24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus
Von Jonathan Crary
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Über dieses E-Book
Zwängen des Kapitalismus. Noch vor hundert Jahren verbrachten die Menschen regelmäßig zehn Stunden schlafend. Der heute allgegenwärtige Schlafmangel ist Symptom eines beschleunigten Lebens, bei dem die persönlichen Gedanken und Gefühle an den Rand gedrängt werden. Ab ins Bett, schließt die Augen, fordert uns der Autor daher auf, damit wir uns in den Gefilden der Pause und der vermeintlichen Leere zumindest zwischendurch befreit fühlen können. Denn es ist die leere Zeit, die besonders kostbar ist.
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Buchvorschau
24/7 - Jonathan Crary
Aus dem Englischen von Thomas Laugstien
Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep bei Verso in London.
E-Book-Ausgabe 2021
© 2013 Jonathan Crary
© 2014, 2021 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Peter Marlow / Magnum Photos / Agentur Focus. Reihenkonzept von Rainer Groothuis. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 9783803141651
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2835 5
www.wagenbach.de
Für Suzanne
Sonst machen wir ein Schreckgespenst aus dem Tag, Wirrwarr und Durcheinander aus unserer Welt
W. H. Auden
Erstes Kapitel
Wer an der nordamerikanischen Westküste lebt, weiß, dass jedes Jahr Hunderte von Vogelarten diesen Kontinentalsockel hinauf- und hinunterziehen. Eine von ihnen ist die Dachsammer. Dieser Sperlingsvogel fliegt im Herbst von Alaska ins nördliche Mexiko und kehrt im Frühjahr zurück. Anders als andere Vögel besitzt er die ungewöhnliche Fähigkeit, auf seinen Wanderungen sieben Tage lang wach bleiben zu können. Bei diesem jahreszeitlichen Verhaltensmuster kann er nachts fliegen und tagsüber Nahrung suchen, ohne ausruhen zu müssen. Das amerikanische Verteidigungsministerium hat in den letzten fünf Jahren große Summen in die Untersuchung dieser Vögel gesteckt. Mit Regierungsgeldern geförderte Wissenschaftler erforschten an verschiedenen Universitäten, vor allem in Madison/Wisconsin, ihre Gehirnaktivität während dieser langen Perioden der Schlaflosigkeit, um daraus auf Menschen übertragbare Erkenntnisse zu gewinnen. Man will herausfinden, wie Menschen ohne Schlaf auskommen und gleichzeitig effizient funktionieren können. Das Ziel ist zunächst ganz einfach der schlaflose Soldat, und das Dachsammerprojekt ist nur ein kleiner Teil der breiteren militärischen Anstrengung, zu einer zumindest begrenzten Herrschaft über den Schlaf zu gelangen. Im Auftrag der Forschungsbehörde des Pentagon (DARPA¹) erproben Wissenschaftler an verschiedenen Instituten Techniken zur Schlafüberwindung, unter anderem durch Neurotransmitter, Gentherapie oder transkranielle Magnetstimulation. Kurzfristig geht es um die Entwicklung von Methoden, durch die ein Kombattant mindestens sieben Tage lang wach bleiben kann, langfristig vermutlich darum, diesen Zeitrahmen wenigstens zu verdoppeln und dabei ein hohes Maß an mentaler und körperlicher Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Die vorhandenen Methoden zur Schlafbekämpfung hatten immer kognitive und psychische Ausfallerscheinungen zur Folge (zum Beispiel verminderte Wachsamkeit). Das zeigt sich sowohl beim weitverbreiteten Einsatz von Amphetaminen in den meisten Kriegen des 20. Jahrhunderts als auch in jüngerer Zeit bei Medikamenten wie Modafinil. Das Ziel der Forschung besteht somit nicht darin, Methoden zum Wachhalten zu finden, sondern das körperliche Bedürfnis nach Schlaf zu verringern.
Seit über zwei Jahrzehnten ist die militärische Planungsstrategie der USA darauf ausgerichtet, das lebendige Individuum aus vielen Teilen der Befehls-, Steuerungs- und Durchführungsabläufe hinaus zu verlagern. Milliarden fließen in die Entwicklung automatischer oder ferngelenkter Zielsuch- und Tötungssysteme, was in Pakistan, Afghanistan und anderswo bestürzend deutlich sichtbar wurde. Trotz der überspannten Forderungen nach neuen Waffengenerationen und der ständigen Hinweise von Militäranalysten auf den Faktor Mensch als »Engstelle« moderner Systemabläufe dürfte aber in absehbarer Zukunft die Bedeutung großer menschlicher Armeen nicht geringer werden. Die Schlaflosigkeitsforschung lässt sich als Teil eines Versuchs begreifen, die körperlichen Fähigkeiten von Soldaten an die Funktionalität nichtmenschlicher Apparate und Netzwerke anzunähern. Der wissenschaftlich-militärische Komplex unternimmt gewaltige Anstrengungen, eine Form computergestützter Wahrnehmung (»augmented cognition«) zu entwickeln, die viele Arten der Mensch-Maschine-Interaktion verbessern soll. Gleichzeitig fördert das Militär andere Bereiche der Hirnforschung, unter anderem die Erfindung einer Droge zur Angstbekämpfung. Es wird Situationen geben, in denen zum Beispiel raketenbestückte Kampfdrohnen nicht einsetzbar sind, sodass man Todesschwadronen von schlafresistenten und angstunempfindlichen Kommandoeinheiten für zeitlich unbefristete Aufträge braucht. Als Teil dieser Bemühungen wurden Dachsammern aus den jahreszeitlichen Rhythmen des pazifischen Küstenmilieus herausgeholt, um zu erkunden, wie ein solches maschinelles Ausdauer- und Effizienzmodell auf den menschlichen Körper übertragen werden kann. Die Geschichte hat gezeigt, dass militärische Innovationen über kurz oder lang auch Aufnahme in allgemeinere soziale Lebensbereiche finden. Der schlaflose Soldat könnte so der Vorläufer des schlaflosen Arbeiters oder Verbrauchers sein. Anti-Schlaf-Pillen, aggressiv vermarktet von Pharmaunternehmen, könnten zunächst zu einer Lifestyle-Option und schließlich für viele zu einer Notwendigkeit werden.
Durchgehende Öffnungszeiten und die Möglichkeit, rund um die Uhr zu arbeiten oder einzukaufen, wurden schon längst eingeführt. Nun aber wird ein Mensch geschaffen, der auf diese Verhältnisse besser eingestellt ist.
Ende der neunziger Jahre kündigte ein russisch-europäisches Raumfahrtkonsortium den Bau und die Stationierung von Satelliten an, die Sonnenlicht auf die Erde reflektieren. Eine Kette von Satelliten mit ausgefalteten Parabolspiegeln aus papierdünnem Material sollte in 1 700 Kilometern Höhe in Umlaufbahnen gebracht und mit dem Sonnenstand synchronisiert werden. Bei einem Durchmesser von 200 Metern sollte jeder dieser Spiegelsatelliten ein Gebiet von zehn Quadratmeilen auf der Erdoberfläche mit der fast hundertfachen Helligkeit des Mondes beleuchten. Das Projekt war ursprünglich mit der Absicht entstanden, eine Beleuchtung für die industrielle Nutzbarmachung und extraktive Ausbeutung entlegener Gebiete in Sibirien und im nordwestlichen Russland zu schaffen, wo es lange Polarnächte gibt. Das sollte Außenarbeiten rund um die Uhr ermöglichen. Das Unternehmen erweiterte dann seine Pläne auf eine Nachtbeleuchtung für ganze Stadtregionen. Mit dem Argument der Einsparung von Stromkosten wurde dafür mit dem Slogan »Tageslicht die ganze Nacht« geworben. Sofort regte sich Widerstand von allen Seiten. Astronomen äußerten Bestürzung über die Konsequenzen für die Erkundung des Weltraums durch Bodenobservatorien. Wissenschaftler und Umweltaktivisten prophezeiten physiologische Schäden bei Mensch und Tier, weil das Fehlen regelmäßiger Tag-und-Nacht-Rhythmen verschiedene Stoffwechselvorgänge beeinträchtigen würde, unter anderem den Schlaf. Es gab auch Proteste von kulturellen und humanitären Gruppen, die den Nachthimmel zum menschlichen Gemeingut erklärten. Das Dunkel der Nacht zu erleben und die Sterne zu betrachten, sei ein grundlegendes Menschenrecht, das kein Unternehmen einfach kassieren könne. Falls dies tatsächlich ein Recht oder Privileg sein sollte, ist es für mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung schon längst außer Kraft gesetzt worden, da Städte ständig unter einer illuminierten Dunstglocke liegen. Befürworter des Projekts erklärten hingegen, diese Technologie könne den nächtlichen Stromverbrauch senken. Der Verlust des Nachthimmels und seiner Dunkelheit sei ein geringer Preis für den verminderten Energiekonsum. Wie dem auch sei – dieses letztlich unpraktikable Unternehmen ist ein konkretes Beispiel für ein modernes Imaginäres, in dem eine permanente Beleuchtung untrennbar verbunden ist mit dem Nonstop-Betrieb globaler Austausch- und Zirkulationsprozesse. In seinem unternehmerischen Wahn ist es der übertriebene Ausdruck einer vorherrschenden Unduldsamkeit gegenüber allem, was sich verdunkelnd oder verhindernd gegen eine instrumentalisierte, grenzenlose Sichtbarkeit sperrt.
Eine Form der Folter, die seit 2001 bei vielen Opfern außergerichtlicher Überstellung und anderen Inhaftierten angewandt wurde, war Schlafentzug. Die diesbezüglichen Fakten wurden bei einem bestimmten Häftling allgemein bekannt, seine Behandlung war aber vergleichbar mit dem Schicksal von Hunderten anderer, deren Fälle weniger gut dokumentiert sind. Mohammed al-Qahtani wurde gefoltert nach den Bestimmungen des »Ersten Sonderverhörplans« des Pentagon, unterzeichnet von Donald Rumsfeld. Zwei Monate lang wurde er fast ständig am Schlafen gehindert und oft zwanzigstündigen Verhören ausgesetzt. Er wurde in winzige Zellen gesperrt, ausgeleuchtet mit starken Scheinwerfern und beschallt mit lauter Musik, ohne sich hinlegen zu können. In militärischen Geheimdienstkreisen nannte man diese Gefängnisse »Dark Sites«, Dunkelkammern, während einer der Orte, in denen al-Qahtani eingekerkert war, den Codenamen »Camp Bright Lights« trug. Das war wohl nicht der erste Schlafentzug, der von Amerikanern oder ihren Verbündeten angewandt wurde. Es ist in mancher Hinsicht irreführend, den Schlafentzug herauszugreifen, weil er bei Mohammed al-Qahtani und vielen anderen nur Teil eines umfassenderen Programms von Schlägen, Demütigungen, Fesselungen und Scheinertränkungen war. Viele dieser »Programme« für außergerichtliche Häftlinge wurden eigens von Psychologen und speziellen Beraterteams zur Verhaltensforschung entwickelt, um gezielt die körperlich-emotionalen Verwundbarkeiten auszunutzen.
Schlafentzug als Folter lässt sich über viele Jahrhunderte zurückverfolgen. Seine systematische Anwendung fällt aber historisch zusammen mit der Verfügbarkeit von elektrischem Licht und Lautsprecheranlagen. Er wurde zuerst routinemäßig in den dreißiger Jahren von Stalins Geheimpolizei eingesetzt und war normalerweise der Auftakt für das, was die NKWD-Schergen das »Fließband« nannten – die organisierte Abfolge von Brutalitäten und sinnlosen Gewalttätigkeiten, die Menschen irreparabel verletzen. Diese Prozedur ruft nach relativ kurzer Zeit Psychosen und nach mehreren Wochen neurologische Schäden hervor. Bei Experimenten mit Ratten führt Schlaflosigkeit nach zwei bis drei Wochen zum Tod. Sie verursacht einen Zustand äußerster Hilflosigkeit und Willfährigkeit, in dem man dem Opfer aber keine sinnvolle Information mehr abpressen kann, weil es wahllos alles gestehen oder erfinden würde. Die Verweigerung von Schlaf ist die gewaltsame Enteignung des Selbst durch eine äußere Macht, die planmäßige Vernichtung des Individuums.
Natürlich wurde die Folter schon seit langem von den Vereinigten Staaten direkt oder über ihre Vasallenregime praktiziert. Das Neue nach dem 11. September ist aber die Leichtigkeit, mit der sie als ein kontroverses Thema neben anderen ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken konnte. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner die Anwendung von Folter unter bestimmten Umständen befürwortet. Dass Schlafentzug Folter sein soll, wird in den herrschenden Medien durchweg bestritten. Er wird vielmehr als psychologisches Druckmittel angesehen, das vielen genauso akzeptabel erscheint wie die Zwangsernährung hungerstreikender Häftlinge. Wie Jane Mayer in ihrem Buch The Dark Side berichtet, wurde Schlafentzug in Pentagon-Dokumenten zynisch damit gerechtfertigt, dass auch die Elitesoldaten der Navy Seals bei Übungseinsätzen 48 Stunden lang wach bleiben müssen.² Entscheidend ist, dass die Behandlung der »Sonderhäftlinge«