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Tödlicher Kunstfehler: Österreich Krimi
Tödlicher Kunstfehler: Österreich Krimi
Tödlicher Kunstfehler: Österreich Krimi
eBook381 Seiten4 Stunden

Tödlicher Kunstfehler: Österreich Krimi

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Über dieses E-Book

Michael Haymann lebt einsam und abgeschieden in seiner Wohnung in der Waldviertler Kleinstadt Mürren. Er vergräbt sich in den historischen Landkarten, mit denen er Handel treibt, und hadert mit den Chancen, die im Leben an ihm vorübergegangen sind. Als er sich einer Operation unterziehen muss, wird er Opfer eines Kunstfehlers, der ihn vollends aus der Bahn wirft. Sein Krankheitsverlauf bessert sich nicht und langsam beginnt Michael Haymann seinen von Kindheit an in ihm schwelenden Hass auf andere Menschen zu projizieren. Bis schließlich ein Mord an einer Ärztin passiert.

SpracheDeutsch
HerausgeberFederfrei Verlag
Erscheinungsdatum15. Dez. 2014
ISBN9783902784759
Tödlicher Kunstfehler: Österreich Krimi
Autor

Michael Koller

Michael Koller, geboren am 14. März 1972, lebt in Hoheneich bei Gmünd im Waldviertel. Nach Abschluss der Handelsakademie war er in unterschiedlichen Berufszweigen tätig und lernte so den Facettenreichtum des Lebens bestens kennen. Seine Leidenschaft war und ist das Schreiben. Zeitungsartikel, Kurzgeschichten, Gedichte, Romane und Internetblogs umreißen das Repertoire des Enfant Terribles der Waldviertler Schreibzunft.

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    Buchvorschau

    Tödlicher Kunstfehler - Michael Koller

    2

    Teil 1

    Gut ist böse

    1

    Ein gleißend rotes Licht umhüllte meine Augen wie ein brennender Schleier. Stimmen, die fragmentarisch zu mir durchdrangen. Ich versuchte zu sprechen. Doch jeder Laut erstickte in meinem verdorrten Hals. Nur langsam kehrte ich zurück. Zurück in eine Welt, die weder einen Anfang noch ein Ende kannte. Bloß die Individuen, die Kreaturen, die in ihr lebten. Der signifikante Klingelton eines sich öffnenden Lifts, dann wieder eisige Ruhe. Die Decke, die über mich gebreitet war, spendete keine Wärme. Keinen Trost. Nur ein Stück Stoff, das den gemarterten Körper eines Menschen notdürftig verhüllte. Als ich am Empfangspult der chirurgischen Station vorbeikam, wurde ich gewahr, dass ich, in einem Bett liegend, von irgendjemandem geschoben wurde. Hin zu einem unbekannten Bestimmungsort. Ehe ich diesen erreichte, tauchte ich erneut in jene Leere ein, der ich gerade eben noch entflohen war.

    2

    Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem halb verdunkelten Raum. Lediglich das elektrische Licht, das von draußen durch die offen stehende Gangtür hereindrang, gab etwas Orientierung. An meinem linken Oberarm war eine Manschette angebracht, die bis zum Erreichen des vollen Volumens aufgeblasen wurde, in diesem Zustand dann eine Weile lang verharrte, ehe die Luft wieder langsam daraus entwich. Zumindest so lange, bis die Prozedur nach kurzer Zeit von Neuem begann. Ein automatisches Blutdruckmessgerät, das im Begriff war, mir den Arm vom Körper zu drücken. Ängstlich blickte ich mich um, soweit ich das überhaupt imstande war, und ließ die Eindrücke kurz auf mich wirken. Ein grüner Paravent zu meiner Linken, ein gebogenes Aluminiumrohr am Fußende meines Bettes, ein schwarzer Monitor mit grünen, zuckenden Linien mittendrin, die Gangtür und einige mit kleinen Laden versehene Schränke. Auf dem hohen Nachtkästchen neben mir stand ein Plastikbecher, gefüllt mit farbloser Flüssigkeit und einem kleinen, an einem Stiel befestigten Schwamm darin. An einem Infusionsständer, der sich dicht neben meinem Bett befand, hingen drei oder vier Flaschen, deren Schläuche irgendwo unter meiner Bettdecke verschwanden. Doch ich wagte es nicht nachzusehen. Erst jetzt bemerkte ich einen weiteren Schlauch, der aufgegabelt aus meinen Nasenlöchern drang und sich ebenso unterhalb des Lakens verlor.

    Je länger ich an diesen Fremdkörper in mir dachte, desto unangenehmer wurde er mir. Er musste bis tief in mich hineinragen. Zumindest verspürte ich ein stetiges Scharren und Kratzen inmitten meines Kopfes. Als ich versuchte, meinen Körper etwas zu verlagern, vernahm ich ein äußerst unangenehmes Ziehen im Bereich meiner Genitalien. Vorsichtig ertastete ich mit meiner rechten Hand diesen Bereich und bekam dabei den Ausgang eines Harnkatheters zu fassen. Plötzlich wurde ich von Panik bemächtigt, und ich war gewillt, all diese Schläuche, an denen ich hing, herauszureißen. Doch ich war zu schwach dazu. Jede Bewegung bereitete mir schier unerträgliche Schmerzen. Ich fühlte mich wie vom Bügel einer Mausefalle zerquetscht. Ausgebreitet auf dem Seziertisch, wo man Sehnen und Bänder aus mir herausgerissen hatte und sie hoch über meinem Kopf an zwei gekreuzten Stangen festband. Wie bei einer Marionette, die von ihrem Puppenspieler verlassen wurde.

    3

    Nach einer Weile war ich endlich imstande gewesen, meinen inneren Schweinehund zu überwinden und mich etwas anders zu positionieren, um meinen schmerzenden Rücken ein wenig zu entlasten. Was aber zur Folge hatte, dass all die an und in mir angebrachten Gerätschaften jede meiner Bewegungen mitmachten und mir somit weitere Pein bereiteten. Am Schlimmsten war der Katheter, der irgendwo da unten seitlich aus meinem Glied ragte, unbarmherzig an mir zerrte und mir meine völlige Hilflosigkeit jede Sekunde aufs Neue vor Augen führte. Die Pfleger und Schwestern, die von Zeit zu Zeit kurz vorbeischauten, waren zu abgeklärt, um von meinem Zustand Notiz zu nehmen. Schließlich bot sich ihnen tagein, tagaus das stets gleiche Bild auf dieser Überwachungsstation. Es machte also keinerlei Sinn, sich zu beklagen oder gar um Linderung zu bitten. Es hätte auch nichts geändert. Ich musste mit den Umständen allein fertigwerden. Aber wie? Und für wie lange?

    Je tiefer ich in meine eigene Verzweiflung tauchte, desto dramatischer wirkte sich das auf meine Psyche aus. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen, an nichts zu denken, doch keine Sekunde später waren all diese Vorhaben wieder über den Haufen geworfen. Ich wollte aufstehen, mich bewegen, mir das Leid aus den Gebeinen laufen, aber es ging nicht. Ich war gefesselt an diesen zahllosen Ketten. Mein Mund war inzwischen derart ausgetrocknet, dass ich wütend um etwas zu trinken rief. Doch ich erhielt nichts weiter als diesen in Wasser getränkten Miniaturschwamm, der meinen Durst eher noch verschlimmerte. Ich wusste, dass mir eine lange, höllische Nacht bevorstand, und bat um ein Schlafmittel. Aber auch das zeigte keinerlei Wirkung.

    Immer wieder vernahm ich Rufe von Patienten, die in anderen Kojen lagen. Es gab also Leute, denen es noch dreckiger ging als mir selbst. Doch das war kein großer Trost für mich. Nichts war ein Trost, wenn einem das Messer an die Kehle gedrückt wurde. Vom Sensenmann höchstpersönlich.

    4

    Irgendwie überstand ich die Nacht, und als das Morgenlicht den Raum flutete, zog sich der Wahnsinn in mir langsam wieder zurück. Ich hatte kein Auge zugetan und im Stillen so ziemlich alles und jeden verwünscht, der mir eingefallen war. Mich selber inklusive. Die Schatten waren gewichen, und ich beobachtete mit dem Kinn unter meiner Bettdecke die morgendliche Routine des Personals. Emsig wurde der Bestand von Verbrauchsartikeln aufgefüllt, Papierkram erledigt und die Hinterlassenschaften der Nacht beseitigt.

    Eine Putzfrau säuberte Inventar und Boden, während ich die Nachrichten lauschte, die aus dem Radio im Nachbarzimmer bis hierher drangen. Wieder vergingen einige Minuten, in denen ich kurzzeitig nicht an meine eigene Misere denken musste. So hangelte ich mich weiter. Von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde. Während Schmerz und körperfremde Apparaturen an mir zerrten. Zwei hochgewachsene Krankenschwestern traten schließlich ans Bett, maßen meine Körpertemperatur, überprüften die Anzeigen am Überwachungsmonitor und hievten mich mit geschickten Handgriffen schließlich hoch. Das Laken fiel zur Seite, und als man mich des Nachthemdes entledigte, konnte ich erstmals einen Blick auf meinen Körper werfen. Neben Katheter, Beatmungsschlauch und den Zugängen für die Infusionen ragten aus einem dicken Verband, der um meinen ganzen Oberkörper gewickelt war, drei weitere Plastikschläuche hervor. An ihren Enden hingen proppenvolle Drainagesäcke, gefüllt mit einer gallertartigen dunkelbraunen Flüssigkeit. Eine der Schwestern nahm eine große Bettpfanne und entleerte über einer Art Wasserhahn aus Kunststoff die Beutel. Anschließend wurde mein Leib mit einem Waschlappen notdürftig abgerieben, und nachdem ich einige Sekunden lang auf eigenen Füßen gestanden hatte, zogen mir die Damen ein neues Hemd über und verstauten mich mit meinen zahlreichen Anhängseln wieder im Bett. Damit war die Morgentoilette erledigt.

    Die beiden hatten mir in freundlichen Worten Mut zugesprochen, doch instinktiv wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte mich im Vorfeld erkundigt und wusste daher, dass nach einer Gallen-OP ein derart langer Aufenthalt auf der Überwachungsstation unüblich war. Normalerweise wurden die Patienten nach zwei Stunden wieder in ihre Zimmer auf der Station verbracht. Ich hingegen war längstens überfällig.

    5

    Der Stationsvorstand persönlich nahm die Visite vor. Primarius Tischler. Ein gut fünfzigjähriger Mann, mittelgroß mit ergrautem Haar und ebenso ergrauten, buschigen Augenbrauen. Haut, Nase und Gesichtszüge wiesen deutlich darauf hin, dass er mehr Alkohol zu sich nahm, als ihm guttat. Was auf dem Lande, in der Provinz, aber nicht weiter Aufsehen erregte. Es gehörte praktisch zum guten Ton, sich in gemütlicher Runde zu besaufen. Schlecht wurde letztlich nur über jenen geredet, der als Erster sein Glas erhob.

    Ich hatte über die Biederkeit des Bürgertums wenig bis gar keine Meinung. Da ich weder dazugehörte noch dazugehören wollte. Ich hatte meine eigene Welt. Und die war gerade im Begriff einzustürzen. Ob Trunksucht für einen im aktiven Dienst stehenden Chirurgen der geeignete Zeitvertreib war, stand freilich auf einem anderen Blatt Papier. Für eine größere Operation hätte ich mit Sicherheit ein anderes Haus aufgesucht, doch eine Routinesache wie die Entfernung einer von Steinen zersetzten Gallenblase traute ich selbst den Ärzten im Krankenhaus des beschaulichen Städtchens Mürren zu. Wohl auch aus Bequemlichkeit, da meine Wohnung keine dreihundert Meter von der Klinik entfernt lag.

    »Wie geht es Ihnen, Herr Haymann?«, fragte Tischler durchaus freundlich. Er hatte augenscheinlich sein Quantum Trost bereits intus. Was sollte ich darauf schon groß sagen? Also ließ ich diese rhetorische Frage unbeantwortet und deutete hingegen auf die Schläuche in meiner Nase und zwischen meinen Beinen.

    »Wann kommen die raus?«, wollte ich wissen. Der Primar verzog das Gesicht, blickte dann um Bestätigung suchend auf die Uhr und verkündete schließlich das Edikt, das über mich gefällt wurde.

    »Sie können ihn in einer halben Stunde nach draußen verlegen«, diktierte er der Krankenschwester, die den Visitenwagen neben ihm herschob und eifrig die Anordnung notierte. »Harnkatheter und Beatmungsschlauch können entfernt werden.«

    Ehe ich mich nach dem Verlauf der Operation erkundigen konnte, war er auch schon wieder weg. Er überließ es also jemand anderem, mir dahingehend Auskunft zu erteilen. Zumindest aber würde ich in absehbarer Zeit zwei dieser Folterwerkzeuge wieder loswerden. Und mit Sicherheit auch das Blutdruckmessgerät, das meinen Oberarm durchknetete wie ein Sumoringer. So gesehen, fühlte ich mich fast schon glücklich.

    6

    Die Tage vergingen, und ich erholte mich langsam. Nach und nach kam heraus, dass bei der OP einiges schiefgegangen war und dass diese entgegen der vorherigen Vereinbarung nicht von Primarius Tischler, sondern von einer unerfahrenen Oberärztin namens Veronika Knauss durchgeführt worden war, die doppelt so lange wie üblich dafür gebraucht hatte. Durch den dabei aufgetretenen erheblichen Blutverlust, einem angeritzten Leberbett und weiteren chirurgischen Fehlleistungen durfte ich es nur meiner guten allgemeinen körperlichen Konstitution zuschreiben, noch unter den Lebenden zu weilen.

    Doch wären diese Komplikationen nicht schon schlimm genug gewesen, hörten zwei der drei Drainagebeutel einfach nicht auf damit, immer und immer wieder von Neuem vollzulaufen. Die Ärzte erklärten das damit, dass es mitunter dauern konnte, ehe sich im Inneren eines Körpers wieder alles verschloss, und nachdem ich halbwegs bei Kräften war, wurde ich nach etwa zwei Wochen vorübergehend aus der stationären Pflege entlassen. Mit der Auflage, dreimal täglich die sich mit Gallenflüssigkeit füllenden Säcke selbst zu entleeren und alle drei Tage zur Kontrolle ambulant zu erscheinen. Im Zuge dessen würden mir auch die Nahtklammern an der Eingriffsstelle entfernt werden. So ging ich also dahin. Mit zwei Schläuchen aus meinem aufgeschlitzten Bauch hängend. Und einer düsteren Vorahnung im Gepäck.

    7

    Meine Wohnung in der Waldviertler Kleinstadt Mürren lag in der obersten Etage eines fünfstöckigen Wohnhauses. Mürren hatte zwei Stadtteile. Die Altstadt und die Neustadt. Jenseits der sehr nahen Grenze befand sich Tschechisch-Mürren, das vor dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls zum Gemeindegebiet gehörte. Worüber heutzutage aber kaum noch jemand sprach. Über vierzig Jahre Stacheldraht hatten jede Gemeinsamkeit zersetzt. Auch wenn von politischer Seite versucht wurde, diesen Umstand in Abrede zu stellen. So, wie die Politik, getrieben vom jeweils herrschenden Zeitgeist, immer bemüht war, die Realitäten zu übersehen und an ihrer statt fragwürdige Ideologien in die Köpfe der Menschen zu hämmern. Egal, ob Links, Mitte oder Rechts.

    Meine Eltern hatten einst andere Pläne mit mir gehabt. Hatten mich in einen gesichtslosen Staatsposten in Wien mithilfe politischer Schieber hineingedrückt, wo ich in Demut auf Tod oder Pensionierung oder beides warten sollte. Doch derlei weltliche Sicherheiten waren nichts für mich gewesen, und so hatte ich mich davon auch wieder befreit. Wenngleich viel zu spät.

    Als ich die Tür zu meinem Reich aufschloss, eintrat und mich verbarrikadierte, atmete ich endlich wieder den Odem der Freiheit ein. Den Geruch unendlicher Einsamkeit, die ich in den vergangenen Wochen so sehr vermisst hatte. Als ich nach tagelangen starken Schmerzen vor den Unerträglichkeiten inmitten meines Körpers kapitulieren musste und das Krankenhaus aufsuchte, war es für mich wie ein Gang zum Schafott gewesen. Es gab für mich kein größeres Grauen, als mit wildfremden Menschen wenige Quadratmeter in einem überfüllten Krankenzimmer zu teilen. Gottlob wurde ich bei meiner Aufnahme jedoch in ein etwas gemütlicheres Zweibettzimmer gesteckt, da man mich zwar als öffentlichkeitsscheuen, aber zumindest für Mürrener Verhältnisse doch wohlhabenden Mann kannte, der es verabsäumt hatte, eine Zusatzkrankenversicherung abzuschließen, die ihn vor der Unterbringung mit dem normal sterblichen Pöbel verschonte. Mir war derartiges Klassendenken stets schleierhaft gewesen. Schließlich wurde die Arbeit nicht erhabener, wenn man anstatt der Königin von England bloß dem örtlichen Straßenkehrer den Hintern abwischen musste. Beides stank in gleichem Maße. Aber ich durfte nicht undankbar sein. Letztlich hatte mich diese Engstirnigkeit vor einem Schlafsaal schnarchender Individuen bewahrt. Zumindest fürs Erste.

    8

    Da ich einen unruhigen Schlaf hatte, bedingt durch die beiden Drainagebeutel jedoch nur auf einer Seite liegen konnte, verbrachte ich eine erste sehr ungemütliche Nacht zurück in meinen eigenen vier Wänden. Aber immerhin. Ich war wieder allein. Daheim in meinem bescheidenen Penthouse. Luxus war ein weit dehnbarer Begriff. Manche wollten mit goldenen Löffeln speisen, mit italienischen Sportwägen herumbrausen oder Pelz von zu Tode gemarterten Tieren tragen. Mir genügten schon eine gute, preislich moderate Flasche Rotwein, eine Sinfonie von Prokofjew und das Buch eines Autors, der sich jener Kunst bemächtigt hatte, seine Leser nicht über Gebühr mit Beiläufigkeiten zu ermüden. Dazu ein formidabler kulinarischer Leckerbissen, gezaubert in meiner hauseigenen Küche, und ich war mehr als zufrieden.

    Nach dem Intermezzo im Staatsdienst hatte ich den Sprung ins kalte Wasser gewagt und ein anfangs sehr kleines Handelsgeschäft mit historischen Karten und Atlanten aufgezogen. Seit frühester Jugend frönte ich dieser Leidenschaft und hatte mich rein autodidaktisch in diesem Metier weitergebildet. Ein Studium in Geschichte und Geografie wurde seitens meines Elternhauses nicht in Betracht gezogen, und als ich endlich die Kraft hatte, mich davon zu lösen, war es zumindest dahingehend schon zu spät gewesen. Ich war nicht der Typ, der sich als knapp Dreißigjähriger noch mit seinen Kommilitonen in der Mensa ums Essen anstellen wollte. Da ich für die Wissenschaft auf immer und ewig verloren war, versuchte ich mich als schnöder, aber fachlich ambitionierter Händler. Mit der Zeit wurde man auf mich aufmerksam, da ich in einigen Zeitschriften als Laie veröffentlichen durfte, und so war ich bald ein anerkannter Teil der Branche. Obwohl ich keine offiziellen Expertisen ausstellen durfte, weil mir dahingehend der akademische Grad fehlte, vertrauten doch sehr viele Liebhaber meinem Urteil und der Ware, die ich abseits meiner eigenen Sammlung zum Verkauf feilbot.

    Ich hatte einen privaten Schauraum in meiner Mürrener Wohnung, tätigte den Löwenanteil meiner Transaktionen jedoch über meine Homepage. Ich traf mich nach Vereinbarung zumeist in der Lobby eines vornehmen Wiener Hotels, speiste in der Regel mit meinen Kunden im dortigen Restaurant zu Abend und kam im Zuge dessen zu einem Abschluss. Wenn der Preis stimmte. Nach gut zehn Jahren im Geschäft konnte ich es mir leisten, Angebote auch auszuschlagen. Mitunter reiste ich zu Interessenten, wenn es sich um wirklich lukrative Geldbeträge handelte, und war ferner auf Einkaufstouren in ganz Europa, Übersee und Fernost unterwegs. Abseits dieser mitunter sehr abwechslungsreichen beruflichen Tätigkeit zog ich mich jedoch zurück und genoss die Einsiedelei in diesem kleinen Provinzstädtchen, in dem ich stets einen ebenso eindrucksvollen wie bleibenden Eindruck auf die des Menschen ureigene Bösartigkeit erhaschen konnte. Dazu bedurfte es oft genug nicht mehr als eines Blickes durchs Fenster auf die Straße oder den hinterseitigen Hof.

    9

    Die beiden Beutel liefen in Regelmäßigkeit alle sechs Stunden voll. Ich war zur ersten Kontrolle im Krankenhaus erschienen und hatte dort nach endloser Wartezeit nur fadenscheinige Ausreden zu hören bekommen. Ganz offensichtlich war ich zum Opfer eines Kunstfehlers geworden. Die Ärzte hatten mich mit Ratlosigkeit vertröstet und mir einen neuen Kontrolltermin zugewiesen. Irgendetwas musste also geschehen, doch mir fehlte jegliche Orientierung. Mein ganzes bisheriges Leben lang hatte ein Wort wie Krankheit keine Rolle für mich gespielt. Nun zeichnete sich auch vor meinen Augen jener Verfall des Lebens ab, den ich zwar stets wahrgenommen, aber bisher verdrängt hatte. Ein gesunder Mensch wähnte sich gerne als unverwüstlich. Ich hatte kurz darüber nachgedacht, neben der gesetzlichen zusätzlich auch eine private Krankenversicherung abzuschließen, diesen Gedanken aber ebenso schnell wieder verworfen, wie er in mir aufgekeimt war. Ich trug an meiner Misere keinerlei Schuld und sah nicht ein, dafür auch noch bezahlen zu sollen. Ich begriff einfach nicht, dass es in dieser Welt so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung nicht gab. Wer den Schaden hatte, blieb in der Regel auch auf ihm sitzen. Recht verschaffte sich der Stärkere, der Mächtigere. Niemals jener, der Anspruch darauf hatte. Diese Lektion war die erste, die ich in diesem Zusammenhang lernte. Und es würden viele weitere folgen. Viele weitere, die mich letztlich dorthin trieben, wo ich am Ende des Liedes dann auch stand.

    10

    Ich hörte leidenschaftlich gerne Opern. Mozart, Verdi, Bizet, Meyerbeer. Die Freude faszinierte mich ebenso wie die Trauer. Die Euphorie ebenso wie die Melancholie. Im Leben lagen die Gegensätze oft sehr dicht beieinander. Und ehe man sich versah, verschwammen sie vor den eigenen Augen zu einer zähflüssigen Depression. Das wurde mir spätestens in jenem Augenblick bewusst, als man mir die Zuweisung ins Krankenhaus von Karst an der schönen blauen Donau in die Hand drückte.

    11

    Ich lag wach in meinem Bett und starrte in die Dunkelheit, die mich umgab. Mich auf ewig umklammerte, wie es die Oort’sche Wolke mit unserem Sonnensystem tat. Ein kleiner, zur Wand gerichteter Ventilator surrte vor sich hin. Ich brauchte dieses, das völlige Nichts durchbrechende Geräusch normalerweise, um einschlafen zu können. Doch in dieser Nacht nutzte nicht einmal das etwas. Ich rekapitulierte im Geiste die vergangenen Stunden. Die Sinnlosigkeit, die ich dahinter entdeckte, ermattete meinen Geist nur noch mehr. Ich fühlte mich wie ausgespuckt, während unablässig der Schleim aus meinem Körper in die Drainagen rann. In ein paar Stunden stand die Fahrt nach Karst an.

    Das Mürrener Krankenhaus hatte mir den Transport in einem Rettungswagen gebucht, der mich von meiner Heimstatt abholen sollte. Ein befreundeter Kollege aus dem Kartengeschäft hatte mir geraten, mich als Privatpatient in die Hand eines Spezialisten zu begeben. Mir auch eine Kapazität auf diesem Sektor namentlich empfohlen. Doch ich lehnte ab. Aus Sturheit ebenso wie aus Bequemlichkeit. Ich wollte nicht von Pontius zu Pilatus laufen, um eine adäquate Behandlung zu erhalten. Das musste doch wohl auch auf normalem Wege zu erreichen sein. Mein Vertrauen in das staatliche Gesundheitssystem war trotz allem noch nicht erschüttert. Womit ich bereits meinen zweiten Kardinalfehler beging.

    12

    Von einem Kulturschock zu sprechen, wenn man im siebten Stock auf die Station eines Klinikums der westlichen Welt tritt, mag vielleicht weit hergeholt sein. Aber genau so erging es mir, als ich an der Leitstelle der internen Medizin meine Anmeldepapiere abgab und auf dem Gang auf einem harten Holzstuhl Platz nahm.

    Das Krankenhaus von Karst erinnerte schon von außen eher an einen alten Ostblockbunker, und man sah sich im Inneren von dieser Annahme keineswegs getäuscht. Im Einklang zu dieser grauen Tristesse schwang auch das diensthabende Personal. Zumindest war das jenem Tonfall zu entnehmen, der laufend aus den direkt zu meinem Sitzplatz angrenzenden Zimmern drang. Nach gut drei Stunden trat schließlich eine zierliche Person vor mich hin, vergewisserte sich, ob ich auch wirklich jener war, dessen Name dort auf dem Papier stand, und nahm mich ins Schlepptau zu einem der Krankenzimmer. Es war helllichter Tag. Doch so viel Tod und Siechtum hätte ich selbst in dunkelster Nacht nicht zu erwarten geglaubt. Jeweils drei Betten an den Wänden links und rechts, getrennt von drei aneinandergereihten, kurzen, quadratischen Tischen mit Bestuhlung. Gegenüber eine breite Front geschlossener Fenster, hinter denen sich ein engmaschiges Netz befand.

    Das war mein erster Eindruck. Erst kurz danach nahm ich die Gestalten wahr, die in dieses Ambiente drapiert waren. Zumindest deren körperliche Anwesenheit. Einen Blick in ihre Gesichter ersparte ich mir vorerst noch. Vorerst.

    13

    Gab es in Mürren festgelegte Zeiten für die ärztliche Visite, so war das in Karst nicht der Fall. Was bedeutete, dass stationär aufgenommene Patienten mehr oder weniger den halben Tag lang Gewehr bei Fuß zu stehen hatten. Immer in Erwartung der Götter in Weiß. Was mir jenseits der optischen Eindrücke in diesem Haus sofort auffiel, war die latente Dreistigkeit, mit der man den teils schwer kranken Leuten hier begegnete. Man hatte mir ein Bett in einem Zimmer voller alter, röchelnder, sterbender Menschen gegeben. Was mir unterschwellig signalisierte, dass es auch mit mir bald zu Ende gehen würde.

    Nachdem ich das obligatorische Aufnahmegespräch des Pflegepersonals und die turnusärztliche Erstuntersuchung hinter mich gebracht hatte, wurde mir Blut abgenommen und ein Venenzugang gelegt. Mehr war an diesem Tag nicht mehr zu erwarten. So viel wurde mir nach einem Blick auf meine Armbanduhr klar. Diese Annahme bestätigte die diensthabende Stationsärztin, die mich am späten Nachmittag aufsuchte.

    »Sind Sie Michael Haymann?«, fragte sie scharf, als sie mit einer korpulenten Schwester im Gepäck an meine Pritsche trat. Ein Schild auf dem Bettgestell wies diese Tatsache ebenso aus wie das beschriftete Armband um mein rechtes Handgelenk. Ihre rattenähnlichen tiefschwarzen Augen stierten mich dabei wie ein Subjekt an, das gerade in der Prosektur gelandet war. Während ich ihr, ohne zu antworten, demonstrativ mein Armband entgegenstreckte, las ich das an ihrem Kittel angebrachte Namensschild. Oberärztin Doktor Astrid Mauser. Im Gutsherrenton sprach sie weiter:

    »Was führt Sie zu uns?«

    Ich sah den Packen Zettel auf dem Rollpult vor ihr liegen, den ich bei der Aufnahme abgegeben hatte. Ich deutete darauf. Ihre Augen weiteten sich. Normalerweise hatte sie es an diesem Ort mit Menschen zu tun, denen ein Doktortitel absolute Hörigkeit abnötigte. Deren einziges Aufbegehren darin lag, vielleicht eine Prise Salz mehr in der gereichten Klostersuppe zu erbetteln. Und nun ein solcher Affront.

    »Werden Sie nicht ungehalten!«, befahl sie mir, nach Worten ringend.

    »Wie kann ich ungehalten sein, ohne dabei ein Wort zu sagen?«, erwiderte ich gleichgültig, während die Drainagesäcke an mir drohten zu explodieren. Mit einem Blick zu den aufgeplusterten Beuteln, die seitlich meines Körpers quollen, gab ich meiner bisherigen Einstellung Nachdruck. Astrid Mauser wies ihrer Untergebenen mit einer erzürnten Kopfbewegung an, die drohende Katastrophe abzuwenden. Ich lächelte provokant.

    »Nun?«, fragte sie unnachgiebig.

    Ich

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