten teil. Sie wirkten auf
Herr T. allerdings eher verpflichtend und hatten einen impliziten aktivierenden Impetus, der
die Angebote in die Institutionslogik einbettete. Herr T. schließt zwar eine Teilnahme in der
Zukunft nicht aus, wünscht sich aber mehr selbstbestimmte Einflussmöglichkeiten auf die
Ausgestaltung einer solchen Freizeit.
T: „ich würde dann EINfach (.) mein mein TAG SELBER planen (.) also auch MACHEN was ich
WILL (.) wenn ich jetzt lust hab WAS ANzugucken wenn ich lust hab mal an einer ding (.) TEILzunehmen an einem AUSflug oder so dann würd ich MITgehen oder so (.) aber ich hätte UNgern so einen
strukturierten TAGesablauf (.) […] ich habe (.) ich will EINfach gerne ETwas UNabhängiger sein“ (Interview Herr T., Abs. 25)
Darüber hinaus bieten sich die räumlichen Ressourcen der Einrichtung zur Freizeitgestaltung
an, z.B. durch das Nutzen eines Fernsehzimmers oder anderer Gemeinschaftsräume bzw. –
soweit vorhandener – Außenanlagen. Die Nutzung der Gemeinschaftsräume bietet eine niederschwellige Option der Freizeitgestaltung, bei der z.B. Herr O. situativ Einfluss nehmen
und entscheiden kann, ob die Freizeitaktivität Interaktionen ermöglichen oder ausschließen
soll.
O: „manchmal denk ich mir ja guck doch mit den leuten gemeinsam fernseher dann kommst du ins gespräch (1) oder man hat die gemeinschaft aber ist manchmal gar nicht so einfach
I: mhm (1) was ist da nicht so einfach
O: mit den leuten ins gespräch zu kommen oder=oder sich dahin zu setzen und mit denen zu gucken ich
gucke lieber alleine fernsehen also nicht immer aber (2) ich setz mich schon mal dazu“ (Interview Herr
O., Abs. 182-184)
In einem anderen Interview (Adressat_in in einem Sozialpsychiatrischen Dienst, nimmt Beratung und Tagesaufenthalt in Anspruch) findet sich diese Idee einer aktiv (selbst-)gestalteten
Freizeit wieder. Sie berichtet davon, über ein Freizeitangebot im Tagesaufenthalt angeregt
worden zu sein, sich zu Hause mit Spielen wie Sudoku, Memory oder Mau-Mau zu beschäftigen. Nach Anfangsschwierigkeiten fiel es ihr relativ leicht, sich Sudoku anzueignen und immer komplexere Aufgaben zu lösen.
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Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
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R: „[…] und dann habe ich mir gleich sudoku heftle aber natürlich zuerst für einsteigerund nicht für
profis und so gell ich mein ich muss jetzt auch wieder da ziemlich weil ich war bis zum level elf bis level zwölf gibts ja bis level elf“ (Interview Frau R., Abs. 19)
Der Erfolg bestätigte Frau R. darin, sich auch auf Spiele wie Memory und Mau-Mau einzulassen. Da diese Spiele auch in der Gruppe gespielt werden können, wurde Frau R. zudem darin
bestärkt, eine andere Person (ebenfalls Adressat_in des SpDi) zu sich nach Hause einzuladen,
um Mau-Mau zu spielen.
R: „ja bei mir zu hause machen wir das und jetzt neulich haben wir das auch gemacht“ (Interview Frau
R., Abs. 51)
Ursprünglich waren die Spiele in ein Angebot eingebettet, das explizit als kognitives Training
ausgewiesen ist. Frau R. nutzte das Angebot und konnte sich zudem darüber hinausweisende
Freizeitaktivitäten, wie z.B. Quizsendungen im TV, aneignen. Frau R. betont dabei, dass es
nicht darum geht sich ‚berieseln‘ zu lassen, sondern darum, dass das „hirn flexibel bleibt“.
R: „sudoku sudoku sudoku ist eine sucht bei mir ich mach jetzt gerade sudoku selber grad selber die
leere fächer aus und dann tu ich selber so zahlen rein machen und jetzt muss ich radieren radieren weil
es nicht so dass mein hirn flexibel bleibt [I: mhm] weil sonst verblödest du weil ich hab gemerkt ich
verblöde zusehentlich wo ich nichts gemacht habe <holt Luft> ich mach jetzt zwar auch ich die (.) quizsendungen im fernsehen mache ich immer mit […] neulich habe ich die schnelle raterunde mitgemacht
[…] ich hab das gar nicht überlegt wie das mein hirn auf einmal von alleine geschwätzt hat also wirklich wahr super super“ (Interview Frau R., Abs. 17)
Auf der einen Seite unterwirft sich Frau R. der Aktivierungslogik und akzeptiert den therapeutischen Impetus des Angebots inklusive seiner kognitivistischen Normalitätskonstruktion.
Auf der anderen Seite gelingt es Frau R. jedoch, diese Denkbewegung mit alltäglichen Routinen, Bedürfnissen und Interessen zu vermitteln und so den mit dem Angebot implizierten
Nutzen zu realisieren. Über den fokussierten kognitiven Nutzen „dass mein hirn flexibel
bleibt“ hinaus, kann Frau R. durch den Rückbezug auf das Angebot in Interaktion mit anderen
Adressat_innen treten und in der Auseinandersetzung mit dem Angebot (Sudoku, Memory,
Mau-Mau spielen) nicht nur die Bewältigung einer konkreten Krise bewerkstelligen („weil
ich hab gemerkt ich verblöde zusehentlich wo ich nichts gemacht habe), sondern darin auch
künftige Krisen erzeugen bzw. ermöglichen.
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
323
Institutionalisierte Freizeitgestaltung ist jedoch nicht einfach dauerhaft durchzuhalten: Nach
einer gewissen Zeit werden manche Angebote nicht mehr regelmäßig genutzt, erklärt eine
interviewte Person. Und so schleichen sich die Angebote aus:
„das ist also INsgesamt WENIGER geworden (2) die MALgruppe hat eigentlich AUCH schon LAnge
nicht mehr STATTgefunden (.) irgendwie (.) gehen den leuten die PUSTE aus (.) die KOMMEN nicht
mehr <<lacht>> ich weiß aber AUCH NICHT woran das LIEGT“ (Interview Herr P., Abs. 35)
Fallbeispiel
Am Beispiel des Interviews mit Frau D. wird die Bedeutung sozialer Netzwerke in sozialpsychiatrischen Institutionen für die Identitätsarbeit psychiatrieerfahrener Menschen exemplarisch ausgeführt.
Frau D. ist Besucherin einer Tagesstätte für psychisch erkrankte Personen. Sie beginnt ihre
Erzählung mit der Darstellung ihres Wegs in die Tagesstätte, der 1987 oder 1988 mit einem
Klinikaufenthalt begann. Dem Klinikaufenthalt folgte eine Unterbringung in einer sozialpsychiatrischen Wohngruppe, innerhalb derer sie an einer „Freizeitgruppe“ teilnahm, welche später zur gegenwärtigen Tagesstätte konzeptionell verändert und weiterentwickelt wurde. Bereits in der ersten Sequenz hebt sie hervor, dass sie zwar seit dieser Unterbringung kontinuierlich an verschiedenen Angeboten sozialpsychiatrischer Handlungsfelder teilnimmtm, parallel
jedoch bis 2004, bis zu ihrem Renteneintritt, „auf dem ERSTEN Arbeitsmarkt“ (Interview
Frau D, Abs. 5) arbeitete. Vor der Unterbringung in der Wohngruppe hat sie eine Ausbildung
zur medizinisch-technischen Assistentin absolviert und in einem Krankenhaus gearbeitet.
Während ihrer Zeit in der Wohngruppe absolvierte sie eine weitere Ausbildung, „eine KINDERpflegerinausbildung […] eine erZIEHERinausbildung“ (ebd., Abs.9), nutzte jedoch weiter regelmäßig sozialpsychiatrische Gruppenangebote:
„seit fünfundneunzig war ich in der FRAUENgruppe in einrichtung 1 (.) und da hab ich immer erZÄHLT von meinen KINDERN und vom KINDERgarten und von der SCHULE (.) und von den PRÜfungen und so“ (ebd., Abs.9).
Frau D stellt heraus, dass sie die Angebote eher als Unterstützung bei der Freizeitgestaltung
nutzte: „VIER tage freitag FREI gehabt und dann bin ich halt zum ESSEN gekommen (.) also
die FREIzeitgruppen hab ich dann geMACHt“ (ebd., Abs.5). Gleich zu Beginn des Interviews
beschreibt sie sich als Adressatin, die zwar auf die Angebote des Handlungsfeldes angewiesen
ist, diese aber immer auch selbstbestimmt verlassen oder verändern kann. Die Sozialpsychiat-
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324
rie beschreibt sie als differenziertes System, innerhalb dessen Übergänge und Veränderungen
der Angebote möglich sind. Der Klinikaufenthalt wird im Nachhinein nicht als stigmatisierende Einbahnstraße beschrieben, sondern als Zugang zu einem differenzierten Hilfesystem:
„also ich war in ort 1 im KRANKenhaus (.) und dann (.) dann ähm war ich in einer in einer GRUPPE in
einer FREIzeitgruppe und war in einer WOHNgruppe Auch und bin dann dadurch zum einrichtung 2
gekommen der VORgänger vom einrichtung 1“. (ebd., Abs.5)
Die Wechsel der wahrgenommenen Angebote und das Begleiten von institutionellen Veränderungen schildert Frau D. als ermöglichend, als Anlässe an den neu vorgefundenen und sich
transformierenden Strukturen zu partizipieren, sich darin zeitweise zu verorten. Neben ihrer
Arbeit im Zuverdienst der Einrichtung, engagiert sie sich auch in anderen Bereichen. So beschreibt sie sich als „PATIENTENsprecherin“ (ebd., Abs.11) der niederschwelligen Tagesstätte und als Leiterin diverser Gruppen, die einst von Studierenden im Praxissemester angeleitet wurden und nun, aufgrund der Veränderungen des Studiums, von ihr angeleitet werden:
„und das haben früher alles studenten gemacht die ganzen GRUPPEN und das hab ich jetzt
überNOMMEN (.) ich bin ja KINDERpflege <<lacht>>“ (ebd., Abs.11). Unter anderem
nimmt sie auch an einem Bewegungsangebot teil, welches ihr einen Anlass bot auch Angebote außerhalb sozialpsychiatrischer Handlungsfelder wahrzunehmen:
„ich war priVAT früher AUCH in einer gymnastikgruppe (.) über über SENIOREN- sport (.) und da
hab ich mir die ANregungen geholt und ich geh jetzt privat wieder MOntags in eine ANDERE gruppe
(.) da ist es ein kleines bisschen ANDERS und dann MIX ich immer die ÜBungen ein bisschen“ (ebd.,
Abs.11).
Seit zwölf oder dreizehn Jahren arbeitet sie ebenfalls als Unterstützung bei der ambulanten
Pflege von Peers:
„BEtroffene für BEtroffene bei der ambulanten PFLEGE da […] mal in einem HAUShalt […] und dann
war ich mal bei einer frau da hab ich WÄSCHE gewaschen da hab ich mal SPIELE mitgenommen
mensch ärger dich nicht spiele und die liederbücher von hier“ (ebd., Abs.13).
Frau D. ist darüber hinaus auch in einem Kindergarten tätig:
„ich bin ja ZUSÄTZLICH da das mach ich ja EHRENamtlich […] und ich tu gern VORlesen und so
und dann schif- tu ich auch st- stifte spitzen“ und hat regelmäßigen Kontakt zu einem Waldkindergarten
im Ort: „ich war mal ein ganzes JAHR an der THEKE (1) hab ich eine erZIEHerin kennengelernt vom
WALDkindergarten und mich beSUCHEN sie AUCH manchmal (.) oder mit den KINDERN dann singen sie dann spielen sie mit den SCHRAUBEN das heißt sie MONTIEREN sie auch (.) spaßeshalber
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
325
und dann (.) singen sie LIEDER und tun FRÜHSTÜCKEN und (.) wir haben es auch einmal besucht
wir sie auch im WALDkindergarten am ort 3 im BAU- wagen und so“ (ebd. Abs. 15)
Frau D.s Schilderungen zufolge, erlebt sie ihre Teilnahme an den verschiedenen Angeboten
als unterstützend. In ihrer Erzählung beschreibt sie die Angebote und Strukturen der Sozialpsychiatrie als Ermöglichungsräume, die sie nutzen und verschränken kann, sodass sie Inhalte, Materialien, Beziehungen in andere Felder transferieren und dort für sich als Autonomie
eröffnende Ressource erfahren kann. Der konkrete Nutzen der Angebote lässt sich nicht auf
eine bestimmte Wirkung, Änderung eines Handlungsschemas oder des Erlernens einer Handlungsstrategie vereinseitigen. Vielmehr scheint es, als nutze Frau D. die Angebote so, dass
durch die Nutzung hindurch die Aneignung des Gegenstandes des Angebots selbst (z.B. Steigerung der Frequenz körperlicher Betätigung, Prävention körperlicher Erkrankungen aufgrund eines Mangels an Bewegung) und darüber hinaus, die Aneignung weiterer – ökonomischer, sozialer usf. – Räume möglich wird (z.B. die Teilnahme an einer Gymnastikgruppe
außerhalb der Einrichtung). Frau D. bleibt jedoch weiterhin auf das Handlungsfeld angewiesen, bringt die Erfahrungen, die sie außerhalb macht wieder in die Gruppen der Einrichtung
ein und bewegt sich sowohl in institutionell resp. sozialpsychiatrisch definierten und dominierten Bereichen als auch außerhalb davon. Zugleich wird deutlich, dass eine gelungene
Auseinandersetzung mit sozialpsychiatrischen Unterstützungsleistungen nicht zwangsläufig
den Ausstieg aus dem Handlungsfeld befördern muss, im Sinne einer »Normalisierung« der
Person und ihrer sozialen Bezüge oder einer »Heilung« der Erkrankung. Vielmehr wird deutlich, dass Soziale Arbeit in sozialpsychiatrischen Handlungsfelder im Sinne von sozialen
Netzwerken genutzt wird, also als Ressource in der Bearbeitung und Umsetzung von Identitätsprojekten.
Ergebnisse des Fachtags
Zum Thema Identität und soziale Netzwerke wurden am Fachtag anhand des Zitats:
„Die Einrichtung ist schon wichtig. Ohne sie würde ich nur zu Hause rumsitzen. Das wäre auf Dauer ein
großes Problem.“
ähnliche Themen wie in Kapitel 4.2.3. diskutiert und die nicht selbst gewählte Gemeinschaft
in Einrichtungen betont. In diesem Zusammenhang wurde ebenfalls die Ansicht entwickelt,
dass sich die Institution bezüglich sozialer Netzwerke zwischen einem sozialen Kontaktraum
und der institutionellen Herstellung von Beziehungsabbrüchen bewegt. Außerdem kam die
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Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
326
Frage auf, ob die Errichtung eines Schutzraumes nicht genau das Gegenteil einer Inklusionsbewegung ist. Die Diskutierenden hielten fest, dass alle Menschen Beziehungswesen sind, für
die es wesentlich ist, sich als bedeutsam für Andere zu erleben.
Außerdem wurde die Zusammenarbeit von Professionist_innen nicht professionellen Helfer_innen entlang des folgenden Zitats diskutiert:
„In Stadt X habe ich eine Stimmenhörergruppe kennen gelernt. Das hat mir gefallen. Dort gelten nicht
nur die als Expert_innen, die studiert haben, sondern auch die, die es selbst miterlebt haben.“
Diesen Impuls diskutierten die Gäste mit dem Fokus auf das Spannungsfeld zwischen den
Vorteilen eigener Betroffenheit bei der Begleitung Psychiatrie-Erfahrener und der Notwendigkeit professioneller Distanz. Zunächst ging es um die Frage, was unter »professioneller
Kompetenz« bzw. »Professionalität« zu verstehen ist. Dazu, so die Ansicht der Gäste, gehört
zunächst ein Wissensspektrum aus Theorie und Praxis. Ob Erfahrung ein Kriterium von Professionalität ist, wurde kontrovers diskutiert, wobei sich alle einig waren, dass es kein alleiniges Qualitätsmerkmal einer sozialpsychiatrischen Hilfe sein kann, Erfahrungen sind schließlich immer heterogen. Die anwesenden Psychiatrie-Erfahrenen forderten jedoch sehr deutlich
„Nehmt uns ernster“, sie wünschten mehr Beteiligung an Hilfeprozessen und auch an Forschung. Sie wiesen auf den Unterschied hin, dass Erfahrungen bei authentischem, empathischem und „sinnlichem“ Handeln helfen kann, denn: „Anfühlen ist etwas anderes als ansehen“. Für Psychiatrie-Erfahrene und Nicht-Psychiatrie-Erfahrene Helfer_innen gibt es immer
Grenzen des Verstehens, sogenannte „blinde Flecken“, um die gewusst werden sollte. Das
Gemeinsame an Erfahrungen von Psychiatrie-Erfahrenen und Nicht-Psychiatrie-Erfahrenen,
was Professionalität ausmacht, ist, dass alle Menschen Erfahrungen mit der Wirklichkeit machen und somit auch alle Menschen auf dieser Wissensebene miteinander kommunizieren
können. Eine professionelle Distanz sahen ebenfalls alle Anwesenden als wichtiges Merkmal
von Professionalität. Zusammenfassend sind die Merkmale von Professionalität an dieser
Stelle also die Reflektiertheit von Erfahrung und die multiperspektivische Betrachtung von
Fällen, die eine einseitige Deutung verhindert.
327
4.4.
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
Identitäten und Zugehörigkeiten, Zuschreibungen, Politik, Widerstand
Diese Kategorie ist an die Identitätskategorie „Kulturelle Identität“ (vgl. Keupp et al 2008, S.
170-181) angelehnt, jedoch etwas weiter gefasst. Unter kultureller Identität verstehen Keupp
et al „kulturelle Werte, Orientierungen, Einstellungen“ (ebd., S. 180), in denen die eigenen
Identitätsentwürfe bewertet werden. Dabei werden die Werte etc. in sozialen Netzwerken
ebenfalls reproduziert, ihre Praktiken eingeübt und in die alltägliche Lebensführung umgesetzt (vgl. ebd., S. 180). Für neue kulturelle Identitäten, z.B. regionale Identitäten, ist vor allem die Erfahrung von Benachteiligung und Diskriminierung 15 ausschlaggebend. Mit einer
Diversifizierung kultureller Identitäten in Zeiten gesamtgesellschaftlicher Umbrüche und veränderter Kommunikation (Sprache, Medien) werden jedoch auch Unterschiede und Ambivalenzen zwischen Gruppen und Subjekten deutlicher, welche individuell bearbeitet werden
müssen. Das Gefühl, nicht in einen sozialen Kontext eingebettet zu sein bzw. ihn zu verlieren
(„Disembedding“), wird durch eine erneute Herstellung von Verbindungen zu Orten, Personen und kulturellen Kontexten („Beheimatung“) wieder einzuholen versucht. Mit der Aussage
mitgehend, dass psychisches Leiden als Leiden an gesellschaftlichen Verhältnissen in den
Blick genommen werden muss und sich Kritik nicht nur auf (notwendige) Kritik an psychiatrischen Behandlungskonzepten reduzieren und damit entpolitisieren darf (vgl. Kardoff 2017,
S. 4–5), wird hier besonders auf die Verletzlichkeiten, die krank machenden Verhältnisse und
demnach das Scheitern und der Widerstand gegenüber diesen Verhältnissen geblickt. An dieser Stelle sind politische Positionierungen, widerständige Praktiken und die Beschreibung der
Einschätzung der Befragten, „nicht-identisch“ oder „anders“ zu sein, zusammengefasst, die
für Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung unter Bezug auf Normalitäts- und Abweichungskonstruktionen im Datenmaterial eine Rolle spielen. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses
von Psychiatrie als der „Wiederherstellung der Ordnung und de[m] `Schutz` der Gesellschaft
vor den `Anormalen`“ (Ralser 2010, S. 141) dienend, gilt es diese Dimension besonders hervorzuheben. Durch Differenzierungs- und Normalisierungsstrategien der Psychiatrie kommt
es zu einer Delegitimierung von Bedürfnissen der Adressat_innen und damit zu einer Stärkung der paternalistischen Professionist_innenposition (vgl. Bliemetsrieder/Dungs 2016, S.
280), die einem partizipatorischen Professionsverständnis entgegenstehen. In diesem Zusam-
15
Auf unterschiedliche Ungleichheitsdimensionen bezogen, wie z.B. sex/gender, Ethnie/Herkunft,
Behinderung/körperliche Merkmale, colour/Hautfarbe, class/zugeschriebene gesellschaftliche Klasse.
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menhang sind ebenfalls alle Äußerungen zu stigmatisierenden Erfahrungen der Befragten in
den Blick zu nehmen, die sich nach Erving Goffman (1963/1975) auf eine »beschädigte«
Identität auswirken.
Zusammengefasst werden in diesem Abschnitt folglich die von Psychiatrie-Erfahrenen erlebten Zugehörigkeiten und darin eingelagerte Werte und Einstellungen aufgezeigt, sowie ihre
Zuschreibungs- und Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer psychischen Erkrankung
hervorgehoben.
Kurzbeschreibung der Inhalte
Die Aussagen der Befragten in dieser Kategorie lassen sich in fünf Code-Gruppen unterteilen:
•
Zugehörigkeit zur Gruppe psychisch Erkrankter und gesellschaftliche Teilhabe
•
Positionen zur psychiatrischen Handlungsfeld
•
Mitwirkungsgremien und Interessensvertretung
•
Politisches Engagement
•
Kunst und Anerkennung
Die Zugehörigkeit zur Gruppe psychisch Erkrankter und gesellschaftliche Teilhabe
spielt quantitativ eine große Rolle in den Interviews und wird qualitativ sehr divers diskutiert.
Viele Interviewteilnehmer_innen berichten von erlebter oder befürchteter Stigmatisierung, die
zu einem „Doppelleben“ (Gruppeninterview 1, Abs. 160) zwingt – das ganze Leben erschwert
– da es zu Ausgrenzungs- und Abwertungserfahrungen in den Bereichen Arbeit, Nachbarschaft, Mietverhältnis, Partnerschaft, Familie und Freundschaften kommt. Dabei, so das Erleben er Interviewten, hilft es jedoch sehr, dass eine psychische Erkrankung äußerlich nicht
sichtbar ist und somit der Schein des Normalseins gewahrt werden kann:
„ja (.) ja <<lacht>> ja wenn man halt verSUCHT (.) geWISSE (.) den ANschein zu WAHren quasi ein
norMALES LEben zu FÜHREN“ (Gruppeninterview K, Abs. 125).
Auch im sozialpsychiatrischen Hilfesystem selbst wird dies in Form von undifferenzierter
Pathologisierung aller Identitätsanteile erlebt. Inhaltlich sehen sich die Befragten mit einer
ihnen unterstellten Unzuverlässigkeit und einer auch durch öffentliche Berichterstattung unterstützten Angst vor ihnen konfrontiert. Einige Interviewpartner_innen thematisieren sich
329
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
selbst als „Psychisch Kranke“, äußern zum Teil Scham aufgrund der eigenen Diagnose, berichten aber auch von der Identifikation mit der Diagnose. Einige verstehen ihre psychische
Erkrankung als unüberwindbar ursächlich für schwierig zu bewältigende Aufgaben in verschiedenen Lebensbereichen „arbeiten gehen=geld verdienen das kann ich ja nicht alles [I:
mhm] oder ich trau mirs nicht zu so gesagt“ (Interview Herr O., Abs. 210). An einigen Stellen
thematisieren die Befragten, dass sie zu vielen Bereichen nicht dazu gehören oder sich keiner
Identität, weder den psychosozialen Einrichtungen, noch einer Gesellschaft außerhalb zugehörig fühlen.
Dementsprechend vergemeinschaften sich die Befragten auf unterschiedliche Weise mit einer
von ihnen angenommen Gruppe „Betroffener“. Einerseits wird sich von anderen ausgegrenzten bzw. marginalisierten Gruppen selbst abgegrenzt, zum Beispiel von ebenfalls in der Tagesstätte im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit arbeitenden Menschen. Zu anderen Betroffenen
wird teilweise eine Verbundenheit, eine gegenseitige Dankbarkeit erlebt. Andererseits wird in
der heterogenen Gruppe von Psychiatrie-Erfahrenen ebenfalls zwischen den »sehr Kranken«
und den »weniger Kranken« unterschieden, mit denen man Mitleid hat. Zum Beispiel erzählt
eine Befragte: „ich hab SO ein HERZ gehabt für die arme kranke menschen (.) das hab ich
schon IMMER gehabt“ (Interview Frau B., Abs. 10) und: „also ich hab mich IMMER eingemischt und hab zu den (.) psychisch kranken menschen gehalten“ (ebd., Abs. 28). Es werden
Hierarchien anhand des Grades an Engagement und Teilhabe vorgenommen: Z.B. wird mit
der Beteiligung im Heimbeirat eine erhöhte Position in der Gruppe verbunden: „ich bin eigentlich die UNTERSTE aller (.) so empfinde ich mich (.) also ich war vorher die nummer
eins hier“ (ebd., Abs. 26).
Die gemeinsame Erfahrung, eine psychische Erkrankung zu haben, trägt jedoch darüber hinaus zu einer gemeinsamen kulturellen Identität bei, was an diesem Versprecher deutlich wird:
„die mithäft- <<lacht>> <<lachend>die mitklienten“ (Interview Frau R., Abs. 85). An manchen Stellen wird die Empfindlichkeit der anderen Psychiatrie-Erfahrenen jedoch auch als
Hindernis für gemeinsame Gespräche gesehen „deswegen bin ich da ziemlich äh jetzt (.) distanzierter so [okay] das da musst du wirklich aufpassen was du redest das ist ganz schlimm“
(Interview Frau R., Abs. 61). Einige erleben das Zusammenwohnen mit anderen PsychiatrieErfahrenen hauptsächlich als vereinzeltes nebeneinander Leben „P: weil jeder denkt dann
meistens an sich selber (1) und nicht“ (Interview Frau L., Abs. 35). So wünschen sich einige
konkret eine bessere Vergemeinschaftung „P: also ich würd mir wünschen mehr gespräche
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irgendwie [I: mhm] oder irgendwie mehr zusammenhalt unter den bewohnern oder so“ (Interview Herr O., Abs. 247) und andere erleben dies schon direkt als Atmosphäre in einer Einrichtung, die nur für psychisch kranke Menschen gedacht ist:
„I: <<atmet aus>> ja ähm dass man halt ähm (2) JA dass man halt ähm (2) ja man ist NICHT ausgeschlossen also (.) man gehört dazu (1) ähm man kommt leicht ins GESPRÄCH mit anderen LEUTEN
und (2) und so weiter irgendwie ja“ (Interview Herr I., Abs. 17).
Dabei ist die Vergemeinschaftung teilweise auch infantilisierend beschrieben: „wir haben
ZIEGEN hier (.) die ich versorge mit ein paar anderen jungs und mädels“ (Interview Herr E.,
Abs. 38)
Von den Befragten äußern einige als Grund und Folge ihres erlebten gesellschaftlichen Ausschlusses ihre sozioökonomische Lage und die damit verbundenen Einschränkungen. So wird
die prekäre Beschäftigung im Zuverdienst beispielsweise als notwendig wahrgenommen, weil
Transferleistungen (wie z.B. Arbeitslosengeld II, Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung) nicht ausreichen. Die finanzielle Knappheit wird allgemein als sehr belastend erlebt:
Bestimmte Wünsche, wie zum Beispiel zu reisen, auch in finanziell subventionierten Freizeiten, sind demnach von einem knappen Taschengeld, wie es in Wohnheimen ausgezahlt wird,
kaum zu ermöglichen. Ein Befragter formuliert es so:
„P: ja das ist halt (.) wenn man raucht und wenn man seine kleider alles selber kaufen muss und hygieneartikel (.) dann ist das eigentlich fast nicht möglich dass man in die stadt geht und da große sprünge
macht“ (Interview Frau L., Abs. 143).
Auf die Nachfrage beim Kostenträger nach einer dringend notwendigen Erhöhung des Taschengeldes wurde dem Adressaten gegenüber mit dessen kostenaufwendigem Hilfebedarf
argumentiert: „aber die=die sagen der heimplatz wäre halt so teuer da können wir nicht
mehr=nicht mehr=da können wir=die können uns nicht mehr taschengeld geben“ (Interview
Frau L., Abs. 59). Einige Befragte berichten auch von der Notwendigkeit einer andauernden
finanziellen Unterstützung durch Eltern oder andere Verwandte und Bekannte. Dass die Versorgung eines Haustiers, das eine familienersetzende Funktion für eine Befragte einnimmt,
ebenfalls stark erschwert wird, berichtet sie so: „ich habe eine katze die kostet alleine hundertfünfzig bis zweihundert dann und der rest bleibt mir übrig“ (Interview Frau R., Abs. 53). Verhindert wird, nach Empfinden einiger Befragter, eine selbstständigere, das heißt nach eigenen
Normalitätsvorstellungen gestaltete, Lebensweise:
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„ja (1) das würde ich machen wenn ich geld hab [I: mhm] (2) ich hab's super eingerichtet eigentlich viel
schade um es jemals wieder aufzuräumen […] ich weiß nicht ein großes HAUS (.) und dann gucken=verstehen sie (1) dann gucken was einem so reinläuft (.) einen gescheiten sportwagen von mercedes (1) ein HAUS (.) eine FRAU=ein MÄDchen das ich heirate (5) hm (3) […] 150 wären gut (1) weil's
echt mehr ebbe also ich mein mehr SPIELraum“ (Interview Herr E., Abs. 200)
Vor diesem Hintergrund sind an dieser Stelle besonders die Wünsche und Bemühungen um
gesellschaftliche Teilhabe hervorzuheben, die in den Interviews formuliert werden und als
Identitätsentwürfe verstanden werden können. Allgemein werden die Wünsche geäußert, dass
die Idee, psychische Erkrankungen seien unheilbar, aufgeklärt wird
„ein geSELLSCHAFTLICHER WUnsch ist zum beispiel für MICH wirklich (2) die UNheilbarkeit von
VIELen KRANKheiten (1) dass da irgendwie ein paraDIGMEN- WEchsel oder ich WEIß NICHT dass
(.) das stell ich SEHR in frage (.) dieses dass ähm (.) dass man als UN- HEIbar ABgestempelt WIRD“
(Gruppeninterview K, Abs. 205),
dass alle Menschen in einer vielfältigen Gesellschaft anerkannt werden könnten:
„A: ja also dieser diese ÖFFentliche akzepTANZ das das es halt VIELfalt gibt (.) [I 1 : mhm mhm] wie
in (.) VIELEN beREICHEN also das haben wir ja nicht (.) allEINE <<lacht>> dass es UNTERschiedliche MEnschen gibt UNTERschiedliche (.) LEBENSsituationen UNTERschiedliche VORkommnisse im
LEben unterschiedlichste bioGRAFIEN (.) einfach dieses beWUSST machen dass das ALLes SEIN
DARF und AUch einen PLAtz und eine beRECHTigung (.) in der geSELLSCHAFT hat (2)“ (Gruppeninterview K, Abs. 206)
und
„dass so der STEMpel wegfällt auch A: und (2) JA einmal einfach einmal dem dem MEnschen FACE
to FACE zu be- be- beurTEILEN oder oder sich eine MEINUNG darüber zu BILden“ (Gruppeninterview K, Abs. 207-208).
Konkrete Überlegungen in diesem Zusammenhang sind zum Beispiel, die Betroffenenperspektive in der Arbeit mit Schüler_innen an Schulen zum Gegenstand zu machen (vgl. Interview 2, Abs. 13) oder allgemein gegen verkürzte Darstellungen in der Presse mit differenzierteren Informationen zu reagieren (vgl. Interview Frau D., Abs. 37). Die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich anerkannten Gruppe steht für einige in direktem Zusammenhang mit ihrer
psychischen Gesundheit (vgl. Gruppeninterview K, Abs. 201-201). Dies werde jedoch auch
durch die Medikamenteneinnahme behindert, weil diese einschränkende Wirkungen haben
(vgl. Gruppeninterview K, Abs. 63)
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Außerdem weisen die Befragten auch auf ihre anderen gesellschaftlichen Rollen hin, als
Gastgeber_innen für Freund_innen („wenn ich einlade ich bin gastgeber“ (Interview Frau R.,
Abs. 39), als Versorger_in anderer bedürftiger Menschen und Tiere und als Zugehörige_r
einer Generation, die das Erwerbsleben abgeschlossen hat „ICH mein ich bin jetzt auch
RENTNER“ (Interview Herr I., Abs. 57).
Das klinisch-psychiatrische Hilfesystem kritisieren einige Befragte deutlich. Es wird von
schlechten bis hin zu traumatischen Erfahrungen mit der psychiatrischen Behandlung berichtet, die sich z.B. auf das Erleben einer schlechten Beratung in Bezug auf den Umgang mit der
Erkrankung während der Schwangerschaft bezieht oder, in einem anderen Fall, die Zwangsbehandlung als weiterhin sehr belastende Erinnerung betrifft. Zudem wird berichtet, dass die
Behandlung mit Medikamenten zu emotionalen Einschränkungen geführt hat, mit starkem
Einfluss auf Partnerschaft und Familie
„ich war mit einem freund zusammen (.) und die beziehung ist abgestorben (1) und=weil die welt uns
dazwischen gekommen ist und zwar in der psychiatrie (1) ich hab ein mittel gekriegt=eine spritz-=eine
spritze bekommen (.) die GEGEN psychose war und die hat aber als nebenwirkungen depressionen verursacht (.) und seit dieser zeit kann ich nicht mehr trauern (.) hab ich kein gefühl mehr (1) bin hoffnungslos (.) bin freudlos“ (Interview Frau B., Abs. 6).
Die klinisch-psychiatrische Behandlung wird dergestalt erlebt, dass sie zu wenig individuelle
Befindlichkeiten berücksichtigt (vgl. Interview Frau D., Abs. 49). Dass Psychiatrie-Erfahrene
in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern mit unterschiedlichen Logiken der verschiedenen
Professionen konfrontiert sind, fasst dieser Befragte – Vertreter Psychiatrie-Erfahrener – zusammen:
„MEDIZIN und soziale ARBEIT sind ein- UNTERschiedliche funktionale sysTEME (.) mit unterschiedlichem CODE nämlich (.) die medizin mit HEILEN und NICHT heilen und soziale ARBEIT (.)
mit HELFEN (.) NICHT helfen“ (Experteninterview Herr W., Abs. 6)
Von den Befragten engagieren sich einige in Mitwirkungsgremien bzw. Interessensvertretungen im sozialpsychiatrischen Hilfesystem, wie z.B. dem Gremium in stationären Einrichtungen, dem Heimbeirat, Selbsthilfegruppen, Hausbesprechungen als regelmäßige Besprechungen mit Adressat_innen und Mitarbeiter_innen oder als Sprecher_innen der PsychiatrieErfahrenen in der jeweiligen Einrichtung. In diesem Zusammenhang berichten die Engagierten von einer notwendigen psychischen Stabilität und Selbstbewusstsein für eine Mitarbeit,
die in einer psychischen Krise nicht möglich ist (vgl. Interview Frau B., Abs. 37).
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
333
Anliegen der Betroffenen, die hier verhandelt werden, hängen stark vom Grad der Institutionalisierung der Einrichtung ab: Zum Beispiel wird im stationären Wohnheim häufig die Essensauswahl diskutiert, sich für Taschengelderhöhungen eingesetzt oder die Gestaltung von
Freizeiten geplant; einzelne Aktionen waren z.B. die Durchsetzung der Anschaffung von Kabelreceivern für alle und auch die Sammlung von Unterschriften für mehr Urlaubstage von
der Teilnahme an tagesstrukturierenden Maßnahmen. Allgemein wird auch Raum für Konflikte und weitere Anliegen gegeben: Eine ehemalige Heimbeirätin berichtet bspw.: „und hab
auch oft wenn irgendwelche=wenn die mitarbeiter aus meiner sicht nicht gerecht umgegangen
sind mit den bewohnern (.) da hab ich mich eingemischt“ (Interview Frau B., Abs. 28)
In der von uns befragten stationären Einrichtung ist der Organisationsgrad des Heimbeirats
eher lose, so finden keine regelmäßigen Treffen statt, sondern ausschließlich anlassbezogene
Sitzungen, die sehr von dem individuellen Engagement der Beteiligten abhängen. Allgemein
wird auch von einer geringen Bereitschaft für ein solches Engagement berichtet.
In einer niedrigschwelligen Einrichtung, einer Tagesstätte, wird berichtet, dass die Sprecher_in der Betroffenen in die Diskussion über gesetzliche Änderungen miteinbezogen wurde
und dies zu einer gemeinsamen politischen Stellungnahme an politische Verantwortungsträger geführt habe: ,
„und das das ähm auch wenn eine verÄNDERUNG ist (.) irgendwie im [Name d. Einrichtung] oder so
(.) oder NEUE (.) GESETZE (.) zum beispiel (.) wir haben beTREUTES WOHNEN gell da kann ähm
da kam ein anderes (.) ein ANDERES (.) GESETZT wegen der finanZIERUNG […] und da haben wir
auch schon BRIEFE geschrieben damals an den MINISTERpräsidenten (.) dass es sehr WICHTIG ist
(.) ähm die beTREUUNG und so für UNS (.) da gibt es auch PFLEGEstufe NULL (1) darüber das JEMAND (.) KOMMT und INFORMIERT und das ÄRZTE kommen informiert oder MEDIKAMENTE
und so“ (Interview Frau D., Abs. 35)
Auf die Nachfrage, ob und inwiefern z.B. über für Psychiatrie-Erfahrene bedeutsame rechtliche Veränderungen wie bspw. das PsychKHG informiert wird, gaben viele Befragte an, von
dem Gesetz nichts bzw. nur von dessen Existenz zu wissen 16. Allgemein haben die Befragten
wenig Wissen über die rechtlichen und finanziellen Grundlagen ihrer Hilfen. Diejenigen, die
16
Die Interviews wurden im Zeitraum von Dezember 2014 bis Dezember 2015 durchgeführt. Das
Psychisch- Kranken-Hilfe-Gesetz Baden-Württemberg ist am 1.1.2015 nach einem langen Beteiligungsprozess in Kraft getreten.
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Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
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darüber informiert sind, haben ihre Informationen aus einem Selbsthilfeverband, zu dem in
dem Fall selbstständig der Kontakt gesucht wurde (z.B. Interview Herr I., Abs. 25 und 44-47).
Über die Einrichtungen hinaus engagieren sich einige der Befragten politisch auch anderweitig für die Gesellschaft, beispielsweise als Mitglieder in Parteien, Mitglied in NichtRegierungs-Organisationen, als Unterstützer_innen von Petitionen oder in Form von Beteiligung an öffentlichen Diskursen zum Thema Stigmatisierung „ich hab mal ein INTERVIEW
gegeben in der Zeitung 1 und da hab ich halt gemeint dass (.) die beHINDERTEn nachher
STIGMATISIERT werden“ (Interview Herr I., Abs. 51). Das politische Engagement hat unterschiedliche Funktionen für die Befragten: Es ist eine Möglichkeit, Selbstbewusstsein zu
erlangen, und das Erleben sinnvollen Tuns steigert ferner das Wohlbefinden, wenn andere mit
Sinn belegte Tätigkeiten nicht möglich sind:
„T: ja schon (.) ich habe mich jetzt EINfach mit meiner SITUATION ABgefunden auch wenn es nicht
mein WUNSCH ist ich bin jetzt ANfang (.) ich bin neunundVIERZIG (.) also (.) ich muss sehen halt
mit vierzig und so (.) mit achtundDREIßIG in RENTE zu gehen (.) ja da hab ich mich damit ABgefunden (.) kanns sowieSO nicht ÄNDERN also muss ich das BESTE draus MACHEN (2) also mit den
MÖglichkeiten wo ich habe (.) mich so ein bisschen zu beTÄTIGEN also POLITISCH oder so dass ich
EINfach was TUE (.) das ist es dann auch (.) was SELBSTbewußsein gibt“ (Interview Herr T., Abs.
77).
Zwischen dem politischen Engagement und der sozialpsychiatrischen Einrichtung gibt es, so
schildern die Befragten, keine Verbindung, allerdings erklären sie sich für grundsätzlich offen
für eine stärkere Vernetzung dieser Bereiche.
Im Rahmen der Befragung zweier künstlerischer Gruppen, einer Theatergruppe und einer
Gruppe bildender Künstler_innen, ergab sich eine besondere Bedeutung der Kunst für gesellschaftliche Anerkennung. Kunst wird in diesem Kontext als Nutzen auf verschiedenen Ebenen thematisiert, als Gesundheitsförderung sowie als Möglichkeit, sich sinnhaft und zugehörig zu erleben und in verschiedenen Rollen zu entwickeln:
„D: ja das HAt ja JEtzt ja (.) schon meiner MEINUNG nach (.) einen SEHR (.) geSUNDheitsfördernden
(.) FAktor (1) mit KUnst oder krEATIVE TÄTigkeit (2) [A: ja] weil (1) grad WEnn man ähm (.) quasi
in JUngen JAHren aus dem beRUFSleben herAUSgeRISSEN ist (.) f- FÜHL- würde man sich TOtal
SINNlos FÜHlen wenn man NICHT wo (.) TEILnimmt an einer GRUppe oder so was (.) ein ZIEL verFOLGT
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
335
A: ja die ZUgehörigkeit ist SCHOn WIchtig GENErell ja das ist eGAL ob man zu einer SIPPE oder zu
einer faMILIE zu einem PARtner zu <<lacht>> einem (.) [...] JA also das (.) indiVIDUUM GAnz allEIN irgendWO das ist (.) naTÜRLICH (2) KOmisch ja (2) [D: dafür ist der MEnsch nicht geSCHAFFEN]“ (Gruppeninterview K, Abs. 201-202)
Außerdem wird die Kunst als Möglichkeit betrachtet, als Expert_in wahrgenommen zu werden und einen Beitrag zur Gesellschaft leisten zu können:
„D: also es gab (.) es gab einmal den VORtrag und da wurde (.) van gogh als beispiel ANgeführt (.) der
in seinem LEben (.) NIE was verkauft hat oder vielleicht EIN WErk oder so (2) und TROTZdem (.) der
der WELT viel BEIgetragen hat [...]kann man oft auch ähm (.) schon was GEBEN der WElt (.) was
WERT hat [...]ja es geht ja auch um (.) um GEISTES- KRANKheiten (.) und die sind in der beSCHÄFTIGUNG mit GEIST (.) und und (.) das ist halt verl- (.) eine MINDERheit in der geSELLSCHAFT die
das eben (2) trotz (.) sagen wir mal nicht NUR BLÖDsinn redet“ (Gruppendiskussion K, Abs. 128)
Gleichzeitig impliziert die Teilnahme an der künstlerischen Gruppejedoch auch ein ambivalentes Erleben von Zugehörigkeit, denn: Nur als Psychiatrie-Erfahrene_r hat man Zugang zur
genannten Gruppe der Künstler_innen. So beschreibt eine Gruppe beispielsweise, dass durch
das in den Vordergrund gestellte künstlerische Tätigsein die psychische Erkrankung gleichzeitig in den Hintergrund rückt und dennoch ein gemeinsames Bewusstes ist, das nicht verborgen werden muss und auf das Rücksicht genommen wird:
„C: [...]also ICH FInde (2) also ICH FÜHL mich hier SEHR (2) also (2) weiß nicht (2) ja geSEHEN ist
vielleicht ein bisschen überTRIEBEN aber so ähm akz- also ANgenommen insofern dass ich (.) dass ich
AUch ähm eben HANDlungsfähig BIN und was MAch und und und TU und und (.) mich EINbringen
kann und so ja
A: weil eben das THEma (.) KRANKheit eigentlich KEIN THEma ist [C: ja] das heitßt wir BRAUchen
jetzt nicht STUNDENlang darüber REden und uns erKLÄREN oder irgendwas inszeNIEREN damit
wir [C: genAU] den KEIM AUFrecht erhalten KÖnnen (.) wir können GLEICH ARbeiten so quasi
wenn wenns das ja
C: GENAU und wenns NICHT geht dann SCHREIben wir eine Mail (.) BIN WEG (.) oder so
<<lacht>> und das ist dann klAR waRUM und es FRAgt NIEmand NACH (.) ja okay und nach ein
PAAR WOchen oder so ist man wieder DA oder“ (Gruppeninterview K, Abs. 192-195)
Ist dies zunächst ein Vorteil, ist die Anerkennung einer Teilidentität, als Künstler_in oder als
Psychiatrie-Erfahrener, auf der anderen Seite auch erschwert:
„B: nein wir haben natürlich EIN proBLEM in der GAnzen SITUATION [...] wir sind KEIN psychosoZIAL- verEIN (1) sind aber auch NIcht (.) ähm ähm da da wir UNS auf die KUnst konzentrieren sind
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aber auch KEIN (.) kein kein keine REINE KUNSTgalerie weils die beDINGUNG gibt ähm eine PSYCHische (.) erKRANKUNG AUFweisen zu MÜssen (.) das MACHT uns ein bisschen [...] RElativ
EINzigartig und das ist ein bisschen SCHWIERIG weil wir (1) ähm (3) weil wir von der von der
KUNSTwelt NICHT immer so ERNST genommen (.) werden wie wir es gerne (.) würden (.) beziehungsweise ähm (2) nimmt und nehmen uns andere andere psychosoZIAL EINrichtungen AUch nicht
ERNST weil wir also sozusagen ähm (.) unser unser niVEAU oder unser ANspruch auch ein RElativ
HOHer ist ähm und wir sozusagen viele (.) viele MEnschen auch ausKLAMMERN auf aufGRUND [...]
des NiVEAUS das das wir BIETEN“ (Gruppendiskussion K, Abs. 60)
Durch die »Institution« werden Adressat_innen in diesem Zusammenhang in als »normal«
markierte Situationen gebracht (bzw. bringen sie sich selbst), in welchen sie als Gleiche angesprochen werden. Dies droht jedoch zugleich auch die Fragilität ihrer eigenen Normalitätskonstruktion (als Künstler_in) offenzulegen, da die Adressat_innen sich zwangsweise aufgefordert sehen, sich auf dem Feld des Normalen (der gesellschaftlichen Ordnung der Verwertungslogik) zu positionieren. Dabei beruft sich die Institution einseitig auf eine formale
Gleichheit unter Künstler_innen (auf dem sozialen Feld der Kulturschaffenden), ohne dabei
die Vulnerabilität der Stigmatisierten sichtbar zu berücksichtigen oder Inklusion als professionelle und gesellschaftliche Aufgabe zu thematisieren:
„A: n- n- nein nachdem ich ja auch SEHR viel ZEIT außerhalb dieser (.) institution ähm im norMALEN
LEben unter ANführungszeichen <<lachend> verBRINGE> (2) ist es schon (.) also (.) irgendwie so also es beSTÄRKT jetzt nicht dass ich jetzt KRANker wäre aber ich hab natürlich immer das geFÜHL
ich muss natürlich was verSTECKEN und ich kann nur bis zu einem geWISSEN PUnkt (2) irgendwie
(.) die ich HASSe oder die die beRÜHMT beFÜRCHTETE frAGE ist (.) und was machst denn DU“
(Gruppeninterview K, Abs. 121)
Fallbeispiel
Viele Interviewteilnehmer_innen beschreiben selbstbestimmte Anteile im Leben, das primär
von Institutionen geprägt ist. Damit sind die Momente gemeint, in denen ein eigener Einfluss
auf die Gestaltung der Lebenszeit, des (sozialen und örtlichen) Raums und auf die sozialen
Bezüge wahrgenommen wird. Dies möchten wir ebenfalls am Interview mit Herrn O. herausarbeiten, der weiter oben bereits vorgestellt wurde. An dieser Stelle werden die Interviewsequenzen betrachtet, in denen er über die Möglichkeiten spricht, aus dem stationären Wohnheim auszuziehen und selbstständig zu Wohnen. Herr O. beschreibt das Ringen um eine autonome Lebensgestaltung in bzw. die Ablösung aus einem institutionalisierten Kontext.
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
337
Herrn O. ist das übergreifende Ziel des Wohnheims bewusst – das zu einem selbstständigen
Leben verhelfen soll – es wird hier als Anstreben eines Lebens in einer eigenen Wohnung
verstanden:
„aufgabe ist dass man (1) selbstständig wird [I: mhm] (7) dass man selbständig wird (.) dass man lernt
mit dem leben klarzukommen (2) dass man lernt mit den mitmenschen klarzukommen“ (Interview Herr
O., Abs. 140)
Der eigene Wunsch, nicht das ganze Leben lang in Institutionen zu wohnen, geht damit konform:
„also ich möchte ja nicht hier bleiben bis ich 100 oder bis ich 80 bin und dann da rüber wandern und
dann da hinten auf den friedhof das möchte ich nicht [I: mhm] hm wie geht's weiter (.) jetzt bin ich 12
jahre hier (2) manchmal überlege ich mir willst nochmal 12 jahre hier sein eigentlich nicht [I: mhm]
weil es ist ne lange zeit (1)“ (ebd., Abs. 210).
Herr O. drückt aus, dass er sich danach sehnt, unabhängig von der Einrichtung zu sein: „ich
sag immer zu ihr [Name 7] ich bin jetzt schon 12 jahre hier (.) ich möchte auch mal wieder
frei sein oder raus oder irgendwie (1) was anderes machen“ (ebd., Abs. 237). Und an anderer
Stelle:
„und ist ne lange zeit (2) irgendwann ist man=hat man auch mal die schnauze voll [I: mhm] wenn man
so lange hier ist (.) was heißt die schnauze voll uns geht's ja hier gut (.) aber man=man=man sehnt sich
schon nach was anderes irgendwie doch danach oder davor [I: mhm] irgendwie (1)“ (ebd., Abs. 283).
Selbstbestimmung bedeutet für Herrn O. selbst seinen Hilfebedarf zu bestimmen. Aus eigener
Sicht besteht für ihn dann kein Hilfebedarf mehr, wenn der Alltag in einer eigenen Wohnung
oder ohne institutionelle Vorgaben oder Unterstützung bewältigt werden kann, also der Tag
einen zeitlichen Ablauf von Aufstehen, Versorgung, sinnvollen Tuns, und Schlafengehen hat,
man sich auf sich selbst verlassen kann. Nachdem er schon seit seinem Kindes-/Jugendalter in
stationären Institutionen lebt, sind Lebensformen außerhalb dieser kaum mehr denkbar, sondern Veränderungen nur in institutionellen Kategorien erdenklich. Eine Veränderung seiner
aktuellen Lebenssituation ist nur als Umzug in eine andere stationäre Unterbringung vorstellbar: Wenn es einen Platz in einer anderen Institution gäbe, dann wäre ein Auszug aus dieser
Institution möglich:
„I: was müsste sich denn verändern damit sie (.) ausziehen könnten (.) was müsste anders sein O: also
ich bin schon relativ selbstständig [I: mhm] was müsste anders sein (5) es müsste halt ein platz da sein
irgendwie woanders also wo ich hin kann“ (ebd., Abs. 238-239).
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338
Allerdings wird an dieser Stelle auch die damit verbundene, nicht klar auszumachende Angst
vor einem Leben außerhalb der Institution deutlich, in der kein Schutz durch die Institution
mehr gewährleistet sei. Die Institution bedeutet vor allem einen Schutz vor Gefahren für ihn:
„ja (2) mir geht's hier gut (.) ich fühl mich WOHL (1) ich bin beschützt (.) hab einen rahmen wo ich
wohn- alles ansprechen kann oder wo=wo=wo ich beschü- also ja wo ich halt beschützt bin“ (ebd., Abs.
152).
Alleine zu leben oder das Arbeiten in einer Werkstatt für Menschen mit psychischer Erkrankung, traut sich Herr O. nicht zu
„O: zum beispiel aber in ne andere einrichtung möchte ich eigentlich gar nicht weil ich fühl mich ja hier
wohl [I: mhm] aber wenn ich alleine leben wollte eh weiß nicht alleine leben ist gar nicht so einfach (3)
weil man muss ja auch arbeiten und geld verdienen von nichts kommt nichts [I: mhm] ich will halt nur
nicht in ne behindertenwerkstatt gehen oder in irgendeinen beschützten rahmen [I: mhm] das trau ich
mir noch nicht zu“ (ebd., Abs. 241)
So ist auch die Antwort auf die Frage danach, was im Wohnheim verändert werden müsste,
als Aufrechterhaltung des beschützenden Ortes zu verstehen, der sich nicht verändern darf: „I:
gibt es etwas an dem wohnheim was sie gerne verÄNDERN würden O: JA (.) ich würde die
[Einrichtung] gerne an einen anderen ort beamen also an einen schönen warmen ort“ (ebd.,
Abs. 244-245). Ein institutionell unterstützter Übergang in eine weniger sozialpsychiatrisch
betreute Lebensweise, wird von Herrn O. auch auf Nachfrage nicht gesehen. Herr O schließt
aus der Ambivalenz, dass es doch besser wäre, in der Einrichtung zu verbleiben, da er schon
so lange zu ihr gehöre, dass etwas anderes, ein Leben außerhalb nicht mehr möglich erscheint.
Seine Identität ist von der Zugehörigkeit zur Einrichtung geprägt. Er ist im Wohnheim inkludiert.
„aber wenn ich nichts anderes gefunden wird würde ich halt hier bleiben […] aber auf eine art würde
ich auch hier bleiben wenn ich ehrlich bin (2) weil ich bin schon so lange hier ich kann mir gar nicht
vorstellen hier auszuziehen [I: mhm] also irgendwie schon und irgendwie auch wieder nicht also sag ich
mal so“ (ebd., Abs. 287-289).
Die einzige Alternative wäre für ihn, zu Familienangehörigen, zurück zur Herkunftsfamilie zu
ziehen: „ja (4) dann denk ich mir ich will auch zu meiner familie irgendwie (.) zu meiner
schwester und so (.) meine mutter lebt leider nicht mehr (ebd., Abs. 291). Vor dem Hintergrund der langjährigen Erfahrungen in stationären Wohnheimen mit traumatischen Erfahrun-
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
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gen, ist das Wohnheim für Herrn O. zu mehr geworden als zu einem vorübergehenden Wohnort, der vor allem Schutz bedeutet:
„was besseres wenn ich ehrlich bin hätt mir gar nicht passieren können (2) ja (1) weil das ist hier nicht
nur so ein HEIM-HEIM (.) sondern es ist hat mir irgendwie mehr irgendwie (2) also auf jeden fall ist es
anders hier als=als jugendlicher oder kind wo ich da in verschiedenen heimen war“ (ebd., Abs. 295).
Ergebnisse des Fachtags
Beim Fachtag wurde zu diesen Impulszitaten diskutiert:
„Es macht einfach einen großen Unterschied, wenn es jemand von Dir weiß“
und
„Wenn die Betroffenen keine Krise haben, sind sie wie jede andere Person auch, dann brauchen sie die
Einrichtung auch nicht“
Damit lagen die Schwerpunkte vor allem auf den Stigmatisierungsprozessen bei psychischer
Erkrankung und der Inklusions-Exklusionsdebatte psychiatrischer Einrichtungen. Die Möglichkeit eine Partnerschaft im Kontext einer sozialpsychiatrischen Einrichtung führen zu können, wurde in Frage gestellt. Auch in diesem Zusammenhang wurden die Einrichtungen kontrovers als „Heimat“ oder als „zu Hause auf Zeit“ eingeschätzt. Die Verantwortlichkeit für
Inklusion wurde diskutiert und damit Fragen wie: Welche Akteure sind für Inklusionsprozesse in der Handlungspflicht? Gesellschaftliche Regierungs- oder Nicht-RegierungsInstitutionen, Betroffene, Gemeinwesen, jeder Mensch? Ist Inklusion überhaupt mit exklusiven Welten, wie sozialpsychiatrische Einrichtungen, möglich? Ebenfalls wurde die graduelle
Wanderung auf der Linie von Schikane und Schutz thematisiert, wenn beispielsweise Einrichtungen Freiheitsgrade dosieren, also Autonomie schrittweise einschränken.
Zusammenfassend wurde festgestellt, dass im Gegensatz zu körperlichen Stigmata die zunächst nicht-sichtbare sogenannte psychische Erkrankung in der Hinsicht eine Rolle spielt,
dass das Sichtbarwerden des Stigmas verhindert werden soll: Das als Betroffene_r erkannt
Werden ist, so die Erkenntnis der Teilnehmer_innen des Fachtages, mit großen Schamgefühlen verbunden. Über die Zuschreibung einer psychischen Erkrankung hinaus bedeutet das
Leben mit und in sozialpsychiatrischen Einrichtungen, das „psychiatrisiert-Sein“, sich ständig
Beurteilungen durch andere (zum Teil Fach-)Personen auszusetzen. Die Ermöglichung von
Autonomie (z.B. das Verlassen einer geschlossenen Unterbringung) ist oftmals mit der Beur-
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Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
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teilung der psychischen, physischen und sozialen Verfassung durch andere Personen verbunden.
5. Identitätsarbeit und Soziale Arbeit in sozialpsychiatrischen Institutionen
Wie in allen vorgestellten Kategorien deutlich wurde, ist der Grad an Institutionalisierung
sowohl strukturierend für die Handlungsmöglichkeiten der Adressat_innen als auch für die
Verwirklichung von Identitätsprojekten. Dies wird erkennbar an Routinen, Normen, Regeln
zur Funktionalität der Institution; Integritätsverletzungen und möglichen Hinweisen auf »totale Institution«, das Verhältnis von Subjekt und Gemeinschaft bzw. Gruppe der Adressat_innen; an (das Erleben von) Zwang und (das Erleben von) Schutz; an Arbeitsbündnissen
zwischen Professionist_innen und Adressat_innen sowie an objektivierbaren Rahmenbedingungen der Institutionen. Aber nicht nur der Grad an Institutionalisierung prägt die Identitätsarbeit der Adressat_innen; vielmehr eröffnen Institutionen für manche Adressat_innen Möglichkeitsräume, an anderen Stellen schließen sie jedoch ganz konkret Anschlussmöglichkeiten
– meist mit der Begründung, schützend zu handeln. Beispielsweise wird durch einige Hilfen
der Zugang zu Ressourcen (materiell, kulturell und sozial!) eingeschränkt, z.B. durch die
Aufnahme in stationäre Wohnheime. Dieses Fernhalten von Ressourcen wird vor allem damit
gerechtfertigt, dass Menschen dadurch wieder befähigt werden sollen, die jeweils eigenen
noch vorhandenen Ressourcen zu erschließen, sie für sich transformieren zu können oder sie
stellvertretend durch Soziale Arbeit zu beschaffen. Vor allem in den Fällen, in denen Menschen dauerhaft in Institutionen untergebracht werden, ist die beständige Verwehrung von
Ressourcen kritisch in den Blick zu nehmen. Im Folgenden werden nun einige der herausgearbeiteten unterschiedlichen Bedeutungen sozialpsychiatrischer Institutionen für die Identitätsarbeit hervorgehoben, um damit eine Brücke von Identitätsarbeit, sozialpsychiatrischen
Institutionen und einem emanzipatorischen Partizipationsbegriff in diesem Handlungsfeld
(vor)zuschlagen.
Auf Basis der Analyse der im Forschungsprojekt erhobenen Daten werden mehrere Spannungsfelder unterstützender Beziehungen zwischen Professionist_innen und Adressat_innen
in Institutionen deutlich: Das Spannungsfeld zwischen zu viel oder zu wenig Beziehung, zwischen persönlicher Beziehung mit diffusen Anteilen und dem institutionellen Auftrag mit spezifischen Rollenanteilen und zwischen der Institution als Schutzraum und der Institution als
341
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
„Zutrauensraum“. In diesen Spannungsfeldern begegnen sich Adressat_in und Professionist_in als zwei oder mehr Verletzliche 17, mit dem gemeinsamen Bedürfnis bedeutsam zu
sein. Eine ausgewogene „Mitte“ bzw. einen Idealzustand ihres Arbeitsbündnisses kann es
dabei nicht geben, weil es sich um eine dynamische Konstruktion handelt. Erst auf der Grundlage dieses Konsenses, dass es bei einer dynamischen Beziehung immer um ein Aushandeln
des angemessenen Maßes zweier Menschen mit unterschiedlichen Relevanzstrukturen geht,
kann das »zu viel« oder das »zu wenig«, das Nicht-Standardisierbare einer professionellen
Beziehung, besprochen werden.
Eine sozialpsychiatrische Institution als Schutzraum (Care) und Zutrauensraum bzw. Optionsraum zugleich, erbringt einerseits Care-Arbeit, worin der Schutz der somatopsychoszialen
Integritäten im Vordergrund steht, und ermöglicht andererseits auch das Ausprobieren selbstbestimmter Handlungen. Mit dem Wissen um „das Interesse an der Entfaltung und Steigerung
der Handlungs- und Lebensmöglichkeiten des Individuums“ (Hornstein 1995 in Schaarschuch
2006, S. 8) ist Schutz nur mit der gleichzeitigen Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten
rechtfertigbar. Die Angst vor der Schutzlosigkeit außerhalb sozialpsychiatrischer Institutionen
wird besonders in den stationären Hilfeformen, grundsätzlich jedoch in allen institutionalisierten Hilfen deutlich, in denen die Selbstständigkeit gleichzeitig das immerwährende Ziel ist 18.
Alleine leben oder auch vulnerabilitätssensibles Arbeiten, z.B. in einer Werkstatt für Menschen mit psychischer Erkrankung, wird sich teilweise nicht zugetraut, gleichzeitig wird sich
hiernach gesehnt. Hieran wird die Notwendigkeit eines Schutzraums deutlich, der so sicher
17
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Verletzlichkeiten der in ein Arbeitsbündnis gehenden Personen nicht für alle in ihrer Form und/oder Auswirkungen der Verletzungen gleichzusetzen
sind. Vielmehr geht es darum das geteilte Erleben verletzlichen Menschseins als Gemeinsamkeit hervorzuheben und Soziale Arbeit immer auch als Selbstaufklärung im Medium des Gesprächs zu betrachten. (Vgl. zur Solidarität der Verletzlichen auch Žižek, Slavoj (2014): Die politische Suspension
des Ethischen. 4. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 17.)
18
Bisher z.B. die Regelung im SGB 12, § 1 „Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsberechtigten
die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Leistung soll
sie so weit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben; darauf haben auch die Leistungsberechtigten nach ihren Kräften hinzuarbeiten. Zur Erreichung dieser Ziele haben die Leistungsberechtigten und die Träger der Sozialhilfe im Rahmen ihrer Rechte und Pflichten zusammenzuwirken.“ Siehe zu den aktuellen Veränderungen durch das Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes ab
dem 1.1.2017 auch die Ausführungen von Alexander Schmid in diesem Band.
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342
sein muss, dass darin der Optionsraum erst einmal erscheinen kann, so dass die Übersetzung
für Identitätsarbeit erst ermöglicht wird.
Die fortgeführten institutionellen Biografien einiger Adressat_innen verweisen auf das Spannungsfeld zwischen institutionellen Rationalitäten und der Notwendigkeit von Biografien
ernst nehmender Erinnerungsarbeit.
Im Auswertungsprozess der Forschung kündigte sich bald an, dass selbst ein sehr offener Forschungszugang für das Handlungsfeld bedeutsame Phänomene – z.B. die Diskurse um Stigmatisierung, totale Institution usf. – nicht umschiffen kann, ohne Gefahr zu laufen ihre widersprüchliche Mehrbödigkeit aufzulösen oder zu vereinseitigen. So wird auch der Blick auf außerinstitutionelle Kontakte der Adressat_innen nur in Bezug auf die mächtige Rolle der Institutionen im Handlungsfeld freigegeben. Erst von der Perspektive einer institutionalisierten
Lebenswelt – im Sinne einer Vermittlung von Zeit, Raum und sozialen Beziehungen (vgl.
Thiersch/Grunwald/Köngeter 2012) – zeichnet sich ein Innerhalb und damit auch ein Außerhalb der Institution ab, sodass die sozialen Kontakte außerhalb der Institutionen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung erst durch den Rückbezug auf diese bedeutsam gemacht
werden können. Die Rolle der Institutionen lässt sich nicht in Richtung Exklusion und Repression vereinseitigen, vielmehr bleibt sie ambivalent. Während die Inanspruchnahme der
Unterstützung in Krisen durch sozialpsychiatrische Einrichtungen i.d.R. zunächst in institutionalisierten, exklusiven Settings stattfindet, kann die Nutzung jener Einrichtungen durchaus
außerinstitutionelle Kontakte ermöglichen. Entscheidend hierfür ist die Möglichkeit der Aneignung der jeweiligen institutionellen – z.B. räumlichen, zeitlichen, gegenständlichen und
personellen (vgl. Treptow 2001: 186) – Ressourcen durch die Adressat_innen für die Verwirklichung ihrer Identitätsentwürfe. Beispielsweise kann die Nutzung der Räume einer Einrichtung Begegnungen auch über die sozialpsychiatrischen Angebote hinaus ermöglichen.
Ebenfalls ermöglicht die Auseinandersetzung mit sozialpsychiatrischen Freizeitangeboten
(Sudoku, Memory, Mau-Mau spielen) nicht nur die Bewältigung einer konkreten Krise, sondern erzeugt darin auch künftige Krisen, wie z.B. Missverstehen, Streit und Überforderung. In
dieser Ermöglichung neuer Krisen ist die Entwicklung und Veränderung von Bewältigungsressourcen überhaupt denkbar. Darüber hinaus kann in Arbeitsbündnissen mit einem höheren
diffusen Anteil – einer familiären Atmosphäre, wie einige Adressat_innen beschreiben – kulturelles und soziales Kapital erlangt werden, durch sinnhafte Kontakte mit Menschen, die
über das Kapital verfügen und dieses Kapital vermitteln.
343
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
Gleichzeitig verbleiben Freizeitangebote sozialpsychiatrischer Einrichtungen häufig in einer
institutionellen Logik und vermögen für autonomiebestrebte Adressat_innen nicht genügend
Abstand zum sozialpädagogisierten Alltag der Institution herzustellen. So wird die Rolle als
Adressat_in durch das Aufgehen selbst der Freizeit in der Institutionslogik verfestigt– mit
Habermas ließe sich von einer Kolonialisierung der Lebenswelt sprechen (vgl. Habermas,
1985, S. 522). Vor diesem Hintergrund ist das sich Entziehen der Adressat_innen aus der Institution, wenn auf einen privaten Raum bestanden wird, emanzipatorisch zu verstehen.
Zusammenfassend geht es darum, nach einem gangbaren Weg in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern zu suchen, der „[s]oziale Netzwerke als soziales Kapital“ (Keupp 1994, S. 342)
versteht und dabei den Blick auf die sozialen Netzwerke der Adressat_innen nicht auf die
institutionellen Netze verkürzt, diese aber auch nicht de-thematisiert, spielen sie doch, wie
spätestens beim Einholen der Ergebnisse des Fachtags deutlich wird, eine nicht unwichtige
Rolle. Betrachtet man die Rolle der Institution in den Künstler_innengruppen, wird deutlich,
dass Adressat_innen in als normal markierte Situationen gebracht bzw. sie sich selbst in solche Situationen bringen. Hier werden sie als Gleiche angesprochen, was jedoch zugleich auch
die Fragilität ihrer eigenen Normalitätskonstruktion (als Künstler_in) offenzulegen droht. Die
Adressat_innen sehen sich zwangsweise aufgefordert, sich auf dem Feld des Normalen in
einer gesellschaftlichen Ordnung der Verwertungslogik zu positionieren, ihre Werke oder
Stücke zu verkaufen. Dabei beruft sich die „Institution“ einseitig auf eine formale Gleichheit
unter Künstler_innen, ohne dabei die Vulnerabilität der Stigmatisierten sichtbar zu berücksichtigen oder Inklusion als professionelle und gesellschaftliche Aufgabe zugleich zu thematisieren. Somit wird Inklusion hier auf die Betroffenen verlagert und die hergestellte Öffentlichkeit gerät in den Verdacht, zu Zwecken der Barmherzigkeit oder gar des Zurschaustellens
VERwendet zu werden.
Zusammenfassend stellt sich in diesem Kontext die Frage, inwiefern Institutionen der Sozialpsychiatrie durch ihr Handeln das Subjekt, die Institution oder gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen aktualisieren und welches Professionsverständnis dahinter steht. Vor dem Hintergrund des im Forschungsprojekt entwickelten Verständnisses einer Kritischen Professionalisierung und Menschenrechtsorientierung ist die Aufgabe Sozialer Arbeit in sozialpsychiatrischer Institutionen eben nicht die Widersprüchlichkeit kapitalistisch-gesellschaftlicher Strukturen zu verdecken, sondern die in den Adressat_innen deutlich werdenden Krisen in ihrer
Bedingtheit zu analysieren, die somato-psycho-soziale Integrität der Adressat_innen wieder
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344
herzustellen und gleichzeitig auf die Bedingungen einzuwirken, statt gegebene Verhältnisse
zu aktualisieren. Oder anders gesagt: Soziale Arbeit hat aus dieser Perspektive das Ziel der
ständigen Transformation der Subjekte, Institutionen und gesellschaftlicher Strukturen statt
ihrer Aktualisierung bzw. Reproduktion.
6. Entwicklung eines vorläufigen Partizipationsbegriffs als kritische Folie für sozialpsychiatrische Handlungsfelder
Im Zusammendenken der Ideen von „Identitätskonstruktionen“ (Keupp et al 2008) und „Kritischer Professionalisierung“ (Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2016) handelt es sich
beim Verhältnis von Identität und Partizipation um ein dialektisches: Einerseits bedarf es an
Partizipation für die Entwicklung von Identität und andererseits ist Identität die Voraussetzung für Partizipation. Dabei ist Partizipation in den Spannungsfeldern Sozialer Arbeit zu
denken, die sich mit einer dialektischen Brille zwischen Autonomie und Heteronomie sowie
zwischen Ermöglichung und Schutz bewegt. Dies bedeutet, Partizipation nicht nur in sogenannten freiwilligen Settings als wichtig zu erachten und sie für sogenannte Zwangskontexte
auszuschließen, sondern gerade auch in der Bearbeitung von Krisen jeglicher Form als eine
Kritikfolie der eigenen Arbeit zu nutzen. Was bedeutet nun Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern, die den Schutz der Identität (auch somatopsychosoziale Integrität),
die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Autonomie (Verwirklichung von Identitätsprojekten) und die Beteiligung an den Aushandlungen zur gesellschaftlichen Wertsetzung
meint? In den vorangegangenen Kapiteln wurde deutlich gemacht, dass Partizipation in der
Sozialen Arbeit widersprüchlich ist, sich nicht vereindeutigen lässt und sich nur in NichtStandardisierbaren Anteilen Sozialer Arbeit zeigen kann. Daraus folgt, dass eine positive Auflistung von Partizipationsmethoden noch keine Aussage über die qualitative Ausgestaltung
von Partizipation zulässt. Wir schlagen daher eine dialektische Kritikfolie vor, mit der Dimensionen von Partizipation in einer reflexiven Betrachtung professionellen Handelns verstehbar werden können.
Die Inhalte dieser emanzipatorischen Erweiterung des Partizipationsbegriffs versuchen wir in
folgenden miteinander verwobenen Punkten zusammenzufassen:
345
•
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
Partizipation sollte dort eine Orientierungsfigur sein, wo zwei Menschen ein Arbeitsbündnis als Professionist_in und Adressat_in eingehen, welches sich an der Integrität und Autonomie der Adressat_innen orientiert und in dem kontinuierlich um die Angemessenheit
zwischen diffusen (subjektiven) und spezifischen (Auftrag) Rollenanteilen gerungen wird.
Oder an Gerhard Gamm orientiert: Soziale Arbeit braucht Teilnahme und Anteilnahme
und bewegt sich im Spannungsfeld zwischen „professionelle[m] Trösten und laienhafte[m] Dasein“ (Bliemetsrieder/ Dungs 2013, S. 95).
•
Partizipation bedeutet darin, dass Adressat_innen von sich erzählen können und nicht nur
standardisierte Gespräche zu führen, in denen die Erfahrungen verschwinden. Dabei geht
es auch darum, dem Sinn der eigenen Erkrankung auf die Spur zu kommen. Krankheit ist
nicht das »unmögliche Leben«, sondern muss von Psychiatrie-Erfahrenen auch als Teil
des Lebens thematisiert werden können. Die Erzählungen in den Interviews haben deutlich gemacht, dass die nicht intendierten Erzählungen über die psychische Befindlichkeit
wesentliche Bedeutung für die Befragten hatten. Die Menschen durchliefen im Erzählen
Bildungsprozesse darüber, wie ihre derzeitige Situation in einen Verlauf ihres Lebens und
der dort gegebenen Umstände eingeordnet werden kann. Durch Explikation bzw. Narration der eigenen Erfahrungen wird die eigene Identität konstruiert, nicht nur in Hinsicht auf
die Rolle der Psychiatrie-Erfahrenen, sondern auf mögliche andere Rollen. Nutzen kann
vor diesem Hintergrund nur an der Stelle entstehen, an der Soziale Arbeit auf die subjektiven Deutungen und Erlebnisse, auf die selbst erzählte Gewordenheit Ihrer Adressat_innen antwortet.
•
Darauf aufbauend bedeutet Partizipation eben auch, die Eigentheorien zu psychischen
Erkrankungen anzuerkennen und eine Auseinandersetzung in Bezug auf die eigene Identität damit zu ermöglichen. Die medizinische Unterwerfung einer einseitigen Compliance
von Psychiatrie-Erfahrenen, wie sie Bock exemplarisch an der Methode der Psychoedukation aufzeigt (vgl. Bock 2012, S. 367), kann als Gegenteil von Partizipation und als Stütze
der Asymmetrie zwischen herrschenden Professionist_innen und Information empfangenden Psychiatrie-Erfahrenen verstanden werden.
•
Partizipation bedeutet gleichzeitig, von Adressat_innen geäußerter Kritik und Wünsche
einen Raum zur Verfügung zu stellen (z.B. Hausbesprechungen, Adressatensprecher_innen), zuzuhören und diese nicht zu pathologisieren. Das heißt, Kritik und Wünsche
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
346
sind als Ausdruck eines sinnvollen Erlebens zu verstehen und nicht als Symptom einer
Erkrankung.
•
„Ein offenes Identitätsprojekt, in dem neue Lebensformen erprobt und eigener Lebenssinn
entwickelt werden, bedarf materieller Ressourcen. […] Die Fähigkeit zu und die Erprobung von Projekten der Selbstorganisation sind ohne ausreichende materielle Absicherung
nicht möglich.“ (Keupp 1994, S. 344) Über die materielle Absicherung hinaus bedarf es
aber auch professioneller Angebote der stellvertretenden Krisenbewältigung bei der (Wieder)Herstellung der Autonomie und der somatopsychosozialen Integrität. Partizipation ist
dementsprechend, in einem Arbeitsbündnis Subjekten die notwendigen Ressourcen (materielles, kulturelles, soziales Kapital) zur eigenen Identitätsarbeit auch stellvertretend zu
beschaffen (stellvertretende Krisenbewältigung).
•
Partizipation bedeutet gleichzeitig, Subjekten dazu zu verhelfen, sich selbst die notwendigen Ressourcen für ihre Identitätsarbeit zu verschaffen.
•
Partizipation bedeutet darüber hinaus, Subjekten bei der Transformation der Ressourcen
für die jeweils eigene Identitätsarbeit zu unterstützen, vom Identitätsentwurf zum Identitätsprojekt zu finden (Ko-Produktion).
•
Partizipation bedeutet, Subjekten zu ihren Rechten zu verhelfen und sie zu Rechtssubjekten zu erklären, welches sich im besten Falle in das eigene Identitätenkonzept integrieren
kann. Dabei reicht es nicht aus, Rechte zu haben oder von ihnen zu wissen, sondern die
Anerkennung als Rechtssubjekte muss sich auf mehreren Ebenen zeigen:
1. Menschen müssen das Recht haben, Rechte zu haben (Menschen werden bestimmte Rechte abgesprochen, z.B. Bürger_innenrechte je nach Staatsangehörigkeit, z.B.
Freiheitsrechte
bei
psychischer
Erkrankung).
Die
UN-
Behindertenrechtskonvention konkretisiert die Menschenrechte für Menschen mit
Behinderung, die für alle Menschen gelten.
2. Menschen werden unterschiedlich gehört, da Deutungsmächte ungleich verteilt
sind. Adressat_innen müssen dabei unterstützt werden, einen Raum zu bekommen,
in dem sich Gehör verschafft werden kann.
3. Menschen müssen ihre Rechte kennen, wenn sie sie einfordern wollen. Soziale
Arbeit muss in dem Sinne auch über Rechte aufklären und ihre Bedeutung für den
Alltag der Menschen angemessen übersetzen (z.B. PsychKHG, UN BRK).
Partizipation als Kritikfolie Sozialer Arbeit
347
4. Menschen müssen ihre Rechte einfordern können und dies auch tun. Wenn dies
nicht geht, ist es im Sinne eines kritischen Bildungsverständnisses das Recht, darum zu wissen, dass man in einer verzweifelten Lage bzw. Zwangslage ist und
nicht die Menschen vor dieser Kenntnis zu schützen (vgl. Adorno/Gehlen
1965/1975, S. 248-251). Partizipation bedeutet eben auch darauf hinzuarbeiten,
„dass Subjekte aus Freiheit und im Wissen um die Zwänge handeln, welchen sie
ausgesetzt sind und die sie wiederum nutzen können, um ihre Freiheit zu wahren."
(Winkler 2012, S. 159)
5. Partizipation muss auch die Möglichkeit der Nicht-Teilnahme berücksichtigen.
Das Verhelfen zu subjektiven Rechten von Psychiatrie-Erfahrenen ist demnach auf
eine kollektive Ebene zu heben, in der auch die Möglichkeit politischer Berücksichtigung bestehen muss, ohne die zwingende Notwendigkeit diese in Rechtskämpfen zu erwirken. Damit ist der Idee der Gegenrechte ein Moment der Kritik
an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen inhärent. Die Passivität der
Gruppe der Psychiatrie-Erfahrenen im allgemeinen Produktions- und Distributionsprozess von Waren und Dienstleistungen erscheint zugleich als zu kritisierender Ausschluss Psychiatrie-Erfahrener und als kritisches Urteil an ebenjenen Verhältnissen, mit denen soziale Fragen auf das medico-pädagogische Feld vereinseitigt werden. Damit kann an Christoph Menkes Idee des »Rechts auf Gegenrechte«
(vgl. Menke 2015) angeknüpft werden, der in dieser Idee eine Form von Kritik an
individualisierter Gesellschaft sieht.
•
Partizipation bedeutet, Subjekten die Möglichkeit zu geben, sich als Teil eines Verhältnisses zu begreifen, das historisch geworden, überindividuell und somit veränderbar ist (Bildung). Anders gesagt: Es geht darum, den Subjekten bei der Entwicklung eines Verständnisses darüber zu helfen, was an ihren Krisen gesellschaftliche und was eigene Anteile
sind sowie auf der Seite der Handlungsmöglichkeiten zwischen gesellschaftlichen Möglichkeiten und den eigenen Identitätsprojekten zu vermitteln (vgl. Borst 2004).
•
Partizipation bedeutet, Subjekten die Möglichkeit zu geben, sich mit anderen zu solidarisieren bzw. zu kollektivieren und sie dabei zu unterstützen, politische Wirkmacht zu entwickeln. Beispielsweise bei der Unterstützung einer angemessenen Ausstattung und Professionalisierung von Verbänden Psychiatrie-Erfahrener.
Sandro Bliemetsrieder, Katja Maar,
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
•
348
Partizipation bedeutet ebenso, den kollektivierten Subjekten die Selbstdefinition von Identitäten zu übergeben und diese nicht für sie zu übernehmen. Es braucht die notwendige
Unterstützung dabei, diese zu formulieren. Dies heißt auch, einzelne Subjekte in der
Gruppe sprechen zu lassen, um ihre je individuelle Identitätsarbeit und nicht nur eine
Identitätsarbeit in Bezug auf die Gruppe zu ermöglichen.
•
Auf der Grundlage dieser Kollektivierung und der Selbstdefinition von Forderungen kann
dann ein Trialog geführt werden, der sich an einem Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses
(vgl. z.B. Habermas 2009) orientiert, die den theoretischen Forderungen nach einem Diskurs auf Augenhöhe auch in der Praxis nähert. Davon unterschieden werden sollte die
Notwendigkeit einer eigenständigen und mit mehr Ressourcen ausgestattete Angehörigenberatung, die nicht Bestandteil von Trialog sein sollte.
•
Weiter in diese Richtung denkend, bedeutet Partizipation dann auch, die verschiedenen
Hilfesysteme Sozialer Arbeit so miteinander zu integrieren, dass ein falllogisches und
nicht ein handlungsfeldlogisches professionelles Handeln ermöglicht wird: Damit Menschen in verschiedenen Lebenslagen sich nicht an unterschiedliche institutionellen Logiken (z.B. Wohnungsnotfallhilfe, Jugendhilfe, Pflege, Sozialpsychiatrie, Soziale Arbeit in
der Justiz, Suchthilfe) anpassen müssen, sondern sich die Hilfen an den gemeinsam gedeuteten Krisen (z.B. Wohnungsnot, familiäre Krisen, Pflegebedarf, psychische Beeinträchtigung, Straftat, Substanzmissbrauch) orientieren und darin die Anschlüsse für den
Schutz bzw. die Wiederherstellung von Autonomie und Integrität herstellen.
Ein Fazit unseres Textes muss oder darf vielleicht selbst gefunden werden. Wir möchten den
offenen Denkprozess zum Thema Partizipation mit einem Zitat einer Betroffenen enden lassen, das die Versprachlichung eines gelungenen Arbeitsbündnisses sein könnte:
„Also ich finde, also ich fühl mich hier sehr, also weiß nicht, ja gesehen ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber so ähm akz- also angenommen insofern, dass ich dass ich auch eben handlungsfähig bin und was
mach und tu und mich einbringen kann“ (Gruppeninterview K, Abs. 192)
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Reflexionen zum Forschungsprozess und -ethik
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation?
Reflexionen zur Forschungsmethodik und -ethik im Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
Einleitung
Ein solch ausführlicher Text zur Methodologie und Methodik eines Forschungsprozesses ist
wohl eher unüblich in Publikationen zur Sozialen Arbeit – wir Autor_innen setzen neben der
detaillierten Darstellung der Ergebnisse einen weiteren Schwerpunkt: Wir möchten mit diesem Text einerseits zur Transparenz des Vorgehens während unseres Forschungsprojektes
beitragen und andererseits für einen breiteren Einsatz rekonstruktiven Forschungsdesigns in
der Sozialen Arbeit argumentieren, indem wir die Wege aufzeigen, mit denen an unser Vorgehen angeknüpft werden könnte. Wir verstehen diesen Text zudem als Beitrag zur Debatte
um die Aktualität sozialpsychiatrischer Forschung, die derzeit vorrangig als ein an Evidenz,
Effektivität und Prognose orientiertes medizinisches Vorhaben diskutiert wird; die positiven
Aspekte einer rekonstruktiven („Rückwärtsgewandtheit“ Salize 2017, S. 6) und gesellschaftstheoretisch fundierten Forschungspraxis bleiben dagegen weitestgehend unberücksichtigt.
(vgl. Salize 2017).
In Opposition dazu möchten wir die Notwendigkeit einer sozialwissenschaftlichen, sozialpsychiatrischen Forschung als ebenbürtige Perspektive begründen, die einen Beitrag zu partizipatorischer und emanzipatorischer Forschung über soziale Phänomene in (und von) der Sozialen
Arbeit leistet 1.
1
Als Beispiele rekonstruktiver Sozialforschung in der (Sozial)Psychiatrie, die wesentliche Grundlagen
für dieses Vorhaben geliefert haben, sind hier folgende zu nennen:
•
Dischler, Andrea (2010): Teilhabe und Eigensinn. Psychiatrieerfahrene als Tätige in Freiwilligenarbeit. Mit einem Vorwort von Heiner Keupp. Reihe: Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit. Band 9. Opladen: Barbara Budrich.
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
357
Aufgrund dessen möchten wir in diesem Text die ausführlichen Argumente für eine rekonstruktive Forschungsperspektive in der Sozialpsychiatrie (Kapitel 1), die theoretische Begründung und praktische Umsetzung des Forschungsdesigns im Forschungsprojekt „Partizipation
in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ 2 (Kapitel 2), die Gestaltung der Datenauswertung
(Kapitel 3), die Zusammenfassung der projektspezifischen forschungsethischen Prinzipien
(Kapitel 4) und eine Diskussion um partizipative Forschung in der Sozialpsychiatrie (Kapitel
5) darstellen. Im letzten Kapitel formulieren wir eine Antwort auf die Frage nach einer partizipativen, emanzipatorischen und rekonstruktiven Forschung in der Sozialpsychiatrie. Im Anhang sind außerdem für Forscher_innen weiter nutzbare bzw. bearbeitbare Transkriptionsregeln zu finden.
1.
Forschungsperspektive – Rekonstruktion und Kritik
Um die Wahl des rekonstruktiven Forschungsdesigns plausibel zu machen, sind an dieser
Stelle zunächst die Forschungsfragen des Forschungsprojektes zu nennen, auf die im Text
fortlaufend Bezug genommen werden wird:
I.
Was bedeutet Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern aus der Perspektive verschiedener Akteur_innen?
II.
Wie erleben Adressat_innen sozialpsychiatrischer Einrichtungen Partizipation? Was
würden sie sich wünschen?
III.
Wie wird Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern thematisiert und
umgesetzt?
•
Fengler, Christa; Fengler, Thomas (1994): Alltag in der Anstalt. Wenn Sozialpsychiatrie praktisch wird. Reprint der Erstausg. von 1980. Bonn: Psychiatrie-Verlag (Edition das Narrenschiff).
• Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 1. Aufl. Frankfurt M.: Suhrkamp (Edition Suhrkamp. 678).
• Wyssen-Kaufmann, Nina (2015a): Bedeutung der Anamnese in der Sozialen Arbeit. Von einer
Fallstudie in der Psychiatrie zum heuristischen Modell. 1. Aufl. Leverkusen: Barbara Budrich
(Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit, 16).
2
Forschungsprojekt der Hochschule Esslingen von 2014-2016, unter der Leitung von Prof. Dr. Sandro
Bliemetsrieder und Profin Drin Katja Maar sowie der Mitarbeit der Wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen Josephina Schmidt und Athanasios Tsirikiotis.
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
IV.
358
Welche Machtverhältnisse werden in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern reproduziert, stabilisiert bzw. dekonstruiert?
Die Perspektive Kritischer Erziehungswissenschaft (z.B. Habermas und Apel) nimmt die rekonstruktive Sozialforschung dann ein, wenn sie nicht nur die reine Verständigung zwischen
Subjekten über Normen und Ziele der Forschung untersucht, sondern auch gesellschaftliche
Bedingungen dieser Verständigung reflektiert und diese damit einhergehend weiterentwickelt.
Dann, so Koller (2014, S. 236-237), handelt es sich um ein emanzipatorisches, nicht um ein
technologisches oder praktisches Erkenntnisinteresse. Dementsprechend besteht auch das
Forschungsinteresse beim Projekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“
von Beginn an nicht ausschließlich darin, die Anliegen Psychiatrieerfahrener beschreibend
darzustellen. Es geht vielmehr darum, die daran anknüpfenden Veränderungsmöglichkeiten
aufzuzeigen, insbesondere in Bezug auf professionelles Handeln der Sozialen Arbeit.
Es sei die Bemerkung vorangestellt, dass wir mit einer rekonstruktiv ausgerichteten Forschungshaltung nicht auf die Verstärkung eines normativen bzw. hierarchisierenden Paradigmenstreits 3 abzielen. Vielmehr geht es darum, eine angemessene Forschungsmethodik für das
beschriebene Erkenntnisinteresse zu entwickeln, das einer Verschränkung subsumtionslogischer und rekonstruktiver Verfahren bedarf. Sich dem Gegenstand „Partizipation“ in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern anzunähern, erfordert eine multiperspektivische und komplementäre Methodik. Zur analytischen Betrachtung sei dennoch zunächst auf die zentralen
erkenntnistheoretischen Unterschiede subsumtionslogischer und rekonstruktiver Perspektiven
hingewiesen.
Rekonstruktive, fallrekonstruktive 4 oder auch interpretative Sozialforschung meint ein Forschungsparadigma, dem verschiedene Forschungsmethoden zuzuordnen sind, wie z.B. die
Grounded Theory (Glaser & Strauss), die Ethnomethodologie (Garfinkel), die dokumentarische Methode (Bohnsack) oder die Objektive Hermeneutik (Oevermann). Grundsätzlich sind
rekonstruktive Methoden der sogenannten qualitativen Sozialforschung zuzuordnen. Andere
3
Zwischen Rekonstruktionslogik und Subsumtionslogik oder zwischen qualitativer und quantitativer
Sozialforschung.
4
Siehe hierzu auch die Einführung in Bezüge, Konzepte und Perspektiven der Fallrekonstruktion von
Klaus Kraimer (2000).
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
359
qualitative sozialwissenschaftliche Methoden gehen nicht rekonstruktiv vor, sondern kategorial und somit - wie quantitative Sozialforschung - subsumtionslogisch 5. Dazu zählt beispielsweise die Qualitative Inhaltsanalyse (Mayring), bei der mit theoretisch herausgearbeiteten Kategorien die zu erforschenden Texte sortiert und untersucht werden. (Vgl. Rosenthal
2011, S. 14–19)
Rekonstruktive Sozialforschung nimmt grundsätzlich den „Versuch der Beschreibung grundlegender allgemeiner Mechanismen [vor], mit deren Hilfe Handelnde in ihrem Alltag eine
gemeinsame soziale Wirklichkeit <herstellen>“ (Flick, von Kardoff, Steinke 2007, S. 21) und
ist bestrebt, den „Sinn hinter dem Sinn“ (Kruse 2014, S. 25) nachzuvollziehen.
„Die fallrekonstruktive Forschung ist auf die empirische Strukturerschließung menschlicher Lebenspraxis, auf das Erkennen der einer sozialen Erscheinung (›Fall‹) zugrundeliegenden Struktureigenschaft gerichtet.“ (Kraimer 2000, S. 23)
Das meint, geteilte Strukturen, in denen Lebenspraxen handeln, zu rekonstruieren. Rekonstruktive Verfahren sind in mehrerer Hinsicht offene Forschungsverfahren (vgl. Rosenthal
2011, S. 15). Zum einen kann und soll der gesamte Forschungsverlauf und die konkrete Forschungssituation von den Akteur_innen mitgestaltet und somit ihre Perspektive (der subjektive Sinn) erfasst werden. Nur so kann ansatzweise herausgefunden werden, wie Menschen die
Welt – bewusst und bzw. insbesondere implizit – interpretieren und formen, wie sie Bedeutungen erzeugen; zusammengefasst geht es folglich um methodisch reflektiertes Fremdverstehen. Zum anderen wird in rekonstruktiven Forschungen auch die Forschungsfrage offen gehalten. Dementsprechend werden zu überprüfende Hypothesen nicht vorab formuliert: Ausgangspunkt ist vielmehr ein Interesse an einem sozialen Phänomen, welches Fokus und methodischen Zugang bestimmt und an dem subjektives Erleben, Interaktionen und Relationen
von Menschen und Gesellschaft nachvollzogen werden sollen. Rekonstruktive Verfahren eignen sich besonders, um einen Einblick in wenig erforschte Phänomene zu erlangen, zu denen
keine vorab eindeutig formulierten Fragen gestellt, sondern Sinnzusammenhänge aufgeschlossen werden sollen. Was rekonstruktive Verfahren also nicht beantworten können, sind
5
Mit der Unterscheidung zwischen Rekonstruktions- und Subsumtionslogik orientieren wir uns an Ulrich
Oevermanns Begründung (vgl. Oevermann 2013, S. 69–70), der keine Differenz zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung sieht, sondern rekonstruktive (siehe Ausführungen) von subsumtionslogischen Verfahren abgrenzt. Subsumtionslogisch werden aus der Theorie oder Einzelfällen Kategorien gebildet, denen das Datenmaterial untergeordnet wird. Somit werden Vorannahmen bestätigt oder widerlegt, aber keine neuen, aus dem
Fall herauszulesenden Strukturen sichtbar.
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
360
Fragen nach der Repräsentativität von Ergebnissen bzw. nach numerischen Verallgemeinerungen, die unter anderem Anliegen quantitativer Sozialforschung sind (vgl. Rosenthal 2011,
S. 25). Damit wird, einer reflexiven Sozialpädagogik entsprechend, nicht „eine Verbesserung
der Effektivität der Interventionen“ (Füssenhäuser 2008, S. 137) angestrebt, sondern es wird
eine Analyse der „Handlungsregeln und Deutungsmuster“ (ebd. S.137) aus verschiedenen
Wissensperspektiven vorgenommen. Im Gegensatz zur Subsumtionslogik geht es bei der Rekonstruktion folglich darum, am konkreten Einzelfall die Wirkungs- und Bedeutungszusammenhänge objektivierbarer Strukturen sichtbar zu machen, von denen auch andere Fälle betroffen sein können. Ohne die Erfahrung des Einzelfalls mit allgemeinen Strukturen, werden
diese nicht sichtbar und nicht veränderbar. Es wäre verkürzt, nur auf die latenten innerpsychischen, nicht-bewussten Sinnstrukturen des Einzelfalls zu schauen: Dies sollte schon allein
aufgrund der einhergehenden Pathologisierungsgefahr vermieden werden. Vielmehr geht es
darum, den gebildeten impliziten Wissensgehalt über Zusammenhänge der erlebten Welt,
welche der Einzelfall in seiner Biografie erfahren hat, herauszuarbeiten und somit die konkrete Ausprägung von allgemeinen Strukturen erkennbar zu machen. Hinter dem Erkenntnisinteresse der Rekonstruktion steht die Grundannahme, dass soziale Wirklichkeit von Menschen
konstruiert und kontinuierlich interaktiv hergestellt wird, weshalb es darum geht, die Konstitutionsbedingungen von Wirklichkeit zu erforschen und nicht die »Wirklichkeit« an sich (vgl.
Kruse 2014, S. 26–43 und Rosenthal 2011, S. 38). Dementsprechend werden gesellschaftliche
Ordnungen nicht als naturgegebene Phänomene betrachtet, sondern mit der Annahme der
Konstruktion wird auch immer eine Dekonstruktion oder Modifikation von Strukturen mitgedacht. Jan Kruse fasst die Ebene des Forschungsinteresses rekonstruktiver Sozialforschung
wie folgt treffend zusammen:
„Nicht die Wirklichkeit in substanzieller Hinsicht (das ‚WAS‘) steht im Vordergrund des forscherischen
Erkennntnisinteresses, sondern ihre praktische bzw. soziale Genese und ihre Funktion (das ‚WIE‘ und
das ‚WOZU‘), welche die konkrete Existenz einer eigentlich kontingenten Wirklichkeit erst zu klären
vermag“ (Kruse 2014, S. 26).
Damit wird auch der gesellschaftskritische Anspruch rekonstruktiver Sozialforschung deutlich
(vgl. z.B. Hametner 2013, S. 136-137): Die grundsätzlich offene Forschungshaltung und die
Rekonstruktion von Bedeutungs- und Sinnzusammenhängen distanziert sich von reinen Objektivitätsannahmen und versucht stattdessen, Verhältnisse von handelnden Subjekten zur
Welt zu beschreiben und darin auf die Möglichkeiten zur emanzipatorischen Veränderung
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
361
hinzuweisen. »Subjektivität« wird somit einerseits methodisch eingesetzt (Reflexion der Interpretation von Forscher_innen-Subjekten). Andererseits wird sie bei der gesellschaftstheoretischen Kontextualisierung von Forschungsergebnissen dann in den Vordergrund gestellt,
wenn gesellschaftliche Machtverhältnisse als von Menschen hergestellte und somit auch veränderbare Subjektpositionen reflektiert werden können, die mit unterschiedlichen Deutungsmächten ausgestattet sind (Foucault). (Vgl. Hametner 2013, S. 136–137).
Der Verstehensprozess rekonstruktiver Ansätze hat folgenden Ablauf: Informationen gewinnen, Lesarten bilden, Deutungen fortlaufend korrigieren (vgl. Lüddemann und Heinze 2016,
S. 16). Der Unterschied zum alltäglichen Prozess liegt beim wissenschaftlichen Verstehen in
der Systematisierung, dem Versuch der Vervollständigung und dem kontrollierten Ablauf
(vgl. ebd. S. 16). Auch wenn rekonstruktive Verfahren Fragen nach der Repräsentativität
nicht beantworten können, sind für einen kontrollierten und vor allem reflektierten Ablauf
dieser mit Selektion und Subjektivität arbeitenden Methode Gütekriterien notwendig, denn
„Gütekriterien helfen in diesem Sinne dabei, den Grad der angemessenen Annäherung an das
Rekonstruierende zu evaluieren" (Kruse 2014, S. 55) und eine willkürliche Interpretation einzelner Forschender, bedingt durch deren implizites Wissen, weitmöglichst zu vermeiden.
Kruse schlägt vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Erkenntnishaltung rekonstruktiver Forschung, welche Subjektivität als das die Wirklichkeit konstruierendes Moment ansieht, folgende zwei »Gütekriterien 6« vor (vgl. Kruse 2014, S. 54–58):
•
Intersubjektivität (übereinstimmender Nachvollzug des Forschungsprozesses für mehrere Forscher_innen durch Explikation, Dokumentation und die InterpretationsIntersubjektivität durch Analysegruppen)
•
Reflektierte Subjektivität und reflexive Kritik (Rekonstruktion des Kontextes, in denen Subjektivität stattfindet, auch methodische Kontrolle der subjektiven Rekonstruktionen).
6
Aufgrund der beschriebenen Unterscheidung im Erkenntnisinteresse und der Methodik quantitativer
bzw. subsumtionslogischer Sozialwissenschaft sind die für dort anerkannten Gütekriterien, wie Objektivität, Reliabilität, interne und externe Validität (vgl. Kruse 2014, S. 55) keineswegs für rekonstruktive Sozialforschung angemessen, sondern stehen im Widerspruch zur Offenheit und reflektierten Subjektivität.
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
362
Rekonstruktive Auswertungsverfahren gehen sequentiell vor, das heißt die zeitliche Struktur
des Falls wird als essentiell für die Interpretation zu Grunde gelegt. Mit rekonstruktiven Verfahren können nicht nur manifeste, also benannte bzw. ausgesprochene Inhalte analysiert,
sondern auch latente Themen sichtbar gemacht werden. Ziel der Methodologie ist es, „(…)
bei neuen, noch wenig bekannten Entwicklungen und Phänomenen, die typischen, charakteristischen Strukturen dieser Erscheinungen zu entschlüsseln und die hinter den Erscheinungen
operierenden Gesetzmäßigkeiten ans Licht zu bringen (…)“ (Oevermann 2002, S. 1) und damit eine „erschließende und aufschließende Gegenstandsanalyse“ (Oevermann 2002, S. 1)
vorzunehmen. Damit grenzt sich Ulrich Oevermann von einer ausschließlich deskriptiven
Ebene und einer Erkenntnistheorie des alleinigen Verstehens nicht nur ab und widerspricht
der gängigen Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer empirischer Sozialforschung, sondern er differenziert eine Subsumtionslogik von der Rekonstruktionslogik. Statt
die empirischen Daten im Sinne der Subsumtionslogik an der vor der Erhebung festgelegten
Operationalisierung der Theorie zu messen, rekonstruiert das Verfahren der Objektiven Hermeneutik „(…) unter Bezug auf die in der Wirklichkeit selbst operierenden Sequenzierungsregeln die je konkreten objektiven Bedeutungen bzw. latenten Sinnstrukturen von Textsegmenten“ (Oevermann 2002, S. 22) 7, bringt somit die Wirklichkeit authentisch hervor und erfasst die Struktur des Falls vollständig. (Vgl. Oevermann 2002, S. 21-22).
Bei der Umsetzung der Methode und dem Schließen von Ergebnissen gilt es jedoch zu beachten, dass es in der Analyse immer latente Reste („das innere Ding an sich“ (Oevermann 2008,
S. 171)) geben wird, die sich durch rationalisierende Deutungsversuche nicht vollständig einholen lassen. Diese können aber auch als „unverzichtbare Quelle von Lebendigkeit und der
Utopie eines guten Lebens“ gesehen werden (Oevermann 2008, S. 170). Die in der Analyse
entstehenden Fallstrukturhypothesen, welche idealerweise in rationalisierenden Diskursverhältnissen entwickelt werden und gleichzeitig um ihre Grenzen der unausdeutbaren Fragen
sowie der notwendigen Mythen im Kontext der Fragen nach dem woher komme ich und wohin gehe ich? (vgl. Wagner o.A., S. 5) informiert sind, können – z. B. bei entsprechender
Kontrastierung von Fällen – in theoretische Annahmen münden: „Theorien sind daher nicht
7
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es sich bei der Rekonstruktion des Sinngehalts nicht um
eine normative Sinnposition handelt, sondern um eine mit Oevermann gesprochene „deskriptivanalytischen Kategorie von Sinn“. (Oevermann 2013, S. 71)
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
363
das andere der Praxis, sondern ein dem praktischen Handeln vorausgehender und [zugleich
dialektisch, S.B.] hinterhereilender Erkenntnisprozess“ (Bliemetsrieder/Dungs 2011, S. 222).
Um eine Nachvollziehbarkeit des im Anschluss dieses Kapitels folgenden Forschungsverlaufs
und der Logik der Ergebnisauswertung bestmöglich garantieren zu können, werden an dieser
Stelle nochmals die Prinzipien des Forschungsdesigns zusammenfassend aufgeführt: Nach der
ausführlichen Darstellung des erkenntnistheoretischen Hintergrunds der Forschung kann, so
die Hoffnung, der Verlauf der Forschung und die Logik der Ergebnisauswertung für die Leser_innen besser nachvollzogen werden. Das Forschungsdesign orientiert sich zusammenfassend an folgenden Prinzipien:
•
Bei Sozialer Arbeit handelt es sich um nicht-standardisierbare Handlungsprobleme,
die ein Fallverstehen notwendig für Professionalisierungsprozesse machen.
•
Rekonstruktive Verfahren sind so offen, dass sich tatsächlich neue bzw. nicht vorhersehbare Ergebnisse ergeben können.
•
Rekonstruktive Sozialforschung fragt nach dem „Wie?“ statt ausschließlich nach dem
„Was?“.
•
Durch die Grundannahme, dass Wirklichkeit sozial konstruiert ist und diese Konstruktionspraxen wiederum rekonstruiert werden können, bietet rekonstruktive Sozialforschung die Möglichkeit, Kritik an gesellschaftlichen Strukturen zu üben. Dabei werden an den besonderen Ausprägungen des Einzelfalls die allgemeinen Strukturen, die
über die individuellen Erfahrungen hinausgehen, deutlich.
•
Bei sozialwissenschaftlichem Sinnverstehen handelt es sich um eine andere Logik als
beim alltäglichen Sinnverstehen.
•
Rekonstruktive Sozialforschung braucht eigene Gütekriterien, vor allem die der Intersubjektivität und der reflektierten Subjektivität.
•
Die Objektive Hermeneutik bietet mit ihrem vordergründigen Konzept der „Sequenzialität“ eine geeignete Methode für die Rekonstruktion der Fallstruktur von Lebenspraxen.
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
•
364
Menschen sind Wesen, die niemals ganz rational ganz verstanden werden können.
Daher wird es immer unausdeutbare Anteile geben.
2.
Forschungsdesign und –verlauf
Wie bei qualitativen Forschungen üblich, war auch der Verlauf des Forschungsprojektes „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ (2014- 2016) iterativ und zirkulär. So
wurden beispielsweise parallel zur laufenden Datenerhebung die bereits transkribierten Interviews ausgewertet und in Forschungskolloquien oder Fallwerkstätten diskutiert, um den weiteren Forschungsprozess daran auszurichten. So entwickelte sich auch die Konkretisierung
der Forschungsfragen erst im Laufe des Projekts.
Das insgesamt zwei Jahre laufende Forschungsprojekt wurde in mehrfacher Hinsicht triangulierend 8 durchgeführt. Das heißt, es wurden an mehreren Stellen verschiedene Forschungsmethoden miteinander kombiniert.
Zunächst wurden die Methoden der Datenerhebung trianguliert und dem Forschungsgegenstand fortwährend angepasst: Der Feldzugang erfolgte über ein sehr aufschlussreiches Experten-Interview mit einem Vertreter eines Interessenverbandes psychisch Kranker. Im Anschluss daran konnten wir verschiedene Einrichtungen, die in unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialpsychiatrie tätig sind, für die Teilnahme an der Forschung anfragen. Durch
diese teilnehmenden Einrichtungen ließ sich eine Vielfalt an Lebensdeutungen und Lebenslagen in der Sozialpsychiatrie abbilden. Das Sample gestaltete sich wie in Tabelle 1 dargestellt,
aufgeschlüsselt nach Akteur_innen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern (Psychiatrieerfahrene, Professionist_innen und Angehörige) und den verschiedenen Handlungsfeldern: Die
unterschiedlichen Erhebungsmethoden sind farblich voneinander abgegrenzt, die Angaben zur
Darstellung der Anzahl der weiblichen und männlichen Interviewteilnehmer_innen sind in
dahinterstehenden Klammern gekennzeichnet. Die befragten Psychiatrieerfahrenen waren
zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 24 und 65 Jahren alt:
8
Vgl. zum Diskurs um Triangulation in der Sozialforschung bspw. Flick, Uwe (2012): 4.6 Triangulation in der qualitativen Forschung. In: Flick, Uwe; von Kardoff, Ernst; Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 9. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S.
309-318.
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
365
Interessenverband
psychisch Kranker
Stationäre
Wohneinrichtung der Sozialpsychiatrie
Theatergruppe
Künstler_innengruppe
Krisendienst
Niedrigschwellige Einrichtung mit Tagesstätte und
Zuverdienst
Sozialpsychiatrischer
Dienst
Hilfeplankonferenz
Interessenverband Angehöriger psychisch Kranker auf
Landesebene
Anzahl der erhobenen Texte
Psychiatrieerfahrene
Zwei
Expert_innenInterviews
Vier
teilstandardisierte
Interviews
Gruppendiskussion
der Theaterleitung
Gruppendiskussion
und ohne Leitung (
Professionist_innen
Angehörige
Eine Fallwerkstatt mit
dem Team
mit
mit
Fünf teilstandardisierte
Interviews
Zwei teilstandardisierte
Interviews
Ein Experten-Interview
Eine Fallwerkstatt mit
dem Team
Eine Fallwerkstatt mit
dem Team
Zwei
teilnehmende
Beobachtungen
Ein
pert_inneninterview
15
6
Ex-
1
Tabelle 1: Forschungsdesign
Ausdifferenziert nach den Erhebungsmethoden erfassten wir folgende Daten:
11
teilstandardisierte Interviews
4
Expert_inneninterviews
3
Fallwerkstätten mit sozialpsychiatrischen Teams (zusätzlich 2 Fallwerkstätten auf
Tagungen)
2
teilnehmende Beobachtungen
2
Gruppendiskussionen.
Die Begründung für die triangulierte Datenerhebung ist mehrschichtig. Für die Zuspitzung der
Forschungsfrage war uns ein Expert_inneninterview am Anfang wichtig, mit dem ganz konkret das Kontext- und Betriebswissen (vgl. Wassermann 2015, S. 52-53) zum Thema „Partizipation“ erhoben werden konnte, das im Interesse politisch aktiver Psychatrieerfahrener steht.
Danach wurde auch das Forschungsdesign ausgerichtet. Im Forschungsprojekt ging es jedoch
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
366
darum, die Perspektiven verschiedener Akteur_innen zu rekonstruieren, sodass auch Expert_innen-Interviews mit einer Sprecherin der Angehörigen Psychiatrieerfahrener und einem
Professionisten in einem extrem krisenhaften Handlungsfeld der Sozialpsychiatrie (Krisendienst) stattfanden und diese explizit zu ihrem Spezialwissen in den jeweiligen Gebieten befragt wurden. Für die Befragung der Adressat_innen wurde die Methode des teilstandardisierten Interviews (vgl. Hopf 2012, S. 351) ausgewählt, das heißt es wurde ein Interview mit
skizzenhaft verfassten Fragen geführt, die in der konkreten Formulierung und Reihenfolge
individuell an die Interviewsituation angepasst werden konnten. Um kollektive Orientierungsmuster und Erfahrungen der Befragten, Unterstützungs- und Verhinderungsanteile von
Gruppen und das Aushandeln von Bedeutungen zwischen verschiedenen Akteursgruppen analysieren zu können, haben wir zudem Gruppendiskussionen (vgl. Bohnsack 2012, S. 371-380)
mit zwei Künstler_innengruppen und deren Leitungen durchgeführt. Zur Rekonstruktion der
Deutungsmuster sozialpsychiatrischer Professionist_innen wurden die machtreflexiven Fallwerkstätten mit den Teams der beteiligten Einrichtungen durchgeführt, wobei dies auch der
Implementierung und Weiterentwicklung des Verfahrens diente. Siehe hierzu auch den Beitrag „Rekonstruktive Fallwerkstätten als Methode (macht)reflexiver Sozialer Arbeit - am Beispiel der Sozialpsychiatrie“ in diesem Band. Um insbesondere die handlungsfeld- und institutionsbezogenen Strukturen betrachten zu können, wurden schließlich ergänzend zwei Sitzungen einer Hilfeplankonferenz, im Sinne einer ethnographischen Sozialforschung, teilnehmend
beobachtet (vgl. Lüders 2012, S. 385-389).
Die konkrete Umsetzung der einzelnen Erhebungsmethoden und die Forschungserfahrungen
im Feld der Sozialpsychiatrie werden weiter unten detailliert dargestellt. An dieser Stelle noch
einmal zurück zur »Triangulation«. Neben der Kombination verschiedener qualitativer Erhebungsmethoden wurden im Forschungsprozess ebenfalls verschiedene Wissensperspektiven
miteinander ins Verhältnis gesetzt: das Erfahrungswissen der Adressat_innen, das Professionswissen der Praxis und das wissenschaftliche Wissen. Siehe dazu ebenfalls den Beitrag
„Rekonstruktive Fallwerkstätten als Methode (macht)reflexiver Sozialer Arbeit - am Beispiel
der Sozialpsychiatrie“ in diesem Band.
Die unterschiedlichen Ebenen, auf denen die Forschungsfragen liegen, machten ebenfalls eine
Triangulation der Datenauswertung notwendig. Hier wurden rekonstruktions- und subsumtionslogische Vorgehensweisen miteinander kombiniert, damit Aspekte der Bedeutungszu-
367
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
schreibungen, der formulierten Wünsche, der entdeckten Partizipationsmöglichkeiten und der
latenten Machtstrukturen erforscht werden konnten.
Im Folgenden werden die konkreten Erfahrungen mit der Umsetzung der im Forschungsdesign geplanten Methoden beschrieben. .
2.1 Teilstandardisierte Interviews
Insgesamt wurden 11 teilstandardisierte Interviews mit Psychiatrieerfahrenen aus den verschiedenen Handlungsfeldern durchgeführt.
Zur Vorbereitung der Interviews besuchten wir die teilnehmenden Einrichtungen vorab und
nutzten die internen Kommunikationswege zur Vorstellung unseres Forschungsvorhabens und
unserer Personen. So nahmen wir als ganzes Projektteam in der stationären Einrichtung auf
Einladung der Teamleitung hin an der monatlich stattfindenden Hausversammlung teil, verteilten Handzettel mit den vorgetragenen Informationen und nahmen uns im Anschluss Zeit
für Gespräche mit an Interviews Interessierten, um Fragen zu klären und direkt Termine zu
vereinbaren. Damit wollten wir allen Adressat_innen die Möglichkeit geben, selbst über eine
Teilnahme zu entscheiden und nicht nur durch Mitarbeiter_innen ausgewählte Gesprächspartner_innen vorzufinden. Es wurde ebenfalls die Möglichkeit gegeben, sich nachträglich
noch für ein Interview zu melden oder den Termin wieder abzusagen.
In der niedrigschwelligen Einrichtung mit Tagesstätte und Zuverdienst stellten wir uns im
Rahmen der regelmäßig stattfindenden Hausversammlung vor, die von einer gewählten Sprecherin moderiert wurde. Auch dort waren wir von der leitenden Mitarbeiterin angekündigt
worden, brachten Informationen mit und führten im Anschluss Gespräche bzw. trafen Terminvereinbarungen. Den Interviewteilnehmer_innen wurden verschiedene Orte für die Interviews vorgeschlagen (öffentlicher Raum, eigener Raum in der Einrichtung, Büro der Forscher_innen, eigener Wohnraum), wobei ausschließlich die in den Einrichtungen zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten gewählt wurden. Es wurde außerdem darauf hingewiesen,
dass Vertrauenspersonen beim Interview dabei sein können, wenn dies gewünscht ist. Davon
machten einige Interviewteilnehmer_innen Gebrauch und baten ihre Bezugsmitarbeiter_innen
oder andere Mitarbeiter_innen hinzu.
Bezüglich der Vorstellung des Forschungsprojektes und der Anfragen für etwaige Interviews
bildete der Sozialpsychiatrische Dienst eine Ausnahme: Aufgrund der nicht vorhandenen in-
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
368
ternen Kommunikationsstruktur der Adressat_innen untereinander, was an den jeweils einzeln
stattfindenden Beratungen und der großen Anzahl der Fälle (mehrere 100) liegt, sprachen die
Mitarbeitenden des zuständigen Teams die Adressat_innen selbst an, ob sie sich eine Teilnahme am Forschungsprojekt vorstellen können und verteilten ihnen ein schriftliches Anschreiben vom Forschungsteam.
Bei der weiteren Kontaktgestaltung und Motivation zur tatsächlichen Durchführung der Interviews waren die (Bezugs-)Mitarbeiter_innen eine wichtige Stütze. Die Interviews wurden nur
von dem/der Wissenschaftlichen Mitarbeiter/in des Forschungsprojekts durchgeführt, der/die
sich auch persönlich vorgestellt hatte.
Die Interviewleitfäden wurden in der Vorbereitung auf die konkreten Einrichtungen angepasst. Die Frageblöcke haben sich jedoch immer an den gleichen Dimensionen des Themas
Partizipation orientiert:
•
subjektives Empfinden
•
konkrete Interaktion
•
Organisation
•
Gesellschaftliche und handlungsfeldbezogene Verhältnisse.
2.1.1. Rolle der teilnehmenden Bezugsmitarbeiter_innen in den Interviews
Da in Bezug auf Interviewsituationen mit Psychiatrieerfahrenen bisher wenig publiziert wurde
und dies als Ausrede genutzt werden kann, nicht mit ihnen zu forschen, sondern über sie,
möchten wir im Folgenden Interviewauszüge präsentieren, in denen deutlich wird, dass die
Teilnahme von Vertrauenspersonen in den Interviews eine unterschiedliche, aber jeweils
wichtige Rolle spielten und dass diese Teilnahme eine eröffnende Möglichkeit darstellen.
Zunächst konnten wir feststellen, dass die Anwesenheit von Vertrauenspersonen unterschiedliche Auswirkungen auf die Interviewsituationen hatte. Bei manchen waren die Begleitpersonen anwesend, beteiligten sich jedoch nicht oder kaum am Gespräch, bei anderen wiederum
sprachen die Adressat_innen ihre Begleiter_innen direkt an bzw. gaben die Fragen weiter
369
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
wiederum sprachen die Adressat_innen ihre Begleiter_innen direkt an bzw. gaben die Fragen
weiter oder wollten sich rückversichern, ob ihre Aussagen „richtig“ seien:
P: […] da hat mein=da hat mein schwager gesagt mein vater wäre gerade gestorben (2) und (2) und ich glaub
da bin ich dann krank geworden (1) oder
B: das ist schwer zu sagen (3) ich glaube es gibt es noch andere dinge aber ich denke das weiß ich nicht will sie
das jetzt hier erzählen
I: das ist jetzt=das müssen sie nicht erzählen=das ist=uns geht's ja auch eher darum wie sie hier so ihr leben in
der [Einrichtung] wahrnehmen ehm (.) so sie haben vorhin von=von streit erzählt mit mitbewohnern=mit mitbewohnerinnen bei diensten=bei den absprachen
Abbildung 1: Interviewsituation mit Adressatin und Bezugsmitarbeiterin
In diesem Beispiel erzählt die Adressatin auf die Frage hin, wie sie in die Einrichtung gekommen ist, vom Verlauf und der Addition familiärer Krisen, die aus ihrer Sicht zum Ausbruch ihrer Krankheit geführt haben. Nach dem Ende ihrer Erklärung fragt sie jedoch ihre
anwesende Bezugsmitarbeiterin danach, ob sie dies auch so sehe; das „oder“ kann in diesem
Zusammenhang als Frage gelesen werden. Über die Bezugsmitarbeiterin ist es ihr also möglich, mehr Sicherheit für sich und ihre Aussage herzustellen. Die Antwort der Mitarbeiterin
markiert eine andere Expertinnensicht auf die Erklärung der Erkrankung der Adressatin, mit
dem Inhalt, dass weitere Faktoren zur Erkrankung beigetragen hätten. Auffallend ist, dass die
Frage nicht von der Adressatin selbst beantwortet wird, sondern die Expertin wendet sich dabei an die Interviewerin: „das weiß ich nicht will sie das jetzt hier erzählen“. Auf diese Weise
wird über die Adressatin gesprochen, jedoch manifest versucht zu vermitteln, dass es die Entscheidung der Adressatin sei, welche Inhalte weiter ausgeführt werden sollen. Die Interviewsituation verändert sich hier zu einem Expertinnengespräch über die Adressatin, die formal kurzzeitig ausgeschlossen wird. Die Interviewerin löst die Situation dahingehend, dass sie
wiederum nicht der Mitarbeiterin antwortet, sondern der Adressatin und einerseits noch einmal klarstellt, dass nichts erzählt werden muss, sondern selbst gewählt werden kann, was erzählt wird und andererseits auch nochmals die Frage nach der aktuellen Situation in der Einrichtung wiederholt, damit das eventuell krisenhafte Thema der Krankheitsentstehung nicht
offen gelegt werden muss.
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
370
Auch wenn die Bezugsmitarbeiterin in dieser Situation nun die Adressatin durch ihre Antwort
formal ausgeschlossen hat, zeigt es doch, dass ihre Anwesenheit in dieser für die Adressatin
ungewohnten Situation für die Adressatin wichtig ist.
Die Vulnerabilität der Interviewteilnehmer_innen wurde in manchen weiteren Situationen so
deutlich, dass wir zu der Möglichkeit, eine Person des Vertrauens im Interview hinzuzuziehen, grundsätzlich raten. Im folgenden Interview wurde beispielsweise die bedrohliche Situation eines Interviews besonders deutlich formuliert:
P:
I:
P:
I:
P:
I:
P:
das fällt mir bei dem INterview auch ein (.) in dem moment wo jemand BESSER bescheid weiß (1) als
derjenige der mit dem thema ANgefangen hat [mhm] (2) das gefühl lässt (.) jemanden auszuziehen (.)
also (3) wo jemand sagt ja ich hab dich AUSgezogen (1) ich weiß besser bescheid über das was du
brich- bra- was du gebracht hast ja (1) ich weiß besser bescheid über das was der andere brINGT (.)
dann sag ich ja ich hab dich ausgezogen (2) das hab ich mal gedacht (.) und da kommt aber nur dieses
du SAGst es verstehen sie (.) ich kann das nur=nur SAGen (.) das ausgezogen=es hat keine bedeutung
[mhm] es scheint=es scheint niemand mehr zu begreifen und auch nicht (.) es ging alles so schnELL (5)
haben sie sich jetzt auch in der INTERviewsituation so gefühlt
nee [ok] (2) beim thema interview fällt mir das halt auf dass zwei gegenübersitzen [mhm] und sich was
erzählen [ja] und wenn dann einer besser bescheid weiß über das was du SELBER denkst zu wissen [ja]
(.) kann man sagen ich hab dich ausgezogen [mhm] verstehen sie [ja] (.) und da kann man nur sagen
du SAGST es aber mehr gibt's nicht [mhm] man kann das sagen ausgezogen aber es hat keine bedeutung
(3)
wann gab's so ne situation=hat das
ja mit gott und teufel und so (7)
mir ist nur wichtig dass sie sich nicht in so einer situation jetzt so=so fühlen
nee
Abbildung 2: Vulnerabilität in der Interviewsituation
Wir versuchten, der Verletzlichkeit und dem Schutz der Integrität der Interviewteilnehmer_innen zu begegnen, indem die Länge des Interviews von vorneherein festgelegt wurde
und nicht länger als eine Stunde gehen sollte. Tatsächlich dauerten die Gespräche zwischen
30 und 50 Minuten. Die Interviewer_innen waren darüber hinaus ausgebildete Sozialarbeiter_innen, die in ihrem Beruf bereits Erfahrungen in der Beratung und Gesprächsgestaltung
mit Psychiatrieerfahrenen sammeln konnten. So konnte in den Interviews spontan auf solche
Situationen reagiert werden und alle Interviewteilnehmer_innen gaben danach an, mit der
Interviewsituation zufrieden gewesen zu sein. Dass die leitfadengestützten, offenen Interviews
allerdings Themen und Emotionen zur Sprache kommen ließen, welche die Beteiligten, insbe-
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
371
sondere die Adressat_innen, über die Interviewsituation hinaus stark beschäftigten, wurde an
vielen Stellen deutlich und auch von den Mitarbeiter_innen der Einrichtungen so rückgemeldet. Dies wurde dann im professionellen Kontext der Einrichtungen, ggf. in Rücksprache mit
uns, aufgenommen.
Auch kamen im Interview Themen auf, die die Befragten mit ihren Berater_innen gerne im
nächsten Beratungsgespräch aufgreifen und besprechen wollten. In einem solchen Fall kann
es günstig sein, wenn der/die Bezugsmitarbeiter_in im Interview anwesend ist:
I:
P:
I:
P:
I:
okay [P: ahhh] wir wären dann auch [P: wären wir fertig] am ende ich habe nur noch zwei fragen eigentlich [P: also] eine die können sie ganz schnell beantworten [P: ja mach ich machs jetzt ganz
schnell] ähm anfang des jahres ist das psychischkkrankenhilfegesetz in kraft getreten in [Bundesland
1] haben sie da je was von mitbekommen
da hab ich noch gar nichts mitgekriegt
okay einfach so das war nur so
oh da werde ich gleich mit der frau [Name 1] und der frau [Name 2] reden [I: was da so drin steht] äh
wie heißt das
das PsychKHG das kann ich ihnen aufschreiben [P: ja das wäre mir lieb] oder genau wir sprechen dann
die frau [Name 1] vielleicht zusammen auch an wenn sie mögen [P stöhnt]
Abbildung 3: Thema aus dem Interview in Beratung aufgreifen
Das Forschungsprojekt kann also, neben der Analyse der Bedeutungszuschreibungen für Partizipation, auch im Sinne der Praxisforschung direkte Einwirkungen auf die Beratungssituationen im Handlungsfeld haben.
2.1.2. Schwierigkeiten für die Adressat_innen in den Interviewsituationen
Eine Schwierigkeit für die Adressat_innen in den Interviews stellten die offenen Fragen dar.
Einerseits lässt ein teilstandardisiertes, also ein leitfadengestütztes, offenes Interview, eine
möglichst große Flexibilität des Inhalts zu, in die hinein die Befragten ihre selbst als relevant
empfundenen Themen einbringen konnten. Andererseits war gerade auch diese Offenheit in
der Interviewsituation ein unangenehmes Moment für manche Psychiatrieerfahrenen. Die
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
372
offenen Fragen konnten Unsicherheiten auslösen, weil nicht klar wurde, was genau das Interesse der Forschenden ist:
P: tue mich grad ein bisschen schwer [Iw: ja] entschuldigung
Iw: das macht=das macht gar nichts so ein bisschen ins erzählen zu kommen fällt schwer
P: ja (.) mhm
Iw: ok (.) dann ist es ok für sie {{gleichzeitig} wenn ich dann noch ein paar fragen stelle}
P: {{gleichzeitig} also mir täts} leichter fallen wenn sie mir fragen stellen
Abbildung 4: Fragen im Interview
In diesen Fällen konnte auch kurzzeitig auf den Leitfaden zurückgegriffen und eindeutigere
Fragen gestellt werden.
Weiterhin gab es seitens der Adressat_innen immer wieder die Befürchtung, dass das Gesagte
nicht interessant für die Interviewer_in sein könnte:
P: aber sie ich hab mir ganz oft gedacht dann sie wollen dann bestimmt auch mal was anderes wissen [I: nicht schlimm sie müssen wissen was sie erzählen] {aha sonst haben sie ihr
tonband voll ding mit der}
Abbildung 5: Angst, Uninteressantes zu erzählen
Viele der interviewten Personen wurden zum ersten Mal in solch einem Rahmen nach ihren
Meinungen und Erfahrungen gefragt. Auch wenn es Situationen gab, in denen manch einer
der Interviewten Angst hatte, Uninteressantes zu erzählen, waren die Menschen doch in allen
Fällen grundsätzlich positiv dazu eingestellt, dass ihr Wissen von Interesse ist. Folgende Interviewpassage drückt beispielsweise deutlich aus, dass sie das Interview unter anderem als
Möglichkeit der Interessensvertretung sahen und es ihnen ein großes Anliegen war, die Praxis
in der Sozialpsychiatrie zu verbessern; dementsprechend froh waren sie um diese Möglichkeit
der Beteiligung froh:
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
373
P:
oder zum beispiel noch das gespräch mit ihnen jetzt das freut mich sehr (.) weil ich
WILL eigentlich und das war schon IMMER so bei mir (.) das was im geheimen passiert das
muss an die öffentlichkeit und das wollte ich=das hab ich mit ALLER vehemenz mit ALLEM
eifer verfolgt das ziel (.) das (2) aber IMMER MICH praktisch nicht ernst genommen=ich hab
immer gedacht ich muss andere bedürfnisse anderer befriedigen (1) und ehm hab praktisch
mich außen vor gelassen (3)
Abbildung 6: Interview als Möglichkeit der Interessensvertretung
Dementsprechend fanden auch alle vereinbarten Interview-Termine statt, obwohl es einige
Hindernisse dafür geben konnte, wie dieses Beispiel zeigt:
P:
I:
P:
also wenn jetzt das heute nicht gewesen wäre mit ihnen wäre ich heute daheim
geblieben wo ich in der dusche ausgerutscht bin mir tuts ganze ding weh ohje nicht
einmal die zwei tabletten haben geholfen (.) aber ich habe gesagt gehabt da hanne
ich mach das und dann mache ich wenn wenn sage ich ja man kann sich auf mich
verlassen wenn es jetzt natürlich gar nicht gehen würde dann hätte ich [klar] dann
wäre es aber ich hab gesagt gehabt wenn ich was verspreche dann halte ich das
auch
sie wissen ja wir können jederzeit abbrechen ne
NEE NEE NEE NEE schon ich werde es dann schon sagen nachher sitze ich auch da
hinten und tu schräuble einpacken
Abbildung 7: Mitwirkung an Interview gewollt
2.2. Expert_inneninterviews
Im Forschungsverlauf wurden vier Expert_inneninterviews geführt. Zwei mit Vertretern der
Psychiatrieerfahrenen, eines mit einer Vertreterin der Angehörigen und eines mit einem Mitarbeiter eines Krisendienstes.
Wie bereits erwähnt, ging es bei den Interviews vor allem darum, ganz konkret die verschiedenen Positionen der Akteur_innen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern abzufragen.
Dies unterscheidet die Expert_inneninterviews vom Erkenntnisinteresse, das wir mit dem
Einsatz teilstandardisierter Interviews verfolgten. Der Vorteil der Gespräche mit den Expert_innen war, dass das Forschungsteam direkte Schlüsse aus den Interviews ziehen und sich
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
374
auf die dort formulierten Stellungnahmen beziehen konnte. Die Befragten sprachen in diesem
Zusammenhang in dem Selbstverständnis, eine bestimmte Gruppe von Akteur_innen zu repräsentieren und nicht nur vor dem Hintergrund ihres eigenen Erfahrungshorizontes zu berichten. Über die zeitlich unaufwendige Ergebnisgewinnung hinaus, sind die Expert_inneninterviews auch eine Möglichkeit des Ausdrucks von Anerkennung. Wir gingen
davon aus, dass diejenigen, die selbst Erfahrungen in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern
gemacht haben, dieses aus ihrer jeweiligen Perspektive am besten kennen. Dies wird auch
deutlich im Forschungsprojekt platziert. Die Interviews waren so auch immer ein Bestandteil
der insgesamt offenen und interessierten Zusammenarbeit zwischen dem Forschungsteam und
den Interessensvertreter_innen.
2.3. Gruppendiskussionen
Im Forschungsprojekt wurden zwei Gruppendiskussionen durchgeführt, die sich beide aus
dem Projektverlauf ergaben und so nicht im Forschungsdesign geplant waren. Interessanterweise waren beide Gruppendiskussionen mit Künstler_innengruppen. Ohne dass dies das vorrangige Ziel war, stellte sich die Methode als besonders anschaulich für die Analyse von
Kommunikationsmustern und deren partizipativer Anteile heraus. Dabei waren sowohl die
Interaktionen unter den psychiatrieerfahrenen Künstler_innen, als auch mit ihren jeweiligen
professionellen Leitungen interessant.
Die erste Gruppendiskussion fand in mit einer Gruppe bildender Künstler_innen statt. Dieses
Atelier wird, wie auch der anwesende künstlerische Leiter, von einem Träger sozialpsychiatrischer Angebote finanziert, sodass die Räume und Materialien kostenlos von den Künstler_innen genutzt werden können. Um dieses Angebot nutzen zu können, müssen sich die
Psychiatrieerfahrenen mit einer Mappe, in der ihre künstlerischen Fertigkeiten präsentiert
sind, bewerben und werden danach ausgewählt. Die Gruppe hat abgesehen von der künstlerischen Anleitung keine pädagogische Unterstützung, es sei denn, es werden noch weitere sozialpsychiatrische Hilfen in Anspruch genommen. Die meisten wohnten zum Zeitpunkt der
Gruppendiskussion in eigenen Wohnungen und nahmen keine beratenden oder therapeutischen Hilfen im Alltag in Anspruch. Wir sprachen mit vier Künstler_innen, drei Frauen und
einem Mann, und dem Leiter. Die Gruppe selbst verfolgte mit dem Gesprächmit uns ein großes Anliegen: Wir sollten mit der Darstellung unserer Forschungsergebnisse auch verdeutli-
375
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
chen, welche „Ressourcen psychisch Kranke für die Gesellschaft“ (Zitat eines/einer der Teilnehmer_innen) sein können. Damit ist vermutlich gemeint, den Nutzen Psychiatrieerfahrener
verdeutlichen zu wollen. Die Gruppendiskussion fand in sehr wertschätzender, vertrauter und
offener Atmosphäre statt. Die Künstler_innen äußerten anschließend ihre Dankbarkeit dafür,
durch das Interview das eigene Handeln reflektieren zu können. Daran anschließend waren sie
sehr an einem weiteren Austausch zu dem Thema interessiert.
Die zweite Gruppe besuchten und interviewten wir bei einem Probewochenende. Dabei handelte es sich um eine Gruppe von Schauspieler_innen, die zu dem Zeitpnkt ein neues Stück
eingeübten und von der Leitung ihres stationären Wohnheims und einer Regisseurin begleitet
wurden, die ebenfalls an der Gruppendiskussion teilnahmen. Zusammen mit den 9 Schauspieler_innen waren folglich 11 Personen an der Gruppendiskussion beteiligt. In der Diskussion
sprachen vorrangig sechs Schauspieler_innen, die Regisseurin und die Leitung des Wohnheims. Zu Beginn strukturierten die zwei Professionist_innen die Diskussion stark mit, regten
die Schauspieler_innen zum Sprechen an und stellten Nachfragen. Im Verlauf der Gruppendiskussion nahm dies etwas ab. Manche Schauspieler_innen verließen immer wieder für kurze
Zeit die Situation und kehrten nach einer Pause zurück. Nach 30 Minuten wurde das erste Mal
gefragt, ob das Interview vorüber sei, nach 45 Minuten konnten wir mit der letzten Frage abschließen. Nach unserem Eindruck wäre ein längeres Gespräch nicht für alle gut auszuhalten
gewesen. Die Diskussion verlief rege und es wurde auf jede Frage geantwortet. Die Atmosphäre war sehr angenehm und wertschätzend.
Methodisch war in dieser Gruppendiskussion vor insbesondere interessant, wie die Regisseurin (S1) und die Leitung des Wohnheims (R) im Interview pädagogisch intervenierten. In Abbildung 8 beispielsweise ist ein Ausschnitt aus der Gruppendiskussion zu sehen, wie eine
Schauspielerin von der Bedeutung des Schauspielens für ihr seelisches Erleben erzählt, wie
das Spielen ihr hilft, sich „abzureagieren“, ihre aggressiven Gefühle nicht anders ausdrücken
zu müssen, zum Beispiel „Leute umzubringen“. Die Regisseurin reagiert mit einer Einordnung des Gesagten, dass dies nur gedanklich gemeint sei. Die Leitung des Wohnheims reagiert mit einem Wechsel des Themas und spricht an, dass die Schauspielerin auch gerne tanze.
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
A:
S1:
A:
R:
A:
R:
D:
376
gar nichts (.) ich spiel halt als kind hab ich auch immer gespielt und dann ist es nichts anderes wie als
kind (.) im kinderzimmer rumzuhocken und zu spielen (.) das ist für mich das gleiche als ich kind habe
ich viel spielen dürfen (1) mit puppen und so das ist=ist für mich wie=wie wie als kind wo ich da gespielt
hab da denke ich immer an meine kindheit (.) deswegen macht mir das auch so viel spaß (.) weil wenn
ich das nicht hätte hätte ich nichts zum abreagieren (.) und dann würde ich die ganz zeit hohledrehen
(.) dann täte ich die ganze zeit die leute umbringen das darf man doch nicht
im kopf umbringen
ja das mach ich ja immer die frau (?) hat gestern gesagt ich soll das in mein tagebuch reinschreiben
und in meinem tagebuch abkotzen (.) die war ganz sauer
frau A tanz immer gern gell [D: ja]
ja tanzen mach ich gern (.) ich war als kind hab ich drei jahre ballet gemacht [D: und ein gutes=ein
gutes lied hat man auch] das hab ich ganz nee weil ich nen unfall hatte da musste ich aufhören
frau D was wollten sie noch sagen
ich sagte ein gutes lied haben wir auch (.) gehabt zum tanzen
Abbildung 8: Pädagogische Interventionen in der Gruppendiskussion
Bei den vielen möglichen inhaltlichen Interpretationen dieser Sequenz ist für die methodische
Analyse vor allem bedeutsam, dass hier die Schauspielerin nicht alles zur Sprache bringen
kann, was sie möchte. So kann hier nicht rekonstruiert werden, welche Bedeutung das Schauspiel genau für sie hat. Die pädagogischen Leitungen der Gruppe rahmten die Inhalte, indem
sie nachfragten oder von bestimmten Themen weglenkten. Sie schützten die Schauspieler_innen vor einer allzu intimen Erzählung und achteten dabei auch auf die Bedürfnisse der
anderen Gruppenmitglieder, die sich ebenfalls mitteilen wollten. So kann auf Basis dieser
Gruppendiskussion vor allem die pädagogische Interaktion mit dem hohen Anteil des Schutzes der Einzelnen, der Gruppe und auch der Interviewer_innen rekonstruiert werden.
In beiden Gruppen gab es jeweils Teilnehmende, die sich nicht oder nur sehr wenig geäußert
haben. Eine Gruppendiskussion bietet somit einerseits die Möglichkeit, in der Situation dabei
zu sein, ohne sich direkt selbst äußern zu müssen. Andererseits kann auch gerade die Gruppengröße und die Anwesenheit der Leitungspersonen die Formulierung einer eigenen Position
verhindern, aus Gründen der sozialen Erwünschtheit oder Ängsten in sozialen Gruppen. In
diesem Fall sind Einzelinterviews ein geschützterer Rahmen für die Entwicklung eigener
Deutungen.
377
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
Um die verschiedenen Diskurse herauszuarbeiten, auf die sich die Gruppe jeweils bezog, wäre
auch eine weitere, speziell auf Gruppendiskussionen angelegte Auswertungsmethode (z.B. die
dokumentarische Methode nach Bohnsack) interessant gewesen.
Die Gruppendiskussionen führten wir mit zwei Mitarbeitenden des Forschungsprojekts durch.
So konnte eine_r sich auf die Moderation und die Fragen konzentrieren und die/der andere die
Situation beobachten, die Zeit berücksichtigen und ggf. auf nonverbale Hinweise aus der
Gruppe achten, wenn die Situation zu unangenehm würde. In beiden Fällen besuchten wir die
Gruppen ebenfalls in den ihnen bekannten Räumlichkeiten, in denen sie sich ohnehin in jenem Moment aufhielten und orientierten uns an ihren Terminen. So lässt sich ebenfalls die
entspannte Atmosphäre begründen. Dieses Vorgehen empfehlen wir im Nachhinein weiter.
2.4. Teilnehmende Beobachtung
Um die inhaltliche Ebene der Koordination verschiedener sozialpsychiatrischer Hilfen in die
Datenerhebung mit aufzunehmen, haben wir uns ebenfalls mit dem Gremium „Hilfeplankonferenz“ beschäftigt. Die Hilfeplankonferenz ist ein Instrument, das im Rahmen der Implementierung des personenzentrierten Ansatzes in Baden-Württemberg eingeführt wurde und in dem
Einzelfälle in Eingliederungshilfemaßnahmen mit der Methode eines Integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplans (IBRP) in einem Gremium der regionalen Hilfeanbieter des
jeweiligen Gemeindepsychiatrischen Zentrums vorgestellt werden. Mit dem Bezug des Einzelfalls auf die Möglichkeiten des Hilfesystems sollen gegebene Versorgungslücken aufgedeckt werden (vgl. Sozialministerium Baden-Württemberg 2004, S. 50).
Wir konnten in einer Region an zwei Terminen einer Hilfeplankonferenz teilnehmen und diese teilnehmend beobachten. Da es sich bei den vorzustellenden Einzelfällen nach Aussage
einiger Mitglieder der Hilfeplankonferenz auch um Patient_innen einer psychiatrischen Klinik
handelte, für die ein besonderer Schutz in der medizinischen Forschung vorgesehen ist, wurde
vor der Teilnahme aus dem Gremium heraus jedoch zunächst die Anfrage gestellt, ob das
Forschungsprojekt von einer Ethik-Kommission begutachtet und genehmigt worden sei. Da
dies in der Sozialwissenschaft unüblich ist und es in der forschenden Hochschule keine eigene
Ethik-Kommission für solche Fälle gibt, gab es vor Forschungsbeginn keine Begutachtung
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
378
durch eine Ethik-Kommission 9; jedoch wandten wir uns daraufhin an die Landesärztekammer, die uns versicherte, dass für eine Forschung in dem Rahmen, ohne körperliche Eingriffe,
ohne Placebo-Gruppe, mit informierter Einwilligung und ohne die Verwendung von „Daten
[…], die sich einem bestimmten Menschen zuordnen lassen" (§15 Abs. 1, Berufsordnung der
Landesärztekammer Baden-Württemberg) kein kostenpflichtiges Ethikvotum nötig sei. Darüber hinaus standen von Anfang an forschungsethische Perspektiven im Mittelpunkt der
Überlegungen des Forschungsteams, die dem Gremium vorgestellt und dadurch die Möglichkeit geboten wurde, das Anliegen der Hilfeplankonferenz nachzuvollziehen, was aus unserer
Sicht gelang. Grund für eine besonders differenzierte Auseinandersetzung mit forschungsethischen Gesichtspunkten war für das Forschungsteam vor allem die moralische Dimension im
Umgang mit besonders vulnerablen Menschen. Folglich gab es gemeinsame Interessen, die
eine Zusammenarbeit eröffneten. Unser Vorgehen sah ebenfalls bei der Erhebung und Auswertung der Daten eine strikte Anonymisierung vor, konkrete Personen, Orte, Einrichtungen
usf. spielen bei der Interpretation der Daten keine Rolle. Den Hinweis der Hilfeplankonferenz
nahmen wir zum Anlass, unsere forschungsethischen Prinzipien zur Transparenz und möglichen Auseinandersetzung darüber schriftlich auszuformulieren (siehe weiter unten in diesem
Text). An dieser Stelle war am deutlichsten die Berührung medizinischer und sozialwissenschaftlicher Forschungspraxis zu spüren.
Nach diesen Klärungen konnte die teilnehmende Beobachtung wie geplant stattfinden. Bei der
Anwendung dieser Erhebungsmethode orientierten wir uns an Christina Huf (2006), die in
ihrer ethnographischen Studie differenziert und ausführlich die Umsetzung der teilnehmenden
Beobachtung darstellt und damit hilfreiche Hinweise zur Forschungspraxis gibt.
Huf diskutiert beispielsweise, dass es zur Komplexitätsreduktion der Beobachtungssituation
notwendig ist, Selektionskriterien bewusst auszuwählen. Nur so können komplexe soziale
Phänomene erfasst werden und sich ein Wechselspiel aus Komplexitätsreduktion und produktion ergeben. Die Kriterien dienen dabei nicht als formalisierte, operationalisierte Filte-
9
Zur aktuellen Diskussion zu Ethikbegutachtungen in den Sozialwissenschaften, vor allem bezüglich
qualitativer Forschung, siehe auch folgenden Text: von Unger, Hella; Dilger, Hansjörg; Schönhuth,
Michael (2016): Ethikbegutachtung in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung? Ein Debattenbeitrag aus soziologischer und ethnologischer Sicht. In: Volume 17, No. 3, Art. 20, September
2016.
379
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
rung, sondern ermöglichen im Gegenteil anhand von Orientierungspunkten eine genaue, detaillierte Beobachtung. (Vgl. Huf 2006, S. 51–52) Karin Bock und Katja Maischatz weisen
ergänzend darauf hin, dass bei Beobachtungen zweiter Ordnung (Niklas Luhmann) »blinde
Flecken« auftreten, dessen Reflexion einer Zirkularität bedürfe (vgl. Bock, Maischatz 2010,
S. 59). Auf dieser Grundlage entschieden wir uns dafür, die komplexe Situation zu zweit zu
beobachten und die Beobachtungsfokusse untereinander aufzuteilen. So beobachtete eine_r
die Interaktion der Teilnehmenden untereinander und machte sich Feldnotizen dazu; die/der
andere dokumentierte die wörtlichen Aussagen, was sich als sehr hilfreich erwies.
Bei der Struktur der auf dieser Grundlage erstellten Beobachtungsprotokolle hielten wir uns
an die Tagesordnung der jeweiligen Sitzung der Hilfeplankonferenz. Da das Gremium an
Hospitationen ihrer Sitzungen gewohnt war, reagierten die Mitglieder routiniert und sehr offen auf unsere Besuche.
2.5. Fachtag
Ein weiteres zentrales Element des Forschungsprozesses war der trialogisch angelegte Fachtag mit dem Titel „Wir leben unser Leben“ am 15.7.2016 an der Hochschule Esslingen. Eingeladen waren Psychiatrieerfahrene, Angehörige, interessierte Bürger_innen, Praktiker_innen,
Wissenschaftler_innen und Studierende. Erfreulicherweise folgten alle eingeladenen Personengruppen dieser Einladung (ca. 100 Gäste). Nach Vorträgen aus den vier Perspektiven der
sozialpsychiatrischen Praxis (Klaus Dörner), der Psychiatrieerfahrenen (Bernhard Dollerschell und Martin Ortolf als Vertreter des Landesverbands Psychiatrieerfahrener), der Angehörigen Psychiatrieerfahrener (Barbara Mechelke als Vertreterin des Landesverbands der Angehörigen) und der Forschung (Forschungsteam) 10 wählten wir die partizipative Großgruppenmethode »World Café«11 für die Diskussion der ersten Forschungsergebnisse aus den
oben genannten Perspektiven aus. Dabei wurden im Tagungsraum fünf Tische zu unseren
fünf bis dahin entwickelten Hauptkategorien eingerichtet. Auf jedem Tisch lag entsprechend
der Kategorie eine World Café-Tischdecke mit ein bis zwei der Kategorie zugeordneten Para-
10
Die Redebeiträge des Fachtags finden Sie in Textform in diesem Band.
11
Weitere Hinweise zur Methode bspw. unter: http://www.partizipation.at/worldcafe.html.
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
380
phrasen 12 aus den Interviews 13; um die Tische standen genügend Stühle. Alle Tagungsgäste
wurden eingeladen, sich einen Tisch auszusuchen, dessen Thema sie interessant fanden, um
dort mit den anderen Besucher_innen des Fachtags ins Gespräch zu kommen. Meinungen,
Ergebnisse oder Fragen wurden – gemäß der Aufgabenstellung – auf den Tischdecken notiert.
Es wurden vier Runden à 20 Minuten durchgeführt, nach denen die Tische gewechselt und die
Aufschriebe der vorherigen Gruppe diskutiert werden konnten, so dass jede_r die Möglichkeit
hatte, an vier Tischen ins Gespräch zu kommen. Beim letzten Tisch wurden die auf den
Tischdecken gefundenen Notizen zusammengefasst und die Ergebnisse oder Fragen auf Flipchartpapier an der nebenstehenden Stellwand verschriftlicht. An jedem Tisch war ein_e Gastgeber_in bei allen Aufgaben behilflich. Zur Ergebnissicherung wurden diese Aufschriebe im
letzten Schritt nun noch mit den Gastgeber_innen der Tische auf der Bühne des Haupttagungsraums platziert. Hier wurden schließlich allen Gästen alle Ergebnisse vorgestellt und
12
Hier wurde auf direkte Zitate verzichtet, da auch viele Gäste aus den teilnehmenden Einrichtungen
eingeladen waren und eine Identifikation der Interviewten möglich gewesen wäre. So wurden Sätze
paraphrasiert und Eigenbegriffe umformuliert.
13
Die entsprechenden Kategorien und Paraphrasen sind hier kurz genannt, die Ergebnisse sind explizit
im Text zu den Forschungsergebnissen in diesem Band ausgeführt:
Tisch 1: Identitäten und Erwerbsarbeit: „Ich bekomme für meine Arbeit nicht das gezahlt, was sie
eigentlich wert ist.“ „Wenn die Aufträge wegfallen und damit der Zuverdienst geschlossen wird,
kommen auch die Leute nicht mehr. Wenn der Zuverdienst läuft, ergibt sich alles Weitere.“
Tisch 2: Zugehörigkeiten und Zuschreibungen (Kulturelle Identität): „Es macht einfach einen
großen Unterschied, wenn es jemand von Dir weiß.“ „Wenn die Betroffenen keine Krise haben, sind
sie wie jede andere Person auch, dann brauchen sie die Einrichtung auch nicht.“
Tisch 3: Identitäten und Soziale Netzwerke und Beziehungen, Bindungen, Fürsichsein: „Die Einrichtung ist schon wichtig. Ohne sie würde ich nur zu Hause rumsitzen. Das wäre auf Dauer ein großes
Problem.“ „Die stationäre Einrichtung ist mein zu Hause geworden. Wenn ich mal bei Verwandten
bin, möchte ich schnell wieder heim. Hier habe ich mein eigenes Zimmer und kann mich zurückziehen.“
Tisch 4: Identitäten und Institution: „In Stadt X habe ich eine Stimmenhörergruppe kennen gelernt.
Das hat mir gefallen. Dort gelten nicht nur die als ExpertInnen, die studiert haben, sondern auch die,
die es selbst miterlebt haben.“
Tisch 5: Identitäten und Politik, Widerstand und Nicht-Identität: „Ich sehe den Trialog nicht nur
positiv. Die Angehörigen brauchen eine eigene Gruppe.“
381
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
noch einmal eine Fragerunde im Plenum eröffnet, in der alle Erfahrungen aus den Diskussionsrunden ausgetauscht und miteinander in Bezug gesetzt werden konnten.
Die Durchführung des World Cafés in dieser Form und mit der trialogisch zusammengesetzten Gruppe mit Vertreter_innen der Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen, Prakitiker_innen und
Wissenschaftler_innen war aus unserer Sicht ein großer Erfolg. Nachdem die Vorträge bei
den Tagungsteilnehmer_innen ganz unterschiedliche Ideen und Fragen angeregt hatten, konnte dies nun an ganz konkreten Aussagen auf Augenhöhe ausgesprochen und diskutiert werden. Der Vorteil der offenen Umsetzung der Methode (freie Tischauswahl, eine Raumaufteilung, die auch ein Aussetzen einer Runde ermöglichte, usw.) war, dass sich jede_r nach ihren
bzw. seinen Möglichkeiten einbringen konnte und eine respektvolle und intensive Gesprächsatmosphäre entstand. Die Gastgeber_innen an den Tischen hatten vor allem die Aufgaben,
den Ablauf der Methode zu erklären und bei der Verschriftlichung der Ideen zu helfen. Die
Perspektive der Psychiatrieerfahrenen war jedes Mal der Ausgangspunkt der Diskussionsrunden, da alle Paraphrasen aus dieser Sicht formuliert wurden. Die letzte Runde auf der Bühne
des Haupttagungsraums ermöglichte eine Ergebnissicherung für die Tagungsgäste, die aus
eigener Erfahrung häufig bei anderen Tagungen ausbleibt. Hier wurden von den Gastgeber_innen, die als einzige jeweils an ihren Tischen geblieben sind, der Diskussionsverlauf
noch einmal zusammengefasst und den Gästen die Möglichkeit gegeben, ihr Erleben noch
einmal mit der Gruppe ins Verhältnis zu setzen. Für das Forschungsteam ergab sich aus dem
World Café insgesamt eine bereichernde Auseinandersetzung mit den bisherigen Forschungsergebnissen.
3. Methoden der Datenauswertung
Nachdem nun ausführlich die Datenerhebung dargestellt wurde, wird im folgenden Teil die
Auswertungsmethodik des Forschungsprojekts erläutert. Auch hier wurde eine Methodentriangulation angewendet, die es näher zu begründen gilt 14.
14
Siehe zur Kombination von Grounded Theory Methodologie und Objektiver Hermeneutik auch
Stephan Lorenz 2008.
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
382
Die transkribierten 15 Interviews wurden einerseits mithilfe der Auswertungssoftware
MAXQDA induktiv kategorial ausgewertet und andererseits wurden einzelne Interviewsequenzen mit der Methode der Objektiven Hermeneutik (Oevermann z.B. 2002) sequentiell
rekonstruiert 16.
So wurden zunächst, wie im ersten Schritt der Grounded Theory Methodologie (GTM)
(Strauss & Corbin), induktive Codes gebildet, die in zwei weiteren Abstraktionsschritten zunächst Übercodes und dann Kategorien zugeordnet wurden. Bei dem Versuch, eine einheitliche Ebene dieser Kategorien zu finden, prüften wir verschiedene theoretische Modelle, wie
z.B. das Lebenslagenmodell, wobei wir vor allem eine inhaltliche Nähe zum theoretischen
Konzept zur „Identität“ von Heiner Keupp et al (2008) feststellten und aufgriffen. Angelehnt
an diese wurden nun die Kategorien Keupps aus dem Interviewmaterial her umformuliert und
an den Forschungsgegenstand angepasst, so dass weiterentwickelte und Kategorien mit einer
jeweiligen Bandbreite an Codes das Ergebnis der kategorialen Auswertung sind. Die inhaltlichen Ausführungen zu den Ergebnissen finden sich im Text zu den Ergebnissen in diesem
Band.
Bei dieser Anwendung induktiver Kategorisierung bleibt es jedoch auf einer beschreibenden,
manifesten Ebene der Aussagen. Das Forschungsprojekt hatte jedoch ebenfalls zum Ziel, Bedeutungshorizonte und Strukturen von Partizipation herauszuarbeiten. Zum Verstehen der
gefundenen Kategorien war folglich die Rekonstruktion einzelner Textstellen notwendig (siehe zur Begründung der rekonstruktiven Forschung oben), wobei wir nach der Methode der
Objektiven Hermeneutik vorgingen.
Wurde also in einem ersten Schritt der Auswertung zur inhaltlichen Grundlegung eines Partizipationsbegriffs für das Handlungsfeld codierend erarbeitet, welche Lebensbereiche von
Menschen mit psychischer Erkrankung von ihnen selbst als relevant markiert werden und an
welchen Stellen ein besonderer Veränderungsbedarf sozialarbeiterischer Praxis in sozialpsy-
15
16
Die Transkriptionsregeln zur Auswertung mit Objektiver Hermeneutik sind im Anhang hinterlegt.
Dabei wurden die Arbeitsprinzipien Interpretationsprinzipien Kontextfreiheit, Wörtlichkeit, Sequenzanalyse, Extensivität und Sparsamkeit eingehalten und bei der Feinanalyse der Dreischritt 1.
Geschichten erzählen, 2. Lesarten bilden und 3. Lesarten mit tatsächlichem Kontext konfrontieren
eingehalten. Zur Forschungsmethodik siehe auch Wernet 2009, zur Umsetzung in konkreten Forschungsprojekten auch Schmidt 2016.
383
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
chiatrischen Handlungsfeldern vorliegt, wird der Gebildetheit der Strukturen im Fall „Sozialpsychiatrie“ mit der Objektiven Hermeneutik in einem zweiten Schritt auf den Grund gegangen.
Die Entscheidung für eine der am meisten kritisierten Forschungsmethoden, der Objektiven
Hermeneutik, macht eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten und die Prüfung der Angemessenheit für die Forschungsfrage notwendig: Ausgehend von der Forschungsfrage, wie Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern möglich oder unmöglich ist, ist die Frage relevant, in welchem Verhältnis die handelnden Subjekte (Akteur_innen, wie Adressat_innen, Professionist_innen und Angehörige) mit der Struktur des
Feldes „Sozialpsychiatrie“ stehen. Der hauptsächlich auf Ulrich Oevermann basierenden
Strukturtheorie und Forschungsmethode Objektive Hermeneutik wird vorgeworfen, Subjekte
als „(Sozial-) Strukturdeppen“ (Hitzler 2007, zit. nach Kruse 2014, S. 430) zu verstehen. Subjekte seien lediglich abhängige Träger_innen der Strukturen und drücken diese in subjektiven
Deutungsmustern aus, wirken aber nicht selbst auf Strukturen (latente Sinnstrukturen) ein.
Vor dem Hintergrund der vom Forschungsteam ebenfalls eingenommenen theoretischen Position der Nutzer_innenperspektive nach Andreas Schaarschuch widerspricht die Haltung des
Forschungsprojekts an diesem Punkt Objektiver Hermeneutik, weil davon ausgegangen wird,
dass Subjekte im Erbringungsverhältnis die Strukturen (Erbringungskontext) verändern. Die
grundsätzliche Annahme, dass Regeln und Strukturen für Subjekte wirksam sind, ist jedoch
auch für unser Forschungsvorhaben relevant, da es vor allem um die strukturellen Möglichkeitsräume für Partizipation geht und weniger um individualisierte Handlungsweisen. Auch
bei anderen interpretativen Verfahren (z.B. hermeneutische Wissenssoziologie, dokumentarische Methode) wird eine Regelhaftigkeit von Kommunikationsprozessen unterstellt, die ebenso wie bei Objektiver Hermeneutik auf Strukturen verweist. Allein die Bewertung der Bedeutung und die Annahme der Objektivierbarkeit von Strukturen unterscheidet sie qualitativ von
anderen interpretativen Verfahren.
Daraus folgt ein weiterer schwerwiegender Kritikpunkt an Objektiver Hermeneutik, und zwar,
dass es sich um einen pathogenetischen Ansatz handele. Objektive Hermeneutik geht von der
Existenz von Latenzen aus, einem Vorbewusstsein, das auf einem psychoanalytischen Verständnis basiert. Über eine Individualpathologisierung hinaus versteht es Objektive Hermeneutik jedoch, eine „psychoanalytische Perspektive auf das Kollektive“ (Kruse 2014, S. 436)
einzunehmen und das sozial Unbewusste (Bohnsack 2010, zit. nach Kruse 2014, S. 436) zu
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
384
rekonstruieren. Dadurch wird der Fokus auf Handlungsprobleme und Konflikte in Interaktionen gelegt. Für das Forschungsprojekt kann diese Fokussierung jedoch im Kontext der Forschungsfrage interessant sein, weil es eben um die konflikthafte Aushandlung von Partizipationsmöglichkeiten geht. Mit der Vorannahme, dass Partizipation strukturell in der Sozialpsychiatrie eher verhindert wird, können mit Objektiver Hermeneutik auch diese Verhinderungen
dargestellt und darauf aufbauend Möglichkeiten generiert werden.
Das speziell ausgerichtete methodische Verfahren der Objektiven Hermeneutik macht es trotz
der Kritikpunkte für viele Sozialwissenschaftler_innen attraktiv und lohnend. Als erster
Grund ist dafür die Sequenzanalyse zu nennen, die die grundsätzlich zukunftsoffenen Kommunikationsanschlüsse auf ihre Selektion der Anschlüsse hin überprüft und daraus eine Sinnproduktion rekonstruiert. Daran schließt das gedankenexperimentelle Vorgehen an, mit welchem Variationen aufgezeigt werden, wie an die Sequenz angeschlossen werden könnte oder
in welchem sozialen Kontext die Äußerungen noch möglich wären. Durch dieses Vorgehen
wird der Gefahr anderer, bspw. kategorialer, Verfahren entgegnet, sich auf die Rekonstruktion
der subjektiven Sicht zu beschränken. Der Forschungsfrage nach geht es nicht ausschließlich
um subjektive Deutungen, sondern um latente Sinnstrukturen sozialpsychiatrischer Handlungsfelder.
Das besondere Vorgehen hat jedoch auch seine Schwächen, bspw. ist Objektive Hermeneutik
immer mit der Infinität von Kommunikationsprozessen konfrontiert. Es folgen also immer
weitere Sequenzen, deren Auswertung die vorherigen retrospektiven Interpretationen verändern könnten. Darüber hinaus ist das gedankenexperimentelle Vorgehen von einer ausgeprägten Normativität geformt. Kontext und die Anschlüsse von Sequenzen werden aufgrund von
Normalitätsvorstellungen variiert, die von dem Regelwissen der Forscher_innen abhängig
sind und geben somit, zugespitzt formuliert, eher einen Hinweis auf die subjektiven Sinnstrukturen der Forscher_innen als auf „objektive“ Strukturen.
Aus der Reflexion der Kritik an Objektiver Hermeneutik wurden folgende methodische Konsequenzen für das Forschungsprojekt gezogen: Die eingenommene Normativität der Forscher_innen wurde mehrfach ausgewiesen und in Textform formuliert (vgl. bspw. Bliemetsrieder, Maar, Schmidt, Tsirikiotis 2016). Darüber hinaus wurde sich in der Interpretation stark
an die oben genannten Arbeitsschritte und Prinzipien gehalten. Einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit über das Forschungsteam hinaus, konnte sich durch Interpretationsaushand-
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
385
lungen außerhalb des Projektteams in Seminargruppen, Methodengruppen und Tagungsgruppen angenähert werden. Durch die Überprüfung der latenten Sinnstrukturen aus verschiedenen
Perspektiven (Angehörige, Adressat_innen, Professionist_innen) in verschiedenen Handlungsfeldern (stationär, ambulant, Tagesstruktur etc.) wurde versucht, eine Pathologisierung
von einzelnen Personen zu verhindern und die Pathogenese des Falls „Handlungsfelder der
Sozialpsychiatrie“ in den Mittelpunkt zu rücken.
4. Forschungsethische Orientierungspunkte
Qualitative Sozialforschung bedarf allgemein differenzierter forschungsethischer Überlegungen, die sich für jedes Handlungsfeld besonders ausgestalten müssen, denn die Forschungspraxis ist ebenfalls ein Raum, in dem die Akteur_innen mit unterschiedlichen Deutungsmächten ausgestattet sind (siehe dazu auch das Kapitel „Partizipative Forschung“). In einem Forschungsprojekt in der Sozialpsychiatrie, in einem Handlungsfeld, in dem sich Menschen
komplexen Problemlagen sowie eventuell akuten Belastungssituationen ausgesetzt sehen und
in dem Integritätsverletzungen der Adressat_innen durch Professionist_innen der Medizin,
Pflege und Sozialen Arbeit zur Geschichte und noch zur Gegenwart gehören, bedarf es insbesondere solcher forschungsethischer Überlegungen. Folgende Aspekte wurden daher forschungsethisch reflektiert und im Forschungsprozess umgesetzt:
Begründung des Forschungsanlasses
•
Den Forschungsanlass gab der Diskurs der Forscher_innen um ethische Fragestellungen zum Handlungsfeld Sozialpsychiatrie. Zentrale Aspekte sind:
•
die Förderung der Autonomie der Adressat_innen,
•
Partizipation als Forderung von Adressat_innen-Initiativen (z.B. LVPEBW),
•
die empirische Auseinandersetzung mit ethisch-normativen Bezugspunkten Sozialer Arbeit (z.B. UN-Behindertenrechtskonvention), sowie
•
die kritische und konstruktive Begleitung des Professionalisierungsdiskurses.
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
386
Ethik in der Sozialpsychiatrie
•
Das hier gewählte Forschungsfeld der Sozialpsychiatrie erfordert auch vor dem Hintergrund der zum Teil komplexen Problemlagen der Adressat_innen eine besondere
ethische Reflexion, insbesondere der Datenerhebungsverfahren. Vor allem im Umgang mit Psychiatrieerfahrenen und akut psychisch belasteten Menschen sind die gewählten Forschungsmethoden auf ihre formale wie inhaltliche Eignung zu überprüfen.
Praktische Erfahrungen des Forschungsteams in Handlungsfeldern der Sozialpsychiatrie bzw. Sozialer Arbeit mit Adressat_innen in existenziellen Notlagen und Forschungsprojekten ermöglichten eine sensible, situationsangepasste Gestaltung der Datenerhebung. Im Wesentlichen orientierte sich das Forschungsteam an folgenden Prinzipien:
•
Einholung einer informierten Einwilligung im Vorfeld der Datenerhebung und Gewährleistung von Schutz der interviewten Personen durch zwar offene, aber leitfadengestützte Interviews zur Vermeidung einer Retraumatisierung,
•
Beachtung einer trialogischen Perspektive, die eine Einbeziehung aller entscheidenden
Akteur_innen in den Untersuchungsprozess sicherstellt. Im Unterschied zur klassischen Fokussierung auf das „Ärzt_innen-/Patient_innenverhältnis“, das aufgrund der
ungleichen Verteilung von Macht, Autonomie und Souveränität vor allem auf die
Sicht der Professionellen bzw. der Institution abhebt, soll die dreifache Integration der
Problemsichten und Handlungsorientierungen nicht nur die strukturell unterlegene Betroffenenperspektive besser zur Geltung bringen.
•
Ausrichtung der Forschungsergebnisse auf einen hohen Anwendungsbezug für die
praktische Umsetzbarkeit und Implementierung veränderter Maßnahmen, die auf mehr
Selbstbestimmung, Mitwirkung und Teilhabe von psychisch belasteten Menschen setzen.
•
Vermeidung einer unangemessenen Überformung und Klassifizierung des Untersuchungsgegenstandes. Im Rahmen von problemorientierten Interviews, Gruppendiskussionen und teilnehmenden Beobachtungen bekommen die Akteur_innen – neben ihrer
praktischen Mitwirkung an der Umsetzung des Projekts – vielfache Gelegenheit, ihre
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
387
jeweiligen Sichtweisen innerhalb des laufenden Forschungsprozesses präsentieren und
darlegen zu können.
Nutzen für Forschungsteilnehmer_innen
•
Der Respekt vor den alltäglichen Verpflichtungen und dem zeitlichen Eingebundensein der Forschungsteilnehmer_innen verweist auf die Verantwortung der Forscher_innen. Neben der Begründung der wissenschaftlichen Notwendigkeit des Forschungsvorhabens sind daher auch der Nutzen für die Forschungsteilnehmer_innen
und die Vermeidung einer nicht notwendigen zeitlichen Belastung relevant. In Fallwerkstätten wird die Perspektive der Adressat_innen konsequent thematisiert und
stark gemacht. Möglichkeiten zur Veränderung, die sich durch die Reflexionsmethoden der Forschungspraxis eröffnen (z.B. Fallwerkstatt), werden in Verantwortung der
Forschungsteilnehmer_innen gegenüber, wahrgenommen und genutzt. Wichtig ist
schließlich die Gewährleistung des Transportierens der Forderungen von Psychiatrieerfahrenen mit der Forschung (innerhalb eines trialogischen Diskurses) sowie deren
breiteren Veröffentlichung, zum Beispiel durch Publikationen und Tagungen auch
über das Forschungsprojekt hinaus.
Forschungspraxis
•
Im Forschungsdesign sind die genannten ethischen Überlegungen und das Prinzip der
Partizipation an verschiedenen Stellen eingeplant und in der bisherigen Datenerhebung wie folgt umgesetzt:
•
Einstieg über Adressat_innen als Expert_innen (die Forschungsperspektive wurde bereits vor dem Sampling auf relevante Themen aus Adressat_innensicht abgestimmt,
das explorative Vorgehen ermöglicht die Anpassung daran).
•
Wissenschaftlicher Beirat: Mit der Einrichtung eines wissenschaftlichen Projektbeirats
aus Expert_innen aus Profession und Disziplin wird hier ein Reflexionsgremium bereitgestellt, das durch mehrere Treffen und Gesprächskreise im regelmäßigen Austausch mit dem Projektteam steht. Entsprechende, sensible Fragen im laufenden For-
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
388
schungsprozess können demnach aus externer Perspektive einer kritischen Begutachtung und Überprüfung unterzogen werden.
•
Die freie Entscheidung der Teilnehmer_innen über die Beteiligung am Forschungsvorhaben wurde durchgängig respektiert und der Schutz des Erkenntnisinteresses nicht
vor die notwendige informierte Einwilligung gestellt.
•
Nach einer mündlichen und schriftlichen Aufklärung über das Forschungsvorgehen,
die Anonymisierung, Verwendung der Daten und die geplanten Veröffentlichungen
war eine schriftliche Einwilligung notwendig, die jederzeit zurückgenommen werden
konnte. Konkret wurde das Projekt jeweils den Adressat_innengruppen und den
Teams im Vorhinein präsentiert sowie die Formalitäten einzeln in jeder Interviewsituation mit den Forschungsteilnehmer_innen besprochen.
•
Es wurde für die Interviews die Möglichkeit gegeben, dass selbst gewählte vertraute
Personen in der Interviewsituation anwesend sein können.
•
Die Prinzipien der informierten Einwilligung und der Achtung der Akteur_innen als
Expert_innen des Feldes wurden ebenfalls für die teilnehmende Beobachtung umgesetzt. Jede_r Teilnehmer_in der Hilfeplankonferenz wurde vorab über die Anliegen
des Forschungsprojektes schriftlich informiert und eine persönliche Einverständniserklärung eingefordert. Adressat_innen, deren Hilfepläne besprochen wurden, wurden
unabhängig ihrer Teilnahme in der beobachteten Situation über das Forschungsprojekt
informiert und um ihre Einverständniserklärung gebeten. Lehnten sie diese ab, wurde
die Beobachtung für den Zeitraum dieser Vorstellung unterbrochen.
5. Partizipative oder emanzipatorische Forschung?
Über Partizipation forschen heißt auch, sich mit dem Anspruch partizipativer Forschung auseinanderzusetzen. Allgemein lässt sich partizipative Forschung mit Jarg Bergold und Stefan
Thomas wie folgt zusammenfassen:
„Partizipative Forschungsmethoden sind auf die Planung und Durchführung eines Untersuchungsprozesses gemeinsam mit jenen Menschen gerichtet, deren soziale Welt und sinnhaftes Handeln als lebensweltlich situierte Lebens- und Arbeitspraxis untersucht wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
389
sich Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen aus der Konvergenz zweier Perspektiven, d.h. vonseiten
der Wissenschaft und der Praxis, entwickeln.“ (Bergold & Thomas 2012)
An vielen Stellen im Forschungsprojekt wurde, wie im Verlauf dieses Textes dargestellt, die
Beteiligung Psychiatrieerfahrener am Forschungsprozess ermöglicht (als Mitglieder des Forschungsbeirats, als Redner und Gäste des Fachtags, durch die Gestaltung kommunikativer
Räume, als Autor_innen in diesem Sammelband) und es wurde versucht, die Betroffenenperspektive auf verschiedenen Ebenen in den Mittelpunkt zu stellen (Forschungsthema als zentrale Frage Psychiatrieerfahrener, Einstieg mit Expert_inneninterview mit einem Vertreter eines Interessenverbandes psychisch Kranker auf Landesebene, machtreflexive Fallwerkstätten,
Thema des Fachtags).
Der Diskurs der Psychiatrieerfahrenen zur Beteiligung ihrer Perspektive an Forschungsprozessen wird international derzeit hauptsächlich mit der Zielrichtung der betroffenenkontrollierten Forschung geführt. Peter Beresford beispielsweise argumentiert, dass für eine notwendige Veränderung des psychiatrischen Hilfesystems die Weiterentwicklung des Erfahrungswissens Psychiatrieerfahrener notwendig sei, womit er solches Wissen meine, „dessen Hauptausgangspunkt ist, dass wir die Fragestellungen, die Gegenstand der Untersuchung sind,
selbst erlebt haben“ (Beresford 2012, S. 11). Dabei weist er jedoch eindrücklich darauf hin,
dass besonders diejenigen Psychiatrieerfahrenen mit „besonderen Hindernissen“ (Beresford
2012, S. 13), wie z.B. von Zwangsmaßnahmen betroffene, in Institutionen lebende Menschen
mit Lernschwierigkeiten oder mit mehrfachen Beeinträchtigungen, mit ihrer Perspektive an
der Weiterentwicklung des Erfahrungswissens beteiligt werden müssen.
Angela Sweeney definiert dazu drei Formen der Beteiligung Psychiatrieerfahrener an Forschungsprozessen: Die Beratung, die Zusammenarbeit und die Kontrolle und sie bezieht sich
damit auf die britische Praxis der Forschungsförderung, in der die Beteiligung Psychiatrieerfahrener eine Voraussetzung für die Finanzierung geworden ist. Die verschiedenen Stufen der
Beteiligung, die ebenfalls an stufenförmige Modelle von allgemeinen Partizipationskonzepten
erinnern, definiert sie wie folgt:
•
„Beratung: das heißt, dass Psychiatrie-Betroffene in Forschungsprojekten beratend tätig sind, aber
Mainstream-Forscher_innen die Macht haben, diese Beratung zu akzeptieren oder abzulehnen. […]
•
Zusammenarbeit: das heißt, dass die Macht im Rahmen einer aktiven Partnerschaft gleichermaßen auf
Psychiatrie-Betroffene und Professionelle verteilt ist. […]
Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
•
390
Kontrolle: das heißt, dass Psychiatrie-Betroffene die Kontrolle über das gesamte Forschungsprojekt haben; angefangen vom Aufbau, über Datenerfassung, Analyse und Berichterstattung bis hin zur Verbreitung“ (Sweeney 2012, S. 17)
Jasna Russo vergleicht die Entwicklung einer betroffenenkontrollierten Forschung in der Psychiatrie mit der Entstehung anderer Forschungsrichtungen marginalisierter Gruppen, wie z.B.
der queer studies, black studies oder disability studies, die ebenfalls eine engagierte Forschung von Akademiker_innen „aus ihren eigenen Reihen“ (Russo 2016, S. 32) darstellten
und „letztendlich die Wissenschaft über ihr Leben umdefiniert und endgültig geändert haben“
(ebd. S. 32) und dies nach Russo auch für die sogenannten mad studies notwendig sei. Denn
bei der Beteiligung Psychiatrieerfahrener an sonst gleichbleibenden Forschungsstrukturen
habe die Erfahrung in England beispielsweise gezeigt, dass es hier nicht um eine demokratische Aushandlung neuen Wissens gegangen sei, sondern eher um ein Konsumieren des PeerWissens zur Produktverbesserung und die Psychiatrieerfahrenen in der Forschung genau wie
in der Psychiatrie in der Rolle der Kranken 17 geblieben seien (vgl. Russo 2012, S. 33).
Vor diesem Hintergrund sollte emanzipatorische interpretative Sozialforschung, mit Russo
gesprochen, nicht dabei stehen bleiben, dass wenige machtvolle Expert_innen eine große
Gruppe entmachteter Subjekte beforschen und sich nur über die Unterscheidung zwischen
Expert_innen und Erfahrenen auseinandergesetzt wird, sondern die Ebenen der vertretenen
Normen und Erkenntnisinteressen thematisiert werden (vgl. Russo 2012, S. 34) – um gemeinsam das gesellschaftskritische Potential partizipativer Forschung auszuschöpfen.
Dementsprechend bleibt das Forschungsprojekt „Partizipation in sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern“ hinter den Forderungen nach einer betroffenenkontrollierten Forschung im
Rückblick weit zurück und lässt sich eher bei einer Form der „Beratung“ durch Psychiatrieerfahrene einordnen. Eine Beteiligung bei der Gestaltung des Forschungsdesigns sowie bei der
Datenauswertung und –interpretation fand nur minimal statt.
Bis hierher wurden nun die forschungstheoretische Perspektive und die forschungspraktischen
Erfahrungen des Forschungsteams ausführlich dargestellt und schließlich mit dem Anspruch
einer emanzipatorischen Forschung aus Betroffenen-Perspektive konfrontiert. Dieses Wissen
17
Siehe zur Diskussion um demokratische Prinzipien und machtkritische Reflexionen in der partizipativen Forschung auch Götsch, Monika; Klinger, Sabine & Thiesen, Andreas (2012).
Rekonstruktion – Partizipation – Emanzipation
391
wird zur Weiterentwicklung all jenen zur Verfügung gestellt, die eigene Forschungsprojekte
in dem Handlungsfeld planen und denjenigen, die auf dieser Grundlage unsere Forschungsergebnisse besser nachvollziehen bzw. hinterfragen wollen.
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Josephina Schmidt, Athanasios Tsirikiotis
394
Transkriptionsregeln
Pausen und verlaufsstrukturelle Notationen:
(.)
Mikropause (< 1sec)
(1), (2), (3)…
Pausen in Sekundenlänge
=
Verschleifungen, schnelle Anschlüsse, ‚stotternd‘
Wort- oder Satzabbruch
{{gleichzeitig}…}
Gleichzeitige Rede, Überschneidungen über zwei und
mehr Zeilen
[mhm, ahja]
Redebeitrag des anderen Kommunikanten/der anderen Kommunikantin an der jeweiligen Stelle innerhalb des Redebeitrags des
Kommunikationspartners/ der Kommunikationspartnerin
I:
Interviewer/in
P:
Proband/in
A:, B:, C:, D: etc.
Gesprächsteilnehmer/in
Akzentuierung (Betonungen):
AkZENT
Primärakzent
Ak!ZENT!
extra starker Akzent
Sonstige Konventionen:
<<lacht>>, <<hustet>>
<<lachend>…>
(?meint?)
(??)
[…]
Mhm, hmhm
[Name 1], [Ort1]
außersprachliche Handlungen/ Ereignisse/ Störungen,
sprachbegleitende Handlungen
Vermuteter Wortlaut, Interviewzeit angeben
Unverständlicher Redebeitrag, Interviewzeit angeben
Auslassungen im Transkript
Bejahung, Verneinung
Anonymisierung, pro Interview eine Legende führen
Keine Satzzeichen
Keine Groß- und Kleinschreibung
Angelehnt an:
Kruse, Jan (2014): Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz. Weinheim, Basel:
Beltz Juventa, S. 362-363.
Autor_innenverzeichnis
Bliemetsrieder, Sandro, Prof. Dr. phil., Dipl.-Soz. Päd. (FH), Professor für Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule
Esslingen.
Dollerschell, Bernhard, Vorstand im Landesverband Psychiatrie-Erfahrener BadenWürttemberg.
Dörner, Klaus, em. Prof. Dr. med., 1980 bis 1996 Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie Gütersloh, lehrte Psychiatrie an der Universität Witten-Herdecke. Arbeits- und Interessenschwerpunkte: Psychiatrie, Medizinethik, Geschichte der Moderne.
Gebrande,
Julia,
Prof.
Dr.
phil.,
MA
Soziale
Arbeit,
Diplom-
Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, Fachberaterin für Psychotraumatologie, Professorin für
Soziale Arbeit im Gesundheitswesen an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit,
Gesundheit und Pflege. Schwerpunkte: Klinische Sozialarbeit, Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen, Fachberaterin nach Sexualisierter Gewalt.
Hechler, Clarissa, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin M.A.; ehemals Studentin der Hochschule
Esslingen mit den Schwerpunkten Empirische Sozialforschung und Innovative Soziale Arbeit;
Aktuell tätig in der Jugendhilfe.
Höllmüller, Hubert, FH-Prof. Mag. Dr. phil., Professur für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt
Kindheit/Jugend an der FH Kärnten, Studiengang Soziale Arbeit, Zehn Jahre in niederschwelligen Feldern der Sozialen Arbeit tätig, Mitbegründer der Jugendnotschlafstelle Klagenfurt,
Forschungen im Bereich der Kinder-/Jugendhilfe und zum Westsaharakonflikt.
Kohler, Johanna, Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin B.A./M.A.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Esslingen; Arbeitsschwerpunkte: Spiritualität und Soziale Arbeit,
Demokratieförderung in ländlichen Räumen, Deradikalisierung im Strafvollzug, Salafismus
und Dschihadismus.
Maar, Katja, Prof. Dr. phil., Dipl. Päd., Professur für Wissenschaft der Sozialen Arbeit mit
den Schwerpunkten Theorie und Geschichte an der Technischen Hochschule Köln; Arbeits-
397
Autor_innenverzeichnis
schwerpunkte: Sozialpädagogische Nutzer_innenforschung; Geschichte der Sozialen Arbeit,
Soziale Arbeit im Bereich existenzielle Notlagen, Lebensmitteltafeln.
Mechelke-Bordanowicz, Barbara, Landesverband Baden-Württemberg der Angehörigen psychisch Kranker e.V.
Melter, Claus, Prof. Dr., seit September 2016 Professor an der Fachhochschule Bielefeld,
2011–2016 Prof. an der Hochschule Esslingen, Arbeitsschwerpunkte: Diskriminierungs-, barriere- und rassismuskritische sowie menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit in der postkolonialen und postnationalsozialistischen Migrationsgesellschaft, genderreflexive, inklusionsund gerechtigkeitsorientierte Ansätze. Publikationen u. a.: Melter, Claus (Hrsg.) (2015): Diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung. Praktische Herausforderungen, Rahmungen und Reflexionen. Weinheim: Beltz Juventa.
Mührel, Eric, Prof. Dr. phil. habil.; Dipl.-Pädagoge (Univ.), Dipl.-Sozialarbeiter (FH), Professor für „Professionsspezifische und ethische Grundlagen Sozialer Berufe“ an der Hochschule
Koblenz, Fachbereich Sozialwissenschaften; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziale
Arbeit in Theorie und Wissenschaft, anthropologische und ethische Grundlagen und Aspekte
der Sozialen Arbeit.
Ortolf, Martin, Vorstand im Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg.
Schäfferling, Stefan, freiberuflicher Diplom-Soziologe (Univ.) und Autor, Sozialarbeiter/Sozialpädagoge (B.A., FH), Lehrbeauftragter. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie der sozialen und helfenden Berufe (insb. hinsichtlich Menschen mit Behinderung/psychischer Erkrankung und Suchtprävention), Sozialforschung/Markt- und Meinungsforschung, Arbeits/Organisationssoziologie, Nachhaltige Stadt- und Regionalentwicklung, Soziologie vernetzter
Medien, Allgemeine Soziologie, Migrationspädagogik, Hochschuldidaktik. Langjährige Forschungserfahrung im Lifelong Learning-Programm der EU sowie in weiteren internationalen,
nationalen und lokalen Projekten.
Schmid, Alexander, Prof. Dr. iur., Professor für Rechtswissenschaft an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege; Arbeitsschwerpunkte: Verfassungsund Verwaltungsrecht; Arbeits- und Sozialrecht sowie Gesundheitsrecht.
Autor_innenverzeichnis
398
Schmidt, Josephina, Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin B.A./M.A.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Esslingen; Lehre im Bachelor- und Masterstudiengang Soziale
Arbeit; Arbeit an der Promotion an der Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft; Arbeitsschwerpunkte: Rekonstruktive Sozialforschung, Professionalisierungstheorien,
Soziale Arbeit in der Sozialpsychiatrie, Digitalisierung der Hochschulbildung.
Tetzer, Michael, Dr. phil., Diplom-Sozialpädagoge, Professor am Studienbereich Gesundheit
und Soziales an der Fachhochschule Kärnten; Arbeitsschwerpunkte: Theorien, Geschichte
und Professionalisierung Sozialer Arbeit, Kinder- und Jugendhilfe im Spannungsverhältnis
zur Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Tsirikiotis, Athanasios, Sozialarbeiter und Sozialpädagoge B.A./M.A.; Wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Hochschule Esslingen; Lehre im Bachelor- und Masterstudiengang Soziale
Arbeit; Arbeit an der Promotion an der Universität Flensburg am Institut für Erziehungswissenschaft; Leitung eines Sozialhotels der Wohnungsnotfallhilfe des Trägers Ambulante Hilfe
e.V. in Stuttgart; Arbeitsschwerpunkte: Rekonstruktive Sozialforschung, transformatorische
Bildungstheorien und Soziale Arbeit, Soziale Arbeit in der Wohnungsnotfallhilfe, Digitalisierung der Hochschulbildung.
Das durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst
Baden-Württemberg geförderte Projekt »Partizipation in
sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern« hatte eine Laufzeit von
zwei Jahren (01.10.2014 - 30.09.2016) und war an der Fakultät
Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen
angesiedelt. Die vorliegende Veröffentlichung des Forschungsprojektes hat das Ziel, den öffentlichen sowie wissenschaftlichen
Diskurs um Partizipationsmöglichkeiten psychiatrieerfahrener
Personen aufzunehmen. Dazu versammeln sich hier Beiträge aus
erfahrungsgeleiteten, professionsbezogenen und empirischen
Perspektiven, die in unterschiedlichen Stadien des Forschungsprojektes gemeinsam gewonnen und diskutiert wurden. Darüber
hinaus möchte diese Publikation anhand der Rekonstruktion von
Erfahrungen und Wahrnehmungen verschiedener Akteur_innen aus
dem Feld der Sozialpsychiatrie den Begriff der Partizipation in
sozialpsychiatrischen Handlungsfeldern ausleuchten. Dabei geht es
insbesondere darum, den Diskurs zwischen Psychiatrie-Erfahrenen,
Angehörigen sowie der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit
anzuregen und weiterzuführen.
ISBN 978-3-947390-04-5 (PDF)