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Vorwort: Fernsicht im Fernsehen

2017

Vorwort Fernsicht im Fernsehen wenn wir über die von unaufhörlicher Kraft heranbewegten und immer wieder ohnmächtig und fruchtlos zurückweichenden Brandungswellen - das klare Spiegelbild des Weltgetriebes in der Nahsicht - hinweg den Blick auf die weite Fläche dahinter zu richten vermögen Alois Riegl1 1. Geschichte wird immer wieder neu gesehen und geschrieben. Nicht nur die Nahsicht unserer persönlichen Erinnerung, die Marker in vielen seiner Filme umkreiste, ist epischen bis heroischen Verwandlungen unterworfen, auch die Landkarte des kollektiven Gedächtnisses wird immer wieder neu vermessen. Die Erinnerungsbruchstücke könnten erkenntnisfördernd geographisch betrachtet werden. Wir würden auf Kontinente, Inseln, Wüsten, Sümpfe, übervölkerte Landstriche und unkartiertes Gelände stoßen und könnten psychogeographische Karten entwerfen, die einfachere und wahrere Bilder enthielten als Erzählungen und Legenden.2 Dabei ist Ortskenntnis von Vorteil, denn die Karte ist nicht das Territorium. Gleich ob man auf der Suche nach den Quellen des Nil den Mäandern in den Sümpfen des Weißen Nil folgt oder die Dschungel großer Datenmengen durchforstet – man muss wissen, wonach man sucht. Doch wie findet man, wonach man nicht sucht? Chris Marker lässt »Raum für Überraschungen«: »In diesem Metier ist man besser auf ALLE Überraschungen vorbereitet«3, schreibt er in einer vor den Dreharbeiten verfassten Beschreibung des Vorhabens einer Filmreihe über die Antike. 1 2 3 Alois Riegl, »Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst« (1899), in: ders., Gesammelte Aufsätze, Wien: Dr. Benno Filser Verlag 1928, S. 30. »A […] fruitful approach might be to consider the fragments of memory in terms of geography. In every life we would find continents, islands, deserts, swamps, overpopulated territories and terrae incognitae. We could draw the map of such memory and extract images from it with greater ease (and truthfulness) than from tales and legends.« Chris Marker, Begleitheft der CD-ROM Immemory, 1997. Siehe Markers Kurzpräsentation der Chouette für die Sponsoren in »Eulen vor Athen erretten. Das Tauziehen um das Erbe der Eule« in diesem Band. 10 Werner Rappl, Helmut Färber und Thomas Tode Die Suche nach dem Ursprung fördert ständig neue Ergebnisse zutage. »Weil man bei der Suche nach den geschichtlichen Voraussetzungen schlechtweg nie auf einen letzten Grund, sondern immer nur auf weitere Verästelung und Lücken der Überlieferung stößt, löst sich die Idee des Ursprungs auf, je näher man sich ihr wähnt.«4 Im undurchdringlichen Gewirr mäandernder Flussarme und schwimmender Inseln aus Elefantengras verliert sich die Spur zu den Quellen und führt zu neuen Abenteuern. »Die Quellen Homers lagen für ihn weiter zurück als er für uns heute«, gibt George Steiner in Episode 7 ǀ Logomachie zu bedenken. Die Entstehungszeit der ChouetteFilmreihe Chris Markers liegt nun mehrere Jahrzehnte zurück, und wieder einige Jahrzehnte davor begann erst das Fernsehen seine Massenwirkung zu entfalten, die heute in Begriff ist, der allzeit abrufbaren ubiquitären Präsenz des Internets zu weichen, das es damals noch nicht gab, als die Verbreitung des Computers in privaten Haushalten erst am Anfang stand. Mit filmischen Mitteln setzt Marker den Dialog der geographisch weit verstreuten Symposien untereinander und mit der griechischen Antike selbst in Szene und nimmt damit Google und die schnell (»wiki« bedeutet »schnell« auf Hawaiisch) veränder- und aktualisierbare Enzyklopädie Wikipedia vorweg. Geographische Distanz weicht Gleichzeitigkeit in Echtzeit, doch die historische Entwicklung gelangt dabei nicht in den Blick. Was uns räumlich nahe rückt wird doch nicht besser erfasst. Im Gegenzug vermag die zeitliche Entfernung das räumlich allzu Nahe wieder in eine das Erkennen begünstigende Perspektive zu setzen.5 Interventionen in den Lauf der Zeit bestimmen das Werk von Chris Marker: die Erinnerung an die kommende Zeit (Le Souvenir d‘un avenir, 2001), die spiralförmige Wurfparabel von La Jetée (1962). Immemory (1997/98), das achronologisch geschichtete Zusammentreffen der dem Postweg überantworteten Erinnerungen: ein Brief aus Sibirien (Lettre de Sibérie, 1958), viele Schreiben aus verschiedenen Erdteilen (Sans Soleil, 1982), ein Brief des russischen Regisseurs Medwedkin am Beginn von Le Tombeau d‘Alexandre (1993) oder auch die Vision einer in die Zukunft projizierten Nostalgie, die ein ungeduldiger Revolutionär als »Nostalgie des noch nie Dagewesenen«6 bezeichnen könnte. Diese für das Fernsehen konzipierte Filmreihe L’Héritage de la Chouette, das Erbe der Eule, ist zunächst auch das: Erinnerung an ein innovatives, intelligentes Fern4 5 6 Kurt W. Forster, Aby Warburgs Kulturwissenschaft. Ein Blick in die Abgründe der Bilder, Berlin: Matthes & Seitz 2018, S. 16. So könnte man in Abwandlung des Zitats sagen, das Chris Marker der französischen Fassung seines Films Sans Soleil voranstellt: »L‘éloignement des pays répare en quelque sorte la trop grande proximité des temps.« [Die Entfernung der Länder macht die allzu große zeitliche Nähe wett] Jean Racine, Zweite Vorrede zu Bajazet (1672). »[…] cette nostalgie de l’avenir, qu’en d’autres temps, on baptisait révolution« [diese nostalgische Sehnsucht nach der Zukunft, die man zu anderen Zeiten Revolution nannte], Stimme aus dem Off in Markers Film 2084 (1984). Vorwort sehen, als das Medium noch als Chance verstanden wurde. Wo Marker das Land der Griechen mit der Seele suchte, bringen uns heute die Wellen der sogenannten öffentlich-rechtlichen wie auch der privaten Kanäle und der neuen Medien im Internet vorwiegend »dumpfe Töne« herüber.7 Einer der Pioniere der Erkundung eines anderen Fernsehens, Thierry Garrel, berichtet von diesen Anfängen. Und dann Griechenland und wir: Demokratie: Wer gehört zum Volk? Wer darf wählen? Wer regiert? Demagogen. Von Platon zum Christentum, Ideologie und Werbung, Wettstreit der überlieferten Ideen und Wörter und Kampf um die Authentizität der Ursprünge. Wenn man die Spuren der Antike zurückverfolgt, gelangt man rasch nach Ägypten und Afrika. Zur selben Zeit, als Marker dem wechselnden Geschick der griechischen Antike im Lauf der Zeiten in Bildern und Worten folgt, sucht der britische Sinologe Martin Bernal in seinem ein Jahr vor Entstehen der Filmreihe Markers publizierten Werk Black Athena, die Ursprünge und Einflüsse der Kultur der griechischen Antike in Babylon und Ägypten, entgegen dem vorherrschenden »arischen Modell« einer Besiedelung Griechenlands aus dem Nordwesten, also aus dem zentralen Europa. 8 In detailgenauer Auseinandersetzung mit den Theorien seiner Vorgänger argumentierte er, dass es vor der Besiedelung aus Nordosteuropa bereits eine einheimische Bevölkerung gab, mit der sich die Einwanderer vermischten und dass diese einheimische Bevölkerung phönizischen und ägyptischen Ursprungs war. Marker lässt seine Gesprächspartner berichten, dass die Vorläufer der griechischen Mathematik in Mesopotamien, Babylon oder Ägypten zu finden sind, wo erstmals die bahnbrechende Einführung der Zahl Null belegt ist. Erst diese Leerstelle ermöglicht Stellenwertsysteme wie die Dezimalzahlen. Und eine solche Leerstelle, Afrika, den aus westeuropäischer Sicht »dunklen Kontinent«, rückt Marker ins Bild: Er folgt dem Erbe Griechenlands in Afrika, in Kap Verde, wo der Schriftsteller Baltasar Lopes da Silva die Bedeutung der von Sokrates praktizierten philosophischen Methode des 7 8 »[…] Und an dem Ufer steh ich lange Tage,/ Das Land der Griechen mit der Seele suchend;/Und gegen meine Seufzer bringt die Welle /Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.« J.W. Goethe, Iphigenie auf Tauris (1787). Martin Bernal, Black Athena. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. (Vol. 1 The Fabrication of Ancient Greece 1785-1985), London: Free Association Books 1987, Rutgers University Press 1987, dt. von Joachim Rehork: Schwarze Athene. Die afroasiatischen Wurzeln der griechischen Antike. Wie das klassische Griechenland »erfunden« wurde. München: List 1992. Nachdem der erste Band sich so schlecht verkauft hat, wurden der zweite (»The Archaeological and Documentary Evidence«, 1991) und dritte (»The Linguistic Evidence«, 2006) Band nicht ins Deutsche übersetzt. Siehe auch Markers Erwähnung des Buches in seinen Notizen im Archiv Chris Marker: Succession Chris Marker / Fonds Chris Marker – Collection de la Cinémathèque française, »NOTES. PAGE 2. 29-JUL-88« und »NOTES. PAGE 3. 29-JUL-88«, siehe die Faksimiles in diesem Band. 11 12 Werner Rappl, Helmut Färber und Thomas Tode heuristischen Dialogs für sein Wirken hervorhebt.9 So wie die Ursprünge der griechischen Kultur im Orient und in Afrika liegen, so verdankt der Westen die Überlieferung vieler antiker Texte bekanntlich deren arabischer Tradierung in der Islamischen Expansion ab dem 7. Jahrhundert, im Laufe derer sie durch die Übersetzerschule von Toledo ab dem 12. Jahrhundert nach der Reconquista wieder in Europa Verbreitung finden konnten. »Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein«, postulierte Aby Warburg.10 2. In einem, von Helmut Färber und Thomas Tode am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien abgehaltenen Seminar wurde die Filmreihe im Februar 2016 genau betrachtet, besprochen und analysiert. Thomas Tode lud mit folgenden Worten zur Veranstaltung ein: »Der Vogel der Minerva ist seit der Antike das Emblem der Weisheit und Wahrzeichen der Stadt Athen. Chris Markers 13-teilige Fernsehserie L‘Héritage de la Chouette (1989) spürt den Beziehungen der antiken griechischen Geistesgeschichte zum Heute nach. Es ist eine Expedition zu den Anfängen der Demokratie, zum neugierigen Forscher Herodot, dem Tragöden Euripides und dem Denker Platon, aber auch in die politische Geschichte des zeitgenössischen Griechenlands, in der das Militärregime der Obristen noch nicht vergessen ist. Der frühere Philosophiestudent Marker sucht aber vor allem nach jenem imaginären Griechenland, das in den Träumen schlummert und die Welt mit großartigen Ideen bereicherte. Jede der 26-minütigen Episoden widmet sich einem eigenen Sujet, einem Wort griechischer Herkunft. Die Fernsehserie eröffnet mit dem Thema des Gastmahls – griechisch ›Symposium‹ – und dokumentiert solche Gesprächsrunden in sämtlichen Episoden. Stets versammelt sich eine interdisziplinäre Runde von Philosophen, Althistorikern und Altphilologen um eine gedeckte Tafel: in Paris, Tiflis, Athen und Berkeley. Nach antiker Sitte gibt der erste Redner seiner Tischrunde das Diskussionsthema vor. So fordert etwa der renommierte Altphilologe Jean-Pierre Vernant auf, über das ›Vermächt9 Eben dieser etwas weiter entfernte Bezug wird Marker den Vorwurf des Produzenten eintragen, dadurch die Produktionskosten ungebührlich in die Höhe getrieben zu haben: »Gänzlich unverständlich bleibt, warum Herr Chris Marker beschloss, die Meinung einer unbekannten Person auf einer fernen, wenngleich sehr touristischen Insel einzuholen, anstatt diejenige weltweit anerkannter und geographisch weit näherliegender Personen der Politik.« Zum Rechtsstreit siehe den Text »Eulen vor Athen erretten. Das Tauziehen um das Erbe der Eule« in diesem Band. 10 Aby Warburg, »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten« (1920), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1,2, hg. v. Horst Bredekamp u.a., Berlin: Akademie 1998, S. 487–535, hier S. 534. Vorwort nis der griechischen Philosophie‹ zu sprechen, und entschlüsselt damit den Titel der Serie. ›Symposium‹ spielt auf den Titel von Platons Meisterdialog an. In ihm fand der für die antiken Griechen bezeichnende Antagonismus von Gedankenspiel und Sinnenfreude, von Abstraktion und Enthusiasmus, von geistiger Strenge und unbeschwerter Daseinslust exemplarischen Ausdruck. Das antike Griechenland ist nicht gerade ein ständig präsentes Sujet im Autorenfilm des 20. und 21. Jahrhunderts. Immerhin trägt die von Martin Scorsese selbst gegründete Produktionsfirma den griechischen Namen ›Sikelia‹, was ›Sizilien‹ bedeutet. Die Produktionsfirma von Alexander Kluge trägt den Namen ›Kairos-Film‹, Kairos, griechisch für ›der glückliche Augenblick‹, ist ein philosophisches Konzept für den günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung. Wir können auch an Jean-Luc Godards Le Mépris (FR 1963) denken, wo es um das Straucheln eines Drehbuchautors geht, der für einen amerikanischen Produzenten, dem er sich und seine Frau andient, an einer Verfilmung der Odyssee mitwirkt. Sie steht für ein hoch-künstlerisches Sujet, und nur kurz sehen wir den von Fritz Lang gespielten Filmregisseur bei Dreharbeiten zu extrem bunt ausgefallenen Bildern der Olympischen Götter. Unter den Autorenfilmern, die sich immer wieder mit dem antiken und dem heutigen Griechenland auseinandersetzten, muss unbedingt auch Jean-Daniel Pollet genannt werden, der mit Méditerranée (FR 1963), Bassae (FR 1964), Contretemps (FR 1988) und Trois Jours en Grèce (FR 1991) immer wieder zu seiner Obsession zurückkehrte. Aber kaum jemand hat sich so konsequent wie Chris Marker die Frage gestellt, welche bleibenden Dokumente das antike Griechenland für die Geschichte des literarischen, philosophischen und politischen Bewusstseins von ganz Europa geschaffen hat. Doch seine Leitfrage in der 13-teiligen TV-Serie L‘Héritage de la Chouette geht noch weiter: Was genau von den griechischen Texten, ihren Institutionen, ihrem Denken berührt noch unmittelbar die Gegenwart? Die Serie wurde niemals in Griechenland und auch nicht in Deutschland gesendet, da die auftraggebende Onassis Stiftung an einem Satz Anstoß genommen hat, den einer von Markers Interviewpartnern spricht: Der Kulturphilosoph George Steiner behauptete, dass das antike Griechenland nichts mit dem modernen Griechenland zu tun habe, dass das moderne Griechenland eine Farce, einen Witz darstelle. Die Stiftung verlangte daraufhin eine Entschuldigung. Marker bot ihnen Raum für eine Erwiderung, doch die Stiftung war damit nicht zufrieden. Sie hat daraufhin den Produzenten des Films, Jean-Pierre Ramsay Levi, gezwungen, vor dem Film einen entsprechenden Zwischentitel mit einer Äußerung der Stiftung zu platzieren. Der Regisseur Marker lehnte das ab, der Produzent aber entsprach diesem Wunsch, woraufhin es Differenzen und Ärger gab zwischen Marker und Ramsay. Nach zwanzig Jahren sind die Rechte an der Serie wieder an Marker zurückgefallen, der sie kostenlos der Allgemeinheit zur Verfügung stellen wollte. Sie ist auf 13 14 Werner Rappl, Helmut Färber und Thomas Tode Markers Internetseite www.gorgomancy.net platziert worden, die das Centre Georges Pompidou für Marker eingerichtet hat, wo sie seit 2012 zeitweise und seit 2013 ständig zugänglich ist. 11 Es ist höchst interessant, wenn Autorenfilmer wie Chris Marker (oder auch Alexander Kluge oder Jean-Luc Godard) sich der Institution ›Fernsehen‹ nähern und einen alternativen Gebrauch dieses Mediums mit einer ganzen Serie demonstrieren. Orson Welles hat das Wesen des Fernsehens wie folgt umschrieben: »Das Fernsehen ist der Feind der klassischen filmischen Werte, nicht aber des Films selber. Es ist ein wunderbares Verfahren [...], doch kein dramatisches, sondern ein narratives Verfahren; das Fernsehen ist sogar das ideale Ausdrucksmittel des Erzählers.«12 Markers Serie L‘Héritage de la Chouette nutzt zunächst die unmittelbare Erzählsituation von Gesprächsrunden, um das Fernsehen nicht bloß als Kino mit sehr kleiner Leinwand zu präsentieren, sondern um die Eigengesetzlichkeit, die spezifischen Möglichkeiten dieses Mediums zu erkunden. Als zweites Bildelement treten Einzelinterviews mit Griechenlandexperten hinzu, zuweilen so montiert, dass ein Experte auf die Äußerungen des anderen antwortet, oder ihnen widerspricht. Hier entsteht ein imaginärer, weil nur durch Montage hergestellter Dialog, in dem ein Interviewpartner das Staffelholz dem nächsten weiterreicht, ohne dass er ihm je begegnet ist. Es ist ein internationaler Dialog: auf Griechisch, Französisch, Englisch und Russisch. Nur zuweilen kommt noch ein drittes Montage-Element hinzu: Aufnahmen von antiken Statuen, Ausschnitte aus Wochenschauen oder Filmen (z.B. britische Soldaten und auch Heidegger auf der Akropolis, Kassiberfilme aus der Zeit des Militärregimes, Leni Riefenstahls Olympia-Film oder Elia Kazans Amerika, Amerika), die das Gesagte illustrieren oder ironisieren. Die Griechen zu Sokrates’ Zeiten trauten den Schriften nicht; für sie zählte allein die lebendige mündliche Rede, die sich erst in der Situation und an den intervenierenden Gesprächspartnern formt. Ganz in diesem Geist ist auch in L‘Héritage de la Chouette Sprache dominierend. In Platons Dialog Symposium sitzen Freunde zusammen und erörtern das Gespräch mit einem anderen Freund, in welchem dieser berichtete, was er von Mittelsmännern über ein berühmtes Gelage gehört hatte. Auf dem Gelage hatte Sokrates eine Rede vorgetragen, die wiederum von einem in seiner Jugend erfolgten Gespräch berichtet. Ein so gezieltes Jonglieren mit verschiedenen Berichtsebenen dient Platon wie Mar11 Ankündigung in: Trafic, Nr. 84 (hiver 2012), S. 15. 12 Interview mit Orson Welles in Cahiers du Cinéma, No. 84, Juni 1958: »Television is the enemy of classic cinematographic values, but not of cinema. It is a marvellous form, where the spectator is only a metre and half away from the screen, but it is not a dramatic form, it is a narrative form, so much so that television is the ideal means of expression for the storyteller.« https://cinephiliabeyond.org/touch-evil-orson-welles-grandiose-film-noir-took-four-decadesshine-intended-form/ (15.7.2019). Vorwort ker zur bewussten Distanzierung (die Wahrheit lässt sich nur in vielfach gebrochener Weise erfahren) und zum anderen – scheinbar paradox – zur Versicherung der Authentizität des Erzählten. In diesem Sinne ist L‘Héritage de la Chouette vor allem ein Stück über Polyphonie, die Polyphonie der Stimmen und Ansichten.« 3. In den Gesprächen zu Beginn des Seminars hat Helmut Färber von seinem Marker-Urerlebnis erzählt: In LETTRE DE SIBÉRIE (1957) sind drei zusammengehörige Einstellungen dreimal nacheinander zu sehen, und mit nacheinander drei ganz verschiedenen Kommentaren: der erste kommunistisch, stolz optimistisch; der zweite vernichtend antikommunistisch; der dritte sehr persönlich, auch poetisch, sodaß sich denken ließ, dies ist jetzt Chris Markers eigene Sicht – und war es auch, und eben darum ging dieser dritte Kommentar noch weiter, wurde selber wieder von Marker kommentiert: »Aber auch die Objektivität wird der Realität nicht gerecht. Sie deformiert nicht die sibirische Realität, aber sie sistiert sie für den Moment des Urteilens, und dadurch deformiert sie sie. Was zählt, ist der Elan und die Diversität.«13 Das ist für mich damals in den späten 1950er Jahren – auf der Filmwoche in Mannheim, den Kurzfilmtagen Oberhausen, oder bei einer Filmclubtagung – das Marker-Urerlebnis gewesen und darauf geht die Begeisterung für dieses ganze Werk zurück; diese drei Einstellungen, mit diesen drei verschiedenen Kommentaren: der erste – und das war damals in der 13 Siehe hierzu Abbildungen und Text in Chris Marker, Commentaires 1, Paris: Seuil 1961, S. 62-64 und Kommentare 1, Berlin: Brinkmann und Bose 2014, S. 56–58. Noch ein anderes Erlebnis ist im Gedächtnis von damals, das ist der Anfang von LES STATUES MEURENT AUSSI von Resnais/Marker 1953. Der Kommentar beginnt: »Wenn die Menschen gestorben sind, treten sie ein in die Geschichte. Wenn die Statuen gestorben sind, treten sie ein in die Kunst. Diese Botanik des Todes nennen wir Kultur.« Und dann: »Auch das Volk der Statuen ist sterblich. Eines Tages werden unsere Gesichter aus Stein auch selber zerfallen«, und zu sehen ein Antlitz aus Stein, löchrig geworden, und als der Kommentar neu ansetzt - »Ein Gegenstand ist tot, wenn der lebendige Blick, der auf ihm ruhte, verschwunden ist. Und wenn wir verschwunden sein werden, werden unsere Dinge dorthin gehen, wohin wir die der Neger schicken: ins Museum.« – folgt jetzt eine Aufnahme, die der große Kameramann Ghislain Cloquet zu einer sehr weit entfernten Zeit und in Paris 1953 in einer sehr fernen anderen Kultur gemacht hat, in einem Museum dort, und ausgestellt ist da ein kleiner Gegenstand, ein Stempelhalter voller Stempel, mit einer kleinen Schrifttafel dazu »Origine inconnue«, Herkunft unbekannt – Genie-Augenblick, durch ein Aufheben der Zeit die Tiefe der Zeit, die Zeit, wie sie ist, zu erfahren, zu bedenken zu geben (Chris Marker, Commentaires 1, Paris: Seuil 1961, S. 11, dt. Kommentare 1, Berlin: Brinkmann & Bose 2014, S. 9). Als bei einem Marker-Seminar vor einigen Jahren den Studenten solch ein Stempelhalter auf den Tisch gestellt wurde, war dieser Gegenstand ihnen unbekannt, fremd, und wozu er dienen oder gedient haben mochte, konnten sie sich nicht denken. 15 16 Werner Rappl, Helmut Färber und Thomas Tode West-Bundesrepublik die Adenauer Zeit, Zeit einer Angst vor der Weltmacht Sowjetunion und Zeit eines ständigen Drohens mit ihr – der erste Kommentar mit seinem offiziellen siegesgewissen Optimismus der ›Sowjets‹, die die ganze Welt an sich bringen wollen; der zweite mit seinem vernichtenden Urteil über das, was da zu sehen war, das war die richtige, die einzig richtige Sicht dieser sowjetischen Wirklichkeit; und dann kommt da von diesem Fallschirmspringer Marker aus dem Himmel eine völlig andere Sicht, und eine, die nicht abschließt, zusperrt, sondern öffnet, das war das Großartige daran. Dreimal diese drei Einstellungen und dazu diese drei Kommentare, und Marker seinen eigenen öffnenden selber noch einmal relativierend: das war nicht nur eine andere Sicht, das war ein anderes Sehen. Das war die Erfahrung: Nein, da gibt es noch etwas anderes, da gibt es noch mehr, die Welt ist offen und sie ist weit – das war das Großartige damals mit diesem Chris Marker, und das ist bis heute geblieben. 4. Im Frühjahr 2017 sichteten Werner Rappl und Thomas Tode die zahlreichen Kisten, in denen der Nachlass Chris Markers in der Cinémathèque française in Paris aufbewahrt wird. Neben zahlreichen digital bearbeiteten Bildern von Eulen fanden sich darin auch die Verträge und Schriftsätze des Rechtsstreits mit dem Produzenten, die in Auszügen im Text »Eulen vor Athen erretten. Der Kampf um das Erbe der Eule« in diesem Heft wiedergegeben werden, Korrespondenzen, genaue Auflistungen der zu kontaktierenden Personen und der zu beschaffenden Filme, Listen mit Längenangaben der Gesprächs- und Diskussionsbeiträge, die auch letztlich von Marker nicht in die Filme aufgenommene Gespräche mit dem albanischen Schriftsteller Ismail Kadare und dem britischen Archäologen Michael Vickers belegen, sowie zahlreiche Zitatsammlungen und ein Glossar griechischer Begriffe. Einige dieser Aufschluss über die vorbereitenden Materialsammlungen Markers enthaltenden Dokumente finden sich faksimiliert samt Übersetzung ebenfalls in diesem Heft. Im Sommer 2017 trafen Werner Rappl und Thomas Tode Catherine Belkhodja zu einem ausführlichen Gespräch in Belleville in Paris. Die Zeitangaben in den zusammenfassenden Beschreibungen der Filme (Catalogue raisonné der Episoden) beziehen sich auf die unter www.gorgomancy.net abrufbaren Versionen der Filmreihe. Dank an Raymond Bellour für die Unterstützung bei der Beschaffung von Dokumenten, Thierry Garrel für seine freundliche Ergänzung der Interviews, Margaretha Huber für die Mitwirkung am Wiener Seminar und die Durchsicht der Gesprächsnotizen, Oswyn Murray für seinen Beitrag, Catherine Belkhodja für das Gespräch und die Durchsicht der schriftlichen Version, Florian Schwarz für die Verschriftlichung Vorwort der Diskussionen beim Wiener Seminar, an dem auch Julia Eder, Antonia Perko und Kevin van Heck teilnahmen. Tom Waibel für seine Unterstützung bei der Erstellung der Biographien, Bernhard Calice für die Hilfe bei Übersetzungen, Stephanie Rappl für den Coverentwurf und die Unterstützung bei der graphischen Gestaltung, Klaas Dierks und den Mitgliedern des Forums der deutschen Wehrmacht für die Identifikation von in Leni Riefenstahls Olympia-Film gezeigten Personen, Florence Tissot für die von ihr gewährten Einblicke in das Archiv der Cinémathèque française, JeanMichel Frodon für seinen Beitrag, dem Verlag Actes Sud für die Überlassung der Rechte des Texts von Jacques Rancière, John Oakes von OR Books für die Erlaubnis des Abdrucks der Aufnahmen von Chris Markers Studio, den Erben Chris Markers, vertreten durch Mabel Nicolaÿ Duflo, Raymonde Bouche Morin und Jean Christian Faure für die Abdruckgenehmigung der Texte Chris Markers aus dem in der Cinémathèque française befindlichen Archiv und Klemens Gruber für seine Unterstützung und Begleitung des gesamten Vorhabens. Werner Rappl, Helmut Färber und Thomas Tode 17