Leitthema
Med Klin Intensivmed Notfmed
https://doi.org/10.1007/s00063-022-00915-7
Eingegangen: 13. Februar 2022
Angenommen: 2. März 2022
Angehörigenbetreuung auf
Intensivstationen
© Der/die Autor(en) 2022
Redaktion
Andreas Valentin, Wien
Übersicht und Update
Magdalena Hoffmann1,2,3 · Peter Nydahl4 · Maria Brauchle5 ·
Christine Schwarz2,3 · Karin Amrein1 · Marie-Madlen Jeitziner6,7,8
Klinische Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie, Universitätsklinik für Innere Medizin,
Medizinische Universität Graz, Graz, Österreich; 2 Research Unit for Safety and Sustainability in Health
Care c/o Klinische Abteilung für plastische, ästhetische und rekonstruktive Chirurgie, Universitätsklinik für
Chirurgie, Medizinische Universität Graz, Graz, Österreich; 3 Stabsstelle für Qualitäts- und
Risikomanagement, LKH-Universitätsklinikum Graz, Graz, Österreich; 4 Pflegewissenschaft und
-entwicklung, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel, Deutschland; 5 Abteilung für Anästhesie und
Intensivmedizin, Landeskrankenhaus Feldkirch, Feldkirch, Österreich; 6 Universitätsklinik für
Intensivmedizin, Universitätsspital Bern (Inselspital), Universität Bern, Bern, Schweiz;
7
Pflegewissenschaft – Nursing Science (INS), Universität Basel, Medizinische Fakultät, Basel, Schweiz;
8
Departement Public Health (DPH), Basel, Schweiz
1
Zusammenfassung
In diesem Beitrag
–
–
–
–
–
–
Zielsetzung
Ergebnisse
Herausforderung durch Besuchsrestriktionen aufgrund von COVID-19
Onlineangebote
Follow-up-Angebote
Limitationen
Schlussfolgerungen
Hintergrund: Angehörige von kritisch Kranken auf der Intensivstation („intensive
care unit“, ICU) sind in einer herausfordernden Situation: Sie befinden sich häufig
in einer existenziellen Krise mit einer großen emotionalen Belastung, gleichzeitig
sind sie oftmals aktiv in therapeutische Entscheidungen mit eingebunden. Die
Besuchsrestriktionen während der Pandemie aufgrund der Coronaviruserkrankung
2019 (COVID-19) haben viele Rahmenbedingungen für die Angehörigenbegleitung
geändert und so die Betreuung von Angehörigen schwieriger gemacht.
Ziel: Ziel der Publikation ist die Darstellung der aktuellen und neuen Entwicklungen
in der Angehörigenbegleitung von kritisch Kranken auf Intensivstationen im Rahmen
einer narrativen Übersichtsarbeit.
Ergebnisse: In den letzten Jahren wurden zahlreiche Maßnahmen und Projekte
zur Angehörigenbegleitung entwickelt, die sich den folgenden 6 Bereichen
zuordnen lassen: 1) Anwesenheit der Angehörigen, 2) proaktive Einbindung in die
Betreuung, 3) strukturierte Kommunikation und Information sowie Onlineangebote,
4) multidisziplinäre Zusammenarbeit, 5) Aufgaben der Organisationsleitung und
6) Follow-up-Angebote. Die Evidenz und der derzeitige Implementierungsstand der
Maßnahmen sind international und national sehr heterogen.
Schlussfolgerungen: Maßnahmen zur Angehörigenbetreuung sind vielfältig und
können zum Teil auch unter Besuchsrestriktionen umgesetzt werden. Neuere
Entwicklungen im digitalen Bereich ermöglichen zunehmend auch virtuelle Besuche
und einen ergänzenden Informationsaustausch zwischen dem Team der ICU und den
Angehörigen.
Schlüsselwörter
COVID-19 · Pandemien · Familie · Psychische Belastung · Kommunikation
QR-Code scannen & Beitrag online lesen
Die Angehörigenbegleitung auf der Intensivstation (Intensive Care Unit, ICU)
ist eine wichtige und gleichzeitig herausfordernde Aufgabe für die Mitarbeiter*innen. Dabei haben sich die Rolle
und die Einflussmöglichkeiten der Angehörigen in den letzten Jahren stetig
verändert. Neben der Ausweitung der
Besuchszeiten wurde auch die aktive
Beteiligung der Angehörigen beispielsweise in pflegerischen Bereichen Schritt
für Schritt vergrößert. Ebenso wird der
Follow-up-Betreuung eine immer größere Bedeutung zugeschrieben und es
Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
1
Leitthema
ANGST
DEPRESSIVE GEFÜHLE
FINANZIELLE SORGEN
VERLUST DER SOZIALEN
SICHERHEIT
ANGST, ALLEINE ZU BLEIBEN
FAMILIÄRE KONFLIKTE
ÜBERFORDERUNG
STARKE
GEFÜHLSSCHWANKUNGEN
Angehörige
HILFLOSIGKEIT
KOGNITIVE
BEEINTRÄCHTIGUNGEN
VORAUSEILENDE TRAUER
ÜBER- bzw.
UNTERREAKTION
SCHLAFSTÖRUNGEN
STRESS
findet sich dazu eine Vielzahl an unterschiedlichen Maßnahmen. Es folgt eine
Übersicht an Maßnahmen mit Fokus auf
digitale Möglichkeiten und Follow-upAngebote in der Angehörigenbegleitung.
Hintergrund
Zu den Angehörigen von Patient*innen
auf der ICU zählen die Menschen, zu denen die Patient*innen eine aus ihrer Sicht
bedeutsame Beziehung haben, wie Ehepartner*in, Kinder, Verwandte und enge
Freund*innen [6]. Die Aufnahme von Patient*innen auf die ICU stürzt viele Angehörige in eine Lebenskrise. In dieser erleben die Angehörigen eine hohe emotionale und physische Belastung. Die große
Angst, ob die*der Patient*in überhaupt
überlebt, wie die Prognose ist oder wie
das weitere gemeinsame Leben gestaltet
werden kann, löst bei den Angehörigen
große Unsicherheit aus. Angehörige leiden
dabei häufig unter Stress, depressiven Gefühlenund Schlafstörungen[2, 7,10,18, 21,
22]. Schmidt und Azoulay sowie Rushinova et al. berichten, dass rund 70–78 % der
Angehörigen von starker Angst betroffen
sind. Daneben zeigen 35–54 % der Angehörigen auch depressive Symptome [28,
29]. Mitunter können die Belastungen so
groß werden, dass es zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) kommt.
Während der Pandemie durch die Coronaviruserkrankung 2019 (COVID-19) nahm
die Belastung für die Angehörigen noch
2
Abb. 1 9 Die Belastung
der Angehörigen von kritisch Kranken. (Aus [16] mit
freundl. Genehmigung ©
M. Hoffmann, alle Rechte
vorbehalten)
zu. In einer Studie von Zante et al. (2021)
zeigten 90 % der Angehörigen Symptome
einer PTSD [34].
psychischen und physischen Situation der
Angehörigen hat damit auch immer eine
Auswirkung auf die kritisch Kranken.
»
» Angehörige sind Teil des
Rund 70–78 % der Angehörigen
sind von starker Angst betroffen
Speziell nach einem Aufenthalt auf der ICU
wird von einem „family intensive care unit
syndrome“ (FICUS; [26]) oder von der „postintensive care syndrome family“ (PICSF) gesprochen. Das PICS-F kann Monate
oder Jahre andauern und mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen, vorwiegend
mit psychischen Einschränkungen, die Lebensqualität und Lebenssituation nachteilig beeinflussen [3, 23]. In . Abb. 1 findet
sich eine Übersicht über häufige Belastungen, die Angehörige während und nach
dem ICU-Aufenthalt erleben.
Angehörige nehmen eine komplexe
und vielschichtige Rolle ein. Sie sind
mitbetroffen, vulnerabel und benötigen
Unterstützung. Zusätzlich sind sie Stellvertreter*innen der Patient*innen und
treten für deren Wünsche, Bedürfnisse
und Vorlieben ein. Weiters werden sie in
therapeutische, mitunter lebensentscheidende Entscheidungen eingebunden,
überdies als Cotherapeut*innen um Mithilfe gebeten, z. B. bei der Reorientierung
zur Delirprävention, Empowerment und
Rehabilitation. Angehörige gelten damit
als Teil des Behandlungs- und Betreuungsteams und sind für das Wohlbefinden und
die Nachsorge der kritisch Kranken essenziell [6]. Eine Verschlechterung der
Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
Betreuungsteams und für das
Wohlbefinden der kritisch Kranken
essenziell
Schlussendlich sind sie noch selbständige
Personen, die verantwortlich für Familie,
Kinder, Finanzen und weiteres sind. Diese
komplexe Rolle der Angehörigen wird in
. Abb. 2 verdeutlicht.
Die Anwesenheit und die Einbindung
von Angehörigen in die Betreuung ist für
Patient*innen extrem wichtig, weil die Angehörigen neben der emotionalen Begleitung wichtige Informationen zu Vorerkrankungen oder den individuellen Bedürfnissen der Patient*innen zur Verfügung stellen können [1]. Auch für die Angehörigen
selbst ist die Anwesenheit und die Mithilfe
auf der ICU wichtig [6, 20].
Zielsetzung
Das Ziel dieses Beitrags ist es, eine Übersicht über die aktuellen Entwicklungen
hinsichtlich der Angehörigenbegleitung,
unter besonderer Berücksichtigung von
COVID-19 und virtueller Angebote, darzustellen. Als grundlegende Orientierung
dient die Leitlinie der Society of Critical
Care Medicine (SCCM) zur familienorientierten Versorgung in der Intensivmedizin
[6]. Da die Leitlinie aufgrund der schnell zu-
Leitthema
Abb. 2 9 Komplexe Rolle
der Angehörigen
nehmenden Forschungserkenntnisse zurzeit überarbeitet wird und die Pandemie
viele Rahmenbedingungen wesentlich beeinflusst hat, werden hier die aktuellen
Entwicklungen und Empfehlungen als narratives Review dargestellt.
Ergebnisse
Die in Folge dargestellten Maßnahmen
sind eine Zusammenfassung der übersetzten Leitlinien von Davidson et al. (2017; [6]).
Die Autor*innen haben diese Liste um weitere Maßnahmen (unter anderem bezogen
auf COVID-19 sowie virtuelle Angebote) ergänzt [17] und aktualisiert. Die wesentlichen Entwicklungen und Maßnahmen lassen sich 6 Bereichen zuordnen:
1. Anwesenheit der Angehörigen:
offene oder flexible Besuchszeiten,
Präsenz bei Visiten und Interventionen
und Offenheit für die Besuche von
Angehörigen unter 18 Jahren;
2. Einbindung in die Betreuung:
routinemäßige Angehörigenedukation
(z. B. Selbstmanagement, Selbstfürsorge), multidisziplinäres Führen von ICUTagebüchern und deren routinemäßiger Einsatz;
3. Kommunikation, Information sowie
Onlineangebote:
Informationsmaterialien (papierbasiert, online) für medizinische Laien mit
Inhalten rund um die ICU, Kommunikationspläne sowie Standard Operating
Procedures (SOP) bei Besuchseinschränkungen durch z. B. COVID-19
oder bei großen Entfernungen;
4. Multidisziplinäre Zusammenarbeit:
Zusammenarbeit von Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen und
Rehabilitationsspezialist*innen usw.
im interdisziplinären Team
5. Aufgaben der Organisationsleitung:
Implementierung von Qualitäts- und
Risikomanagementmaßnahmen im
Hinblick auf Angehörigenbegleitung,
Förderung von (wissenschaftlichen)
Projekten hinsichtlich der Einbindung
von Angehörigen oder der neuen
Rollen wie die von Familienpflegenden
(Family Health Nurses);
6. Follow-up-Betreuung:
ambulante Sprechstunden und Telefonate (multidisziplinär) nach einem
Aufenthalt auf der ICU.
In . Tab. 1 findet sich eine Zusammenfassung der einzelnen Maßnahmen zur
Angehörigenbegleitung dargestellt in den
sechs Bereichen.
Herausforderung durch
Besuchsrestriktionen aufgrund
von COVID-19
Bei der COVID-19-Pandemie kam es gerade
zu Beginn zu massiven Besuchseinschränkungen oder gar Besuchsverboten. Oftmals durften selbst Sterbende nicht mehr
besucht werden. Boulton et al. (2021) berichtet, dass in dieser Zeit rund 22 % der ICU
keine Besuche gestatteten und rund 53 %
nur am Ende des Lebens [5]. Viele bereits
implementierte Maßnahmen in der Angehörigenbetreuung wurden unterbrochen
oder adaptiert. So mussten die gesamte
Beziehungsarbeit und Informationsweitergabe mit und an die Angehörigen über
veränderte Kanäle und Konzepte erfolgen.
Das stellte auch für die Gesundheitsfachpersonen eine sehr hohe Belastung dar
[19].
» Oftmals durften selbst Sterbende
nicht mehr besucht werden
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung
für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat
bezüglich der Besuchsregelung von Angehörigen während Pandemien ein Positionspapier verfasst [32]. Ziel dabei ist es,
täglich alle stationären Patient*innen zu
evaluieren und abzuschätzen, ob ein Besuch zu mehr Vor- als Nachteile führen
Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
3
Leitthema
Tab. 1 Auswahl an möglichen Maßnahmen zur Angehörigenbegleitung [17]
Maßnahme
Beschreibung
1. Anwesenheit
Offene oder flexible Besuchszeiten
der Angehörigen
Professionelle Begleitung von Angehörigen unter 18 Jahren angepasst an die individuelle Entwicklung
Nach Möglichkeit und auf Wunsch Teilnahme der Angehörige an interdisziplinären Teamrunden und Visiten
Nach Möglichkeit und auf Wunsch Anwesenheit bei Wiederbelebungsmaßnahmen
Auf Wunsch sollten Patient*innen mit ihren Angehörigen die ICU z. B. vor oder nach einem großen Eingriff vor Ort oder virtuell
besuchen dürfen
2. Proaktive EinAngehörigen wird das Angebot gemacht zu lernen, wie sie bei der Pflege oder Therapie helfen können
bindung der AnAngehörigenedukation erfolgt routinemäßig (z. B. Selbstmanagement, Selbstfürsorge)
gehörigen
Eine Peer-to-Peer-Unterstützung wird implementiert (Erwachsene und Kinder)
ICU-Tagebücher werden multidisziplinär geführt und routinemäßig eingesetzt
Das Einbringen von persönlichen Gegenständen, wie Bildern, Duft, Musik etc., wird auf Wunsch ermöglicht
Instrumente und Methoden (z. B. ethische Beratung) zur Entscheidungsunterstützung für Angehörige sind vorhanden
3. Strukturierte
Routinemäßige interdisziplinäre Angehörigenkonferenzen werden genutzt
Kommunikation
Informationsmaterialien für medizinische Laien mit Inhalten rund um die ICU werden zur Verfügung gestellt
und Information
Es wird eine Onlineunterstützung/-information für medizinische Laien angeboten
sowie OnlineangeMitarbeiter*innen erhalten angehörigenzentrierte Kommunikationstrainings (Kommunikation in Krisen)
bote
Es gibt Kommunikationspläne und SOP bei Besuchseinschränkungen durch z. B. COVID-19 oder bei großen geographischen
Entfernungen
Bei fremdsprachigen Angehörigen werden Übersetzer*innen hinzugezogen
Besonders bei Patient*innen, die eine schlechte Prognose haben, wird ein evidenzbasierter Kommunikationsansatz (Art der
Kommunikation) angewendet, um die Kommunikation zwischen ICU-Team und Angehörigen zu erleichtern
Maßnahmen in der Trauerbegleitung, wie Care-Teams und Nachbesprechungen, werden angeboten
4. MultidiszipliProaktive Palliativberatungskonsultationen werden durchgeführt
näre ZusammenEthikkonsultationen werden bei terminal Kranken durchgeführt
arbeit
Anwesenheit von Psycholog*innen bei Bedarf wird forciert
Sozialarbeiter*innen werden in das interdisziplinäre Team aufgenommen, um z. B. an Angehörigentreffen teilzunehmen
Angehörigennavigator*innen (z. B. Bezugspflege, Familienpflege oder Kommunikationsvermittler*innen) werden Familien
während des gesamten ICU-Aufenthalts zugewiesen
Familien soll spirituelle Unterstützung angeboten werden
Rehabilitationsspezialist*innen der unterschiedlichen Berufsgruppen werden eingebunden oder vermittelt
5. Aufgaben der
Krankenhäuser implementieren Richtlinien zur Förderung der angehörigenorientierten Betreuung und Pflege auf der ICU, um
Organisationsleidie Zufriedenheit und die ICU-Erfahrung zu verbessern
tung
Implementation von Protokollen und SOP, die eine angemessene und standardisierte Verwendung von Sedierung und Analgesie während der letzten Lebensphase sicherstellen
Es werden vom Krankenhausmanagement notwendige Kommunikationstools, wie z. B. Smartphones oder Tablets, zur Verfügung gestellt
Pflegepersonen werden in die Entscheidungsfindung über die Ziele der Betreuung/Pflege einbezogen und werden geschult
Die Lärmbelastung soll reduziert werden; ruhige/private Räume für Angehörige sollen zur Verfügung gestellt werden
Es sollen Aufenthaltsbereiche mit der Möglichkeit einer Verpflegung und Schlafmöglichkeiten für Angehörige zur Verfügung
gestellt werden
Implementierung von Qualitäts- und Risikomanagementmaßnahmen hinsichtlich der Angehörigenbegleitung
Förderung von (wissenschaftlichen) Projekten hinsichtlich der Unterstützung und Einbindung von Angehörigen
Unterstützung von neuen Rollen in den verschiedenen Berufsgruppen wie z. B. Familienpflegende (Family Health Nurse) oder
die Gemeindeschwester (Community Nurse)
6. Follow-upMultidisziplinäre Follow-up-Angebote, wie Sprechstunden, Telefonate, nach einem Aufenthalt auf der ICU, Follow-up-Kliniken
Angebote
für Patient*innen und Angehörige sowie Peer-Support werden strukturiert implementiert
COVID-19 Coronaviruserkrankung 2019, ICU Intensivstation, SOP Standard Operating Procedure
4
Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
Leitthema
Abb. 3 8 Einstieg in die Webseite www.intensivstation.jetzt. (Mit freundl. Genehmigung © M. Hoffmann, alle Rechte vorbehalten)
könnte. Dabei müssen Patient*innen und
Angehörigen in diesen Prozess miteingebunden werden und darüber informiert
werden, welche Risiken im individuellen
Fall existieren.
Onlineangebote
Verständliche Informationen zu erhalten,
ist ein wichtiges Grundbedürfnis der Angehörigen [13]. Laut Fergé et al. (2018)
berichten rund 80 % der Angehörigen von
kritisch Kranken über ein Wissensdefizit
[10]. Dies ist vor dem Hintergrund der Komplexität der Erkrankung und Behandlung,
der fehlenden Zeitressourcen der Mitarbeiter*innen [28], der Besuchseinschränkungen und der individuell ausgeprägten Gesundheitskompetenz verbunden mit einer
großen Unsicherheit hinsichtlich mancher
Prognosen auch nicht verwunderlich.
» Rund 80 % der Angehörigen von
kritisch Kranken berichten über ein
Wissensdefizit
Etwa die Hälfte der Angehörigen von kritisch Kranken sucht nach Informationen
im Internet [4, 12]. Dabei stoßen sie zumeist auf Informationen, die für medizinische Laien nicht geeignet sind, weil die
Informationen z. B. in medizinischer Fachsprache oder auf Englisch verfasst wurden.
Oftmals stammen die Informationen auch
aus Foren, in denen andere medizinische
Laien versuchen, Fragen zu beantworten
oder Sachverhalte zu erklären. Zusätzlich
gibt es auch Informationen seitens der
Industrie, die möglicherweise durch Interessenskonflikte beeinflusst sind. Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung, also die Fähigkeit der Menschen, relevante
Gesundheitsinformationen zu finden, zu
verstehen, zu beurteilen und anzuwenden,
ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt [12, 31] und daher besteht auch die
Gefahr, dass Informationen missverstanden werden.
Das im Jahr 2016 initiierte ICU-FamiliesProjekt hat sich zum Ziel gesetzt, kritisch
Kranke und ihre Angehörigen im Raum
Deutschland, Österreich, Schweiz (DACH)
zu informieren und zu unterstützen. Dazu wurde zuerst der Informationsbedarf
der Angehörigen erhoben. Hoffmann et al.
(2018) berichtet dabei von divergierenden
Ergebnissen zwischen den tatsächlichen
Bedürfnissen der Angehörigen und den
vermuteten der Expert*innen. Die in Folge
entwickelte Webseite mit Informationen
rund um die ICU wurde dann im Rahmen
einer randomisierten kontrollierten Studie
untersucht. Die Ergebnisse werden derzeit
für eine Publikation vorbereitet.
» Das ICU-Families-Projekt
informiert und unterstützt kritisch
Kranke und ihre Angehörigen
Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurde die Webseite vorzeitig überarbeitet
und steht nun seit dem Frühjahr 2021
unter www.intensivstation.jetzt für Angehörige, Patient*innen und interessierte
Expert*innen zur Verfügung. Die Webseite
wird ehrenamtlich von einem internationalen und multidisziplinären Team aus
dem DACH-Raum betreut und kann mit
wenigen einfachen Schritten auf jeder
ICU implementiert werden. Eine Anleitung dazu findet sich direkt auf der
Webseite (https://www.intensivstation.
jetzt/expertinnen/, siehe dazu . Abb. 3
und 4).
Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
5
Leitthema
Abb. 4 8 Bereich für die Angehörigen auf www.intensivstation.jetzt. (Mit freundl. Genehmigung © M. Hoffmann, alle Rechte
vorbehalten)
Im weiteren Projektverlauf werden auf
der Webseite laufend neue und relevante
Informationen rund um die ICU ergänzt,
sodass allgemeine Themen, Abläufe und
Herausforderungen rund um die ICU für
medizinische Laien gut und einfach erklärt
sind. Die Webseite soll die Kommunikation
mit den Mitarbeiter*innen der ICU ergänzen und steht 24 h zur Verfügung.
Follow-up-Angebote
Follow-up-Angebote sind mono- oder
multiprofessionelle Maßnahmen für Patient*innen und ihre Angehörigen. Diese
Angebote kommen nach einer kritischen
Erkrankung und deren Therapie auf der
ICU zur Anwendung und leisten einen
Beitrag zur physischen und psychischen
Genesung der Menschen. Im angloamerikanischen Raum sowie in Skandinavien
sind Angebote wie Follow-up-Sprechstunden, Telefonate nach einem Aufenthalt
auf der ICU, Follow-up-Kliniken für Patient*innenund Angehörige, Peer-Support
und Intensivtagebücher bereits häufiger
implementiert. Über die Wirksamkeit dieser Angebote ist bisher jedoch noch wenig
bekannt [30]. Zudem werden die bereits
genannten Unterstützungsangebote im
deutschsprachigen Raum noch sehr selten
umgesetzt. Belastungsstörungen bleiben
6
so weitgehend unerkannt/unbehandelt
und können sich nicht nur gravierend auf
das Leben der Betroffenen, sondern auch
auf die Gesellschaft auswirken.
»
Follow-up-Angebote leisten
einen Beitrag zur physischen und
psychischen Genesung
Besuche im Krankenhaus, Folgebesuche
auf der ICUoder Telefonatesind weitereunterstützende Angebote für Patient*innen
und Angehörige [30] nach dem ICU-Aufenthalt. Bei diesen Angeboten werden beispielsweise alle ehemals kranken Personen, die über eine bestimmte Anzahl von
Tagen auf der ICU waren oder unter einer
bestimmten Erkrankung litten, mit ihren
Angehörigen zu einem Gespräch eingeladen. Im multidisziplinär geführten Gespräch werden aktuelle medizinische oder
therapeutische Fragen geklärt und Fragen
zum ICU-Aufenthalt beantwortet. Das können
– die Herausforderungen mit der fehlenden körperlichen Kraft,
– die nächsten wichtigen Schritte wie
medizinische oder therapeutische
Konsultationen oder
– die Besprechung von psychischen
Symptomen
Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
sein. Hier stehen die Erlebnisse, Erinnerungen und Träume der Kranken während des
Intensivaufenthalts im Mittelpunkt. Dabei
findet zudem ein erster Vergleich der Erinnerungen mit den tatsächlichen Gegebenheiten statt. In dieses Gespräch werden häufig validierte Assessmentinstrumente eingebaut, so z. B. die Erfassung
der aktuellen Lebensqualität. Anzeichen
von psychischen Belastungen, wie Flashbacks, PTSD und Schlafstörungen, können
so ermittelt werden. Diese Gespräche und
Besuche haben zum Ziel, die Betroffenen in
der Verarbeitung der erlebten Vergangenheit zu unterstützen. Die Besprechung von
zukünftigen Zielen und Maßnahmen, die
helfen können, den Gesundheitszustand
zu verbessern, ergänzen die Angebote.
» In Peer-Support-Gruppen
unterstützen sich Betroffene
gegenseitig
Ehemalige Patient*innen, Angehörige und
die Fachliteratur weisen immer häufiger
auf den Nutzen von Peer-Groups hin [15].
So berichten Mikkelsen et al. (2016), wie
sich Betroffene in Peer-Support-Gruppen
(Selbsthilfegruppen) gegenseitig unterstützt haben [25]. Das Behandlungsteam
der ICU organisierte die Treffen für ehemalige Patient*innen und deren Angehörige,
» Das Intensivtagebuch findet im
deutschsprachigen Raum immer
mehr Verbreitung
Das Intensivtagebuch findet im deutschsprachigen Raum immer mehr Verbreitung (siehe www.intensivtagebuch.de). Es
dient dazu, Erinnerungslücken zu füllen,
die Patient*innen im Zusammenhang mit
dem Aufenthalt auf der ICU haben. Erlebnisse werden verständlicher und ergeben
einen Sinn [9], lassen sich bewältigen und
verarbeiten. Pflegefachpersonal und das
multiprofessionelle Team, beispielsweise
Ärzt*innen oder Physiotherapeut*innen,
schreiben die Einträge. In der Praxis übernehmen insbesondere die Pflegefachpersonen das Führen der Tagebücher. Bisherige Studien diskutieren den Nutzen von
Tagebüchern kontrovers [11, 33], jedoch
wird das Tagebuch von Patient*innen, Angehörigen und Fachpersonen als sehr hilfreich erlebt [8, 24].
Die Empfehlungen der SCCM zur familienorientierten Versorgung auf der ICU bieten eine gute Übersicht zu den bereits angeführten Maßnahmen. Wichtige Ergänzungen sind Onlineangebote, die einfach
zu implementieren sind. Neben Informationen über Websites, Follow-up-Angebote und Intensivtagebücher gibt es erste
Ideen für eine kognitive Verhaltenstherapie per Smartphone (z. B. Apps) zur Vermeidung einer PTSD [27] oder digitale ICUTagebücher [14]. Das sind erfolgversprechende Ideen, die die individuelle Belastung der Angehörigen sowie möglicherweise den Einsatz von Psychopharmaka zur
Bekämpfung von Symptomen einer PTSD
vermindern könnten.
Die Umsetzung der einzelnen Angebote für Angehörige muss in enger Abstimmung zwischen dem Management der Organisation und den Mitarbeiter*innen so-
wie gegebenenfalls unter Begleitung von
internen oder externen Expert*innen erfolgen. Es gilt, die Maßnahmen immer wieder
zu evaluieren und gezielt an die Bedürfnisse der Angehörigen nach Evaluierung
anzupassen.
»
Einfach zu implementierende
Onlineangebote sind wichtige
Ergänzungen
Anzumerken ist, dass sich die Finanzierung
der Gesundheitssysteme in den einzelnen
Ländern stark unterscheidet. Das heißt mitunter auch, dass Maßnahmen und Angebote wie z. B. Follow-up Angebote nicht
durch die Gesundheitseinrichtungen – an
denen die ICU angesiedelt sind – verrechnet werden können. Das stellt eine reelle
Hürde bei der Finanzierung solcher Angebote dar.
Limitationen
Herausforderungen der Angehörigen und
kritisch Kranken durch Entscheidungsträger*innen sowie der Bereitstellung von
Ressourcen, damit präventive Maßnahmen und Konzepte implementiert werden
können. Die professionelle Begleitung der
Angehörigen ist nicht nur ethisches Gebot,
sondern auch ein Beweis der Professionalität der Mitarbeiter*innen und des
Gesundheitssystems.
Fazit für die Praxis
4
4
4
Bei den hier dargestellten Maßnahmen
und Projekten handelt es sich um eine
von den Autor*innen ausgewählte Übersicht, die laufend ergänzt wird. Daher kann
diese Übersicht nicht als umfassend oder
abschließend betrachtet werden. Zusätzlich ist anzumerken, dass die hier angeführten Maßnahmen keiner individuellen
Betrachtung hinsichtlich ihrer Evidenz bezüglich einer Wirksamkeit auf bestimmte
Parameter wie z. B. Angehörigenzufriedenheit oder Reduktion von Stresssymptomen
unterzogen wurden.
4
Angehörige von kritisch Kranken befinden
sich in einer komplexen Rolle und bedürfen der Fürsorge, Begleitung und Edukation.
Frühzeitig angewendete Maßnahmen in
der Angehörigenbegleitung können möglicherweise eine Verschlechterung der
Lebensqualität der Angehörigen verhindern, sodass diese später besser in der
Lage sind, sich um sich selbst und um die
kritisch Kranken nach Entlassung aus der
Intensivstation zu kümmern.
Es bedarf einer gemeinsamen Entscheidung der Mitarbeiter*innen und des Managements, welche Maßnahmen für Angehörige auf der Intensivstation umgesetzt werden können.
Die Umsetzung der geplanten Maßnahmen sollte, unter entsprechender Bereitstellung der notwendigen Ressourcen,
regelmäßig evaluiert werden.
Korrespondenzadresse
Schlussfolgerungen
Angehörige befinden sich in einer komplexen Rolle: Sie sind Angehörige und gleichzeitig Teil des Behandlungsteams. Zusätzlich zeigt die COVID-19-Pandemie, die häufig eine Reduktion der Personalkapazitäten
sowie Besuchseinschränkungen mit sich
bringt, wie wichtig ergänzende Maßnahmen sind, um die betroffenen Angehörigen und die kritisch Kranken während und
nach dem ICU-Aufenthalt zu unterstützen.
Die Umsetzung der genannten Angebote
darf dabei nicht nur von der Motivation
und Kraft einzelner Mitarbeiter*innen abhängig sein.
Vielmehr bedarf es hier eines Anerkennens dieser Bedürfnisse und der
Mag. Dr. Magdalena Hoffmann, MSc, MBA
Klinische Abteilung für Endokrinologie und
Diabetologie, Universitätsklinik für Innere
Medizin, Medizinische Universität Graz
Auenbruggerplatz 15, 8036 Graz, Österreich
magdalena.hoffmann@medunigraz.at
Danksagung. Die Autor*innen bedanken sich beim
ICU-Families-Team für deren ehrenamtliche Tätigkeit
sowie bei den Kolleg*innen der Praxis und bei der
Österreichischen Gesellschaft für Internistische und
Allgemeine Intensivmedizin und Notfallmedizin
Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
7
Leitthema
damit diese sich austauschen konnten.
Gespräche über den Aufenthalt auf der
ICU, den Genesungsverlauf und aktuelle Probleme konnten dabei Hoffnung
und Zuversicht vermitteln. Die Teilnehmenden erhielten Informationen oder
erlernten Möglichkeiten, wie sie die Gesundheit und das Wohlbefinden fördern,
das Selbstmanagement unterstützen und
die psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) stärken können [15].
Abstract
(ÖGIAIN) für die Unterstützung des ICU-FamiliesProjekts.
Funding. Open access funding provided by Medical
University of Graz.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. M. Hoffmann, P. Nydahl,
M. Brauchle, C. Schwarz, K. Amrein und M.-M. Jeitziner
geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Das zuvor beschriebene ICU-Families-Projekt wird
ehrenamtlich von den Autor*innen dieses Artikels
betreut.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine
Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt.
Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort
angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative
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Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der
Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/
licenses/by/4.0/deed.de.
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1177/17511437211007779
8
Ways of supporting relatives in intensive care units. Overview and
update
Background: Relatives of patients in the intensive care unit (ICU) face a challenging
situation: they often experience an existential crisis with great emotional stress and at
the same time they are often actively involved in therapeutic decisions. The visiting
restrictions of the coronavirus disease 2019 (COVID-19) pandemic have created new
challenges in providing support to relatives.
Objectives: The aim of this work is to present current and new developments in
supporting relatives of critically ill patients in the form of a narrative review.
Results: In recent years, numerous new approaches and projects to support
relatives have been developed. They can be assigned to the following six areas:
1) presence of relatives in the ICU, 2) proactive involvement in care, 3) structured
communication/information and online offers, 4) multidisciplinary cooperation,
5) organizational management and 6) follow-up offers. The evidence and the current
implementation status of these measures are very heterogeneous internationally and
nationally.
Conclusions: Measures for providing support for ICU relatives are diverse. Some can
even be implemented despite visit bans. Recent digital developments enable virtual
visits and a better exchange of information between the ICU team and relatives.
Keywords
COVID-19 · Pandemics · Family · Psychological stress · Communication
6. Davidson JE, Aslakson RA, Long AC et al (2017)
Guidelinesforfamily-centeredcareintheneonatal,
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