Der Kapitän: BsB_Roman Abenteuer Seefahrt
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Über dieses E-Book
Zwischen den Bahamas und Bermudas gerät die ANABEL in einen Hurrikan und sinkt, weil nahezu alle Sicherungssysteme versagen. Dreizehn Seeleute sterben, bloß ein Drittel der Besatzung, darunter Kapitän Abeling, überlebt die Katastrophe. Der starrköpfige Friese will den skrupellosen Reeder nicht mit einer Geldstrafe davonkommen lassen, er setzt alles daran, dem wahren Schuldingen noch eine Lektion zu erteilen.
Ein mitreißendes Buch, das davon lebt, dass Matthiesen sehr viel Hintergrundwissen und eigene Erfahrungen einfließen lässt, nautische Begriffe, spanische Floskeln oder norddeutsche Phrasen. Das Buch beschreibt Länder und ihre Einwohner und zeichnet das Bild eines Berufszweiges, der seine Romantik durch Konkurrenzkampf und Habgier verloren hat.
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Buchvorschau
Der Kapitän - Hinrich Matthiesen
Hinrich Matthiesen
Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexico. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.
1969 erschien sein erster Roman: MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung und virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.
Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.
»Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden.«
Deutsche Tagespost
»Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«
Deutsche Welle
»Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal. «
FAZ-Magazin
Werkausgabe Romane Band 29
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Der Roman
Die ANABEL sticht trotz großer technischer Mängel in See. Kapitän Meinert Abeling fährt den zweiundzwanzig Jahre alten Frachter. Der nach Panama ausgeflaggte Veteran ist vom Bug bis zum Heck, vom Kiel bis zu den Toppen renovierungsbedürftig. Die Reederei hat bisher alle Anträge abgelehnt, das Schiff überholen zu lassen. Der Reeder Schottmann weiß, wie man mit Schifffahrt große Gewinne macht: Er lässt Schiffe überladen, unterbesetzt und mit mangelhafter Ausrüstung in See stechen.
Zwischen den Bahamas und Bermudas gerät die ANABEL in einen Hurrikan und sinkt, weil nahezu alle Sicherungssysteme versagen. Dreizehn Seeleute sterben, bloß ein Drittel der Besatzung, darunter Kapitän Abeling, überlebt die Katastrophe. Der starrköpfige Friese will den skrupellosen Reeder nicht mit einer Geldstrafe davonkommen lassen, er setzt alles daran, dem wahren Schuldingen noch eine Lektion zu erteilen.
Ein mitreißendes Buch, das davon lebt, dass Matthiesen sehr viel Hintergrundwissen und eigene Erfahrungen einfließen lässt, nautische Begriffe, spanische Floskeln oder norddeutsche Phrasen. Das Buch beschreibt Länder und ihre Einwohner und zeichnet das Bild eines Berufszweiges, der seine Romantik durch Konkurrenzkampf und Habgier verloren hat.
Titelverzeichnis der Werkausgabe in 31 Bänden am Ende des Buches
Hinrich Matthiesen
Der Kapitän
Roman
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BsB_BestSelectBook_Digital Publishers
Werkausgabe Romane
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Band 29
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 by BestSelectBook_Digital Publishers München
ISBN 978-3-86466-380-2
Die Handlung dieses Romans ist erfunden.
Eine Übereinstimmung der darin genannten Namen mit denen lebender oder verstorbener Personen sowie tatsächlich existierender Schiffe und Reedereien wäre daher rein zufällig.
1.
Kapitän Abeling war ein einsamer, grüblerischer Mann. Dennoch zeigte er sich hin und wieder gesellig. Er hatte gelernt, dass man sonst nicht weiterkam. Die Menschen waren egoistisch, wollten von den Sorgen anderer nichts wissen. Und er hatte Sorgen! Tagein, tagaus. Im Grunde liefen sie allesamt auf das gleiche Übel hinaus, hatten immer mit seinem Schiff zu tun und mit der Einsicht, dass er es eigentlich keine drei Meilen mehr hin und her bewegen, geschweige denn sich mit ihm in die offene See hinauswagen durfte, womöglich bei Sturm. Gegenwärtig bestand allerdings keine Gefahr, dass die ANABEL leckschlagen oder sogar untergehen könnte, und auch in den nächsten Tagen würden Mängel, jedenfalls soweit sie den Fahrbetrieb angingen, nicht zutage treten, denn das Schiff lag im Hafen. Es hatte Container an Bord, und das Löschen und die neuerliche Beladung würden ihre Zeit brauchen.
Meinert Abeling saß in seiner Kajüte. Die Vierundzwanzig-Uhr-Nachrichten der Deutschen Welle waren zu Ende. Es hatte keine besonderen Vorkommnisse gegeben, außer dass die Israelis mal wieder einen Blutzoll hatten zahlen müssen. Wie Blitze aus heiterem Himmel hatten die Salven des Terrorkommandos den Bus getroffen. Die Bilanz: sieben Tote und elf Verletzte. Es war schlimm: Die Menschen reisten durchs All und verpflanzten Herzen und schienen das Altern besiegen zu wollen, aber hier und da ein kleines oder auch ein großes Massaker, das gehörte zum Alltag des Weltgeschehens.
Er stellte das Radio ab, lehnte sich zurück, ließ die Toten tot sein und dachte an den frivolen Spruch, der Piet Kannegieter, seinem Ersten Offizier, aus dem losen Mundwerk gekollert war. Beim Abendbrot. In der Messe. Sein Gelächter hatte der smarte Holländer gleich drangehängt, so dass sich zumindest der Zweite und der Assi, weil in der Bordhierarchie weiter unten, zum Mitlachen aufgefordert gesehen hatten.
»Die feinsten Damen lassen bei mir arbeiten!«, hatte der I WO verkündet. Es war also um Qualität gegangen, doch ganz sicher nicht um die der Haute Couture. So lächerlich Meinert Abeling diese Prahlerei nun auch fand, sie stieß ihn – wie alles, was in irgendeiner Weise mit dem Begriff »Qualität« zusammenhing – wieder einmal auf sein Problem, nämlich auf die Frage, wer für wen arbeiten ließ und was dabei für das Schiff und die Männer herauskam. Denn natürlich gehörte die ANABEL nicht ihm, aber er befehligte sie und hatte die Verantwortung für den achtzehntausend Tonnen großen Oldtimer wie für die neunzehn Menschen, die auf ihm Dienst taten.
Er überließ also Piet Kannegieters Damen ihrem Schicksal und wandte sich jener Lady zu, die ihm näherstand, seiner ANABEL. Sie lässt, ging es ihm durch den Kopf, bei der Reederei SCHOTTMANN & SOHN arbeiten, zwangsläufig, und weil das keine gute Adresse ist, fehlt es dem armen Mädchen an allem.
In der Tat, das Schiff war verwahrlost vom Topp bis zum Kiel, vom Bug bis zum Heck. Die Maschine zum Beispiel, ein neuntausend PS starker IRON VANDERBILT-Viertakter, in Liverpool gebaut und im Allgemeinen verlässlich, müsste längst mal wieder grundüberholt werden. Nach sechstausend Betriebsstunden war das fällig. Nun gut, achttausend waren auch noch zu akzeptieren, und im Einzelfall konnte man, wenn erstklassiges Personal für gewissenhafte Wartung sorgte, sogar neun- oder zehntausend durchgehen lassen, aber bei siebzehntausend Betriebsstunden ohne ordnungsgemäße Instandsetzung lag ein schon krimineller Leichtsinn vor. Schottmann schob die seit langem fällige Maßnahme mit immer neuen Ausflüchten vor sich her. Mal war es die angespannte Frachtenlage, auf Grund derer für eine teure Renovierung angeblich kein Geld vorhanden war. Dann wieder führte er das genaue Gegenteil ins Feld, einen wahren Boom bei den Charter-Raten. Den müssen wir mitnehmen, hieß es, und darum können wir uns kostspielige Werftliegezeiten jetzt nicht leisten. Ja, es war immer dasselbe, und so stotterte sich die ANABEL von Hafen zu Hafen, manövrierfähig nur noch durch die Bastelkünste ihrer Ingenieure, des Deutschen Berthold Rogge, des Israeli Ruben Feuerstein und des Assistenten Luis Cabrera, eines Spaniers aus Santiago de Compostela.
Auch um die Funkanlage war es schlecht bestellt. Zwar befanden sich alle vorgeschriebenen Geräte an Bord, Haupt- und Mittelwellensender, zwei Empfänger, Telegraphie-Funk-Alarmgerät, UKW-Anlage und was sonst noch dazugehörte, aber sie waren mindestens anderthalb Jahrzehnte alt und hätten längst ausgetauscht werden müssen. Hörte man Jim Forester, den amerikanischen Funker, in seiner Bude laut sprechen, obwohl er mit sich allein war und seine Worte auch keinem fernen, in den Äther lauschenden Adressaten galten, dann war er dabei, auf eins seiner Instrumente, das mal wieder nicht funktionieren wollte, einzureden wie auf ein störrisches Kind, und bisher war es ihm noch jedes Mal gelungen, den Defekt zu beheben. Er, Meinert Abeling, selbst Inhaber des Funkerpatents, lobte den Schwarzen aus Tennessee oft und räumte ein, mit dessen erstaunlichen Fertigkeiten nicht konkurrieren zu können. Ein Plus allerdings gab es, nämlich die Sat-Com-Anlage, die die Benutzung von Telefon und Faxgerät per Satelliten-Kommunikation möglich machte. Doch das ging beileibe nicht auf eine noble Geste des Reeders zurück; vielmehr hatte einer der Charterer auf dieser Anlage bestanden, um jederzeit schnelle Entscheidungen treffen zu können, und Schottmann hatte sie dann auf dem Second-Hand-Markt erworben.
Aber alles andere war sträflich abgenutzt. Die Brücke, das Kartenhaus, die Kombüse, die Proviant-Kühlräume und die Kajüten befanden sich in kläglichem Zustand, und es geschah nicht selten, dass er, sei es im Gespräch mit seinen Männern, sei es nur in Gedanken, den verwahrlosten Kauffahrer mit Travens Totenschiff verglich. Dazu passte auch, was vor Kurzem ein kolumbianischer Stauer zu ihm gesagt hatte. Der Mann trat, alle zehn Finger abwehrend von sich gespreizt, ihm entgegen und begrüßte ihn mit den Worten: »Na, dann muss ich also mal wieder auf Ihren Scharlachdampfer!« Angesichts der überall abgeplatzten schwarzen Farbe und der hässlichen Mennige-Inseln auf dem Rumpf des Schiffes hatte er natürlich recht, und trotzdem wirkte seine Äußerung verletzend.
Dieser bedrückende Arbeitsplatz barg die Gefahr in sich, dass die dazugehörigen Menschen ihr Erscheinungsbild vernachlässigten. Bei einigen von ihnen war es denn auch der Fall. Sie legten wenig Wert auf saubere Kleidung, und sogar ihre Körperpflege ließ zu wünschen übrig. Das war, fand er, bedauerlich, aber durchaus zu verstehen. Das hässliche Schiff färbte ganz einfach auf sie ab.
Ihm selbst erging es nicht so. Vielleicht war es ein Protest, ein Aufbegehren gegen die unerfreulichen Umstände, dass er stets auf gutes Aussehen bedacht war. Die ihm von der Natur mitgegebene Grundausstattung half ihm dabei. Er war groß und schlank, überragte die eher kleinwüchsigen Filipinos und Südamerikaner um Kopfeslänge, und unter den Europäern waren nur der Erste Offizier und der Koch von ähnlicher Statur.
Sein Haar war bereits grau, aber noch sehr voll, und er trug es kurz, ohne Scheitel. Die bei den Nordländern schon fast obligaten blauen Augen hatte er nicht; seine waren von einem dunklen Graugrün, doch zum Meer und zum Blick in die Weite passten auch die ganz gut.
Eine Uniform trug er selten, und wenn, dann nur die khakifarbene Version der Tropen, sonst schwarze oder dunkelgraue Hosen, dazu Pullover, an Bord aus Schafwolle, an Land aus Kaschmir, auch sie in Schwarz oder Grau, mal mit, mal ohne Rollkragen. Und immer gehörten zu seiner Kleidung seidene Oberhemden, von denen er zwei Dutzend besaß.
Das Standardbild vom Seebären mit Vollbart traf auf ihn nicht zu. Er legte vielmehr großen Wert auf die tägliche Rasur, und das nicht, um seinen Männern den Anblick von Stoppeln zu ersparen, die ihnen wahrscheinlich auch gar nicht aufgefallen wären, sondern fürs eigene Wohlbefinden.
Alles in allem war er also eine respektable Erscheinung, ganz im Gegensatz zu seiner ANABEL. Mit ihr konnte man wirklich keinen Staat machen, denn sie war nun mal das, was man unter Seeleuten einen Never-come-back-liner nannte. Wenn sie es bis jetzt noch immer geschafft hatte, den jeweiligen Zielhafen anzulaufen, musste Gottes schützende Hand im Spiel gewesen sein.
Natürlich, er hätte abmustern können, doch war der Wechsel auf ein anderes Schiff nicht so ohne weiteres möglich. Aus der Zeit, als er noch nicht für SCHOTTMANN & SOHN fuhr, lastete eine Havarie auf seinem Konto, bei der es zu Personen- und Sachschäden gekommen war. Zum Zeitpunkt des Unglücks hatte er unter dem Einfluss von Cliradon gestanden. Nicht etwa, dass er damals süchtig gewesen wäre; es war ihm lediglich darum gegangen, eine hundsgemeine Magenkolik zu bekämpfen. Das bei schweren Schmerzzuständen durchaus angebrachte Arzneimittel wurde ihm vom Zweiten Offizier verabreicht, aber zu verantworten hatte er die Einnahme natürlich selbst. Und ausgerechnet in dieser Nacht verursachte der Dritte Offizier vor Cherbourg eine Kollision mit einem Griechen. Medikamentierung und Kollision hätten allerdings nicht ausgereicht, dem Kapitän eine Verwarnung zu erteilen, doch wie um das Maß vollzumachen, hatte sich bei der Seeamtsverhandlung herausgestellt, dass der Dritte, ein Jugoslawe aus Split, kein gültiges Patent besaß, und das ging voll auf die Kappe des Schiffsführers.
So hatte er, was ihn schmerzte, bei den Reedern und zum Teil auch bei seinen Kollegen den Ruf eines zweitklassigen Kapitäns und konnte froh sein, überhaupt noch eine Anstellung gefunden zu haben.
Es war jetzt kurz vor eins. Am frühen Abend waren sie in Veracruz angekommen, hätten dort schon zwei Tage früher einlaufen sollen, doch wenige Stunden vor Erreichen des Ziels hatte sich im Golf von Mexiko ein Unwetter zusammengebraut, und dann war ein norte, der für diese Gegend typische Sturm aus Nord, über die Region hinweggefegt, hatte zwischen Coatzacoalcos und Tampico achtundvierzig Stunden lang gewütet und das Einlaufen in den Hafen von Veracruz verhindert. Er kannte diesen Unheilbringer, der vor allem während der Regenzeit auf den Plan trat, dabei oft ganze Landstriche heimsuchte und die anliegenden Küstengewässer aufwühlte, von früheren Reisen her. Manchmal lagen die ankommenden Schiffe vier, fünf Tage sozusagen vor der Haustür und konnten den letzten Schritt hinein nicht wagen, weil der norte sie an der Mole zertrümmert hätte. Diesmal waren es nur zwei Tage gewesen, die sie im Wartestand zubringen mussten, doch als er seiner Reederei die voraussichtliche Verzögerung telefonisch mitgeteilt hatte, war er vom Junior geradezu überschüttet worden mit wütendem Protest, ganz so, als hätte er die Schuld an der Misere. Er hatte dem erst siebenundzwanzig Jahre alten Rüdiger Schottmann erwidert, immerhin lägen sie mit insgesamt neun Frachtern vor Veracruz, und die Reederei könne ja wohl nicht erwarten, dass ausgerechnet das lahmste dieser Schiffe den aberwitzigen Versuch unternähme, die Naturgewalten auszutricksen. Dann hatte er noch gefragt, ob die Reederei denn wohl bereit gewesen wäre, dem Staat Veracruz die zertrümmerten Hafenanlagen zu ersetzen, ganz abgesehen davon, dass bei einem solchen crash auch die ANABEL und dazu noch ein paar Leute draufgegangen wären. Da hatte das Jüngelchen, das erst kürzlich aus der Immobilienbranche in die Reederei des Vaters übergewechselt war und von Nautik kaum etwas verstand, eingelenkt, ja, sich sogar entschuldigt.
Abeling verließ die Kajüte und stieg die Treppe zum Navigationsdeck hinauf, um vor dem Schlafengehen noch eine Weile auf der dem Land zugekehrten Steuerbord-Brückennock hin und her zu gehen.
Er war, wie während einer Liegezeit und dann noch zu so später Stunde nicht anders zu erwarten, allein da oben. Die meisten der Männer waren an Land gegangen. Immerhin war es nach einundzwanzig Tagen auf See ihr erster Streifzug durch eine Stadt. Da war bestimmt so einiges fällig, auch wenn er den unteren Chargen nur einen Teil der ihnen zustehenden Heuer ausgezahlt hatte. Sie hatten gemurrt, aber er war hart geblieben, hatte ihnen als abschreckendes Beispiel das Schicksal des inzwischen von der ANABEL abgemusterten türkischen Bootsmannes vor Augen geführt, der mit einer Heuernachzahlung von eintausendzweihundert Dollar in Houston an Land gegangen war und dann in einer einzigen Nacht das ganze Geld durchgebracht hatte. Mit fünfzig Dollar pro Kopf, so hatte er seinen Männern erklärt, komme man in Veracruz zurecht. Die Edelnutten in den Bars der großen Hotels seien zwar kaum billiger zu haben als die entsprechenden Frauen in Europa, aber diese Kategorie komme für einen Seemann ohnehin nicht in Frage, und die Huren links und rechts der Plaza und in den Seitenstraßen der Avenida Saragossa, die zehn bis zwanzig Dollar verlangten, seien auch nicht übel.
Er zündete sich eine Zigarette an, trat ans Geländer und sah hinunter auf den beleuchteten Kai. Dort würden morgen früh die Löscharbeiten beginnen. Gleich nach dem Festmachen hatte er versucht, noch für die Nacht einen Trupp Schauerleute zu mobilisieren, doch war er damit bei der Gewerkschaft auf Granit gestoßen.
Er wollte sich gerade abwenden und nach unten gehen, da entdeckte er das Pärchen. In inniger Umarmung steuerte es auf die ANABEL zu, und als es näher herangekommen war, erkannte er im Licht der Kranlampen, dass der Mann neben dem südländischen Mädchen der strohblonde Heiner Nickelsen war, sein aus dem Emsland stammender Koch.
Schnell trat er von der hohen Nockkante zurück, um nicht in den Verdacht zu geraten, er spionierte seinen Leuten nach, ging dann in die Kajüte, dachte noch, bevor er sich schlafen legte: Der Heiner macht es also andersherum, erledigt die Sache nicht im Puff, sondern nimmt die Frau mit an Bord. Auch ʼne Methode. Ist wohl, sinnierte er weiter, eine Typenfrage, ob den Mann nach gehabter Freude die Trauer zu befallen pflegt und er dann lieber verduftet oder ob er die Lady über die gestillte Begierde hinaus bei sich haben möchte. Heiner zieht offenbar die zweite Variante vor.
Er selbst gehörte, was die Huren betraf, weder zur einen noch zur anderen Art, vermied es also, sie mit an Bord zu nehmen, hielt aber auch nichts von Bordellbesuchen. Im einen wie im anderen Fall würde sich ihm unweigerlich die Vorstellung aufdrängen, der Körper der Frau, wie verlockend er auch sein mochte, sei ein Verschiebebahnhof und er selbst eine jederzeit auswechselbare Lokomotive. Doch mit seinen fünfundfünfzig Jahren befand er sich ohnehin in herbstlichen Gefilden; er hatte es nicht mehr so eilig mit den Frauen.
Seine Ehe war schon früh gescheitert. Als Dreißigjähriger hatte er Elke Simonsen, eine gleichaltrige, sehr selbstbewusste Friesin von der Insel Föhr, geheiratet, aber schon nach zwei Jahren fanden beide, dass die monatelangen Reisen, hin und wieder unterbrochen durch gegenseitige Stippvisiten, keine Basis abgaben für eine Ehe. So trennten sie sich in gutem Einvernehmen, und es dauerte dann auch nicht lange, da heiratete Elke nach Australien. Seitdem hatte es für ihn nur Begegnungen gegeben, bei denen von vornherein feststand, dass sie nie in eine dauerhafte Verbindung münden würden. Ehe und Seefahrt, das hatte er für sich erkannt, passten einfach nicht zusammen. Er wusste von Kollegen, die anders dachten. Piet Kannegieter zum Beispiel war verheiratet, und als er, Abeling, einmal zu ihm sagte: »Immer fahren und fahren und dann und wann vier Wochen Ehe, das ist doch kein Zustand!«, erhielt er zur Antwort: »Na ja, irgendwann sind die vier Wochen ja auch mal zu Ende.«
2.
Heiner Nickelsens Eroberung war eine sehr exotische und zugleich erotische Frau. In dem schummerigen Schuppen, in dem er sie aufgetan hatte und der halb Kneipe und halb Bordell war, hatte der fürs Finanzielle zuständige Rodrigo der Schwarzhaarigen und ihrem blonden Begleiter, bevor sie aufbrachen, über die Köpfe gestrichen und gesagt: »Cafe y leche, que bonito!« Kaffee und Milch, wie schön! Heiner, der nicht viel Spanisch konnte, war stolz darauf gewesen, dass er die paar Brocken verstanden hatte.
Jetzt, im hellen Licht seiner Kajüte, sah er erst so richtig, was für eine kaffeebraune Schönheit er sich aus der Bar LA CONCHA geholt hatte. Dabei war Mariluz keine der vielen Mulattinnen, die man in Veracruz so häufig zu Gesicht bekam. Vielmehr ging die dunkle Hautfarbe, wie sie ihm gesagt hatte, auf ihre totonakischen Vorfahren zurück. Meinen Leuten hinterm Deich, dachte er, erzählʼ ich später was von einer indianischen Prinzessin!
Sie hätte, vom rassigen Erscheinungsbild her, eine sein können, wenn da nicht das allzu knappe T-Shirt und der überaus kurze Rock gewesen wären, dazu die aufreizenden Bewegungen ihrer wippenden braunen Beine und der grellgeschminkte, Kaugummi mahlende Mund. Sie hatte die hoch angesetzte, schmale, leicht gebogene Nase der Indios und kohlschwarze Augen. Ihre Brust war füllig, dennoch fest, und wenn es einen Adel der Hände gäbe, dann hätten sie ihn, so schlank und fein waren sie, zumal den Nägeln nicht das knallige Rot des Mundes, sondern ein dezentes Blassrosa zugeteilt worden war.
Angesichts solcher Reize hatte sich des fünfundzwanzigjährigen Emsländers ein für ihn ganz untypischer Leichtsinn bemächtigt. In rascher Folge hatte er immer neue copas bestellt, und der honigfarbene Tequila hatte ihn, der schon reichlich aufgekratzt war, dann noch beschwingter gemacht. Schließlich war der gemeinsame Aufbruch nur noch eine Frage des Geldes gewesen.
An der sprachlichen Verständigung freilich haperte es, denn sein Spanisch war in der Tat kümmerlich, und Mariluz beherrschte nur das Englisch ihres Gewerbes.
»Letʼs have a drink!«, sagte sie, und Heiner bot an. Fast ein Dutzend verschiedener Flaschen holte er aus seinem Spind hervor und reihte sie vor ihren glänzenden Augen aneinander. Sie zeigte auf den BALLANTINE, und voller Eifer schenkte er erst ihr ein und dann sich selbst.
»I need ice«, sagte sie und fächelte sich mit der grazilen Rechten Luft zu. Eilfertig lief er hinüber in die Kombüse, nicht ahnend, dass er ihr damit die Gelegenheit gab, ihr eigentliches Vorhaben einzuleiten. Aus einem leinenen, mit indianischen Motiven bestickten Beutel holte sie geschwind ein Fläschchen hervor, öffnete es und schüttete einen Teil des Inhalts in sein Glas. Als er zurückkam, war das Fläschchen längst wieder verschwunden.
Er hatte gut eingeschenkt. Nun kamen die Eiswürfel hinzu. Mariluz hob ihr Glas und sagte:
»Salud!«
»Salud!«, antwortete er.
Sie machte es ihm vor, kippte, nachdem sie den Kaugummi für einen Moment aus dem Mund genommen hatte, den ganzen Drink hinunter, und er tat es ihr nach.
Die K.-o.-Tropfen wirkten nicht sofort. Er saß neben ihr auf der Koje, hatte sein Glas, genau wie sie, auf dem Fußboden abgestellt, umfasste sie nun mit der rechten Hand und ließ die linke in ihren Ausschnitt gleiten. Der Stoff des T-Shirts, hauchdünn und dehnbar, gab nach, und so streichelte er ein paar glückliche Sekunden lang die prallen braunen Kugeln. Doch der Spaß war nur kurz. Schon nach den ersten wonnigen Berührungen griff er plötzlich ins Leere, sagte noch, was aber, weil er es auf Deutsch sagte, ebenfalls ins Leere ging, »Mir ist so komisch!«, rutschte von der Bettkante, fiel auf den Spannteppich, stieß dabei die Gläser mit den Eisresten um, blieb vor den am Boden festgeschraubten Tischbeinen liegen und rührte sich nicht mehr.
Mariluz sah hinunter auf den flachsblonden Schopf, kniete dann neben ihrem Opfer nieder, schüttelte den Bewusstlosen ein paarmal, kniff ihm in den Arm, in die Wange. Er zeigte keinerlei Reaktion. Daraufhin schlüpfte ihre Rechte, flink und routiniert wie die Hand eines Taschenspielers, in seine Jeanshose, ertastete das Schlüsselbund, zog es heraus und legte es auf den Tisch. Gleich danach erhob sie sich, trat an die Tür, lauschte eine Weile, öffnete sie und klebte ihren Kaugummi von außen unter den Türgriff. Sie ging in die Kabine zurück, drückte die Tür zu, setzte sich wieder auf die Koje und wartete.
Die Brüder José und Ignacio, ihre beiden Helfer, kamen nach einer halben Stunde. Auf einem Schlauchboot hatten sie sich der ANABEL von der Wasserseite her genähert, dann mit Hilfe ihres um einen Deckspoller geworfenen Tampens die Bordwand erklommen und, nach Betreten der Aufbauten, als Erstes den Wachmann gesucht, ihn auch gefunden, und zwar, wie sie es auf Schiffen schon oft erlebt hatten, nicht wach, sondern in tiefem Schlaf. Er lag auf der gepolsterten Sitzbank in der Messe. Natürlich konnten sie nicht hundertprozentig sicher sein, dass er es war, aber sie gingen davon aus, denn wer, wenn nicht der Posten, sollte nachts um zwei Uhr vollkommen angekleidet in der Messe sein, zumal die meisten Besatzungsmitglieder, wie sie erfahren hatten, an Land gegangen waren!
Die Mexikaner kannten sich auf Schiffen aus und hatten die Kajüte des Kochs schnell gefunden. Seine Berufsbezeichnung stand auf dem Türschild. Der Griff nach dem Kaugummi verriet ihnen, dass drinnen alles nach Plan verlaufen war. Sie traten ein.
Nach einer kurzen geflüsterten Absprache ging das eingespielte Trio an die Arbeit. Mariluz bezog Posten auf einem der Gänge, und die beiden jungen Männer schlichen sich zum Zoll-Store. Die an fast allen Türen angebrachten Schilder erleichterten ihnen auch hier die Orientierung.
Als sie in der Bar LA CONCHA ihre finsteren Vereinbarungen getroffen und dabei den so spendabel auftretenden Koch der ANABEL ins Fadenkreuz genommen hatten, war ihnen klar gewesen, dass der Umfang ihrer Beute nicht zuletzt von zwei Schlüsseln abhängen würde, dem des Zoll-Stores und dem des Proviant-Kühlraums. Jetzt, da sie zur Tat schritten, mussten sie zu ihrer Enttäuschung feststellen, dass der lohnendere der beiden Bereiche, nämlich das Depot mit so hochkarätigen Waren wie Alkoholika, Zigaretten, Parfüms und Schokolade, entfiel. Keiner der Schlüssel des Deutschen passte.
Also gehörte auch hier, wie auf so manch anderem Schiff, der Zoll-Store zur Domäne des Kapitäns oder des Stewards, und folglich hatten sie sich mit dem anderen Raum, dessen klobiger Inhalt nur mühsam zu transportieren und auch viel schwerer in Geld umzusetzen war, zu begnügen. Aber sie fanden sich schnell damit ab. Ein kurzes, bedauerndes Achselzucken und ein geflüstertes »ni modo«, nicht zu ändern, und schon waren sie auf dem Weg dorthin.
Hier stimmten Schlüssel und Schloss denn auch überein, und so schleppten José und Ignacio wenig später je zwei vereiste Rinder und Schweinehälften und dazu ein beachtliches Kontingent an armdicken Würsten über Gänge und Decks, jedes Mal abgesichert durch Mariluz, die noch immer Schmiere stand. An der dem offenen Meer zugekehrten Backbordseite des Schiffes ließen sie ihre Beute an mitgeführten Seilen hinunter, wobei ihnen wiederum zugutekam, dass die ANABEL schwerbeladen war und entsprechend tief lag. Die beiden großen Plastikbehälter mit den Würsten landeten in dem an der Bordwand vertäuten Schlauchboot, das Fleisch im Wasser. Dann kletterten die drei ins Boot, ließen den dicken Tampen einfach hängen, legten ab und paddelten, die Tierhälften im Schlepp, ihrem Ziel entgegen, einem ausgedienten Lagerschuppen an einem der Kais.
Dort angekommen, luden sie zuerst die Würste um, zogen anschließend das Fleisch aus dem Wasser, hievten alles in den hölzernen Aufsatz einer uralten, zum Transporter umgerüsteten LINCOLN-Limousine. Als auch das Schlauchboot, aus dem sie die Luft herausgelassen hatten, auf dem Auto verstaut war, brachten sie das Mädchen zurück in die CONCHA, und anschließend fuhren sie zu ihrem Haus, einem von zahlreichen Familienmitgliedern bewohnten ärmlichen Flachbau am Stadtrand, wo sie als Erstes das Fleisch mit Frischwasser abspritzten.
3.
Kapitän Abeling saß, wie gewohnt, ab sieben Uhr am Frühstückstisch, doch was noch fehlte, war das Frühstück. Er nahm es meistens in seiner Kajüte ein, weil er den Tag lieber ohne Gesellschaft begann und daher am frühen Morgen die Messe mied. Diesmal war der Steward schon zehn Minuten über die Zeit.