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Wundertütenkind: Eine glückliche Kindheit auf dem Lande
Wundertütenkind: Eine glückliche Kindheit auf dem Lande
Wundertütenkind: Eine glückliche Kindheit auf dem Lande
eBook285 Seiten3 Stunden

Wundertütenkind: Eine glückliche Kindheit auf dem Lande

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Über dieses E-Book

Monika wächst in den fünfziger und sechziger Jahren auf einem hessischen Bauernhof in einer Großfamilie auf. Das Mädchen in der knallroten Latzhose und mit den geflochtenen Zöpfen ist im ganzen Dorf zu Hause. Zu allen Jahreszeiten durchstreift sie eine verzauberte Natur. Auf dem Hof hält sie sich am liebsten in den Ställen bei den Tieren auf. Mit der Schule und dem Herrn Lehrer hat sie so ihre Probleme. Lebensweisheiten übernimmt sie daher lieber von ihrem heißgeliebten Großvater Konrad. Monika ist pfiffig und bekommt so einiges mit, was eigentlich nicht für Kinderaugen und -ohren bestimmt ist. Munter erzählt sie von den Erlebnissen der Familienmitglieder, deren kleinen und großen Geheimnissen sowie den verschiedenen Skandalen, die sich in dem idyllischen Dörfchen am Waldrand ereignen.
SpracheDeutsch
HerausgeberArimedes Verlag
Erscheinungsdatum10. Jan. 2013
ISBN9783952421017
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    Buchvorschau

    Wundertütenkind - Claudia Grimm

    verteilt

    Ankunft

    Der Ort, an dem der Mensch geboren wird, wirkt auf geheimnisvolle Weise das ganze Leben lang.

    Ich kam in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts in einem kleinen Dörfchen auf diese Welt. Die Stätte meiner Geburt war das alte Bauernhaus meiner Großeltern, in welchem auch meine Eltern lebten. Genauer gesagt, handelte es sich um die Schlafkammer meiner ledigen Tante Hermine, genannt Herminchen. Da es seinerzeit üblich war, ein Wöchnerinnenzimmer im Haus herzurichten, hatte meine zukünftige Familie das Herminchen kurzerhand ausquartiert. Demzufolge schlief sie in der guten Stube auf dem Kanapee. Hätte ich gewusst, dass ich bereits bei meiner Ankunft jemanden von seinem angestammten Platz verdränge, so wäre es mir sicherlich peinlich gewesen.

    Der Geburtsvorgang lag damals im Großen und Ganzen noch in der Hand von Frauen. Das einzige Zutun der Väter bei der Niederkunft ihrer Nachkommenschaft bestand aus dem Holen der Hebamme.

    Meine Mutter durchbrach das ungeschriebene Gesetz, dass das Männervolk im Geburtszimmer nichts zu suchen habe. Sie wimmerte und schrie so laut nach ihrem Albert, dass die raubauzige, ansonsten unnachgiebige Hebamme einlenkte und ihn rufen ließ. Mutter tat Vater aber keinen wirklichen Gefallen mit diesem Privileg. Er, der regelmäßig, wenn ein Schwein geschlachtet wurde, nicht mehr auffindbar war, weil er kein Blut sehen konnte, hätte sich lieber ganz still und leise verdrückt.

    Mein erstes Domizil stellte Großmutters größter Wäschekorb dar, welcher aus Weiden geflochten war. Sie hatte ihn als Bettchen hergerichtet. Nachdem ich die ganze Angelegenheit einschließlich einer äußerst groben Untersuchung und Waschung überstanden hatte, legte die Hebamme mich in dieses mit weißem Leinenstoff und weichen Spitzenkissen ausgestattete Behältnis.

    Vater schilderte mir viele Jahre später, dass er, nachdem alles vorbei gewesen sei, vor dem Weidenkorb mit dem winzigen, friedlich schlummernden Menschlein gestanden habe und ihm die Tränen vor Rührung wie ein Wasserfall gelaufen seien. Er habe das neue Leben als ein großes Wunder begriffen. So begann die ganz besondere Bindung zwischen uns beiden.

    Unvermittelt war ich auf dieser Welt und in einer Familie gelandet, mit welcher ich jetzt leben musste beziehungsweise welche von nun ab mit mir leben musste. Meine Mutter, das jüngste und verwöhnteste Kind des Bauern Konrad Eisenkorb, war über diese Geburt so erschrocken, dass sie sechs Wochen im Bett liegen blieb und mich Tante Herminchen überließ. Vielleicht war dies das Glück meiner ersten Lebenswochen, denn meine Tante hatte unendlich viel Liebe zu geben.

    Herminchen erzählte mir einmal, dass zwei Jahre zuvor, als mein Bruder Edgar das Licht dieser Welt erblickte, mein bäuerlicher Großvater in seinen derben, verdreckten Stiefeln mit einem Tellerchen Zucker, auf welchem ein Schnuller lag, in das Entbindungszimmer gestampft sei, um den Buben zu begrüßen. Denn ein männlicher Nachfolger hatte einen hohen Stellenwert auf einem Bauernhof. Da ich leider nur ein Mädchen war, wurde mir dieser süße Genuss unmittelbar nach der Geburt vorenthalten. War dies bereits ein Zeichen für mein zukünftiges Dasein als weibliches Wesen?

    Trotz dieser Zurückweisung an meinem ersten Lebenstag sollte mein Großvater Konrad ein überaus wichtiger Mensch für meine Kindheit werden. Er war der ruhende Pol in einem Haushalt von zänkischen Weibern. Seine Frau, meine Großmutter, nörgelte stets an allen Dingen herum, und jederzeit war sie zu einem Streit bereit. Großvater reagierte darauf mit einer unglaublichen Gelassenheit. Er gehörte zu den Menschen, die völlig in sich ruhten. Das hatte er auch bitter nötig, denn seine drei Töchter waren nach der Mutter geraten und maunzten sich so durch die Tage und Wochen. Eine hatte er zum Glück bereits in die Stadt verheiratet. Aber Tante Herminchen, die Älteste, die noch ledig war, lebte, ebenso wie meine Mutter mit ihrer kleinen Familie, auf dem Bauernhof Eisenkorb.

    Tante Herminchens Geheimnis

    Aus der Ehe meiner Großeltern waren insgesamt vier Kinder hervorgegangen. Der älteste Sohn und eigentliche Hoferbe hatte sich in ein Nachbardorf verheiratet. Seine Frau war die einzige Tochter eines großen Bauern. Mein Onkel Ludwig rechtfertigte das Fortgehen von dem elterlichen Hof mit der Begründung, dass es auf dem Hof seiner Frau eine neue Scheune gäbe und außerdem dort keine Geschwister auszubezahlen seien.

    Die Scheune meines Großvaters war im Zweiten Weltkrieg von Bomben und Feuer verschont geblieben. Sein Gehöft hatte er selbst vor den Flammen gerettet. Bei einem Bombenangriff gegen Ende des Krieges fielen Bombensplitter durch ein offenes Fenster direkt auf einen Wäschekorb voller Wäsche, geistesgegenwärtig hatte Großvater den lichterloh brennenden Korb aus dem Fenster geworfen und somit sein Anwesen vor dem Abbrennen bewahrt. Bei diesem schlimmen Bombenangriff, welcher eigentlich nicht auf das Dorf zielte, sondern auf eine Kompanie Soldaten, die in einem nahen Wald lag, waren einige Häuser, Scheunen und Stallungen der Dorfbewohner den Flammen zum Opfer gefallen.

    Auch ein Mensch starb an diesem dramatischen Vormittag. Es handelte sich um einen Förster aus der Kreisstadt, der wegen seiner Angst vor den Bomben aus der Stadt aufs Land geflüchtet war. Als er dabei war, seine mitgebrachten Möbel von einem Wagen zu laden, begann der Bombenhagel. Schutzsuchend flüchtete er vom Hof in den schnell erreichbaren Kuhstall, aber gerade auf diesen fiel eine Bombe. Der Stall brannte mit allem ab, was darin war. Wenn Großvater diese Geschichte erzählte, so bemerkte er am Ende stets: „Seht ihr, man kann seinem Schicksal nicht entrinnen, es trifft einen da, wo man gerade ist."

    Mein Großvater hatte sich damals sehr gefreut, ohne Schaden davongekommen zu sein. Doch hatten viele andere Höfe auf Grund des Krieges neu erbaute Stallungen oder Scheunen. So ist es oft im Leben: Was erst wie ein großes Glück erscheint, sich später als Nachteil erweist. Dieser Weisheit entsprechend wurde die alte Scheune meines Großvaters gegen seine Pläne ausgelegt, und der Hoferbe ging davon. Ich hörte einmal, wie meine Mutter zu Tante Herminchen sagte, dass sie glaube, ihr Bruder Ludwig habe sich eine gute Scheune ausgesucht und dann die dazugehörige Frau geheiratet.

    Großvater verschmerzte den Weggang des einzigen Sohnes und beschloss, dass seine älteste Tochter Hermine, die auch seine Lieblingstochter war, den Hof erben sollte. Jedoch musste ein Mann für sie her, welcher für die Bewirtschaftung eines Bauernhofes brauchbar war. Das grenzte die Auswahl ein. So wurde eine Heiratsanzeige entworfen und bei der wöchentlich erscheinenden Bauernzeitung aufgegeben.

    Schließlich kam auch Vaters mausgraues Autochen zum Familieneinsatz. Herminchen musste in der Folge zu den brieflich vereinbarten Treffen in die Kreisstadt gekarrt werden, wo sie sich im „Café der einsamen Herzen mit den interessierten Männern traf. Die Fahrten waren jedoch nie von Erfolg gekrönt. Tante Herminchen und Vater kamen jedes Mal schlecht gelaunt zurück. Der guten Hermine war kein Kandidat recht, und Vater machte sich oft über „die Simpel, wie er die Brautwerber nannte, lustig.

    Die ganze Aktion war allerdings im Vorhinein bereits zum Scheitern verurteilt, denn Herminchen hütete ein amouröses Geheimnis. Sie war unsterblich in einen Handlungsreisenden der Firma Kraftstoffe Müller verliebt, der Richard hieß. Gefunkt hatte es zwischen den beiden, als Großvater Rohöl für seinen Traktor einkaufte. Auf Grund dieses heimlichen Liebesverhältnisses hatte Herminchen nicht die geringste Lust auf eine ernsthafte Bräutigamsuche. In ihrem Kopf geisterte unumstößlich der schöne Richard herum.

    Das Ganze hatte nur einen Haken: Der schöne Richard war bereits verheiratet und Vater von vier Kindern. Äußerlich entsprach er dem Bild des typischen Frauenverführers. Er war hünenhaft groß, gertenschlank und hatte pechschwarzes, gewelltes Haar, welches dank einer großen Masse Frisiercreme leuchtend glänzte. Sein Erscheinungsbild wurde von einem vollen Schnauzbart abgerundet, den er fortwährend nach oben strich. Richard trug, wenn er seine Kunden besuchte, stets einen dunklen Anzug mit Krawatte. Die Bauersleute nannten ihn unter sich, mit einem verschmitzten Lächeln in den Mundwinkeln, den „Gigolo". Ihnen war einer, der so viel Aufhebens um sein Äußeres machte, sowieso nicht ganz geheuer.

    Doch Herminchen war wie fast alle Verliebten blind. Spät abends ließ sie den schönen Richard manchmal heimlich zu einem Stelldichein ins Haus. Das funktionierte so, dass er von unserem Garten aus zu Hildes Fenster hin pfiff und sie daraufhin schnell herunterkam, um ihm die schwere Haustüre aus Eichenholz zu öffnen. Zum Glück waren meine Großeltern so müde von ihrem Tagwerk, dass sie nichts merkten. Nur manchmal schimpfte meine Großmutter am Morgen, dass nachts doch irgendwo im Dorf so ein Hanswurst so laut gepfiffen hätte, dass sie erschrocken aus dem Schlaf hochgeschreckt sei.

    Meine Großmutter war eine Frau, die immer alles ganz genau wusste. Sie hielt große Stücke auf ihre älteste Tochter. Bei jedem, der es hören wollte oder auch nicht hören wollte, lobte sie Hermine. Einer ihrer beliebtesten Aussprüche war: „Unser Herminchen ist das anständigste Mädchen vom ganzen Dorf, für die lege ich beide Hände ins Feuer." Na, sagte Mutter, die wären ihr tatsächlich lichterloh abgebrannt.

    Viele Jahre später, als ich bereits selber eine junge Frau war, erzählte mir Tante Herminchen einmal von dieser unseligen Liebschaft in ihren Jugendjahren. Dabei stellte sie fest: „Ja, ja, wenn man jung ist, ist man ganz schön dumm!"

    Großvaters drei Töchter

    Seinerzeit gingen die Töchter der Bauern vorwiegend nicht arbeiten, schließlich gab es auf den Höfen genügend zu tun. Darum hatten sie auch kein eigenes Geld, und meist nahmen sie nur einen geringen Stellenwert in der Hierarchie ihrer Familien ein. Als älteste Tochter war Tante Herminchen die beste Arbeitskraft auf dem Anwesen ihrer Eltern. Gab es aber auf einem Hof mehrere Töchter, so war mancher Bauer froh, wenn eine davon in der Stadt arbeitete, denn so hatte man einen Esser am Tisch weniger. Jedoch war zu jener Zeit die Auswahl an Arbeitsstellen für Mädchen vom Lande nicht besonders groß. Auch hielt man es schlichtweg für unnötig, dass die jungen Frauen einen Beruf erlernten. Man ging davon aus, dass sie sowieso heiraten und Kinder kriegen würden. Folglich wäre die ganze Ausbildung dann umsonst gewesen. Es galt, lediglich die Aussteuer zu verdienen. Deshalb wurde in der Stadt für Handtücher, Bettwäsche und Geschirr geschuftet.

    Die meisten Landmädchen arbeiteten als Haushaltshilfen oder als Stubenmädchen in einem Hotel. Da es genügend junge Frauen gab, die in die Stadt drängten, war ihre Entlohnung gering, und nicht selten wurden sie schlecht behandelt. Häufig zahlte man ihnen zu Kost und Logis nur ein Taschengeld, welches die Mädchen eisern für den Erwerb von Gegenständen für ihren späteren Haushalt sparten. Die Unterkunft war sehr wichtig für die „Fräuleins" vom Dorf, denn es gab kaum Verkehrsmittel, die es ihnen ermöglichten, täglich zwischen der Provinz und der Stadt hin- und herzupendeln.

    Obwohl mein Großvater stets betonte, dass an seinem Tisch alle satt würden und er obendrein die Stadt für einen Sündenpfuhl hielt, wo den Mädchen nach seiner Meinung nur Flausen in den Kopf gesetzt würden, setzten Mutter und Tante Ilse es irgendwie durch, dass sie in der Stadt arbeiten durften. Die Arbeitsstellen hatte ihnen ihre Schwester Hermine verschafft, die selber zu Hause bleiben musste. Damit Herminchen über ein bisschen eigenes Geld verfügte, erlaubte Großvater ihr, die Eier, welche nicht auf dem Hof verbraucht wurden, in der Stadt zu verkaufen und den Erlös zu behalten. So radelte sie bei fast jedem Wetter mit einem sperrigen, geflochtenen Korb voller Eier auf dem Gepäckträger einmal in der Woche in die dreißig Kilometer entfernte Stadt. Da auch ihr die Aussteuer wichtig war, brachte sie auf dem Rückweg in dem Weidenkorb manchmal eine gut verpackte Schüssel, Handtücher oder – wenn sie einmal ein wenig mehr Geld eingenommen hatte – Bettlaken und Bettbezüge mit. Nur äußerst selten kaufte sie etwas für sich ganz persönlich ein.

    Indem Herminchen in einigen Hotels und Haushalten gefragt hatte, ob dort frische Landeier benötigt würden, hatte sie sich einen festen Abnehmerstamm geschaffen. Bei diesen Kunden erkundigte sie sich, ob man ein Haus- oder ein Stubenmädchen brauchen könne. So brachte sie Mutter im Haushalt und Tante Ilse im Hotel unter.

    Man muss wissen, dass es damals nur acht Pflichtschuljahre gab. Folglich verließen die Jugendlichen die Schule in der Regel mit 14 Jahren. So also waren Mutter und Tante Ilse, die ein Jahr älter war als Mutter, 14- und 15-jährig und demnach noch sehr jung, als sie zum Arbeiten in die Stadt gingen. Es kam, wie es kommen musste: Beide Mädchen waren an ihren Stellen überfordert. Mutter erzählte, dass sie nie den ersten Morgen in der elfköpfigen Familie vergessen würde. Sie wurde bei ihrer Ankunft nur knapp begrüßt und sogleich in die Waschküche geführt, in welcher sich unzählige Berge von schmutziger Wäsche türmten. Ganz offensichtlich war hier seit Wochen nicht mehr gewaschen worden. Zu jener Zeit hatten die vollautomatischen Waschmaschinen noch keinen Einzug in die Hauswirtschaft gehalten. Zwar verfügten einige Haushalte bereits über eine einfach konstruierte Schleuder, aber gewaschen wurde sämtliche Wäsche damals noch von Hand. Natürlich musste auch Mutter zu Hause auf dem Hof an den großen Waschtagen mithelfen, aber noch nie in ihrem Leben hatte sie ganz alleine vor so riesigen Massen Wäsche gestanden.

    Die Hausfrau erklärte ihr an diesem Morgen lediglich den großen Kessel zum Kochen der Kochwäsche und verschwand daraufhin. Nun stand Mutter tagelang ganz alleine von frühmorgens bis abends in dem Dampf des Wasserkessels und wusch in mühevoller Handarbeit die unendlich vielen Wäschestücke der Großfamilie. Erst spät abends fiel sie todmüde wie ein Stein in dem kleinen Dachkämmerchen in ihr Bett. Selbst zu den Mahlzeiten kam sie nicht aus der Waschküche heraus: Eines der Kinder des Hauses brachte ihr ein Tablett mit Essen in den Kellerraum, in dem man vor Seifendunst kaum die Hand vor Augen sehen konnte.

    Als sie dann am ersten Sonntag nach Hause radeln durfte, waren ihre beiden Hände von der Waschlauge völlig zerschunden, und ihren Rücken fühlte sie, infolge des dauernden Beugens über dem Waschbrett und Waschbottich, nur noch als einen einzigen großen Schmerz. Ihr war klar, dass sie zu dieser Arbeitsstelle niemals mehr zurückkehren würde. So versteckte sie bei ihrer Ankunft zu Hause sogleich ihr Fahrrad im Schuppen, damit auch ja keiner sie bedrängen konnte, wieder dorthin zu fahren. Die abgewetzte braune Ledertasche, die Großmutter ihr vermacht hatte, in welcher sich ihre Wäsche und ihr Nachtzeug befanden, ließ sie am Lenker des Rades hängen, damit die Familie erst einmal keinen Verdacht schöpfte. Sie überlegte verzweifelt, wie sie die Situation zu Hause erklären könnte. Sie wusste, dass es mit Großmutter leichter gehen würde als mit Großvater. Da er aber nun einmal das Sagen hatte, befürchtete sie, von ihm wieder an diesen schrecklichen Arbeitsplatz zurückgeschickt zu werden. Großvater lebte nach festen Grundsätzen, und einer davon lautete: „Man flüchtet nicht und schon gar nicht vor der Arbeit."

    Den ganzen Sonntag über plagten Mutter grässliche Bauchschmerzen, selbst ihr Lieblingsessen, gekochtes Rindfleisch mit sahniger Meerrettichsoße, schmeckte ihr nicht. Erst spät abends, als ihre Mutter ihr die frische Wäsche für die neue Woche herauslegte, beichtete sie ihr, dass sie auf gar keinen Fall wieder an diese Arbeitsstelle wolle. Es war nicht üblich, dass meine Familie sich in den Arm nahm, aber an diesem Abend nahm Großmutter ihre Jüngste in den Arm und versprach ihr, das Problem mit Großvater zu regeln. Die gesamte Nacht über wälzte Mutter sich in ihrem Bett hin und her, mal träumte sie von den riesigen Schmutzwäschebergen, mal war sie hellwach und fieberte dem Morgen entgegen. Was wenn Großmutter es nicht schaffte, Großvater zu überzeugen, und der sie zwang, wieder in die Stadt zu radeln? Bereits im Morgengrauen wachte sie auf. Ihr Körper fühlte sich an wie gerädert. Sie hatte Angst vor dem, was kommen würde. So kroch sie ganz tief in ihr Bett und zog die dicke, mit Gänsefedern gefüllte Daunendecke über ihren Kopf. Am liebsten hätte sie sich tot gestellt.

    Indessen gab es in der Schlafkammer meiner Großeltern einen heftigen Disput. Wie vorausgesehen, bestand Großvater zuerst einmal darauf, dass seine Tochter standhalten solle. Mutter hat nie erfahren, wie Großmutter es letztendlich durchsetzte, dass sie nicht mehr an diese grausige Arbeitsstelle musste. Es war ihr auch egal, Hauptsache, sie hatte dieses schaurige Kapitel in ihrem jungen Leben überstanden.

    Tante Herminchen allerdings verlor einen Eierkunden. Denn sie versuchte, bei ihrem nächsten Besuch den Lohn für Mutters grauenhafte Tage in der Waschküche einzutreiben. Die Hausfrau antwortete ihr in einem überheblichen Ton, dass es sie so viele Nerven gekostet habe, dass das unmögliche Mädchen einfach nicht mehr gekommen sei, dass sie das ausstehende Geld als Ausgleich für ihren Ärger ansehen würde. Großvater kommentierte dieses mit den Worten: „Ja, ja, so sind sie, die Stadtmenschen!"

    Tante Ilse erging es im Hotel nicht viel besser, denn auch dort wurden die jungen Mädchen vom Lande unglaublich ausgenutzt. Bereits frühmorgens arbeitete Ilse in der Küche, dann putzte sie die Fußböden der Gästezimmer, und von nachmittags bis spät in die Nacht hinein half sie wieder in der Küche. So kam sie auf einen Zwölf-Stunden-Arbeitstag. Am schlimmsten war die Arbeit in der Küche: Es oblag ihr, die großen Kochtöpfe zu schrubben. Der Küchenchef verlangte, dass die Töpfe blitzsauber glänzten.

    So stand sie oft stundenlang am Spülbecken und versuchte durch kräftiges Scheuern mit einem Drahtschwamm, die alten eingebrannten Reste zu entfernen.

    Untergebracht hatte man sie zusammen mit einem anderen Mädchen in einer kleinen Dachkammer, in welcher es keinen Ofen gab und fürchterlich durch das Gebälk zog. Allerdings spürte Ilse, wenn sie in ihr Bett fiel, sowieso nichts mehr und schlief bereits nach wenigen Minuten ein. Es blieb ihr noch nicht einmal die Kraft, sich mit dem anderen Mädchen zu unterhalten. So wusste sie nach ein paar Wochen immer noch nichts über ihre Schlafgenossin, die spätabends ebenso ausgelaugt wie sie in die klammen Federn fiel. Ilse hielt zwar durch, war aber sehr unglücklich.

    Wieder war es Tante Herminchen, die ihren Schwestern half. Inzwischen gehörte das Evangelische Krankenhaus der Stadt zu Herminchens Eierkunden. Sie verstand sich gut mit den Diakonissinnen, die das Krankenhaus leiteten. Immer wenn sie frische Eier brachte, wurde sie von ihnen in der Küche zu einem Kaffee eingeladen. So hatte sie sich angewöhnt, mit den frommen Frauen einen kleinen Schwatz zu halten. Bei solch einer Gelegenheit erzählte sie bei einem heißen, dampfenden Kaffee und Vanillekipferln von ihren jüngeren Schwestern und deren schlechten Erfahrungen mit ihren Arbeitsstellen. Herminchen hatte offensichtlich Talent zur Arbeitsvermittlerin, denn nach diesem Gespräch war klar, dass Mutter und Ilse ab dem folgenden Monat in dem Krankenhaus arbeiten konnten.

    Nun mussten die beiden freilich auch einiges leisten, aber es ging ihnen gut dabei. Da im Krankenhaus viele Mädchen vom Lande arbeiteten, hatten die Diakonissen-Schwestern zwei Schlafsäle im Keller hergerichtet. Dort herrschte zwar kein Luxus, aber Öfen strömten Wärme aus, und zwei Duschen ermöglichten ihnen ihre Körperpflege. Die Mahlzeiten, die in der Klinikküche zubereitet wurden, nahmen die Mädchen an der großen Tafel der frommen Frauen ein. Diese legten viel Wert auf Gemeinschaft: Sie boten Singstunden an, förderten das allgemeine Miteinander der jungen Frauen, und hatte eines der Mädchen Geburtstag, so ließen sie in der Küche einen Geburtstagskuchen backen und überreichten ihr ein kleines Geschenk.

    In diesem Klima bildeten sich Freundschaften, und abends in den Schlafsälen waren oft noch lange fröhlich durcheinander quasselnde Stimmen zu hören, die von den verschiedenen Dialekten der Provinz gefärbt waren. Nicht selten musste eine der frommen Frauen, die ihre Kammern am entgegen gelegenen Flügel des Kellers hatten, abends die aufgedrehten Mädchen mehrfach zum Schlafen ermahnen.

    Natürlich gab es unter den Diakonissen-Schwestern ebenso wie anderswo auf der Welt Biester, die das eine oder andere Mädchen auf dem Kieker hatten und es schikanierten. Aber der gute Zusammenhalt der jungen Mädchen fing das wieder auf. Wenn sie lustig miteinander waren, hatte es sich eingebürgert, dass sie besonders eigenartige Diakonissen-Schwestern imitierten. Dabei brachten sie sich gegenseitig so zum Lachen, dass sie nicht selten laut kreischten. Mit Sicherheit kam daraufhin eine der Diakonissen-Schwestern in den Schlaftrakt, um die Ruhe wiederherzustellen. Fast immer war es dieselbe, die in solchen Fällen das junge Volk aufsuchte und zum Schlafen aufforderte. Da es sich um die strengste und die korpulenteste Diakonissen-Schwester des Krankenhauses handelte, nannten die Mädchen sie den „dicken General. Überhaupt hatten sie die meisten von ihnen mit Spitznamen ausgestattet: Eine kleine Feiste, die besonders gerne süßen Nachtisch aß und dabei einen ganz spitzen Mund machte, hatten sie das „Zuckerschnäuzchen getauft. Wieder eine andere besonders Vergessliche, die sich keine Namen merken konnte und von daher alle Mädchen mit Luischen ansprach, wurde das „große Gedächtnis" genannt.

    Mutter und Tante Ilse hatten es besonders gut getroffen. Sie waren zusammen auf der Privatstation des Krankenhauses eingesetzt, wo ein freundliches Klima herrschte. Die beiden Schwestern teilten das Essen aus und putzten die Krankenzimmer. Gingen die Privatpatienten nach Hause, so bekamen die

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