Ludwig Hirsch: I lieg am Ruckn - Erinnerungen
Von Andy Zahradnik, Cornelia Köndgen und Johnny Bertl
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Buchvorschau
Ludwig Hirsch - Andy Zahradnik
Schlussakkord
Bitte Einsteigen oder Was singt der da?
Oma pfüdigott, mach’s drüben besser, mach keine Knödeln für die Engerln, sei so gut! Tu nicht die Heiligen sekkiern, tu nicht den Opa denunziern; und gehst zum Herrgott auf Besuch – ein guter Tip: Omama, nimm’s Mutterkreuz net mit!
Es ging steil die Stufen hinunter, direkt in den Bauch des Wiener Konzerthauses. Ein langer Gang führte zu den links und rechts liegenden Aufnahmeräumen. Neonlichter und Lampen tauchten den Ort in eigentümliches, leicht gelbliches Licht. Viel Braun an den Wänden und viel vergilbte Farbe. Der Ort trug die Patina, wie sie Orte, in denen viele Jahre lang die immer gleichen oder sehr ähnlichen Aufgaben erledigt werden, tragen. Seit 1946, der Krieg war kaum ein Jahr vorbei, wurde hier, im Keller des Konzerthauses, wieder Musik aufgenommen. Auf der Straße, da kletterten die Menschen noch über den Bombenschutt, während unten Schlager gesungen wurden.
Gerhard »Moshe« Mendelson, der legendäre Musikproduzent, Besitzer eines Plattenlabels, Entdecker der Stars, er produzierte hier viele Schlager, gründete 1946 die Austrophon Schallplatten Studio Ges.m.b.H und machte Wien zum Schlagernabel. Peter Kraus nahm in den 50er-Jahren seine großen Hits in den im Keller gelegenen Studioräumen ebenso auf wie Peter Alexander und viele andere Stars ihrer Zeit. Das Austrophon-Studio war in Österreich für Jahrzehnte die erste Adresse, wenn es um Plattenaufnahmen ging, und Mendelson versorgte von Wien aus die Wirtschaftswunder-Zeit mit ihrem Soundtrack.
Die schalldichten Wände des Austrophon hatten in all den Jahren so einiges zu hören bekommen, doch das, was im Jahr 1978 auf den beiden »Studer« 16-Spur-Maschinen aufgenommen wurde, war in seiner Art sehr anders.
Der Mann, dessen Lieder sich auf seiner ersten Langspielplatte wiederfinden sollten und der eben im Studio A mit den Aufnahmen zugange war, legte damals im »Austrophon« den Grundstein zu seiner außergewöhnlichen Karriere. Der Poet, Schauspieler, Texter und Komponist Ludwig Hirsch – er war genauso alt wie das Studio, in dem die Aufnahmen stattfanden. Ein Zufall, aber diese ersten Tage seiner Karriere, hier im bunkerartigen Studio, im Bauch des berühmten und legendenumwobenen Hauses, welches seit jeher unterschiedlichste Arten von Musik lebt wie keine andere Spielstätte Wiens, sie werden die ersten Tage des Musikerlebens von Ludwig Hirsch sein.
Die Adresse Lothringerstraße 20 im dritten Wiener Gemeindebezirk, sie wird im Leben des Ludwig Hirsch eine große Rolle spielen. Im Konzerthaus fing es an. In »meinem Konzerthaus«, wie er immer wieder sagte. Im Keller gab es das Konzerthaus-Theater. Dort stand er oft auf der Bühne, in den 70er-Jahren. Mit den anderen jungen Wilden, die noch nicht in die Traditionsbetriebe durften. Da unten, da konnten sie sich austoben. Oben, im Mozart-Saal, stellte er später seine Lieder zum ersten Mal im großen Stil dem Publikum vor. Wieder unten, im Keller, wurden sie professionell eingefangen, konserviert, um später zur Vervielfältigung freigegeben zu werden.
Und im Konzerthaus fand auch alles sein Ende. »VIELLEICHT zum letzten Mal live« hieß das Programm, das am Muttertag 2011 von Ludwig Hirsch und seinen Musikern Johnny Bertl, Andi Steirer und Manfred Schweng gespielt wurde.
Dreiunddreißig Jahre bevor es zur traurigen Gewissheit wurde, dass das Wort VIELLEICHT im Tourneetitels einem SICHER weichen musste, arbeiteten in den eher spartanisch eingerichteten Regie- und Aufnahmeräumen des Austrophon-Studios B der Techniker Gregor Hornacek und der Produzent Robert Opratko an Liedern, die einige Monate später als die »Dunkelgrauen« wie ein Herbststurm über das Land kommen sollten. In den mit dem gelblichen Kunstlicht gefluteten Räumen mit den schallschluckenden und mit zahlreichen kleinen Löchern versehenen Holzpaneelen an den Wänden, in denen sich der Geruch von Tausenden Zigaretten der vergangenen Jahrzehnte gesammelt hatte, erzählte Ludwig Hirsch seine Geschichten vom bladen Buam, dem netten Herrn Haslinger, dem Zwerg oder auch die vom Dorftrottel. Hirsch verpackte seine Figuren in schöne, einfache Melodien, Robert Opratko versah sie mit Streichern und anderen Arrangements, die einen lieblichen Kontrast zu den morbiden, teils brutalen, zynischen Texten bildeten. Mit seiner wunderbaren sonoren Stimme schickte er, der Hirsch, uns Hörer dann auf eine Art Geisterbahnfahrt durch seine »Dunkelgrauen Lieder«. Mit der »Oma« tauchten wir ein ins Grau. Das war noch irgendwie lustig. Bei »I lieg am Ruckn« wurde es das erste Mal richtig dunkel. Und traurig. Man spürte die salzigen Tränen förmlich, wie sie auf den frisch aufgeworfenen Grabhügel fallen, und wahrscheinlich hat dieses Lied auch nicht wenige Menschen dazu bewogen, testamentarisch eine Einäscherung zu verfügen, wenn es irgendwann so weit sein sollte. Nur nicht da unten liegen und auf die Würmer warten müssen. Überhaupt, die Strophe mit dem sich in der Erde herumschlängelnden Getier, sie hat mit Sicherheit seit dem Jahr 1978 so manche Beerdigung in den Köpfen der Trauergemeinde begleitet. Man will gar nicht wissen, wie oft dieses Lied als stiller Gast, im Hirn, in den Gedanken mit bei Begräbnissen war und noch lange sein wird. Gestern, heute, morgen und auch übermorgen. »I lieg am Ruckn« ist so zeitlos wie das Sterben. Der Soundtrack fürs Kopfkino. Wienerischer kann es gar nicht sein.
Was is’n des, des komische Krabbeln bei die Zehen da vorn?
Jessas Maria, der erste Wurm!
Du liegst da und kannst di net rühren, die Würmer krallen dir ins
Hirn und sie dinieren.
Umdrehen musste man die Platten damals noch. Schwarze Langspielplatten. 30 Zentimeter im Durchmesser. Lange Zeit uninteressant, und seit drei Jahren fahren so viele wieder drauf ab, auf dieses pechschwarze Vinyl. Für die Musik des Ludwig Hirsch war es ohnehin immer der bessere, viel authentischere Schallträger als diese kleinen Silberscheiben.
Bei den »Dunkelgrauen Liedern« war es, wie wenn du deine schwarze Platte nimmst. Du setzt die Nadel in die Rille. Und los geht die Fahrt, wie in der Geisterbahn im Wiener Prater. Nach der Hälfte bist du im ersten Stock der Bahn angelangt, dort wirst du kurz vom Tageslicht geblendet, bis dann der kleine Wagen wieder mit dir in die Tiefe rumpelt. Das letzte Lied auf der Platte heißt »Happy End«. Es ist wie im Film. Ohne Happy End gehst du traurig aus dem Kino. Hier rattert der Wagen mit diesem Lied in die Zielgerade, und erst wenn sich die Nadel hebt, entlässt dich der Herr Hirsch wieder aus seiner in deine Welt.
1978 war ich 20 Jahre alt und musikalisch geprägt und sozialisiert von Wolfgang Ambros, Georg Danzer und all jenen anderen österreichischen Musikerinnen und Musikern, die sich dem Dialekt zugewandt hatten. Endlich was für uns, in unserer Sprache geschrieben und gesungen. Zum Mitsingen, Weinen, Lieben, Austoben und Abstürzen. Erst das, was damals schon als »Austropop« tituliert wurde, machte meine persönliche Pop- und Rockwelt komplett.
1978 war ich bereits seit fünf Jahren in der Musikwirtschaft tätig und innerhalb der Branche kannten sich alle gut. Etwas Besseres kann einem passionierten Plattensammler eigentlich nicht passieren. In der Kantine im Funkhaus war immer einer der Promoter-Kollegen zu finden und wir tauschten immer wieder Platten aus. Im Funkhaus in der Wiener Argentinierstraße, im letzten Stock, direkt unter dem Dach, saß damals der Sender Ö3. Noch ohne dem Zusatz »Hitradio« im Namen. Im Stockwerk darunter waren Radio Wien, der Kinderfunk und Radio Niederösterreich untergebracht.
Ins Funkhaus wurden von allen Firmen jede Woche Tonnen von neu erschienenen Platten geschleppt. Mit der Hoffnung auf Radioplay texteten die Promoter die Redakteure und DJs zu und nicht jede Platte fand einen Abnehmer. Bevorzugte Transportmittel zum Plattenschleppen waren Plastiksackerln mit den Logos der Firmen. Polydor, Ariola, Musica oder WEA, die spätere Warner. EMI nicht zu vergessen. Meine Sackerln waren in knalligem Orange. CBS – The Family Of Music stand drauf und in so einem Sackerl verschwand damals die Platte von Ludwig Hirsch. Die mit den »Dunkelgrauen Liedern«. Der Kollege von Polydor hatte sie mir mit den Worten gegeben: »Das musst du dir anhören … Sowas hast du noch nie gehört.« Ich hab die Platte genommen und im Gegenzug etwas anderes über den Tisch geschoben. Keine Ahnung, was ich damals für Hirsch eingetauscht habe, aber ich war in Sachen Hirsch nicht gänzlich unbeleckt. »Ah, das ist doch dieser Schauspieler …«, sagte ich, dankte und drehte das Plattencover um. Und was stand da? War da doch tatsächlich ein Lied mit dem Titel »Spuck den Schnuller aus« drauf. Ich lachte und las laut vor. Der Kollege von Polydor sagte nur: »Anhören und ich sag dir nochmal: Sowas hast du noch nie gehört!«
Daheim senkte sich dann die Nadel und es war wie beschrieben: Bitte einsteigen zur Geisterbahnfahrt. Bei der »Omama« hab ich noch geschmunzelt und an meine Oma gedacht. Die war irgendwie in dem Lied wieder auferstanden, nur mit einem Mutterkreuz hatte sie nichts am Hut. Bei »I lieg am Ruckn« hab ich mich an die Worte des Kollegen erinnert: »So was hast du noch nie gehört!« Beim »Herrn Haslinger« hab ich bei der Szene, wo der Haslinger vor der Schule steht und sich am Anblick der Taferlklassler erfreut, noch die Stirn gerunzelt und mich gefragt: »Bitte, was singt der da?« Dann ist mir bei der letzten Strophe der Hals trocken geworden.
Nach 50 Minuten »Dunkelgrauen Liedern« war ich das, was man heute einen Follower nennen würde. Ich habe seither jede Platte erstanden. Und jedes neue Hirsch-Album war wie die Entdeckung des Jahres, ein für sich stehendes Werk voller Überraschungen. Vieles habe ich verstanden. Einiges blieb mir unverständlich. Spannend waren sie alle, die Platten des Ludwig Hirsch.
Jahrzehnte später: Zweimal durfte ich als Autor für Ludwig Hirsch tätig werden. In seinen späteren Jahren für die Alben »In Ewigkeit Damen« und »Perlen«. Im Zuge dieser Arbeit lernte ich einen sehr höflichen, sehr freundlichen und so gar nicht kumpelhaft auftretenden Mann kennen. Irgendwie war man in seiner Nähe auch nie in Versuchung geraten zu einem »Hey Ludwig, lass uns auf ein Bier gehen und ein bissl quatschen«-Angebot. Er strahlte so eine Ruhe und künstlerische Autorität aus, die einen ihm fast ein wenig demütig entgegentreten ließ. Dazu die Stimme, die gewählte Sprache, der Intellekt, der mitschwingt, und dann bist du einfach nur froh, diesen Menschen kennengelernt zu haben. Eigenartig ist auch, dass man in seiner Nähe nie auf die Idee gekommen ist, nach einem gemeinsamen Foto zu fragen. Zumindest mir ist es so gegangen. Ich hab mich einfach nicht getraut …
Einmal bat ich ihn, in eine TV-Show zu kommen, die wir seinerzeit für TW1, den Vorläufer des heutigen ORF III, produzierten. Kein großes Ding, eine kleine Talk-Show mit ein bisschen Musik. Ludwig Hirsch willigte ein, wollte aber keinen Playback-Auftritt hinlegen. Akzeptiert. Was tun? Liedtexte lesen? Ja, das könne er sich gut vorstellen, und so saß er da, im Frühjahr 2006, bei uns in dem kleinen Studio und las zwei seiner Texte aus »In Ewigkeit Damen«. Es war ein Gänsehaut-Moment, und als diese Folge der kleinen Show dann bei TW1 ausgestrahlt wurde, ging anschließend bei uns wie nie zuvor und danach der Postkasten über. Eine Zuseherin hat mir einmal erzählt, dass es ihr damals, als Ludwig Hirsch in der Sendung gelesen hat, vorgekommen ist, als wenn er bei ihr im Wohnzimmer sitzen und nur für sie lesen würde, so nahe ist er ihr mit seiner Stimme gewesen.
Sehr nah am Ohr des Zuhörers, das war Ludwig Hirsch immer. Von der ersten Platte, vom ersten Auftritt als Musiker an. So musste er nicht laut werden und durch die leisen Töne stieg die Intensität. Unaufdringlich nah, aber ungemein präsent, direkt in den Kopf sprechend, singend, erzählend seine Texte im Hirn der Zuhörer verankernd. Da ging nichts beim einen Ohr rein und beim anderen wieder raus. Seine Musik war nie etwas fürs Radio in der Küche, keine Mitnahmemusik, sondern sie wühlte auf. Lud auch zum Schmunzeln ein. Selbst die Liebeslieder setzten sich deutlich von den Millionen anderen Liebesliedern ab. Da wäre der »picksüße Elvis«. Als was wurden Elvis und seine Musik im Laufe der Jahrzehnte nicht alles bezeichnet … aber als »picksüß«, das bleibt bis heute Ludwig Hirsch vorbehalten. Und in diesem Wort »picksüß«, da steckt die ganze Liebe, Leidenschaft und Bewunderung drin, die Hirsch Elvis Presley, der Figur, dem Künstler, seiner Stimme und seiner Musik seit dem Teenageralter entgegenbrachte. Er blieb von jungen Jahren an kleben an Elvis, dem Picksüßen.
Die Lieder Ludwig Hirschs blieben drin im Kopf, sitzen auch heute noch dort und haben auch nach Jahrzehnten nichts an ihrer Intensität verloren. Wahrscheinlich ist es genau das, was Poeten von Textdichtern unterscheidet.
An dem Morgen nach der Nacht des 24. November 2011, in der sich Ludwig Hirsch das Leben genommen hatte, erhielt ich einen Anruf der Plattenfirma Universal Music mit der dringenden Bitte um einen geschriebenen Nachruf. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht Radio gehört und war demzufolge völlig unvorbereitet, als mich auf diese Weise die Nachricht vom Tod Ludwigs erreichte. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich in einer Art Schockzustand schreiben musste. Nie wieder, habe ich mir danach geschworen. Nachrufe sind furchtbar. Schreib klar, nicht von Trauer überwältigt, über das Leben von jemandem, der nicht mehr lebt, sich selbst dazu entschlossen hat, und der in einer Art über den Tod gesungen hat, dass es dir dabei kalt über den Rücken gelaufen ist. Schreib über jemanden, der aus dem Fenster gesprungen ist und Jahrzehnte davor in einem Lied, einem seiner besten Lieder überhaupt, genau über eine solche Situation singt.
Vier Jahre nach diesem Erlebnis arbeiten Ludwigs bester Freund und langjähriger Bühnenpartner, der Musiker Johnny Bertl, die Schauspielerin, Gefährtin und Ehefrau von Ludwig, Cornelia Köndgen, und ich an einem Buch über diesen großartigen Künstler, Schauspieler, Poeten und Singer-Songwriter Ludwig Hirsch. Es sind Erinnerungen, die wir zusammengetragen haben. Erinnerungen, Gedanken und Erlebnisse von Menschen, die Ludwig nahestanden, mit ihm arbeiteten, mit ihm lebten, ihn bewunderten und ihn formten.
Ludwig selbst hat kein biografisches Material hinterlassen. Was er uns gelassen hat, sind seine Geschichten, seine Lieder. Lieder über sich, die wusste er gut zu verpacken, den Poeten Hirsch hinter seinen Figuren zu verstecken.
Was