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Leonard Bernstein: Magier der Musik. Die Biografie
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eBook332 Seiten3 Stunden

Leonard Bernstein: Magier der Musik. Die Biografie

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Über dieses E-Book

"In Bernsteins Konzerte gingen die Leute auch, wenn er der schlechteste Dirigent der Welt wäre", sagte einst Arturo Toscanini. Die Begeisterung für Musik begleitete Leonard Bernstein von klein auf – und übertrug sich später bei zahlreichen Auftritten nahtlos auf sein Publikum.
Mit 25 Jahren hatte Leonard Bernstein seinen ersten großen Auftritt: Als Dirigent des New York Philharmonic Orchestra sprang er kurzfristig für den erkrankten Bruno Walter ein – der Beginn einer beispiellosen Weltkarriere. Dirigent, Komponist und Pianist, war Bernstein auch Schöpfer des Musicals "West Side Story" und gilt als eines der größten Musikgenies des 20. Jahrhunderts. Der psychisch labile Ausnahmekünstler – gleichzeitig ein barocker Bonvivant – erlebte Phasen von exzessiver Lebensgier, die sich mit Zeiten der Angst vor künstlerischem Versagen abwechselten.
In seiner großen Jubiläumsbiografie lässt Michael Horowitz zahlreiche prominente Weggefährten Bernsteins zu Wort kommen: von Christa Ludwig bis Otto Schenk, von Gundula Janowitz bis Rudolf Buchbinder. Auch Clemens Hellsberg, Heinz Marecek und Kurt Rydl erinnern sich an den Magier der Musik. Mit einem besonderen Gespür für die Spannungsmomente in dessen Biografie erzählt Horowitz ein großes Leben neu.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Okt. 2017
ISBN9783903083752
Leonard Bernstein: Magier der Musik. Die Biografie

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    Buchvorschau

    Leonard Bernstein - Michael Horowitz

    KAPITEL 1

    Im Armenhaus der Monarchie

    Um sich auf die Suche nach der Wahrheit begeben zu können, muss man trunken von der Fantasie sein.

    Beim Pianisten Vladimir Horowitz, mit dem der Autor dieses Buches nicht verwandt ist, liegen Dichtung und Wahrheit nah beieinander. Vladimirs Vater besaß auch viel Fantasie. Um seinem Sohn den Militärdienst zu ersparen und ihm eine Ausreisegenehmigung zu verschaffen, hat ihn der jüdische Elektroingenieur um ein Jahr jünger gemacht. Auch der offizielle Geburtsort Kiew trifft nicht zu. Vladimir wurde in der kleinen, von Pogromen heimgesuchten Stadt Berditschew geboren. Die Familie Gorowitz – auch den Namen änderte der Vater später in Westeuropa – zog erst nach der Geburt Vladimirs in das Zentrum der Ukraine, nach Kiew, um. Wenn Wolodja, das gehätschelte Musikgenie, ruhte, trugen die Eltern Filzpantoffeln. Seine Launen und melancholischen Anwandlungen wurden im Hause Horowitz gerne geduldet – man war selig, ein musikalisches Wunderkind in der Familie zu haben. Als Fünfzehnjähriger musste er erleben, dass Bolschewiken den Flügel aus dem ersten Stock des väterlichen Hauses stürzten. Das Leben wurde immer gefährdeter und gefährlicher.

    Auf dem Konservatorium in Kiew erregte Vladimir sehr bald Aufsehen und Bewunderung, trotz Hochmut, Wutanfällen und entrückten Eigenheiten. Komponist Sergei Rachmaninow, selbst ein gefeierter Pianist, war vom kapriziösen Einzelgänger begeistert und meinte 1931: »Bis ich Horowitz hörte, verstand ich nichts von den Möglichkeiten des Klaviers …« Ein Jahr später fand Vladimir die Begegnung seines Lebens: Der in die USA ausgewanderte »liebe Gott unter den Klavierspielern« trifft Arturo Toscanini. Bald ist Vladimir Horowitz sein Lieblingssolist – und Schwiegersohn und entwickelt sich zu einem der schillerndsten Musiker des 20. Jahrhunderts.

    Launen, Marotten und das ewige Flirten mit der Einmaligkeit seiner Genialität prägen sein Leben: »Wenn ich spiele, bin ich Engel und Teufel zugleich.« Er schläft bis mittags in komplett verdunkelten Räumen und gibt Konzerte nur um vier Uhr nachmittags. Der bekennende Hypochonder reist mit einer Mini-Wasserdesinfektions- und Entkalkungsanlage um die Welt, mit eigenem Bettzeug und tiefgefrorenen Hühner- und Seezungenfilets. Das Musikgenie aus dem Stetl in Galizien pflegt ein Leben lang das Image vom kapriziösen Klavierakrobaten: »Ich fühle mich wie ein Gladiator, der im Kolosseum vor einem blutgierigen Publikum kämpfen muss.« Als eine Verehrerin von Vladimir Horowitz auf der New Yorker Fifth Avenue fragte, ob sie ihn berühren dürfe, schäkerte der Adorierte: »Das kommt darauf an, wo …«, und ließ sich die Hände küssen. Im Mai 1987 tröstet das 82-jährige »senile Wunderkind« Besucher, die für das Konzert im Großen Musikvereinssaal keine Karten mehr ergattern konnten: »In fünfzig Jahren komm’ ich sowieso wieder …« Zwischen seinem ersten und zweiten Wien-Gastspiel waren sogar 52 Jahre vergangen.

    Die Erinnerung an Leid, Demütigung und Unterdrückung im »Armenhaus der Monarchie« blieb für viele jüdische Künstler ein Leben lang präsent. Und so mancher versuchte, traumatische Erinnerungen, die tragische Familiengeschichte im Stetl, ein Leben lang zu kompensieren. Sie blieben »überall als Fremdling kenntlich, das Pathos des Außenseiters im Herzen«, wie es Thomas Mann 1907 formulierte, von Ängsten geplagt, von Ehrgeiz getrieben, von Depressionen gepeinigt. Man versuchte oft, das Leid der Kindheit, der Jugend wettzumachen: durch entrückte Besessenheit, durch manische Lebensgier, durch hemmungslose Exzesse. Oft auch hinter einer Maske der Arroganz in einem prallen, wilden, glanzvollen – und oft traurigen – Leben.

    In Polen und Russland mussten während der ersten Pogrome zwischen 1881 und 1914 rund drei Millionen Juden ihre Heimat verlassen. Fast jeder Dritte davon war Musiker. Jüdische Emigranten, die während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im westlichen Musikbetrieb für Furore sorgten, waren die Dirigenten Otto Klemperer, Fritz Reiner, George Szell und Bruno Walter und Instrumentalisten wie Jascha Heifetz und Vladimir Horowitz, Nathan Milstein und Artur Rubinstein, Menschen und Musiker voller Witz, Sentimentalität und Schwermut, oft auch gepeinigt von inneren Kämpfen und Zerrissenheit, mitunter auch von Beziehungsschwierigkeiten.

    Die »Spezialität der Melancholie« (Joseph Roth) versuchte auch Vladimir Horowitz ein Leben lang zu überwinden. Er stammte aus dem »wilden Osten«, dem äußersten Nordosten der Donaumonarchie, wie auch Moses Joseph Roth, der Poet des sterbenden Habsburgerreichs, der in der galizischen Provinzstadt Brody geboren worden war. Bis zur russischen Grenze waren es kaum zehn Kilometer, aber mehr als 800 in die imperiale Hauptstadt Wien. Von 1772 bis 1918 war Galizien das größte Kronland der Monarchie. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert herrschte hier bittere Armut, jährlich starben mehr als 50 000 Menschen den Hungertod.

    Seine literarischen Arbeiten verfasste Moses Joseph Roth als Joseph Roth. Wollte er durch das Weglassen des Vornamens Moses, den er seinem Urgroßvater, einem Steinmetz, verdankte, nicht als Jude erkennbar sein? Doch seine Heimat in Galizien an der österreichisch-russischen Grenze ließ den ruhelos durch die Welt ziehenden Joseph Roth nie los. Der auch hier geborene Schriftsteller Karl Emil Franzos nennt Galizien, den letzten Vorposten europäischer Kultur, einen von polnischen Feudalherren beherrschten, fruchtbaren Landstrich, »Halbasien«. Deutsche, Armenier, Ungarn und viele andere Volksgruppen prägten den Alltag. »Der Wind, der über Galizien weht, ist bereits der Wind der Steppen, bereits der Wind von Sibirien«, schrieb Joseph Roth.

    Immer wieder kam es zu Spannungen, Kriegen und Grenzverschiebungen, sodass die Region ständig wechselnden Staatsgebilden angehörte. Ohne sich nur einen Zentimeter von der Stelle gerührt zu haben, fanden sich Familien als minder geachtete Bewohner der russischen Ukraine wieder. Die dunkelsten Momente in der Geschichte dieses Zwischenreichs waren die Demütigung und Unterdrückung der Juden – bis hin zu den Pogromen, den Massakern an der jüdischen Bevölkerung. Allein im Umkreis von Ternopil wurden während der Kriegsjahre 200 000 Juden ermordet. Rund sechzig Kilometer westlich von der einstigen Hauptstadt Krakau entfernt, liegt das Vernichtungslager Auschwitz.

    Im 1924 erschienenen Essay Reise durch Galizien schildert Joseph Roth noch voller melancholischer Sehnsucht seine Heimat, die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden, die sein Denken und Empfinden ein Leben lang prägte: »Auf den Märkten verkauft man primitive, hölzerne Hampelmänner wie in Europa vor 200 Jahren. Hat hier Europa aufgehört? Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist trotzdem nicht isoliert; es ist verbannt, aber nicht abgeschnitten; es hat mehr Kultur, als seine mangelnde Kanalisation vermuten lässt; viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit. Viele kennen es aus der Zeit des Krieges, aber da verbarg es sein Angesicht. Es war kein Land. Es war Etappe oder Front. Aber es hatte eine eigene Lust, eigene Lieder, eigene Menschen und einen eigenen Glanz; den traurigen Glanz der Geschmähten.«

    Joseph Roth hatte durchdringende, listige Augen eines Beobachters, Jägers, Reporters, eines Romantikers mit dem scharfen Blick eines Realisten. Er schrieb nicht nur viel, er trank auch viel. Zu viel. Die Getränke konnten nicht scharf genug sein. Der Alkohol, mit dem sich der große Dichter betäubte, beendete sein Leben. »Er hatte Glück bei den Frauen und wenig Glück mit ihnen«, meinte sein Freund, der Essayist Hermann Kesten, »… er beherrschte die Sprache wie Rastelli seine Bälle, wie Paganini seine Geige«.

    Personal musste oft Frau, Familie und Freunde ersetzen, wie etwa die junge Wirtin in dem kleinen Café in der Pariser Rue de Tournon, die den kranken Poeten wie einen Freund betreute. In einer Lade unter der Schank verwahrte sie bis zu seinem Ende sorgsam seine Dokumente und Manuskripte. Winselnd vor süchtigem Verlangen, starb Joseph Roth 45-jährig in einem Pariser Armenspital. Ein Heimatloser voller Weltschmerz, ein ewig Rastloser, »… wissend und hoffnungslos. Man ist durch ein Feuer gegangen und bleibt gezeichnet für den Rest seines Lebens.«

    KAPITEL 2

    Fischmarkt als Universität

    Das Leben ist ein dauerndes Bemühen.

    Bei Leonard Bernsteins Familie kann – anders als bei Familie Horowitz und ihrem Potpourri aus Dichtung, Fantasie und Wahrheit – die Abstammung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Der Name Bernstein stammt vermutlich von früheren Bernsteinhändlern. Vorfahren waren Rabbiner und Schriftgelehrte, Leonards Urgroßvater Bezalel, um 1840 geboren, war Hufschmied. Weithin wurde der fromme, gesellige und wodkaliebende Handwerker geschätzt und respektiert: Er war so stark, dass er ganz allein eine Droshky, eine Kutsche, heben und ein Rad wechseln konnte. Als knapp Dreißigjähriger kam er bei einem Feuer in seiner Werkstatt ums Leben. Die Nachricht vom tragischen Tod des vierfachen Familienvaters verbreitete sich rasant.

    Man lebte in der Kleinstadt Beresdiw, in einem der Stetln Osteuropas, innerhalb eines Ansiedlungsrayons der Provinz Wolhynien zwischen Kiew und Rowno am Ufer des Kortschik, einem der Gebiete, das der jüdischen Bevölkerung Wohn- und Arbeitsrecht zugestand. Das Toleranzedikt der liberalen Katharina II. von 1773 hatte noch irgendwie Gültigkeit: »Humanitäre Grundsätze erlauben es nicht, dass einzig die Juden von der Gunst, die allen gewährt wird, ausgeschlossen bleiben, sofern sie sich wie bisher, als getreue Untertanen dem Handel und Handwerk widmen …« Dennoch litt die jüdische Bevölkerung jahrhundertelang unter Schikanen. Antisemitismus war salonfähig, das Ghetto wurde zur Institution.

    Wenn man aus dieser bedrohlichen Stetlatmosphäre ausbrechen wollte, waren die Möglichkeiten sehr begrenzt. Es gab den Traum von Amerika, die Illusion Südafrika und Lateinamerika, wo die Einwanderung von Juden erlaubt, manchmal sogar erwünscht war. Der kürzere Weg in ein anderes europäisches Land war zumeist nur mit Ablehnung verbunden. Ein mittelloser Jude aus dem fernen Galizien war nicht willkommen. Die Mutigsten beschlossen, den langen Weg nach Amerika zu wagen. Während der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verließ mehr als eine Million Juden Russland, um in den Vereinigten Staaten ihr Glück zu suchen.

    Leonard Bernsteins Vater Schmuel Josef wollte wie sein Vater und wie viele seiner früheren Vorfahren Rabbiner werden. Er war ein Mensch voll glühender Frömmigkeit, das Textbuch seines Lebens war der Talmud – die Sammlung der wichtigsten jüdischen Religionsgesetze –, den Schmuel als Wegweiser, als oberste Richtschnur sittlicher und gesellschaftlicher Moral empfand. »Wenn er eine Rede halten soll, beginnt er unweigerlich mit einem Talmud-Zitat. Er übergeht ihn auch nicht im täglichen Gespräch …«, erinnerte sich Leonard Bernstein in einem Aufsatz für das Gymnasium in Boston im Februar 1935, »… der Talmud ist sein unfehlbares Konversationslexikon … Er findet größeres Vergnügen an den vielen Geschichten, die der Illustration biblischer Feinheiten dienen, als an irgendeinem Roman. Er kennt kein einziges englisches Gedicht, weil ihm die Musik der talmudischen Prosa genug Zerstreuung bietet.«

    Doch die Verlockung der weiten Welt, die Sehnsucht des jungen Schmuel Bernstein nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, war grenzenlos. 1903 floh sein Onkel Herschel Malamud gerade rechtzeitig vor Ankunft der zaristischen Stellungskommission – als Soldaten des Zaren mussten auch Juden dienen – aus seiner Heimatstadt Korez. Entschlossen begab er sich auf die ungewisse Seereise. Als Onkel Herschel in einem Brief berichtete, dass er in Hartford, einer Stadt in Connecticut, gelandet sei und als Friseurlehrling Woche für Woche einige Dollar verdiene, wusste Schmuel Josef, der seine Bar Mizwa schon hinter sich hatte, dass auch er die waghalsige Flucht unternehmen musste. Unter allen Umständen. Er erkundigte sich bei den Fluchthelfern seines Onkels, wie man sich über die Grenze nach Preußen und Danzig stehlen konnte, wie man Kontakt mit der jüdischen Hilfsorganisation aufnahm, um das Geld für die Überfahrt nach Amerika zu bekommen – und wie man sich über Wasser hielt, wenn man schließlich angekommen war.

    Schmuels Familie erfuhr von den Fluchtplänen. Man weigerte sich entschieden, ihn ziehen zu lassen. Als ältester Sohn hatte er zu Hause zu bleiben und für die Familie den Lebensunterhalt zu sichern. Und irgendwann würde er ja sowieso Rabbi werden. »Was konnte Amerika ihm bieten? Nichts außer primitiven Menschen und wilden Tieren. Er würde kaum bis Danzig kommen. Und selbst dann würde ihn der Ozean verschlingen …«, berichtet Burton Bernstein, der jüngere Bruder Leonards, achtzig Jahre später im Buch Family Matters über die Bedenken der Verwandten. Was hätte die Familie damals im Stetl am Ende der Welt bloß gesagt, wenn sie geahnt hätten, dass Burton, Autor des Magazins New Yorker, einer der Kandidaten für eine (abgesagte) Journalistenreise in den Weltraum war.

    1908 traf aus Connecticut ein Brief des Onkels Herschel Malamud – der seinen Namen längst amerikanischen Verhältnissen angepasst und auf Harry Levy geändert hatte – an den sechzehnjährigen Schmuel ein. Im Kuvert befand sich auch etwas Geld. Genug, um bis Danzig und vielleicht auch auf ein Schiff zu gelangen. Schmuel war für das Abenteuer seines Lebens bereit: In eine zusammengerollte Decke packte er ein paar Kleidungsstücke. Er verabschiedete sich von seinem Bruder und seinen Schwestern und musste schwören, aus Amerika bald Geld zu schicken, damit sie ihm nachkommen konnten. Der drei Jahre alte Bruder Schlomoh weinte bitterlich. Er wollte unbedingt mitkommen. Voller Angst und Schuldgefühl wagte Schmuel nicht, sich von seinen Eltern zu verabschieden, und schlich sich nachts aus dem kleinen Haus in Beresdiw.

    Zu Fuß ging es unter Umgehung sämtlicher Grenzposten quer durch Polen in westliche Richtung – mit Brot und Erdäpfeln von Verwandten als Proviant. Richtung Danzig. Die große Hafenmetropole an der Ostsee, damals die Hauptstadt von Westpreußen, war schon immer Dreh- und Angelpunkt für die großen Auswanderungswellen osteuropäischer Juden gewesen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kannten sie nur ein Ziel: Amerika! Später auch Kanada und Palästina. Zwischen 1919 und 1925 emigrierten mehr als 60 000 Juden über den Danziger Hafen. Arbeiter, Handwerker und ziehende Händler, die zuvor im Armenhaus der Monarchie mit Socken und Schuhbändern, Knöpfen und Leinenballen hausiert hatten.

    In der großen, beeindruckenden Stadt Danzig kaufte sich Schmuel ein Ticket für das Zwischendeck eines Transatlantikdampfers, dessen Endstation Liverpool sein sollte. Dort hoffte er, von einer jüdischen Hilfsorganisation Geld für die Überfahrt nach New York zu bekommen. Geprägt von Angst und Zweifel begann die zwei Wochen dauernde Schiffsreise in die Zukunft des sechzehnjährigen Schmuel Bernstein, der von Anfang an auf der Fahrt durch die raue Ost- und Nordsee seekrank war. Bis zum Schluss blieb es ungewiss, ob das Schiff jemals sein Ziel erreichen würde.

    Schließlich legte der überfüllte, von Wanzen befallene Dampfer in Liverpool an. Man bot den erschöpften Emigranten nach Wochen mit verdorbenem Essen Gemüsesuppe an. In einer Lagerhalle am Hafen durften sie übernachten. Die hygienischen Missstände und das Ungeziefer im Bauch des Schiffs blieben Papa Bernstein ein Leben lang in Erinnerung: Regelmäßig musste seine Frau noch Jahrzehnte nach dem Zwischendeckaufenthalt im Jahre 1908 penible Reinlichkeitsfeldzüge durchführen. Sobald er verschüttetes Essen im Kühlschrank oder eine einzelne Ameise entdeckte, erschütterte ein Zornanfall das Haus.

    Am nächsten Morgen bestieg Schmuel den Auswanderungsdampfer mit dem heiß ersehnten Ziel Amerika. Nach wilden Wochen auf der Fahrt über den Atlantik erreichte das Schiff die überfüllte, chaotische Einwanderungsstelle Ellis Island. Irgendwie fand Onkel Harry Levy den erschöpften, aber überglücklichen Schmuel. 25 Dollar als Bürgschaft für den neuen Amerikaner hatte er zuvor schon hinterlegt. Bald bekam auch Schmuel einen passenden Namen: Sam. Wie sein Onkel Jahre zuvor begann er im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ganz unten auf der Karriereleiter: Er nahm auf dem Fulton Street Market gegenüber von Manhattan Barsche und Dorsche, Heringe und Makrelen aus. Hier war die erste Anlaufstelle vieler Einwanderer: Es wurde nicht lange gefragt, man bekam ein scharfes Messer und einen Fischschupper in die Hand gedrückt. Gruppen von zehn Männern standen um die Metalltische. Alle paar Minuten dröhnte ein donnerndes Geräusch durch die Halle: Die nächste Lawine von Fischen schoss sintflutartig von oben auf den Tisch. Mit durchtränkten Schuhen in glitschiger Brühe watend, auf Haut, Haaren und Arbeitskleidung Fischblut und -eingeweide: Der Aufstieg für den schmächtigen Sechzehnjährigen auf der amerikanischen Erfolgsleiter konnte beginnen.

    Er arbeitete von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends an sechs von sieben Tagen inklusive des Samstags, des jüdischen Sabbats, für einen Wochenlohn von fünf Dollar. Zu Mittag gab es eine Portion Salzheringe. Nicht nur in der kurzen Mittagspause träumte Sam von einer Karriere als Briefträger. Doch beim Bewerbungsgespräch versagte er. Später bezeichnete Sam Bernstein den Fulton Fischmarkt immer wieder als »meine Universität«. Beim Ausnehmen und Schuppen der Fische lernte Sam Bernstein, wie man von fünf Dollar pro Woche leben konnte, und seine ersten Brocken Englisch, hörte hitzige Argumente für die Demokraten und lernte auch, wie man Freunde gewinnen und Menschen beeinflussen konnte. Er entdeckte immer mehr, dass in Amerika alles möglich war.

    KAPITEL 3

    Jüdisches Penicillin

    Ich glaube, ich hätte ein ganz annehmbarer Rabbiner werden können. Doch davon konnte keine Rede sein, denn Musik war das Einzige, was mich erfüllte.

    Im Frühjahr 1912 erhielt Sam in seiner winzigen Unterkunft an der New Yorker unteren Eastside Post von Onkel Harry, der ihn nach Hartford in Connecticut einlud. Gemeinsam wolle man Pessach, das jüdische Osterfest, feiern. Und Harry deutete in dem Brief auch an, dass Sam vielleicht in Hartford bleiben könne, um in seinem Friseurgeschäft zu arbeiten. Der Laden liefe gut, inzwischen verkaufe man auch Zöpfe und Damenperücken. Der vom Schmutz und Gestank am Fulton Street Market frustrierte Sam fuhr bereits am nächsten Tag mit dem Zug nach Hartford. Bald begann er im Frisiersalon des Onkels als Lehrling zu arbeiten. Er befreite den Boden von Haaren, säuberte Kämme und Scheren und wusch Arbeitsmäntel – auch nicht gerade der Traumjob für Sam im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, aber noch immer besser, als zwölf Stunden pro Tag Fische auszunehmen.

    Eines Tages bemerkte der Vertreter der New Yorker Firma Frankel & Smith – Lieferanten von Friseur- und Kosmetikartikeln – den Lehrbuben in Onkel Harrys Geschäft und engagierte ihn für die neue Filiale in Boston als Lagerarbeiter. Eine baldige Beförderung hinge nur vom Fleiß des jungen Mannes ab. Haarteile boomten, das Geschäft blühte auch in Boston. Sam sortierte Bündel von Menschenhaar, das aus Asien importiert wurde. Nach der chemischen Reinigung wurde das Haar für modebewusste Amerikanerinnen in Perücken geflochten. Sams Aufstieg begann. Bald war er einer der erfolgreichsten Mitarbeiter bei Frankel & Smith. Und bald gründete er eine eigene Firma – die Samuel Bernstein Hair Company.

    1916, er war nun 24 Jahre alt, amerikanischer Staatsbürger und hatte einiges zusammengespart, konnte er langsam an die Gründung einer Familie denken. Der steife weiße Kragen sowie seine dunklen dreiteiligen Anzüge und der geglättete schwarze Lockenschopf ließen ihn wie einen jungen Mann auf dem Weg nach oben aussehen. Sam Bernstein hatte es geschafft. Im Frühjahr 1917 trat Amerika in den Krieg ein, Sam wurde in die Armee eingezogen. Doch wegen seiner Kurzsichtigkeit wurde er ehrenhaft entlassen. Ein paar Monate später, an einem Sonntag im Herbst, heiratet Sam Bernstein die neunzehnjährige Jennie Resnick. Auf ebenso abenteuerliche Weise wie er war Jennie bereits im Alter von sieben Jahren mit ihren Eltern aus einem Stetl ganz in der Nähe der Heimatstadt Sams nach Amerika gekommen. Früh hatte Jennie in einer Fabrik zu arbeiten begonnen und sie besuchte mehrmals pro Woche eine Abendschule, um Englisch zu lernen. Die Resnicks lebten in Lawrence, vierzig Kilometer nördlich von Boston. Jahre nach der Trauung behauptete Jennie, ihre Mutter hätte eine Verlobungsfeier organisiert und den Tag der Hochzeit fixiert, ohne der Tochter irgendetwas zu sagen. Einer bescheidenen Feier in der Synagoge folgte jedenfalls ein aufwendiges Fest im Hause Resnick. Tagelang bereitete die Familie unter den strengen Anweisungen von Mama Pearl Spezialitäten der ostjüdischen Küche zu: Gefillte Fisch (Karpfen mit Fischinnereien gefüllt), Borscht (Rote-Rüben-Suppe), jiddischen Kaviar (Hühnerleber mit Zwiebel und Gänseschmalz), Latkes (Erdäpfelpuffer) und vorbeugend fürs ganze Leben einen Riesentopf Hühnersuppe, jewish penicillin.

    Die Flitterwochen nach dem üppigen Gelage bestanden aus einer einzigen schlaflosen Nacht im Essex Hotel im Zentrum von Boston. Der Lärm der Züge des nahen Bahnhofs hielt die beiden wach. Jennie musste jedoch ihrer streng religiösen Mutter versprechen, die Ehe nicht zu vollziehen. In der Hektik der Hochzeitsvorbereitungen hatte die Mutter vergessen, mit ihrer Tochter in die Mikwe, zum rituellen Reinigungsbad, zu gehen. Bereits am nächsten Tag zogen die Brautleute in eine winzige Wohnung im Armenviertel Mattapan ein. Hier konnte man

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