Aus jüngst vergangener Zeit: Erzählung, DDR, Blindheit
Von Dieter Frommhold und Renate Frommhold
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Buchvorschau
Aus jüngst vergangener Zeit - Dieter Frommhold
Renate und Dieter Frommhold
AUS JÜNGST
VERGANGENER
ZEIT
Erzählungen
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2019
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/DE/Home/home_node.html abrufbar.
Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei den Autoren
Titlebild © Africa Studio [Adobe Stock]
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Ich war ein unerwünschtes Wunschkind
Der König und ich
Dr. Weber ist nicht tragbar
Damals bei uns zu Hause – Ein Stimmungsbild aus den Fünfzigern
Freudiges Ereignis
Zufall?
Zwei Welten
Weihnachten fällt aus
Wolfram
Das hätte schiefgehen können
Die Lehrstelle
Albert und Grete
Behütet
Ausgang für zehn Tage
Lernt erst mal arbeiten!
Ausklang
Endnoten
ICH WAR EIN UNERWÜNSCHTES WUNSCHKIND
Ich war ein unerwünschtes Wunschkind. Das ist ein Widerspruch? Das habe auch ich viele Jahre geglaubt, aber das gibt es wirklich, und es ist gar nicht mal so selten. Nur wissen es die Beteiligten oft nicht.
Als ich das plötzlich erfuhr, waren meine Eltern bereits tot und wir konnten nicht mehr darüber reden. Vermutlich hätten wir auch nie darüber gesprochen, denn es hätte niemandem mehr genutzt. Es liegt mir fern, meine Eltern anzuklagen oder zu beschuldigen, denn ich habe sie sehr geliebt, und sie mich sicher auch. Daher fällt es mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Wahrscheinlich sind alle Beteiligten irgendwie Opfer.
Es begann einige Jahre vor meiner Geburt. Da hatten meine Eltern bereits eine Tochter die sie sehr liebten. Sie hieß Gerda und war ein stilles, liebes Mädel. Alle, die sie kannten, hatten sie gern. Mit sechs Jahren jedoch starb sie im Jahr 1940 an Leukämie. Das war ein schwerer Schlag für meine Eltern, von dem sich insbesondere meine Mutter zeitlebens nicht mehr erholen konnte.
Meine Eltern, die mit den Nazis nichts im Sinn hatten, wollten in dieser schlimmen Zeit kein zweites Kind in die Welt setzen. Aber als meine Mutter nicht aufhören konnte zu trauern und sogar ihre Gesundheit darunter litt, riet ihr der Arzt dringend zu einem neuen Kind. Und so kam ich durchaus als Wunschkind auf diese Welt. Das war 1942.
Ich bekam den Namen Renate – die Wiedergeborene.
Ich aber war nicht die wiedergeborene Gerda, sondern ein anderes Kind. Und das war mein „Fehler". Wie konnte ich auch sie sein, die ich sie doch gar nicht kannte, von der ich noch nicht einmal etwas ahnte? Die Enttäuschung meiner Mutter machte sich unbewusst Luft. Sobald ich als Baby schrie, bekam ich Schläge, später Nacht für Nacht.
Es war damals eine unruhige Zeit in Berlin: Bombenalarm, Sirenengeheul, Bunker oder Luftschutzkeller; überall fremde Menschen um uns. Meine Mutter und ich wurden evakuiert. Achtzehn Stunden Bahnfahrt, mehrere Ortswechsel, wieder andere Menschen, andere Verhältnisse. Meine Mutter musste in Ostpreußen mit mir als 18 Monate altes Kleinkind das Bett teilen.
All diese Umstände waren einer freien Entfaltung und gedeihlichen Entwicklung eines Kindes nicht förderlich. Meine Mutter deutete mein nächtliches Schreien, das immer zur gleichen Zeit begann, als „schwierigen Charakterzug, dem man nur durch absolute Härte beikommen konnte. Also ging sie fortan mit dem Rohrstock ins Bett, und wenn ich – vielleicht schon aus Angst vor der nächtlichen Tortur – wieder zu weinen begann, schlug sie zu, immer wieder, ohne im Dunkeln überhaupt zu sehen, wohin sie traf. So schrie ich immer mehr und wohl auch jede Nacht und wurde allmählich auch von anderen Personen als „kompliziert
eingeschätzt.
Die „liebe Schwester wurde mir ständig vorgehalten; in harmonischen Stunden nannte mich meine Mutter oft Gerda, was bei mir zum Protest führte: „Nein, ich bin Renate.
Natürlich brachte mir dieser Widerspruch erneut einen Minuspunkt ein.
Meine Mutter war zutiefst davon überzeugt, dass ich „schwierig" sei, wie sie es nannte. Ich war vor ihrer locker sitzenden Hand nie sicher.
Selbst noch im hohen Alter hegte sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass nur ihre Strenge und ihre Schläge aus mir einen anständigen Menschen gemacht haben.
Mein Vater, der schon vor meiner Geburt ahnte, dass das „neue" Kind nicht das verstorbene sein würde, hoffte anfangs, dass ich ein Junge würde. Damit der Vergleich nicht so naheliegend wäre. Aber später vergaß er wohl seine Bedenken, denn auch er stellte mich meiner Schwester gegenüber und ließ meine Mutter in ihrer Unnachgiebigkeit gewähren, schloss sich sogar ihrer Haltung an.
Ich selber hatte natürlich von den Zusammenhängen keine Ahnung, ich nahm nur immer wieder zur Kenntnis, dass ich „schlimm" wäre. Obwohl meine Schulleistungen sehr gut waren, bekam ich zu Hause wenig Lob. Meine Eltern hielten es für selbstverständlich, dass ich gute Zensuren nach Hause brachte. Ich zog mich immer mehr in mich zurück und wurde verschlossen.
Die Eltern meiner Freundinnen hingegen kannten mich als besonnenes Mädel, sie mochten mich und ließen beispielsweise ihre Töchter zu bestimmten Veranstaltungen nur mitgehen, wenn ich dabei war, weil ich als umsichtig und vernünftig galt. So etwas zählte jedoch bei meinen Eltern nicht. Beklagte sich aber mal eine Mitschülerin über mich, wurde ich ohne Anhörung vor deren Augen zurechtgewiesen und sogar geschlagen. Ich lernte, dass das Wort anderer mehr zählte als meines, und dass ich nichts zu sagen hatte.
Nun wurde ich zwar nicht ständig misshandelt. Nein, das nicht, und doch fühlte ich mich immer unsicher in meinem Tun und fragte mich stets und ständig, ob das, was ich gerade tat, meinen Eltern auch gefallen würde.
So war ich in meiner Kindheit befangen und gehemmt.
Als ich älter wurde, waren sie dann sehr zufrieden mit mir. Doch bin ich mir sicher, dass ich auch ohne Schläge ein „anständiger Mensch" geworden wäre, so wie es sich meine Eltern wünschten. Sicher, sie haben in schwieriger Zeit für mich getan, was sie für das Beste hielten, und sie waren immer für mich da. Ich bin ihnen dankbar und war bestimmt eine gute Tochter für sie. Ich habe sie jedenfalls sehr geliebt und wir hatten, als ich erwachsen war, ein sehr gutes Verhältnis zueinander.
Später habe ich eine Radiosendung über das Problem der „Ersatz-Kinder nach Todesfällen" gehört. Da begriff ich, dass meine Eltern ein Problem hatten, welches sie auf mich übertrugen. Meine ganze Kindheit und Jugend stellte sich mir plötzlich in einem anderen Licht dar: Der Schlüssel war die absolute Enttäuschung der Eltern über das neue, „fremde" Kind, das ihre Erwartungen nicht erfüllen konnte – die Erwartung nämlich, dass es das verstorbene Kind ersetzen könnte.
DER KÖNIG UND ICH
Renate war Vorleserin.
Die Kinder schauten sie erwartungsvoll an und sie begann:
„Wir wohnten ganz in der Nähe von ‚Ihm‘, den sie einst ‚den Großen‘ genannt hatten, obwohl er eher klein und schmächtig war. Aber das wusste ich damals noch nicht, denn ich war gerade erst drei Jahre alt geworden, als ich ihm begegnete. Es war eine etwas unheimliche, auf jeden Fall aufregende Begegnung. Für mich jedenfalls.
Ich glaube nicht, dass ‚Er‘ von mir sonderlich beeindruckt war. Er konnte mich kaum sehen – ich sah ihn übrigens auch nicht.
Aber in mir wird immer der tiefe Eindruck an diese frühe Begegnung mit ihm und die Erinnerung an den ersten Schauer in meinem jungen Leben bleiben …
Meine Eltern und ich bewohnten eine kleine Wohnung ganz dicht an dem großen Park, der seinen Namen trägt. Sie gingen dort öfter mit mir spazieren. Es war ein Park für einfache Menschen, die in den Mietskasernen rundum lebten und hier Erholung suchten – am Schwanenteich oder im Schatten der Bäume auf einer der zahlreichen Bänke.
Im Winter sauste mein Vater hier mit mir auf dem Schlitten die große Rodelbahn hinunter. Das war ein Riesenspaß! Ganze Scharen von Kindern amüsierten sich hier.
An diesem denkwürdigen Tag, von dem ich erzählen will, gingen wir dort spazieren, meine Eltern und ich. Diesmal ging es nicht zum Rodeln, denn es lag kein Schnee, es war Frühling.
Da entdeckte ich einen Bretterverschlag, der aus dunkelgrauem ungehobeltem Holz bestand. Es gab schmale Fugen zwischen den Brettern und auch mal ein Astloch.
Meine Eltern erzählten mir, in diesem Kasten befände sich ein König mit Namen Friedrich der Große. Er sei in diesem Kasten versteckt, um vor den Bomben geschützt zu sein.
Ich kannte Könige nur aus Märchen, die mir meine Mutter vorgelesen hatte. Daher wusste ich, dass sie in herrlichen, prachtvollen Schlössern lebten, umgeben von Gold, Silber und Prunk.
Und jetzt behaupteten meine Eltern, dass in diesem hässlichen, dunklen Kasten ein König wohnen sollte?! Ich konnte es nicht glauben und ging immer wieder um den Verschlag herum. Es war mir auch sehr unheimlich, dass in diesem engen Ding ein Mensch leben sollte.
Ich wollte den König sehen, aber innen war es dunkel.
Ich lugte durch die Fugen und hoffte, doch irgendetwas von ihm zu erkennen. Vergebens! Ich vernahm nur Dunkelheit und tiefe Stille.
Da fand ich ein Astloch und spähte hinein. – Aber nein, wieder