Mein Ostende
Von Jochen Schimmang
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Buchvorschau
Mein Ostende - Jochen Schimmang
OUVERTÜRE: TRANSIT
Lange Zeit hatten die Belgischen Eisenbahnen im Kölner Hauptbahnhof eine eigene Niederlassung. Solange es diese Geschäftsstelle gab, habe ich sie niemals aufgesucht, weil ich mir meine Fahrkarten ins westliche Nachbarland immer im sogenannten Reisezentrum oder gar vorher in einem Reisebüro gekauft habe. Man sieht, ich spreche hier von einer Zeit, in der ich noch keine Online-Existenz besaß, sondern mich ganz analog durch meinen damaligen Wohnort Köln und den Rest der Welt bewegte. Eine Welt, in der Bücher noch so anfangen konnten:
Stell dir jetzt vor: du gehst einfach zum Bahnhof. Vorher machst du ein paar Türen auf und wieder zu. Es gibt einen Menschen, der dich sofort begreift; das ist der Mann hinter der Scheibe des Fahrkartenschalters. Leer läuft der Zug auf dem Bahnsteig ein, und es vergeht Zeit bis zur Abfahrt. Nun kannst du durch den Zug gehen und dir das beste Abteil aussuchen. Du weißt, dass ungefähr drei Stunden Fahrt vor dir liegen, Richtung westliche Küste, nach Ostende.
So beginnt Jürgen Beckers Buch Erzählen bis Ostende, erschienen 1981. Heute würde man es einen Roman nennen. Es ist aber eher eine Abfolge kurzer Skizzen und Erzählungen, die durch die Klammer eben dieser Zugfahrt nach Ostende zusammengehalten werden. Auf der letzten Seite sitzt der Erzähler hinter den großen nassen Scheiben seines Ostender Hotels und schaut »ins näherkommende Meer«.
Inzwischen würde sich dieser Erzähler seine Fahrkarte von Köln nach Ostende vermutlich online buchen. Allerhöchstens würde er sie im Kölner Hauptbahnhof aus dem Automaten ziehen. »Das beste Abteil aussuchen«, auch damit ist es heutzutage so eine Sache. Doch selbst wenn er es gefunden hat – dort bis zum Ziel sitzen bleiben und träumen und all die Geschichten und Bilder an sich vorüberziehen lassen wie Beckers Erzähler, also Erzählen bis Ostende, das könnte der heutige Reisende nicht mehr. Denn mindestens in Brüssel Nord oder in Brüssel Midi, je nach Verbindung, müsste er umsteigen, im ungünstigsten Fall auch noch ein zweites Mal in Brügge. Die Direktverbindung von Köln nach Ostende existiert nicht mehr. Dabei wurde sie vor dem Zweiten Weltkrieg sogar zehn Jahre lang durch den Ostende-Köln-Pullman-Express bedient, Teil der schnellsten Verbindung zwischen Köln und London. Die Fahrpläne waren so ausgelegt, dass man innerhalb von knapp zwölf Stunden von Köln nach London kam, unter Einschluss der Fähre Ostende–Dover, und am nächsten Tag in der gleichen Zeit zurück. Dieser Express, betrieben von der Compagnie Internationale des Wagon-Lits (CIWL), war der einzige je in Deutschland betriebene seiner Art. Sein Hauptziel war die Beschleunigung des Verkehrs zwischen Großbritannien und dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet, sein Ziel nicht Ostende, sondern der Transit.
Auch für mich ist Ostende über viele Jahre nicht mehr gewesen als ein Fährhafen, ein klassischer transitorischer Ort. Beim ersten Mal sah ich davon praktisch nichts. Das war im Juli 1966, ich war achtzehn, und mit vielen anderen Jungmenschen befand ich mich auf dem Weg nach Swinging London, angeblich, um dort einen vierzehntägigen Feriensprachkurs zu absolvieren, den ich dann aber nur zweimal aufsuchte, ehe ich ihn auf die Straße oder ins Pub verlegte. Ein Zug hatte uns in der beginnenden Dunkelheit bis nach Ostende gebracht, und als wir dort ankamen, herrschte tiefe Nacht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir den kurzen Weg von Ostendes schönem Belle-Époque-Bahnhof zum Fähranleger zu Fuß gegangen sind oder ob es einen Shuttle gab. Von der Stadt jedenfalls sahen wir nichts als ein paar dunkle Umrisse, bis wir es uns auf der Fähre gemütlich machten und etwa vier Stunden später in einer milchigen Morgendämmerung die Kreidefelsen von Dover erblickten.
So ist es viele Jahre geblieben: Ostende selbst war weiter nicht von Interesse. Später nutzte ich meistens das Auto, um nach England zu kommen, und die Anfahrt zum Fähranleger verschaffte mir zwar einen schemenhaften Eindruck von der Stadt, aber sie blieb in meinen Augen Transitstation: als sei das hier womöglich so etwas Ähnliches wie Helmstedt/Marienborn.
PLÖTZLICHES GEBORGENSEIN
Das änderte sich an einem Novemberabend, irgendwann Anfang der Achtzigerjahre. Auf einer Rückreise aus dem englischen Südwesten erwischte ich in Dover nicht mehr die Fähre, die ich eigentlich hatte nehmen wollen, sondern erst die folgende, und kam damit schon am sehr fortgeschrittenen Abend in Ostende an. Dort plagte mich der Hunger, und da ich wusste, dass ich ohnehin erst mitten in der Nacht nach Hause kommen und um diese Zeit selbst in Köln wohl kaum noch etwas zu essen finden würde, fuhr ich mit dem Auto erstmals in meinem Leben die endlos lange Promenade mit ihren zahllosen Restaurants ab. Unglücklicherweise handelte es sich gerade um die Wochen im Jahr, in denen die meisten von ihnen geschlossen hatten, bevor sie rechtzeitig vor Weihnachten zur Wintersaison wieder öffneten. Nur sehr wenige waren erleuchtet, und als ich zögernd das einladendste von ihnen betrat, den Old Fisher, wäre ich am liebsten gleich wieder gegangen, denn es saß dort kein einziger Gast. Am Meer isst man bekanntlich zeitig, weil der Appetit schon am frühen Abend kommt: eines der unabdingbaren Kapitel in der großen Erzählung von der Heilkraft des Meeres und der Seeluft. Es ging auf halb elf zu, ich war ersichtlich zu spät. Doch eine Frau in den Dreißigern, mit rötlichen Locken, wasserblauen Augen und einem leichten Rosenteint, als sei sie einem Gemälde von François Boucher entsprungen, kam auf mich zu und bedeutete mir freundlich, Platz zu nehmen. Ich wählte einen Tisch direkt am Fenster und ahnte hinter der menschenleeren Promenade im Dunkel das Meer. Ich meine mich zu erinnern, dass ich ein Seezungenfilet aß. Es war nicht die ganz große Küche, aber ausgezeichnet zubereitet und präsentiert, wie in Belgien nicht anders zu erwarten, zu einer Zeit, als man in (West-)Deutschland das Essen als kulturellen Akt gerade erst zu entdecken begann. Niemand schien ungeduldig darauf zu warten, dass ich fertig wurde; auch meinen Kaffee konnte ich in aller Ruhe trinken und mich von einem sehr anstrengenden Tag erholen, der frühmorgens noch in Dorset begonnen hatte. Fast schien es mir, als sei dieses Restaurant an diesem Novemberabend nur für mich geöffnet gewesen und habe den ganzen Tag auf mich gewartet. Deshalb bleibt es für mich bis heute eines der besten der Welt. Dann fuhr ich zwei Stunden lang über die bekannten hell erleuchteten belgischen Autobahnen, verfuhr mich auch nicht im verknoteten Wirrwarr des Brüsseler Autobahnnetzes, fiel an der Grenze bei Aachen in die Dunkelheit zurück und war eine weitere Stunde später zu Hause.
Noch zwei Mal habe ich im Old Fisher gegessen, beide Male an einem frühen Sommerabend mit Blick auf eine um diese Zeit sehr betriebsame Promenade. Ebenso betriebsam war es im Lokal selbst, weil viele der Besucher der Stadt ihren Promenadenbummel oder den Gang über den Strand schon hinter sich hatten und nun redlich hungrig waren. Ich wurde von derselben Frau an meinen Tisch geführt und bildete mir ein, dass sie mich wiedererkannte, eine Vorstellung, die eher meiner Eitelkeit schmeichelte, als dass irgendwelche Wahrscheinlichkeit dafürsprach. Dann hatte das Restaurant eines Tages seine Pforten geschlossen. Vielleicht war das zum selben Zeitpunkt geschehen, als der Fährverkehr nach England eingestellt wurde. Die Wärme, die selbstverständliche Gastfreundschaft, mit der ich bei meinem ersten Besuch dort empfangen wurde, das Gefühl des plötzlichen Geborgenseins an diesem unwirtlichen Novemberabend hinterließen jedoch einen so starken Eindruck, dass ich schon auf der damaligen Rückfahrt unter der Schirmherrschaft der gelben Lichter erstmals die Möglichkeit erwog, die ganze Stadt Ostende könne ein ähnlich freundlicher Zufluchtsort sein wie dieses Restaurant.
EIN BEWEGLICHER ORT
Damit begannen meine kleinen Fluchten. Als Kölner stand ich mit ihnen keineswegs allein. Zumindest zu Karnevalszeiten war die belgische Küste für viele Rheinländer, die den jecken Tagen entfliehen wollten, ein beliebtes Ziel, und die Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen waren auf diese Woche in der Vorsaison durchaus eingerichtet. Daran hat sich nach meiner Kenntnis bis heute nichts geändert.
Ich selbst gehörte jedoch eher selten zu diesen Karnevalsflüchtlingen. Meine kleinen Fluchten hatten andere Anlässe und verteilten sich über alle Jahreszeiten. Zuweilen war es einfach nur der Überdruss an der eigenen Stadt, und Ostende lag gerade weit genug weg, um einerseits den nötigen Abstand zu schaffen – Lüttich hätte nicht gereicht, denn es war, zumal am Wochenende, voller Kölner – und andererseits nicht einen halben Tag Anreise zu brauchen. Einmal war der Anlass eine noch nicht weit zurückliegende Trennung, ein anderes Mal eine Ausstellung, die im nahen Gent stattfand. In den meisten Fällen war es die Sehnsucht nach dem offenen Meer, und von Köln aus gab es keinen näher gelegenen Punkt, um diese Sehnsucht zu befriedigen. Und manchmal, zumal in den Sommermonaten, trieb mich einfach nur der Wunsch, in den gleichsam demokratischen Trubel eines Seebads einzutauchen, das schon lange nicht mehr chic war.
Doch das waren eben nur Anlässe. Nachdem ich die Stadt einmal entdeckt hatte, muss es etwas Tieferes gegeben haben, das mich immer wieder dorthin zog. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, um was es sich handelt: Ostende ist ein ideales Versteck. Wer Petri Tamminens großartiges Buch Verstecke gelesen hat, weiß, dass man sich keineswegs vollkommen den Blicken der anderen entziehen muss, um sich zu verstecken. Auch das Mittendrin, die Straße, ja, eine ganze Stadt können ein idealer Unterschlupf sein. Ostende ist für diese zuweilen überlebenswichtige Technik besonders geeignet, weil es per se schon an der Grenze des Untertauchens liegt: an der Grenze zwischen Land und Meer, einer Grenze, die die beiden Elemente ebenso sehr trennt wie verbindet und äußerst beweglich ist.
Ein Blick auf die Frühgeschichte der Stadt zeigt, dass das auf Ostende ganz besonders zutrifft. Ursprünglich lag der Ort nämlich am östlichen Ende der Insel Testerep, womit die alte Preisfrage, warum ein Badeort am westlichen Ende Europas Ostende heißt, beantwortet wäre. Auf Testerep wurde bereits im neunten und zehnten Jahrhundert vor allem Schafzucht betrieben, in geringerem Maße wohl auch Fischerei. Die Insel lag unmittelbar vor dem damaligen Küstenstreifen und war von ihm nur durch einen natürlichen Kanal getrennt, den Testerepvliet. Schon bald wurde das Gebiet eingedeicht und durch Schleusen und Siele entwässert, wobei auch die größeren Orte auf dieser Insel entstanden: Ostende, Middelkerke und Westende, alles Ortschaften, die man heute bequem mit der berühmten Küstenstraßenbahn erreichen kann, von der später noch zu reden sein wird. Im Lauf der Zeit verlandete der Testerepvliet vollständig; Ostende fand sich auf dem Festland wieder und erhielt 1267 die Stadtrechte.
Es mag sein, dass der Mensch, gewissermaßen von Hause aus, »ein Landtreter« ist, wie ihn Carl Schmitt in seinem Essay Land und Meer nennt. Aber gleich anschließend stimmt es schon nicht mehr so ganz: »Er steht und geht und bewegt sich auf der festgegründeten Erde. Das ist sein Standpunkt und sein Boden; dadurch erhält er seinen Blickpunkt; das bestimmt seine Eindrücke und seine Art, die Welt zu sehen.« So mag das vom Festland