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Die doppelte Katastrophe

Dominik Collet Die doppelte Katastrophe Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 1770–1772 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe Umwelt und Gesellschaft Herausgegeben von Christof Mauch und Helmuth Trischler Band 18 © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe Dominik Collet Die doppelte Katastrophe Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 1770–1772 Mit 24 Abbildungen Vandenhoeck & Ruprecht © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Rachel Carson Center for Environment and Society, LMU München. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Anon. Künstler, Schützenscheibe auf die Hungerjahre 1770–1772 (1773), gestiftet durch Gottfried Zapf, Detail. Königliche Privilegierte Schützengesellschaft Fürth e. V. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-7157 ISBN 978-3-647-35592-4 © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe Inhalt I. An der Schnittstelle von Natur und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vulnerabilität – Zugang, Methode, Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 25 30 II. Die europäische Hungerkrise 1770–1772 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Die Getreidegesellschaft – sozioökologische Arrangements . . . . . . . 2. Die Klimaanomalie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 54 2.1. Archive der Gesellschaft (55) 2.2. Archive der Natur (72) 3. Die Hungerjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1. Agrarkrise (79) 3.2. Wirtschafts- und Bankenkrise (86) 3.3. Sterblichkeitskrise (101) 3.4. Europäische Konstellationen (110) III. Deuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Strafgericht, Naturereignis, Sozialkatastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bruchzonen: Waren Hungertote Sünder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Hungerkrise als Laboratorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 131 139 IV. Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Der Krisenstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1.1. Alte und neue Teuerungspolicey (147) 1.2. Normdurchsetzung (151) 1.3. Sperren (159) 1.4. Speichern (169) 1.5. Importieren (182) 1.6. Urbane Fürsorge (189) 1.7. Symbolische Herrschaft (197) 1.8. Eine Krise des Staats? (200) 2. Überlebensökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2.1. Notnahrung (206) 2.2. Nachbarschaftshilfe (211) 2.3. Glaubenspraxis (213) 2.4. Kriminalität und Devianz (214) 2.5. Protest (218) 2.6. Migration (231) 2.7. Praktiken des Notbehelfs (252) 3. Empowering Interactions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Supplikationen und Kommunikationen (255) 3.2. Verdichtung von Herrschaft (256) 3.3. Inklusion durch Exklusion – ›Kornjuden‹ und Antijudaismus (259) © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 253 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 6 Inhalt 4. Wissensgeschichten des Hungers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 4.1. Ökonomisierungen (269) 4.2. Medikalisierungen (279) 4.3. Scheitern als Chance – Agronomie, Meteorologie, Statistik (296) 5. Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 5.1. Regensburg und der Reichstag – Mikropolitik des Hungers (308) 5.2. Das Erzgebirge – Pädagogisierung der Not (329) 5.3. Polen-Litauen und die Erste Teilung – Hungern und Herrschen (346) 6. Handeln in Hungerkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 V. Bewältigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 1. Erinnern und Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die materielle Kultur des Hungers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lernen aus Katastrophen? Klima als Katalysator . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 369 390 VI. Klimakulturen und Sozionaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Ungedruckte Quellen (409) Gedruckte Quellen (413) Zeitungen (424) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenbanken und Internetressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 454 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 461 463 © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe I. An der Schnittstelle von Natur und Kultur Kaum ein Ereignis trifft eine Gesellschaft so umfassend wie eine Hungersnot. Die physische und emotionale Gewalt des Hungers ist enorm. Sie erschüttert alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Oftmals prägt die kollektive Noterfahrung die Betroffenen noch nach Generationen. Aus diesem Grund gehören Hungerjahre seit jeher zu den Schlüsselereignissen der Geschichtsschreibung. Ihr Auftreten erscheint als ähnlich epochemachend wie Krönungen und Kriege. Ihre Abwesenheit unterscheidet gute von schlechten Zeiten. In den vormodernen Mangelgesellschaften bildeten sie »Urerfahrungen traumatischer Art«, die sonst verborgene gesellschaftliche Arrangements sichtbar werden lassen.1 Zugleich fordern Hungersnöte die moderne Wissenschaft heraus. Sie ereignen sich an der Schnittstelle von Natur und Kultur. Damit liegen sie quer zu den fachwissenschaftlichen Grenzziehungen unserer Zeit. Hungerkrisen besitzen sowohl eine äußere, biophysikalische als auch eine innere, sozioökonomische Seite. Die erste beeinflusst das Angebot von Nahrung, die zweite den Zugang zu Lebensmitteln. Ihre verheerende Wirkung beziehen diese Ereignisse aus der Verflechtung beider Felder. Hungersnöte gehören zudem zu den langsamen Katastrophen, die sich über Monate hinweg entwickeln. Daher eröffnen sie dem Wechselspiel von naturaler Umwelt und gesellschaftlichem Handeln einen besonders großen Raum. Als doppelte, sozionaturale Ereignisse stellen sie zugleich Natur- und Kulturkatastrophen dar. Sie rufen die Ko-Konstitution von Klima und Kultur, von Mensch und Umwelt in Erinnerung, die im spezialistischen Zugriff der Disziplinen oft aus dem Blick gerät. Ihre Untersuchung verlangt dementsprechend einen integrativen, fachübergreifenden Zugang. Im Zentrum der Geschichtswissenschaft steht allerdings die Autogenese des Menschen. Die Überzeugung, dass der Mensch sein Schicksal selbst bestimmt, bildet den Kern des Faches. Demgegenüber spielt die Untersuchung der naturalen Umwelt eine untergeordnete Rolle. Da der Einfluss nicht-menschlicher Akteure heute weitgehend marginalisiert wird, sind Ansätze selten geworden, welche die Natur als integralen Teil der Geschichte verstehen.2 Diesem Sozialdeterminismus stehen in den Naturwissenschaften verbreitete geo- oder klimadeterministische Verengungen gegenüber. Hier werden Extremereignisse oft einseitig als direkte Folge biophysikalischer Faktoren begriffen – ein Trend, der durch die Diskussionen um den aktuellen Klimawandel noch befördert wird. Dabei bleibt die Bedeutung 1 Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2012, 52. 2 Dipesh Chakrabarty, The Climate of History. Four Theses, in: Critical Inquiry 35, 2009, 197–222. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 8 An der Schnittstelle von Natur und Kultur und Vielfalt sozialen Handelns oft unverstanden. Stattdessen erleben starre UrsacheWirkungs-Gefüge von Natur und Mensch, von Klima und Kultur eine Renaissance.3 Diese Studie verfolgt hingegen eine integrative, umweltgeschichtliche Perspektive. Sie versteht Hungerkrisen als sozionaturale Ereignisse. An die Stelle sozial- und klimadeterministischer Ansätze setzt sie eine Verflechtungsgeschichte von Mensch und Umwelt. Für ein solches Vorgehen gibt es gute Gründe: Prognosen sagen im Rahmen des Klimawandels eine starke Zunahme von Extremereignissen voraus.4 Damit stellt sich die Frage, wie solche Herausforderungen in der Vergangenheit bewältigt wurden. Bisher finden die Debatten um den Einfluss des Klimas jedoch weitgehend ohne historische Expertise statt. Angesichts der Zurückhaltung der Geschichtswissenschaften basiert der populäre Verweis auf dramatische Auswirkungen früherer Klimaanomalien und Hungerperioden häufig auf Mutmaßungen.5 Hier kann ein genuin historisierender Zugang Orientierungswissen jenseits deterministischer Vereinfachungen schaffen, den Blick für Handlungsspielräume schärfen und die Verengungen der modernen Diskussion aufzeigen. Ein solcher Perspektivwechsel ist zugleich für die Geschichtswissenschaft selbst von Bedeutung. Ihr Anthropozentrismus gerät im Zeitalter von Umweltdegradation und Klimawandel grundlegend unter Druck. Mit dem postulierten ›Anthropozän‹ stellen sich neue Fragen zu Koevolution und Interdependenz von Mensch und Natur.6 Zudem hat die Vernachlässigung der materiellen Natur zentrale Bereiche historischer Gesellschaften preisgegeben: Das tägliche Brot diente nicht nur der Versorgung. Es stand im Zentrum vormoderner Herrschaft, Ökonomie und Kultur. Nahrungskrisen gewähren daher Einblicke in Kernbereiche historischer Lebenswelten.7 Sie materialisieren und fokussieren die zunehmende Verdichtung von Herrschaft, Prozesse sozialer Inklusion und Exklusion, die Verschränkung religiöser und weltlicher Deutungsmuster sowie die Praktiken von Überlebensökonomie und Versicherheitlichung. Unter dem äußeren Druck des Klimaextrems treten zudem innergesellschaftliche Konflikte, Bruchzonen und Wandlungsprozesse zu Tage, die in normalen Zeiten nur schwer zu fassen sind. Hungerkrisen sind daher zu Recht als die »missing pages« moderner Geschichtserzählungen beschrieben worden.8 Die Notsituation erinnert nicht nur daran, dass menschliche Gemein3 Mike Hulme, Reducing the Future to Climate. A Story of Climate Determinism and Reductionism, in: Osiris 26, 2011, 245–266. 4 Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Managing the Risks of Extreme Events and Disasters to Advance Climate Change Adaptation. Cambride 2012, 9–12. 5 Franz Mauelshagen, Klimageschichte der Neuzeit. Darmstadt 2010, 102 f. 6 Will Steffen, Jacques Grinevald, Paul Crutzen, John McNeill, The Anthropocene. Conceptual and Historical Perspectives, in: Philosophical Transactions of the Royal Society A 369, 2011, 842–867. 7 Steven Kaplan, Bread, Politics, and Political Economy in the Reign of Louis XV, 2 Bd. Den Haag 1976, Bd. 1, XVI. 8 Mike Davis, Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World. London, New York 2002, 8. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe An der Schnittstelle von Natur und Kultur 9 schaften offene Systeme sind, die im ständigen Stoffwechsel mit der umgebenden Umwelt stehen. Sie unterstreicht auch, dass in solchen ›gebauten Umwelten‹ Naturimpulse zugleich soziale Beobachtungen ermöglichen.9 Die umweltgeschichtliche Perspektive erlaubt daher nicht nur eine thematische Erweiterung, sondern auch eine Vertiefung historischer Fragestellungen. Mit der europaweiten Hungersnot von 1770–1772 nimmt diese Arbeit eines der schwersten sozioökologischen Extremereignisse der Kleinen Eiszeit (1300–1800) in den Blick. Ihr Ausmaß ähnelte den verheerenden Hungerkrisen der 1315er und der 1570er Jahre oder übertraf sie sogar noch.10 Die Auswirkungen erfassten den gesamten Kontinent und kosteten hunderttausenden Menschen das Leben. Zu ihrem Verlauf existiert zudem eine dichte Überlieferung sowohl im Hinblick auf die natürlichen als auch die sozialen Faktoren, obwohl sie noch im ›alten biologischen Regime‹ (F. Braudel) stattfand, bevor Industrialisierung und Agrarrevolution die gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten grundlegend veränderten. Dadurch ermöglicht diese Hungersnot einerseits die Einordnung früherer Krisen, die sich zwar in demselben sozioökologischen Umfeld ereigneten, zu denen aber weniger Material vorliegt. Andererseits gestatten die detaillierten Quellen zum Witterungsverlauf bereits den Anschluss an die aktuelle Klimaforschung. Historisch fällt die Hungersnot zudem in eine zentrale Umbruchphase der europäischen Geschichte. Das 18. Jahrhundert konstituierte einen Kontaktraum von religiösen und säkularen Deutungsmustern, von moralischen und utilitaristischen Naturvorstellungen, von paternalistischen und freihändlerischen Wirtschaftskonzepten. An diesem Schnittpunkt konnte Hunger zugleich als göttliches Strafgericht, als Naturereignis oder als menschengemachte Krise verstanden werden. Dementsprechend sind auch die Praktiken der Zeitgenossen außergewöhnlich vielfältig. Sie reichten von Wallfahrten bis zu Hungertumulten, von Migration bis zum Bau von Messstationen. Im Umfeld der Krise radikalisierte sich zudem ein neues Mensch-Umwelt-Verständnis, das Natur und Kultur als getrennte Sphären verstand und das die Lebenswelt des Menschen bis heute prägt. Die Hungersnot der 1770er Jahre bildete ein einzigartiges ›Laboratorium‹, in dem Erklärungsmuster und Bewältigungspraktiken der Vor- und der ›Hochmoderne‹ koexistierten und konkurrierten.11 9 Anthony Oliver-Smith, Theorizing Vulnerability in a Globalized World. A Political Ecological Perspective, in: Greg Bankoff, Georg Frerks, Dorothea Hillhorst (Hrsg.), Mapping Vulnerability. Disasters, Development and People. London 2004, 10–24, hier 12. 10 Dominik Collet, Daniel Krämer, Germany, Switzerland and Austria, in: Guido Alfani, Cormac Ó Gráda (Hrsg.), Famine in European History. Cambridge 2017, 101–118. 11 Zu den 1770er Jahren als Gelenkstelle europäischer Naturwahrnehmung: Richard Hölzl, Historicizing Sustainability. German Scientific Forestry in the 18th and 19th Centuries, in: Science as Culture 19, 2010, 431–460, hier 437–439. Zur high modernity als Epoche der MenschNatur-Dichotomie und zu möglichen Parallelen von vor- und post- bzw. spätmodernen Naturkonzepten vgl. Peter J. Taylor, Modernities, A Geohistorical Interpretation. Minneapolis 1999. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 10 An der Schnittstelle von Natur und Kultur Trotz dieser Schlüsselposition existiert bisher keine umfassende Untersuchung dieses Ereignisses. Dies ist umso erstaunlicher, da die Krise der 1770er Jahre gleich mehrere Kontinente erfasste und weltweit Millionen Menschen bedrohte. In Zentralamerika, Indien und Teilen Afrikas manifestierten sich die extremen Klimaanomalien dieser Jahre in schweren Dürren, in Europa brachten sie verheerende Niederschläge. Hier konzentrierten sich die Regenfälle fast drei Jahre lang auf die Sommermonate. Sie schädigten die europäischen Ernten in einem gewaltigen Gebiet, das sich von Frankreich bis in die Ukraine und von Skandinavien bis in die Schweiz erstreckte. Die sozialen Strukturen der Ständegesellschaften verschärften die naturalen Impulse noch. Das Zusammenspiel von Feuchtigkeit, Migration und Mangelernährung beförderte schließlich den Ausbruch von Epidemien. In den Krisenregionen resultierten aus Hunger und Krankheit massive Übersterblichkeit und dramatische Bevölkerungsrückgänge von bis zu 10 Prozent.12 Augenzeugen berichten auf dem Höhepunkt der Not von Zuständen, die heute nur noch aus den Ländern des globalen Südens bekannt sind. Sie beobachten die weitreichende Zerstörung sozialer Strukturen und die Auflösung von Familien- und Nachbarschaftsverbänden. Sie beschreiben halbnackte Kinder, die mit Hungerbäuchen auf den Straßen vegetierten, und schildern verbreitete Hungerkriminalität, den Verzehr von Aas sowie das Auftreten von Kannibalismus – die klassischen Topoi europäischer Hungerbeschreibungen. Vielen erschien die Not umso verstörender, weil sie wie aus der Zeit gefallen schien. Sie vertrug sich weder mit dem Glauben der Aufklärer an die Beherrschbarkeit der Natur noch mit dem verklärten Naturbild der beginnenden Romantik. Mitten im ›Zeitalter der Vernunft‹ stellte sie Fortschrittsglauben und Machbarkeitsoptimismus vehement in Frage. Die Auswirkungen der Krise lassen sich europaweit und auf allen Ebenen beobachten. Sie sind bisher aber weder in ihrem sozionaturalen noch in ihrem überregionalen Zusammenhang wahrgenommen worden. In der großen Politik brachte der Druck der Hungersnot die Regierungen in Frankreich, Dänemark und Schweden zu Fall. In Böhmen mündete sie in Volksaufstände und Bauernbefreiung, in Frankreich in den ›Mehlkrieg‹ von 1775. Die Krise beeinflusste auch den Verlauf der Ersten Polnischen Teilung 1772 und damit den Beginn der größten Gebietsverschiebung im frühneuzeitlichen Europa. Im Feld der Ökonomie löste die Teuerung eine europaweite Wirtschafts-, Finanz- und Bankenkrise aus. In den Regionen verursachte sie weitreichende Verarmung und den Höhepunkt einer der größten zeitgenössischen Migrationswellen, des sogenannten Zweiten Schwabenzugs. Die Nahrungskrise wirkte aber auch als Katalysator. Sie beförderte grundlegende Reformen des Agrar-, Schul- und Armenwesens. Sie stieß die Etablierung neuer Wissenszweige wie der Meteorologie, der Nationalökonomie oder der Statistik an. Im Reich verhalf sie sogar dem Immerwährenden Reichstag zu einem seltenen Politikerfolg und beförderte die Entwicklung eines deutschen Proto-Nationalismus. 12 Einen Überblick über Raum, Verlauf und mögliche Ursachen der Krise bietet Kap. II. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe An der Schnittstelle von Natur und Kultur 11 Die Menschen blieben dabei keine passiven Opfer: Fürsten nutzten die Krise, um konkurrierende Obrigkeiten und Herrschaften zu entmachten. Untertanen diente sie dazu, Partizipationsrechte auszuweiten. Bürgerliche ›Experten‹ etablierten mit ihrer Hilfe neue Wissensfelder und -hierarchien. Pfarrer wiederum bedienten sich der Notlage im Kampf gegen zunehmende Verweltlichung. Aus diesem Grund ist in diesem Buch von ›Kultur‹ im weitesten Sinne die Rede. Sie umfasst alle Bereiche menschlichen Gestaltens, von der Agrikultur bis zur Volkskultur, von der Bildung bis zu Politik, Ökonomie und Religion. Betrachtet man ihre Verflechtungen mit dem Klima nicht allein aus der Vogelperspektive demographischer oder meteorologischer Datenreihen, sondern auch ›aus der Nähe‹, wird deutlich, dass naturale Umwelt und soziales Handeln hier nicht in starren Ursache-Wirkungs-Gefügen zu fassen sind, sondern je nach Konstellation dynamisch miteinander verflochten waren. So verstanden können Hungerkrisen auch wieder Impulse für zentrale historische Debatten liefern. In einem ersten Themenfeld vertieft Nahrung als zentraler Bereich von Herrschaft die Überlegungen zu einer Rückbesinnung der Kulturgeschichte auf die ›harten Fakten‹ sowie zu einer ›Kulturgeschichte des Politischen‹. In der Extremsituation der Hungerkrise werden die Mechanismen einer symbolisch-kommunikativen Herstellung von Herrschaft und die legitimierende Bedeutung von Verfahren ebenso konkret wie Formen von »empowering interactions« oder »akzeptanzorientierter Herrschaft«.13 Statt starrer Konfrontationen lassen sich hier Praktiken krisengebundener Zusammenarbeit von Partnern in asymmetrischen Machtverhältnissen beobachten. Charakteristisch ist die Kollusion von Obrigkeiten und Untertanen auf Kosten Dritter.14 Damit ergeben sich Bezüge zur Normdurchsetzungsdebatte der Frühneuzeitforschung und zur Diskussion um den ›Reformabsolutismus‹. Zugleich illustriert die Krise die Gebundenheit politischer Entscheidungen in lokalen Praktiken, konkret etwa im Falle des Reichstags im hungernden Regensburg. Hier materialisiert die sozionaturale Krise das Potential einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf Herrschaft und Herrschaftsverdichtung. Für ein zweites Feld, die Wissensgeschichte der Aufklärung, ist die Koexistenz von Naturromantik und Naturkatastrophe um 1770 zentral. In die Krisenjahre fallen sowohl der Beginn des Wörlitzer Gartenreichs als auch die Gründung zahlreicher Agrarsozietäten. In der Parallelität der Quantifizierung von Natur und 13 Barbara Stollberg-Rilinger, André Krischer (Hrsg.), Herstellung und Darstellung verbindlicher Entscheidungen. Verhandeln, Verfahren und Verwalten in der Vormoderne. Berlin 2010; Wim Blockmans, André Holenstein, Jon Matieu (Hrsg.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900. Farnham 2009; Stefan Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche. München 2009, 395–406. 14 Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg. Frankfurt a. M. 2000. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 12 An der Schnittstelle von Natur und Kultur ihrer Verklärung im Erhabenen, von Landwirtschaftsschule und Landschaftspark spiegeln sich unterschiedliche Spielarten der beginnenden Trennung von Natur und Mensch. Ihre Konzeptionalisierung als zu überwindende Wissensasymmetrie (B. Latour), als Dichotomie, die bis in die »Spätmoderne« fortdauert (A. Giddens), oder als verlorene und wiederherzustellende Pluralität (D. Chakrabarty) lässt sich im Ereignis der Hungerkrise prüfen. Zugleich wird in der regen ›Teuerungsliteratur‹ das self-fashioning der aufgeklärten Wissenseliten greifbar. Als historische Schnittstelle illustriert das Ereignis 1771 die soziale Rolle von Wissen jenseits von Wissenschaft. Das dritte Feld umfasst die entstehende Kulturgeschichte des Ökonomischen. Hier stellt die Hungerkrise Bezüge zu Überlegungen her, die statt der Produktion die Reproduktion, statt des Marktes die umfassende ›Überlebensökonomie‹ in den Blick nehmen und sich damit auf das Konzept der ›embedded economy‹ (K. Polanyi) beziehen.15 Anhand der Hungerkrise lässt sich der vermeintliche Beginn einer ›ökonomischen Befreiungsgeschichte‹ um 1770 ebenso überprüfen, wie Überlegungen zur Praxis ökonomischer Theorie oder zur Reichweite integrativer Ansätze, beispielsweise der food-studies, die Produktion und Konsumption programmatisch verknüpfen.16 Methodische und inhaltliche Bezüge ergeben sich auch im Bereich der Agrargeschichte, in der das technologiezentrierte Narrativ der ›Agrarrevolution‹ jener Zeit zunehmend hinterfragt und stattdessen alternative Formen bäuerlicher Dynamik herausgestellt werden.17 Die Hungerkrise liefert hier umfassende Impulse für eine Anthropologie des Ökonomischen. Die Frage, wie Gesellschaften des 18. Jahrhunderts extreme Naturereignisse bewältigten, berührt nicht zuletzt einige der großen Geschichtsnarrative. Dazu gehören die Konzepte des »Great Escape« (R. Fogel), des »European Miracle« (E. Jones) oder der »Great Divergence« (K. Pomeranz).18 Sie vermuten, dass die 15 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a. M. 1978 (zuerst London 1945); Werner Troßbach, Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zu Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 187–211, hier 193. Zur Erforschung der »verborgenen Ökonomien« oder der »economy of makeshifts« (dt., »Ökonomien des Notbehelfs«) vgl. Rainer Prass, Grundzüge der Agrargeschichte. Vom dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der Moderne (1650–1880). Köln, Weimar, Wien 2016, 50; Olwen Hufton, The Poor in Eighteenth Century France, 1750–1789. Oxford 1974. Zur anthropologischen Erweiterung der Wirtschaftsgeschichte vgl. Hartmut Berghoff, Jacob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt a. M. 2004; Wolfgang Reinhard, Justin Stagl (Hrsg.), Menschen und Märkte. Studien zur historischen Wirtschaftsanthropologie. Köln, Weimar, Wien 2007. 16 Andrew Wakefield, The Disordered Police State. German Cameralism as Science and Practice. Chicago 2009; Emma C. Spary, Feeding France. New Sciences of Food 1760–1815. Cambridge 2014. 17 Michael Kopsidis, Agrarentwicklung. Historische Agrarrevolutionen und Entwicklungsökonomie. Stuttgart 2006. 18 Robert William Fogel, The Escape from Hunger and Premature Death. Cambridge 2004; © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 13 Forschungsstand überlegene Naturbeherrschung westlicher Kulturen in dieser Zeit den Beginn eines europäischen Sonderwegs markierte. Auch diese Meistererzählungen lassen sich mit Hilfe des Ereignisses der Hungerkrise konkretisieren und korrigieren. Daher berühren die zeitgenössischen Verflechtungen von Hunger und Herrschaft, von Klima und Kultur neben dem Verständnis historischer Gesellschaften auch unser modernes, anthropozentrisches Selbstverständnis. 1. Forschungsstand Die Hungerforschung leidet insgesamt an einem Paradox. Akuter Nahrungsmangel beeinflusst alle gesellschaftlichen Lebensbereiche. Genau diese hohe Reichweite hat aber dazu geführt, dass das Geschehen zumeist nur im disziplinären Rahmen untersucht wird. Da das ausgesprochen reichhaltige Material Grenzüberschreitungen als kaum notwendig erscheinen ließ, haben Medizin, Ökonomie oder Ethnologie je eigene Zugänge zu diesem Thema entwickelt. Die Fragmentierung des Forschungsfeldes entlang der Fachgrenzen hat dazu geführt, dass Hunger nicht etwa als Grenzobjekt begriffen wird, das Kooperation ermöglicht und einfordert. Stattdessen haben sich rigide Oppositionen entwickelt. Heute dominieren zwei einander ausschließende Erklärungsmodelle das Feld. Nahrungskrisen werden entweder als Folge ›natürlicher‹ oder aber als Resultat ›politischer‹ Faktoren konzeptioniert.19 Der erste Ansatz versteht Hunger als Folge des fehlenden Angebots an Nahrung aufgrund naturaler Impulse wie des Klimas. Der zweite sieht Hunger als Resultat des fehlenden Zugangs zu Lebensmitteln und somit als Folge sozialer Ursachen wie ungleich verteilter Anrechte oder ›entitlements‹. Der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen hat für diese gegensätzlichen Ansätze das Begriffspaar des Food Availability Decline (FAD) einerseits und des Food Entitlement Decline (FED) andererseits eingeführt.20 Diese Opposition reflektiert zum einen postkoloniale Konfliktlagen, in denen die eine Seite im globalen Süden eine vermeintlich ›natürliche‹ Hungerzone verEric L. Jones, The European Miracle. Environments, Economies and Geopolitics in the History of Europe and Asia. Cambridge 32003; Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. Europe, China, and the Making of the Modern World Economy. Princeton (NJ) 2000. 19 Einen Überblick bieten: Christian Pfister, Hunger. Ein interdisziplinäres Problemfeld, in: Archiv für Sozialgeschichte 28, 1988, 382–390; David Arnold, Famine. Social Crisis and Historical Change. Oxford 1988; Cormac Ó Gráda, Famine. A Short History. Princeton 2009 sowie Brian Murton, Famine, in: Kenneth F. Kiple, Kriemhild Conée Ornelas (Hrsg.), The Cambridge World History of Food, Bd. 2. Cambridge 2000, Sp. 1411–1427. Eine nuancierte Diskussion der Modellbildungen des Forschungsfeldes bietet: Daniel Krämer, Menschen grasten nun mit dem Vieh. Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17. Mit einer theoretischen und methodischen Einführung in die historische Hungerforschung. Basel 2015, 117–180. 20 Amartya Sen, Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation. Oxford 1981. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 14 An der Schnittstelle von Natur und Kultur mutet, während die andere Seite deren politische Ausbeutung anprangert. Zum anderen spiegelt sie die Trennung von Natur- und Kulturwissenschaften wider, die dazu führt, dass entweder biophysikalische oder gesellschaftliche Impulse in den Blick genommen werden.21 In den 1980er Jahren half diese Polarisierung zunächst Alternativen aufzuzeigen. Mittlerweile hat sich die starre Opposition von natur- und kulturzentrierten, von produktions- und distributionsbasierten Modellen jedoch zu einem Hindernis weiterer Forschungen entwickelt. Dies gilt vor allem für die aktuellen Herausforderungen, die ihre Brisanz gerade durch die Verschränkung von Klimawandel und sozialer Ungleichheit gewinnen. Dies gilt aber auch für die historische Forschung. Denn beide Zugänge behaupten, dass Hungerkrisen in der Vergangenheit stärker von der Natur geprägten Logiken gefolgt seien, die außerhalb des Kompetenzbereichs der Geisteswissenschaften verortet werden. Zudem hat die Frontstellung von FAD- und FED-Konzepten die relativ abstrakte Modellierung des Geschehens befördert und dazu beigetragen, die konkrete Hungersnot, die unmittelbare Erfahrung von Zwang, Ohnmacht und Tod, zu verdecken. Die Modellbildungen von Klimatologie einerseits und Ökonometrie andererseits zielen auf die Erfassung des abstrakten Verlaufs einer Krise. Ihre Aussagekraft endet jedoch bei der bereits von E. P. Thompson nachdrücklich gestellten Frage: »being hungry, what do people do?«22 Das Handeln der Betroffenen, die Kontingenz und Dynamik ihrer Bewältigungsstrategien sowie die kulturellen Konsequenzen der Extremerfahrung gehen in solchen Modellen verloren. In den Kulturwissenschaften, in denen praxeologische Zugänge dominieren, haben diese Leerstellen das Thema weitgehend an den Rand der Forschungsdebatten gedrängt. In den letzten Jahrzehnten beschäftigte sich die Geschichtswissenschaft daher nur kursorisch mit vormodernen Hungersnöten. Statt die Dichotomien der Hungerforschung zu hinterfragen, wurden sie einfach auf die Geschichte übertragen und vorindustrielle Nahrungskrisen primär als Naturereignisse gedeutet. Größere Arbeiten widmeten sich vor allem den späteren Hungersnöten, die stärker als menschengemacht verstanden und daher ins kulturwissenschaftliche Problemfeld eingeordnet werden. Dazu zählen etwa die Irische Hungersnot 1845–48 sowie die großen Nahrungskrisen des 20. Jahrhunderts in totalitären Regimen und im postkolonialen Afrika.23 21 Mauelshagen, Klimageschichte, 95–97. 22 An formalistischen Hungermodellen kritisierte Thompson: »[They] conclude the investigation at the exact point at which it becomes of serious interest: being hungry, what do people do? How is their behavior modified by custom, culture, and reason?« E. P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Dorothy Thompson (Hrsg.), The Essential E. P. Thompson. New York 2001, 316–377, hier 317. 23 Robert Kindler, Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan. Hamburg 2014; Stephen Wheatcroft, R.W. Davies, The Years of Hunger. Soviet Agriculture 1931–1933. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 15 Forschungsstand Im Desinteresse an den früheren Krisen spiegelt sich hingegen die grundlegende und berechtigte Skepsis gegenüber potentiell klimadeterministischen Ansätzen wider, welche die historischen Wissenschaften bereits seit der Trennung von der Naturgeschichte im 19. Jahrhundert prägt.24 Hinzu treten die enttäuschend verlaufenen Versuche, den modellierenden Zugang der Nachbarwissenschaften zu adaptieren. Die klio- und ökonometrischen Studien der 1940er bis 1960er Jahre interpretierten vormoderne Hungersnöte als starres, dem menschlichen Handeln weitgehend entzogenes Wechselspiel von Klimaimpulsen und demographischer Entwicklung.25 Für eine Geschichte als ›Wissenschaft vom Menschen‹ erschien das Feld daher als wenig relevant. Der Kenntnisstand zu Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung vorindustrieller Hungerereignisse ist dementsprechend gering.26 Die Lücken, welche die Geschichtswissenschaft gelassen hat, füllen in den letzten Jahren zunehmend neo-deterministische Arbeiten aus Klimaforschung und Geographie. Im Windschatten der aktuellen Klimadiskussionen postulieren sie starre und direkte Ursache-Wirkungs-Verhältnisse zwischen Umweltextremen und menschlichen Gesellschaften. In diesem Zusammenhang sind vormoderne Hungerkrisen – als reine ›Klimafolge‹ verstanden – für die Französische Revolution, die Völkerwanderung oder das Ende des Ancien Régime verantwortlich gemacht worden.27 Auch in renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften erscheinen immer wieder Studien, die Hunger- und Klimakrisen als Ursache für den ›Kollaps‹ ganzer Zivilisationen, den Ausbruch von Kriegen oder die allgemeine Zunahme von Gewalt verstehen.28 Ihre großen Thesen folgen nicht allein den Vorgaben der Basingstoke 2004; Felix Wemheuer, Der große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao. Berlin 2012. Zur umfangreichen Historiographie der Irish Famine, deren Interpretation bereits mehrere Revisionen einschließlich der Neubewertung proto-kolonialer, sozioökonomischer und klimatischer Faktoren erlebt hat, vgl. Cormac Ó Gráda, Black ‚47 and Beyond. The Great Irish Famine in History, Economy, and Memory. Princeton (NJ) 1999. Zu den parallelen Teuerungswellen auf dem Kontinent im Vorfeld der Ereignisse von 1848 vgl. Hans Heinrich Bass, Hungerkrisen in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. St. Katharinen 1999; Michael Hecht, Nahrungsmangel und Protest. Teuerungsunruhen in Frankreich und Preußen in den Jahren 1846/47. Halle 2004. 24 Mauelshagen, Klimageschichte, 32–35; Reinhold Reith, Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit. München 2011, 72 f. 25 Steven Kaplan, Bread, Bd. 1, XX–XXV. 26 Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten und Randgruppen in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie der Geschichte 34). München 1995, 64 f. 27 Brian Fagan, The Little Ice Age. How Climate made History 1300–1850. New York 2000, 149–266; Ulf Büntgen u. a., 2500 Years of European Climate Variability and Human Susceptibility, in: Science 331, 2011, 578–582; Manfred Vasold, Die Hunger- und Sterblichkeitskrise von 1770/73 und der Niedergang des Ancien Régime, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 59, 2008, 107–142. 28 Jared Diamond, Collapse. How Societies Chose to Fail or Suceed. New York 2005; Gerald H. Haug u. a., Climate and the Collapse of Maya civilization, in: Science 299, 2003, 1731– 1735; Solomon M. Hsiang, Kyle C. Meng, Mark A. Cane, Civil Conflicts are Associated with the Global Climate, in: Nature 476, 2011, 438–441. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 16 An der Schnittstelle von Natur und Kultur wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsökonomie, sie resultieren auch aus der Tatsache, dass präzisere und stärker nuancierte Aussagen mit den gewählten Methoden, Archiven und Analyserahmen kaum möglich sind.29 Oft projizieren sie die langfristigen Trends der Paläoklimatologie einfach auf gesellschaftliche Entwicklungen. Angaben aus historisch-gesellschaftlichen Quellen werden dabei häufig extrapoliert, geglättet und rein statistisch ausgewertet.30 Diese Studien erfolgen trotz der Ausrichtung auf die Vergangenheit zumeist ohne Beteiligung der Geschichtswissenschaften. Dies geht nicht nur auf die Sprachlosigkeit zwischen Natur- und Kulturwissenschaften zurück, sondern auch auf den Mangel an interdisziplinär geschulten und motivierten Ansprechpartnern. Diese Untersuchungen bleiben im Kern deterministisch, prägen aber nicht nur populäre Geschichtsbilder, sondern auch die Wahrnehmung historischer Umweltextreme in Politik- und Naturwissenschaften.31 Dieser Trend wird dadurch bestärkt, dass auch viele genuin geschichtswissenschaftliche Arbeiten Naturimpulse unhinterfragt verabsolutieren (und so beiseiteschieben). Fast alle Studien zu vormodernen Hungerkrisen übernehmen implizit oder explizit das Modell der ›Krise des alten Typs‹. Es wurde bereits in den 1940er Jahren durch Ernest Labrousse und Wilhelm Abel anhand von Preisreihen, Geburts- und Sterbeziffern entwickelt.32 Ihre Typisierung einer bis zur Industrialisierung unveränderlichen und weitgehend unvermeidbaren Abfolge von Missernte, Gewerbekrise, Mangelernährung und Übersterblichkeit sah die Ursache von Hunger allein in natürlichen und deshalb nicht weiter zu erforschenden Faktoren begründet. Die in den Nachbardisziplinen entwickelten Ansätze zur Bedeutung sozialer, politischer und ökonomischer Faktoren sind hingegen kaum rezipiert 29 So lassen sich Interaktionen zwischen der multidekadischen Ebene der Klimaforschung (Klima als 30-jähriger Durchschnitt des Wetters) und historischen Ereignissen kaum empirisch konkretisieren. Präziser aufgelöste Naturarchive stehen entweder nur eingeschränkt zur Verfügung oder werden schon in der Erhebung stark geglättet. Vgl. Kap. II.2.2. 30 Vgl. etwa David D. Zhang u. a., The Causality Analysis of Climate Change and LargeScale Human Crisis, in: Proceedings of National Academy of Sciences of the United States 108, 2011, 17296–17301, die für die Jahre 1500–1800 baumringbasierte Temperaturdaten mit der Anzahl der Hungerjahre, Erntemengen, Körpergrößen, Migranten sowie Zahl und Opfermengen der Kriege korrelieren. Da allerdings für keinen dieser Parameter auch nur annähernd verlässliche historische Daten vorliegen (vgl. etwa zu den Jahren 1770–1772 Kap. II.3.), extrapolieren sie diese Werte aus fragmentarischen und randständigen Überblickswerken. Die extremen Krisenjahre 1770–1772 tauchen etwa weder in der angegebenen »Chronology of Famine« noch in dem benutzten »Conflict Catalogue« auf. Entsprechend willkürlich fallen die statistischen Korrelationen von Klima und Krisen aus. 31 Adam Izdebski u. a., Realising Consilience. How Better Communication Between Archaeologists, Historians and Natural Scientists can Transform the Study of Past Climate Change in the Mediterranean, in: Quaternary Science Reviews 30, 2015, 1–18; Hulme, Future. 32 Ernest Labrousse, La crise de l’économie française à la fin de l’Ancien régime et au début de la Révolution. Paris 1943; Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis. Hamburg, Berlin 1974. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 17 Forschungsstand worden. Dazu gehört etwa die Entitlement-Theory Amartya Sens, die darauf verweist, dass Hungersnöte auch in wenig entwickelten Gesellschaften nicht allein durch Missernten, sondern auch durch Veränderungen im komplexen Gefüge von Zugangs- und Besitzrechten (entitlements und endowments) entstehen können. Dadurch drohen einzelne Gruppen den Zugang zu Nahrung selbst in Zeiten des Überflusses zu verlieren. Solche »green famines« lassen sich mit rein produktionsbasierten Ansätzen nicht erklären.33 Mit dem Perspektivwechsel vom Nahrungsangebot zum Nahrungszugang verweist Sen eindrücklich auf gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten, auf die Bedeutung nicht-marktförmiger Transaktionen und auf die Heterogenität der Armen. Hier ergeben sich vielfältige Bezüge zu frühneuzeitlichen Gesellschaften, die bisher kaum berücksichtigt wurden.34 Heute stehen in der Forschung zu vormodernen Hungersnöten daher einzelne wirtschaftshistorische Arbeiten, die Hunger vollständig auf menschliches Handeln zurückführen, einer breiten Renaissance klimazentrierter Ansätze gegenüber.35 Erst in jüngster Zeit lässt sich ein Aufweichen dieser Frontstellung beobachten. Dabei zeichnet sich ein Zugang ab, der naturale Umwelt und soziales Handeln programmatisch miteinander verknüpft. In der Geschichtswissenschaft ist dieser Ansatz zunächst in der Historischen Katastrophenforschung fruchtbar gemacht worden. Sie hat gezielt Extremereignisse an der Schnittstelle von Natur und Kultur in den Blick genommen.36 Im Zentrum standen allerdings zumeist ›schnelle‹ Katastrophen wie Erdbeben und Sturmfluten. Hungersnöte blieben als sozionaturale Grenzgänger außen vor. Sie erschienen der Katastrophenforschung als zu wenig, der Krisenforschung wiederum als zu sehr naturgeprägt.37 Die Studien zu historischen Katastrophen illustrieren jedoch, dass Naturextreme generell erst im Kontext menschlichen Handelns zum Desaster werden. Vermeintliche Naturkatastrophen sind daher 33 Sen, Poverty. 34 Auf das Potential einer stärkeren Einbeziehung dieser politisch-kulturellen Faktoren wurde bereits früh hingewiesen: Hans Medick, Teuerung, Hunger und »moralische Ökonomie von oben«. Die Hungerkrise der Jahre 1816–17 in Württemberg, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 2, 1985, 39–44. 35 Das Spannungsfeld von sozial- bzw. klimazentrierten Ansätzen umreißen Fogel, Escape und Bruce Campbell, Nature as Historical Protagonist. Environment and Society in Pre-Industrial England, in: Economic History Review 63.2, 2010, 281–314. 36 Manfred Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit. München 1992; Wolfgang Behringer, Hartmut Lehmann, Christian Pfister (Hrsg.), Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit«. Göttingen 2005; Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit. Köln u. a. 2007. 37 Zentrale Publikationen zur Katastrophen- und Krisengeschichte sparen Hungersnöte daher häufig aus. Vgl. etwa: Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003; Gerrit Jasper Schenck (Hrsg.), Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel. Stuttgart 2012; Rudolf Schlögl, Philip R. Hoffmann-Rehnitz, Eva Wiebel (Hrsg.), Die Krise in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2016. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 18 An der Schnittstelle von Natur und Kultur ebenso oft ›Kulturkatastrophen‹.38 Ein zentrales Ergebnis dieser Studien besteht in der unerwarteten Dynamik historischer Deutungs- und Bewältigungsstrategien, die grundlegende Transformationsprozesse im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt sichtbar machen. Diese Beobachtungen sind auch für die Hungerforschung bedeutsam. Zum einen ermöglichen sie, die florierenden klimadeterministischen Ansätze zu hinterfragen. Zum anderen öffnen sie das Feld für die Methoden der Kulturgeschichte. Mit der Betonung der kulturellen Konsequenzen von Katastrophen korrigieren sie Ökonometrie und Demographie, die Hungersnöte als bloßes ›Feuerwerk‹ ohne längerfristige Folgen sehen – eine Vorstellung, die zuvor lediglich in der französischen Annales-Schule hinterfragt wurde.39 Damit lenkt die Katastrophenforschung den Blick wieder auf die zentrale Bedeutung einer ausgefeilten historischen »Hungerkultur« oder einer »Culture of Disaster«.40 Sie hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Bewältigungsstrategien in einer durch Formen der »Subsistenzethik« geprägten »Knappheitsgesellschaft«, wie Kulturhistoriker und -anthropologen an modernen und nicht-europäischen Beispielen herausgearbeitet haben.41 Diese Anregungen sind vor allem von der Umweltgeschichte aufgenommen worden. Sie hat die Verflechtung von Kultur und Natur konsequent zur Forschungsperspektive erhoben. Mit Konzepten wie den »sozionaturalen Schauplätzen«, der »slow violence« in Mensch-Umwelt-Beziehungen, mit Bezügen zur »sozialen Ökologie«, dem Entwurf einer »Panarchy« oder der Erforschung »gesellschaftlicher Naturverhältnisse« hat die Umweltgeschichte dieses Spannungsfeld jenseits 38 François Walter, Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart 2010, 15. 39 Robert W. Hoyle, Famine as Agricultural Catastrophe: The Crisis of 1622–4 in East Lancashire, in: Economic History Review 63, 2010, 974–1002, 975. Zur Vermutung der Wirtschaftsgeschichte, diese kurzfristigen Krisen verhielten sich ähnlich »wie Banküberfälle zur Geschichte des Bankwesens«, vgl. Mauelshagen, Klimageschichte, 115. Zur frühen Verknüpfung von Klima, Demographie und Kultur in den Regionalstudien der Annales vgl. etwa: François Lebrun, Les Hommes et la mort en Anjou aux XVIIe et XVIIIe siècles. Essais de démographie et des psychologie historique. Paris, Den Haag 1971. 40 Piero Camporesi, Das Brot der Träume. Hunger und Halluzinationen im vormodernen Europa. Frankfurt a. M. u. a. 1990; Greg Bankoff, Cultures of Disaster. Society and Natural Hazards in the Philippines. London 2003; Anthony Oliver-Smith, Susanna M. Hoffman (Hrsg.), Catastrophe and Culture. The Anthropology of Disaster. Oxford 2001; Kevin Rozario, The Culture of Calamity. Disaster and the Making of Modern America. Chicago 2007; Fred Krüger u. a. (Hrsg.), Cultures and Disasters. Understanding Cultural Framings in Disaster Risk Reduction. London 2015. 41 James C. Scott, The Moral Economy of the Peasant. Rebellion and Subsistence in Southeast Asia. New Haven (CT) 1976; Gerd Spittler, Handeln in einer Hungerkrise. Tuaregnomaden und die große Dürre von 1984. Opladen 1989; Massimo Montanari, Der Hunger und der Überfluss. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. München 1999; James Vernon, Hunger. A Modern History. Cambridge (MA) 2007. Zum Konzept einer durch naturale Bedarfdeckungswirtschaft geprägten Mangel- oder Knappheitsgesellschaft vgl. Nina Odenwälder, Nahrungsproteste und moralische Ökonomie. Das Alte Reich von 1600 bis 1789. Saarbrücken 2008, 29, 77–81. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 19 Forschungsstand von Ökodeterminismus und Geomaterialismus zu umreißen versucht.42 Zentrale Arbeiten problematisieren die Koevolution beziehungsweise Ko-Konstitution von Mensch und Umwelt und untersuchen die historische Verflechtung von Natur und Macht oder von Natur und Geschichtsschreibung.43 Dieser Ansatz findet heute vielfach Parallelen im ›new materialism‹ und der aktuellen Rückbesinnung auf materielle Kulturen und Grundlagen der Geschichte, die ebenfalls versuchen symbolische und materielle Daseinsmodi miteinander zu verknüpfen.44 Einen dezidiert umwelthistorischen Zugang zu Hungerkrisen verfolgen bisher nur wenige Arbeiten. Dazu zählen etwa Studien zu den Witterungskrisen des 14. und 17. Jahrhunderts sowie der Jahre 1570–75 und 1815–17.45 Erste entsprechende Ansätze finden sich auch in Werken zur »Great Famine« 1315–1318 oder den globalen Hungerkrisen des späten 19. Jahrhunderts. Sie illustrieren etwa die Impulse, die Missernten auf Wirtschaftskrisen, Hexenverfolgung oder Imperialismus ausübten.46 Aus einer ähnlich sozioökologischen Perspektive haben Vertreter der Historischen Klimatologie begonnen, die typischen physikalischen Impulse für ›Hungerjahre‹ in Zentraleuropa zu identifizieren und in abgestuften Interaktionsmodellen zu orga42 Rob Nixon, Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Cambridge (MA) 2013; Crawford Stanley Holling, Lance H. Gunderson, Panarchy, Understanding Transformations in Systems of Humans and Nature. Washington 2002; Michael Weingarten, Die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Annäherung an die kulturell konstituierte Differenzierung von Natur und Kultur, in: Dirk Hartmann, Peter Janich (Hrsg.), Die Kulturalistische Wende. Frankfurt a. M. 1988, 371–414 sowie Marina Fischer-Kowalski, Karlheinz Erb, Epistemologische und konzeptionelle Grundlagen der Sozialen Ökologie, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 148, 2006, 33–56. Einen detaillierten Forschungsüberblick bietet Martin Knoll, Die Natur der menschlichen Welt. Siedlung, Territorium und Umwelt in der historisch-topographischen Literatur der Frühen Neuzeit. Bielefeld 2013, 92–107. 43 William Cronon, Uncommon Ground. Rethinking the Human Place in Nature. New York 1996; Ders., A Place for Stories. Nature, Histories and Narrative, in: Journal of American History 78, 1992, 1347–1376. Grundsätzlich dazu: Bernd Herrmann, Jörn Sieglerschmidt, Umweltgeschichte und Kausalität. Entwurf einer Methodenlehre. Wiesbaden 2018. 44 Knoll, Natur, 94; Marian Füssel, Die Materialität der Frühen Neuzeit. Neuere Forschungen zur Geschichte der materiellen Kultur, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42/3, 2015, 433–463. 45 Bruce Campbell, The Great Transition. Climate, Disease and Society in the Late-Medieval World. Cambridge 2016; Geoffrey Parker, Global Crisis. War, Climate Change and Catastrophe in the Seventeenth Century. New Haven (CT) 2013; Wolfgang Behringer, Die Krise von 1570. Ein Beitrag zur Krisengeschichte der Frühen Neuzeit, in: Manfred Jakubowski-Tiessen, Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen 2003, 51–156; Ders., Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte. München 2015; Krämer, Menschen. Integrative Neuansätze bündelt der Band: Dominik Collet, Maximilian Schuh (Hrsg.), Famines During the »Little Ice Age« (1300–1800). Socionatural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018. 46 William Chester Jordan, The Great Famine. Northern Europe in the Early Fourteenth Century. Princeton (NJ) 1996; Wolfgang Behringer, Weather, Hunger and Fear. Origins of the European Witch-Hunts in Climate, Society and Mentality, in: German History 13, 1995, 1–27; Davis, Holocausts. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 20 An der Schnittstelle von Natur und Kultur nisieren. Ihre Forschungen ermöglichten es auch, die akuten Witterungsanomalien in den größeren klimatologischen Rahmen der »Kleinen Eiszeit« einzuordnen.47 Die klassischen historischen Studien zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie die Verflechtung von Natur und Kultur weitgehend vernachlässigen. Sie konzentrieren sich ganz auf die Ereignis- oder Regionalgeschichte oder zielen darauf ab, ältere Hungerereignisse zuverlässig zu identifizieren.48 Sie illustrieren, dass sich bereits in den Hungersnöten der Karolingerzeit Teile des späteren Repertoires obrigkeitlicher Maßnahmen beobachten lassen.49 Spätestens seit dem frühen 14. Jahrhundert ist auch das Nebeneinander religiöser, sozialer und naturaler Deutungsmuster von Hunger dokumentiert.50 In den Teuerungen der 1430er Jahre ließ sich dank der breiteren Überlieferung aufzeigen, wie die Krise in den Städten zum Katalysator einer umfangreichen Teuerungspolicey wurde. Die Versuche, den Verkauf, Preis und Transport von Getreide ebenso wie Migration und moralisches Verhalten der Menschen zu kontrollieren, trieb die Verdichtung von Herrschaft insgesamt voran.51 Für die Frühe Neuzeit hat man verfolgt, wie sich dieses Repertoire an Maßnahmen vom urbanen Raum auf die Territorien ausbreitete. Untersuchungen zu einzelnen Krisen liegen hier vor allem zu Frankreich, Italien und den britischen Inseln vor, während für das Reich eher die allgemeine Getreidehandelspolitik untersucht worden ist.52 Im Zentrum all dieser Studien 47 Christian Pfister, Rudolf Brázdil, Social Vulnerability to Climate in the »Little Ice Age«. An Example from Central Europe in the Early 1770s, in: Climate of the Past 2, 2006, 115–129, hier 120. Chantal Chamenisch, Endlose Kälte. Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert. Basel 2015. Konzeptionelle Überlegungen zu Verflechtungsmodellen von Klima und Kultur formuliert auch: Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur Globalen Erwärmung. München 22011. 48 Ulrich-Christian Pallach, Hunger. Quellen zu einem Alltagsproblem in Europa und der Dritten Welt. 17. bis 20. Jahrhundert. München 1986; Fritz Curschmann, Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts. Leipzig 1900. Einen Überblick über historische Hungerereignisse im Untersuchungsraum bietet: Collet, Krämer, Germany, Switzerland and Austria. 49 Christian Jörg, Die Besänftigung göttlichen Zorns in karolingischer Zeit. Kaiserliche Vorgaben zu Fasten, Gebet und Buße im zeitlichen Umfeld der Hungersnot von 805/06, in: Das Mittelalter 15/1, 2010, 38–51; Peter Meyer, Studien über die Teuerungsepoche von 1433 bis 1438 insbesondere über die Hungersnot von 1437–38. Diss. Erlangen. Hannover 1914, 43–55; Stephan Ebert, Starvation under Carolingian Rule. The Famine of 779 and the Annales Regni Francorum, in: Collet, Schuh, Famines, 211–230. 50 Katherine Ludwig Jansen, Giovanni Villani on Food Shortages and Famine in Central Italy (1329–30, 1347–48), in: Dies., Joanna Drell, Frances Andrews (Hrsg.), Medieval Italy, Texts in Translation. Philadelphia 2009, 20–24. 51 Christian Jörg, Teure, Hunger, Großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts. Stuttgart 2008; Chamenisch, Kälte. 52 Marcel Lachiver, Les années de misère. La famine au temps du Grand Roi 1680–1720. Paris 1991; Karen J. Cullen, Karen, Famine in Scotland. The »Ill Years« of the 1690s. Edinburgh 2010; Gregory W Monahan, Year of Sorrows. The Great Famine of 1709 in Lyon. Columbus (OH) 1993; Guido Alfani, Calamities and Economy in Renaissance Italy. The Grand Tour of the Horse- © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 21 Forschungsstand steht jeweils die Normsetzung durch die Obrigkeiten. Erst für das 16. und 17. Jahrhundert nehmen einzelne Arbeiten auch die kulturellen Konsequenzen der Extremerfahrungen in den Blick.53 Viele andere Bereiche sind weiterhin kaum erforscht. Zu den Hungerkrankheiten, die für den Großteil der Opfer verantwortlich sind, liegen bisher lediglich demographiegeschichtliche Makrostudien vor.54 Auch zur Verknüpfung von Hunger und Migration existieren für die Vormoderne kaum empirische Studien, obwohl sie im 19. und 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle einnahm und im aktuellen Klimadiskurs immer wieder vermutet wird.55 Zudem werden die Forschungen zu modernen Hungersnöten in historischen Arbeiten bisher kaum berücksichtigt. Die Bedeutung informeller Ökonomien, Einkommen und Hilfen sowie nicht-staatlicher Akteure, die mit dem livelyhood-Ansatz erforscht werden, oder die Rolle des Geschlechts für die innerfamiliäre Nahrungsallokation sind für vormoderne Gesellschaften trotz zahlreicher Parallelen kaum aufgearbeitet.56 Gleiches gilt für die überragende Rolle der kommunikativen Konstitution solcher Katastrophen.57 Selbst eng benachbarte Forschungen zur Ko-Entwicklung von Naturund Gesellschaftskonzepten, zur Beziehung von Nahrung und Herrschaft oder zur Entstehung von spezifischen Nahrungsregimes und Biopolitiken wurden bisher nicht auf vormoderne Hungerkrisen übertragen.58 Gleiches gilt für die umfangmen of the Apocalypse. Basingstoke 2013. Zur (urbanen) Getreidehandelspolitik vgl. Gian Luigi Basini, L’uomo e il pane. Mailand 1970; Kaplan, Bread; Bernd Roeck, Bäcker, Brot und Getreide in Augsburg. Zur Geschichte des Bäckerhandwerks und zur Versorgungspolitik der Reichsstadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Sigmaringen 1987. Die Studien illustrieren die zentrale Rolle von Nahrung, übernehmen den obrigkeitlichen Blick des reichen Quellenmaterials aber weitgehend. 53 Behringer, Lehmann, Pfister, Kulturelle Konsequenzen. 54 John Dexter Post, Nutritional Status and Mortality in Eighteenth-Century Europe, in: Lucile F. Newman (Hrsg.), Hunger in History. Food Shortage, Poverty, and Deprivation. Cambridge (MA), Oxford 1990, 241–280. 55 Steven Engler, Johannes P. Werner, Processes Prior and During the early 18th Century Irish famines. Weather Extremes and Migration, in: Climate 3, 2015, 1035–1056. Zur aktuellen Debatte vgl. Kap. IV.2.6. 56 Robert Chambers, Gordon Conway, Sustainable Rural Livelihoods. Practical Concepts for the 21st Century. IDS discussion paper 296 (1991) http://opendocs.ids.ac.uk/opendocs/bitstream/handle/123456789/775/.dp296.pdf [24.5.2016]; Claudia Ulbrich, Zwischen Resignation und Aufbegehren. Frauen, Armut und Hunger im vorindustriellen Europa, in: Gabriele Klein (Hrsg.), Begehren und Entbehren. Bochumer Beiträge zur Geschlechterforschung. Pfaffenweiler 1993, 167–183. 57 Suzanne Franks, Reporting Disasters: Famine, Aid, Politics and the Media. London 2013; Charlotte Boyce, Representing the Hungry Forties in Image and Verse: The Politics of Hunger in Early-Victorian Illustrated Periodicals, in: Victorian Literature and Culture 40, 2012, 421–449; Gerrit Jasper Schenck, Monica Juneja (Hrsg.), Disaster as Image: Iconographies and Media Strategies Across Europe and Asia. Regensburg 2014. 58 Bisher keinen Niederschlag gefunden haben etwa Michel Foucaults einschlägige Ausführungen zu Nahrungspolitik und Sicherheitsregimen: Michel Foucault, Sicherheit, Territo- © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 22 An der Schnittstelle von Natur und Kultur reichen Forschungen zu einer Anthropologie des Hungers, die etwa den Umgang mit Nahrungskrisen in nicht-europäischen Gesellschaften in den Blick nimmt.59 Umgekehrt gilt, dass die moderne Hungerforschung Vielfalt und Potential vormoderner Krisen durchweg unterschätzt. Vermutungen, dass zivilgesellschaftliches Engagement, Opferdiskurse oder die mediale Vermittlung allein die modernen Hungerereignisse kennzeichnen, sind ebenso häufig anzutreffen, wie die Vorstellung, dass frühere Krisen primär religiös bewältigt wurden.60 Dass vormoderne Katastrophen die technizistischen Verengungen der Hochmoderne aber nicht einfach religiös spiegeln, sondern in ihrer Pluralität von Deutungen und Praktiken eher Vergleiche mit der post-modernen Gegenwart erlauben, wird bisher kaum wahrgenommen.61 Forschungen zur europäischen Hungersnot 1770–1772 selbst existieren bisher nur in Ansätzen. In Handbüchern fehlt oft jeglicher Verweis auf dieses Ereignis, obwohl es weit mehr Menschenleben forderte als die Kriege des 18. Jahrhunderts.62 Da die Not die politischen und kulturellen Eliten nur bedingt betraf, unterschätzen die vielen Forschungen zu diesen Gruppen das Ausmaß der Krise. Hinzu tritt, dass die Klimaanomalie der 1770er Jahre nicht auf einen klar zu identifizierenden, singulären Auslöser zurückzuführen ist. Während das ›Jahr ohne Sommer‹ 1816, das durch den Ausbruch des Vulkans Tambora verursacht wurde, viel Aufmerksamkeit gefunden hat, sperrt sich die weniger spektakuläre Anomalie der Hydrosphäre der 1770er Jahre gegen klassische Katastrophennarrative. Tatsächlich trafen solche mehrjährigen Schwankungen die betroffenen Gesellschaften aber weit härter und häufiger als kurze, vulkanische Extreme. Klimahistoriker haben die Krise der 1770er daher zu Recht als Testfeld für die Interaktion klimatischer und sozialer ›Vulnerabilität‹ identifiziert.63 Die letzte größere Studie zur Hungerkrise 1770–1772 in Zentraleuropa entstand vor mehr als 40 Jahren noch aus demographiegeleiteter Perspektive.64 Seither rium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernmentalität I. Frankfurt a. M. 2004, 52–79. Gleiches gilt weitgehend für die Verknüpfung von Nahrung und Herrschaft, in: Kaplan, Bread. 59 Sharman Apt Russell, Hunger. An Unnatural History. Cambride (MA) 2005; Spittler, Handeln; Scott, Moral Economy. 60 Etwa in Vernon, Hunger. 61 Cornel Zwierlein, Return to Premodern Times? – Contemporary Security Studies, the Early Modern Holy Roman Empire, and Coping with Achronies, in: German Studies Review 38, 2015, 373–392. 62 Ausnahmen bilden die Überblickswerke von Christof Dipper, Deutsche Geschichte 1648–1789 (Moderne Deutsche Geschichte 3). Frankfurt a. M. 1991 sowie Barbara StollbergRilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2006, die die Epoche als »Jahrhundert des Hungers« analysiert. 63 Pfister, Brázdil, Social Vulnerability. 64 Abel, Hungerkrisen, 191–257. Die Studie spart Umweltfaktoren vollständig aus und ordnet das Geschehen im Reich eng in das Konzept der »Krise des Alten Typs« ein. Sie bietet jedoch bereits eine aufschlussreiche Synthese von quantitativen und qualitativen Quellen. Eine zweite Arbeit aus der historischen Demographie identifizierte die europäische Reichweite der © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 23 Forschungsstand haben sich verschiedene kleinere Arbeiten weitgehend auf drei Teilbereiche konzentriert: die Maßnahmen der Obrigkeiten, die Hungerproteste und die Debatte um den Freihandel. Das erste Feld, die obrigkeitlichen Krisenvorkehrungen, wurde vor allem von der regionalgeschichtlichen Forschung aufgegriffen.65 Hinzu kommen einige übergreifende Arbeiten, welche die Rolle der Reichskreise, die Existenz eines herrschaftlichen ›Maßnahmenkanons‹ sowie die obrigkeitliche Instrumentalisierung der Figur des ›Kornjuden‹ oder das Narrativ des ›Hungerkomplotts‹ thematisieren.66 Hier fehlt jedoch durchweg eine Ergänzung der normativ-obrigKrise, griff dazu allerdings auf extrem aggregiertes und mittlerweile veraltetes Datenmaterial zurück. John Dexter Post, The Mortality Crisis of the Early 1770s and European Demographic Trends, in: Journal of Interdisciplinary History 12, 1990, 29–62. 65 Erika Weinzierl-Fischer, Die Bekämpfung der Hungersnot in Böhmen 1770–1772 durch Maria Theresia und Joseph II., in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 7, 1954, 478– 514; Fritz Blaich, Die wirtschaftspolitische Tätigkeit der Kommission zur Bekämpfung der Hungersnot in Böhmen und Mähren 1771–1772, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56, 1969, 299–331; Markus Mattmüller, Die Hungersnot der Jahre 1770/71 in der Basler Landschaft, in: Nicolai Bernhard, Quirinus Reichen (Hrsg.), Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Ulrich Im Hof. Bern 1982, 271–291; Werner Freitag, Krisen vom »type ancien«. Eine Fallstudie. Die Grafschaft Lippe 1770–1773, in: Lippische Mitteilungen 55, 1986, 97–139; Clemens Zimmermann, »Noth und Theuerung« im badischen Unterland. Reformkurs und Krisenmanagement unter dem aufgeklärten Absolutismus, in: Aufklärung 2, 1987, 95–119; Ders., Hunger als administrative Herausforderung. Das Beispiel Württembergs, 1770–1847, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 7, 1995, 19–42; Frank Göttmann, Die Versorgungslage in Überlingen zur Zeit der Hungerkrise 1770/71, in: Ders. (Hrsg.), Vermischtes zur neueren Sozial-, Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte des Bodenseeraumes. Horst Rabe zum Sechzigsten. Konstanz 1990, 75–134; Georg Schmidt, »Libertas commerciorum« or »Moral Economy«? The Austrian Vorlande in the Famine of the 1770s, in: Charles W. Ingrao (Hrsg.), State and Society in Early Modern Austria. West Lafayette (IN) 1994, 252–272; Rudolf Brázdil u. a., Die Hungerjahre 1770–1772 in den böhmischen Ländern. Verlauf, meteorologische Ursachen und Auswirkungen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 12, 2001, 44–78; Helmut Rankl, Die bayerische Politik in der europäischen Hungerkrise 1770–1773, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 68, 2005, 745–779; Britta Schneider, Wo der getreidt-Mangel Tag für Tag grösser, und bedenklicher werden will. Die Teuerung der Jahre 1770 bis 1772 im Hochstift Bamberg, in: Mark Häberlein, Kerstin Kech, Johannes Staudenmaier (Hrsg.), Bamberg in der Frühen Neuzeit. Neue Beiträge zur Geschichte von Stadt und Hochstift. Bamberg 2008, 261–292. Drei ältere Dissertationen beschränken sich ebenfalls auf die Obrigkeiten: Elisabeth Vogt, Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der fürstbischöflichen Regierung in Würzburg gegen die Getreideteuerung der Jahre 1770–1772. Diss. Würzburg 1921; Josef Kumpfmüller, Die Hungersnot von 1770 in Österreich. Diss. Wien 1969; Antonie Derflinger [verh. Wartburg], Die große Getreideteuerung 1770–1774 in Salzburg. Diss. Salzburg [1945]. 66 Ferdinand Magen, Reichsexekutive und regionale Selbstverwaltung im späten 18. Jahrhundert. Zur Funktion und Bedeutung der süd- und westdeutschen Reichskreise bei der Handelsregulierung im Reich aus Anlass der Hungerkrise von 1770/72 (Historische Forschungen 48). Berlin 1992; Michael Huhn, Zwischen Teuerungspolitik und Freiheit des Getreidehandels. Staatliche und städtische Maßnahmen 1770–1847, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters. Münster 1987, 37–89; Manfred Gailus, Die Erfindung des »Korn-Juden«. Zur Erfindung eines antijüdischen Feindbildes des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 24 An der Schnittstelle von Natur und Kultur keitlichen Ebene durch die Untersuchung der zeitgenössischen Praktiken. Ein zweites Feld bildet seit der Protestforschung der 1980er Jahre die Auseinandersetzung mit E.P. Thompsons Konzept der moral economy. In Abgrenzung von Frankreich und England vermutete man einen deutschen Sonderweg der Verrechtlichung oder eine »moralische Ökonomie von oben« zu erkennen, die in paternalistischer Befriedung resultierten.67 Diese Interpretation ging jedoch auf Defizite in der Auswertung von Kriminal- und Gerichtsakten zurück. Jüngere Analysen haben auch im Reichsgebiet zahlreiche Hungerproteste nachgewiesen, die 1770–1772 einen Höhepunkt erreichten.68 In der Folge hat man insbesondere das ›soziale Königtum‹ Friedrichs II. von Preußen in der Hungerkrise einer Neubewertung unterzogen.69 Das dritte Analysefeld bildet die beginnende Freihandelsdiskussion der 1770er Jahre. Die Interpretation der Hungerkrise als ideengeschichtlichem Zündfunken wirtschaftlicher Liberalisierung ist jedoch angesichts des praktischen Scheiterns der physiokratischen Experimente zunehmend hinterfragt worden. Anstatt als Wendepunkt interpretiert man diesen Zeitraum nun als Laboratorium neuer ökonomischer Ideen.70 Jenseits dieser drei Teilbereiche existieren für die Hungerjahre um 1771 die gleichen Desiderate wie bei der Erforschung vormoderner Hungerereignisse insgesamt. Dies gilt etwa für die Erforschung der außereuropäischen Schauplätze der Klimaanomalie.71 Zudem sind neben den Erkenntnissen der jüngeren Klima- und der Hungerforschung auch die Kultur-, Umwelt- und Katastrophengeschichte bisher kaum berücksichtigt worden. Gleiches gilt für die rege Policey-, KriminaliHistorische Zeitschrift 272, 2001, 597–622; Steven Kaplan, The Famine Plot Persuasion in Eighteenth-Century Paris, in: Transactions of the American Philosophical Society 72, 1982, 1–79. 67 Medick, Teuerung; Heinz-Dietrich Löwe, Teuerungsrevolten, Teuerungspolitik und Marktregulierung im 18. Jahrhundert in England, Frankreich und Deutschland, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 37, 1986, 291–312; Georg Schmidt, Die frühneuzeitlichen Hungerrevolten. Soziale Konflikte und Wirtschaftspolitik im Alten Reich, in: Zeitschrift für historische Forschung 18, 1991, 257–280. 68 Odenwälder, Nahrungsproteste. 69 Ulrich Kluge, Hunger, Armut und soziale Devianz im 18. Jahrhundert. Hungerkrisen, Randgruppen und absolutistischer Staat in Preußen, in: Freiburger Universitätsblätter 26, 1987, 61–91, hier 65; Dominik Collet, Storage and Starvation. Public Granaries as Agents of ›Food Security‹ in Early Modern Europe, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 35, 2010, 234–253. 70 Schmidt, Libertas; Rolf Graber, Protektionistische Marktsteuerung oder physiokratische Freihandelsdoktrin? Zum Verhalten städtischer Obrigkeiten der Alten Eidgenossenschaft während der Hungerkrise 1770/72, in: Michael Fischer u. a. (Hrsg.): Aufklärung, Freimaurerei und Demokratie im Diskurs der Moderne. Festschrift zum 60. Geburtstag von Helmut Reinalter. Frankfurt a. M. u. a. 2003, 123–142. 71 Studien existieren bisher nur zu Bengalen: David Arnold, Hunger in the Garden of Plenty. The Bengal Famine of 1770, in: Alessa Johns (Hrsg.), Dreadful Visitations. Confronting Natural Catastrophe in the Age of Enlightenment. New York 1999, 81–112; Vinita Damodaran, Famine in Bengal. A Comparison of the 1770 Famine in Bengal and the 1897 Famine in Chotanagpur, in: The Medieval History Journal 10, 2007, 143–181. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924 Dominik Collet: Die doppelte Katastrophe 25 Quellen täts- und Migrationsforschung zur Frühen Neuzeit. Methodische Impulse kamen lediglich aus der Klima- und Kommunikationsgeschichte.72 Über die Handlungsstrategien der Betroffenen, ihre Deutung der Katastrophe oder die kulturellen Folgen der Krise ist daher ebenso wenig bekannt, wie über das konkrete Ineinandergreifen von Klima und Kultur. 2. Quellen Eine Hungersnot zu erleben, gehört zu den stärksten Schreibanlässen überhaupt. Bereits in den ältesten Schriftstücken stehen Hungersnöte gleichberechtigt neben Kriegen und Krönungen. Einige der frühesten Texte der Menschheit beschäftigen sich mit diesen Schlüsselereignissen.73 Im Europa des späten 18. Jahrhunderts umfasst die Überlieferung Zeugnisse aus allen gesellschaftlichen Schichten. Dies geht nicht nur auf die mit der Aufklärung gestiegene Schreibfähigkeit zurück. Es reflektiert auch, dass eine Hungersnot eine Extremerfahrung bildete, die alle Gruppen der Gesellschaft betraf. Fürsten und Verwaltungen fühlten sich ebenso dazu gedrängt, Stellung zu nehmen, wie die unmittelbar betroffenen ›kleinen Leute‹ oder auswärtige Beobachter. Die Regierungen der Katastrophengebiete beschäftigten sich in dieser Zeit nahezu ausschließlich mit der Notsituation. Auch in der Presse, der Gelehrtenwelt oder der privaten Korrespondenz dominierte der Hunger die Agenda. Für Zentraleuropa ist die Hungerkrise 1770–1772 daher außerordentlich gut dokumentiert. Dies gilt auch für die äußere, naturale Seite der Hungersnot. Obwohl es sich um eine vormoderne Krise handelt, liegen bereits eine Reihe direkter meteorologischer Messungen vor. Viele instrumentelle Messreihen begannen in unmittelbarer Reaktion auf die Witterungsanomalie.74 Daneben existieren indirekte ›Proxy‹-Daten. Sie stammen sowohl aus den ›Archiven der Natur‹ als auch aus den ›Archiven der Gesellschaft‹. Im ersteren Fall bieten sich vor allem Baumringe an, die anders als Speläotheme (Tropfsteine) oder Eisbohrkerne eine hohe zeitliche und räumliche Auflösung erreichen. Im letzteren Fall handelt es sich etwa um Wettertagebücher oder phänologische Daten von Blüh- und Erntezeiten. Infolge der fundamentalen Bedeutung der Witterung in agrarischen Gesellschaften erschei72 Pfister, Brázdil, Social Vulnerability, überprüfen mit dem Vulnerabilitäts-Konzept die Wetterrekonstruktionen der Autoren auf soziale ›Impacts‹ und liefern trotz der noch lückenhaften Forschungslage wichtige methodische Impulse. Zur Kommunikationsgeschichte: Clemens Zimmermann, »Krisenkommunikation«. Modellbildung und das empirische Beispiel der Teuerungskrisen 1770/72, 1816/17, 1845/46 im südwestdeutschen Raum, in: Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern, Gerrit Jasper Schenck (Hrsg.), Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Stuttgart 2013, 387–406. 73 Russell, Hunger, 15. 74 Vgl. Kap. II.2.2.und IV.4.3. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525355923 — ISBN E-Book: 9783647355924