Phantastische Einblicke: Golkonda | Memoranda 2018: Die Leseproben
Von Tobias O. Meißner, Otmar Jenner, Jo Walton und
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Über dieses E-Book
Mit exklusiven Leseproben erhalten Sie phantastische Einblicke in das Programm 2018 des Golkonda Verlags und dessen Imprint Memoranda.
Dieses kostenlose E-Book enthält Leseproben zu:
"Der Älteste" von Otmar Jenner
"Hiobs Spiel 4: Weltmeister" von Tobias O. Meißner
"Der Tag der Lerche" von Jo Walton
"Hap & Leonard: Die Storys" von Joe R. Lansdale
"Captain Future 06: Sternenstraße zum Ruhm" von Edmond Hamilton
"H. P. Lovecraft: Leben und Werk" von S. T. Joshi
"Der Himmel auf dem Mars" von Ray Bradbury (enthalten in "Science Fiction Hall of Fame – Die besten Storys 1948-1963" von Robert Silverberg (Hrsg.))
"Der vor dem Zaubrer flieht" von Peter Crowther (enthalten in "Hellboy 2: Eine offene Rechnung" von Mike Mignola & Christopher Golden)
"Kane 3: Herrin der Schatten" von Karl Edward Wagner
"Die Wurmloch-Odyssee" von Erik Simon & Angela und Karlheinz Steinmüller
"Die Hugo Awards 2001 – 2017" von Hardy Kettlitz
"SF Personality 26: Robert Silverberg – Zeiten der Wandlung" von Uwe Anton
"Fortschritt und Fiasko – Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction" von Hans Frey
"Die Überschreitung der Gegenwart – Science Fiction als evolutionäre Spekulation" von Wolfgang Neuhaus
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Der lachende Mann Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Hiobs Spiel 4: Weltmeister Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
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Buchvorschau
Phantastische Einblicke - Tobias O. Meißner
Inhalt
Inhalt
Otmar Jenner: Der Älteste
Tobias O. Meißner: Hiobs Spiel 4 – Weltmeister
Jo Walton: Der Tag der Lerche
Joe R. Lansdale: Hap & Leonard – Die Storys
Edmond Hamilton: Captain Future 6 – Sternenstraße zum Ruhm
S. T. Joshi: H. P. Lovecraft – Leben und Werk
Robert Silverberg (Hrsg.): Science Fiction Hall of Fame 2 – Die besten Storys von 1948–1963
Christopher Golden (Hrsg.) & Mike Mignola (Ill.): Hellboy 2 – Eine offene Rechnung
Karl Edward Wagner: Kane 3 – Herrin der Schatten
MEMORANDA-Bücher im Golkonda Verlag
Angela & Karlheinz Steinmüller: Werke in Einzelausgaben
Hardy Kettlitz: Die Hugo Awards 2001–2017
Uwe Anton: SF Personality 26 – Robert Silverberg – Zeiten der Wandlung
Hans Frey: Fortschritt und Fiasko – Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction
Wolfgang Neuhaus: Die Überschreitung der Gegenwart – Science Fiction als evolutionäre Spekulation
Impressum
Phantastik im Golkonda Verlag
Otmar Jenner
Der Älteste
Über den Autor
Otmar Jenner spielte in einer Rockband, arbeitete u. a. als Kriegsreporter und schrieb den viel besprochenen Roman Sarajevo Safari. Er lebt in Berlin und unterrichtet Sterbebegleitung. Neben eigenen Musikproduktionen beschäftigt er sich mit fotografischer Kunst. Mit Der Älteste wagt er zum ersten Mal den Schritt in die Science Fiction. Das Ergebnis: ein mitreißender Science Thriller über das beinahe ewige Leben und seine grotesken Folgen.
Der Roman
Wie alt kann ein Mensch werden, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren?
Eine einfache Zeitungsmeldung führt Ole Meerzen über die Grenzen unserer Existenz hinaus: In Sevilla soll der älteste lebende Mensch entdeckt worden sein. Auf der Suche verliert er sich immer tiefer in einem bedrohlichen Labyrinth aus seltsamen Erscheinungen und Zweifeln an unserer Realität und merkt, dass der Älteste gute Gründe hat, sich und sein Leben verborgen zu halten.
Dieser Textauszug stammt aus:
Otmar Jenner
Der Älteste
Roman
560 Seiten | Geb. mit Schutzumschlag
€ [D] 24,90 / [A] € 25,60
ISBN 978-3-946503-22-4 | Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-946503-23-1
Originalausgabe
Copyright © 2018 by Otmar Jenner
PROLOG
Sie empfinden Schmerz. Sie verfügen über ein Nervensystem und Rezeptoren. Zwar schützt ihr Panzer sie und gibt ihnen Stabilität, doch ist dieser Panzer nach wenigen Tagen ausgebildet und wächst nicht weiter, der Körper darin allerdings schon. Alljährlich wird es ihnen in ihren Panzern zu eng, was schmerzhaft ist. Schließlich so schmerzhaft, dass sie im Frühsommer ein Versteck aufsuchen, sich darin auf die Seite legen, zusammenkrümmen und im Zuge der Häutung ihre Panzer verlassen. Innerhalb weniger Stunden schwellen die gestauchten Körper auf eine neue Größe an und neue Panzer bilden sich, um dann wieder zu eng zu werden, was ihnen erneut Schmerzen bereitet, weshalb sie im folgenden Frühsommer ihr altes oder ein neues Versteck aufsuchen und sich auf die Seite legen für die nächste Häutung.
Bei jeder Häutung wachsen sie um zehn bis zwanzig Prozent, den Großteil davon direkt nach Verlassen des Panzers. Man kann sich also ausrechnen, wie eingezwängt ihr Körper im Panzer war, wie sehr er dadurch Schmerzen erlitten hat und in welchem Ausmaß der Schmerz zu ihrem Leben gehört. Jahr für Jahr. Von Häutung zu Häutung.
Ihr Leben. Es tut ihnen weh.
Ein Dasein als Hummer ist von Natur aus schmerzhaft.
Europäische können eineinhalb Meter lang werden, amerikanische knapp fünfzig Zentimeter länger. Doch Hummer werden nicht nur groß, sondern auch alt, durchschnittlich siebzig Jahre, also ein Menschenalter, nicht selten aber auch über hundert Jahre. Angeblich wurde irgendwann ein hundertvierzig Jahre alter Hummer gefunden, älter als jeder im GUINNESS WORLD RECORDS BUCH verzeichnete älteste Mensch. Dieses alte Tier hatte demnach hundertvierzig qualvolle Zeiten wachsender Stauchungen und nur temporär erlösender Häutungen hinter sich.
Auszug aus Kapitel 4
Erlauben Sie mir, dass ich mich vorstelle. Ich heiße Ole Meerzen, bin 54 Jahre alt, etwa fünf Jahre jünger, als meistens vermutet wird, hatte einmal rotblonde Haare, die inzwischen aber vollständig graublond sind, bin laut Pass einsachtzig groß, habe einen Bauch, was mich selbst oft sehr stört, aber ungewöhnlich große blaue Augen mit grünbraunem Rand, die manche Frauen schon als faszinierend beschrieben haben, weshalb ich mich ganz so hässlich nun auch wieder nicht finde und immer wieder sogar Freude am Leben habe, was leider durch eine in der Pubertät diagnostizierte psychische Störung beeinträchtigt wird. Es heißt, ich hätte ein Problem damit, mich als konsistentes Selbst zu erfahren und auch zu sehen und wäre ein Grenzgänger.
Das ist nicht die ganze Wahrheit, denn, um ehrlich zu sein, hatte und habe ich selbst kein Problem damit. Ich bleibe singulär, rede zwar immer wieder in der dritten Person über mich, aber nicht im Plural, wachse auch nicht manisch ins Königliche, um am nächsten Tag zur letzten Laus vorm Weltuntergang zu schrumpfen und in tiefer Depression zu versinken, bin also nicht bipolar im klassischen Sinne, sondern irgendwie, ja, dual, denn mir fällt selbst auf, dass ich immer wieder denke und auch sage »er« oder »der Ole« habe dies oder jenes getan. Er und ich – wir können prima Zwiesprache halten und sind gewissermaßen intern freundschaftlich verbunden, was natürlich auch für Befremden sorgen und auf Unverständnis stoßen kann. Aber im Ernst – wem geht das insgeheim eigentlich nicht so? Jedenfalls ist meine Dualität nur eine von vielen Seltsamkeiten in meinem Leben. Und sicherlich nicht die letzte. (…)
Auszug aus Kapitel 5
Fünfhundert? 500! Ein Mensch diesen Alters musste in seinem Leben schon viele Geburtsurkunden gefälscht haben, denn anders wäre wohl nicht zu erklären, warum er erst dieser Tage gefunden worden war. Einhundert, der Eintritt ins Reich der Dreistelligkeit, bisher umweht vom Hauch der Ewigkeit, schien mit seiner Existenz wie zurückgeworfen in die Zeit der Adoleszenz. Die Ältesten der Alten – auf einmal wirkten sie jung verblüht. Doch so weit war ich mit meinen Gedanken noch nicht, als ich an jenem trüben Berliner Morgen in einem Café sitzend Veroux aus der Hand legte und die Zeitung des Tages las.
Vor einigen Tagen hatte ich Johannes Elmang wiedergetroffen, mit 87 angeblich Berlins ältester Partyraver. Elmang stand am U-Bahnhof Kottbusser Tor am Gleis der U1 in Richtung Uhlandstraße und trat wegen der Kälte von einem Bein aufs andere. Wie immer trug er hautenge Röhrenhosen, dazu Schnürstiefel mit Budapester-Nähten und einen dunkelbraunen Ledermantel, allerdings nicht zugeknöpft, weswegen das oliv-grünblau karierte Sakko aus Harris-Tweed, das er darunter trug, sichtbar war, sowie eine pink-blau-schwarz gestreifte Fliege zu einem lila Hemd, kaum verdeckt von einem hellgrauen Schal.
»Ahoi, Elmang«, begrüßte ich ihn. Er nickte anstelle einer Antwort und drehte sich würdevoll einmal um die eigene Achse. Dann fuhr auch schon der Zug ein, und Elmang entschwand in einem Abteil. Weil ich in die Gegenrichtung musste, mein Zug aber erst in einer Minute kam, blieb ich auf seiner Seite des Bahnsteigs stehen, sah, wie er sich setzte und sofort von einer Gruppe junger, hübscher Mädchen angesprochen wurde. Man konnte neidisch werden bei dem Erfolg eines solchen Auftritts. Vor einigen Monaten hatte ihm das eine Einladung für Modeaufnahmen in Japan eingebracht und den Ruf des coolsten Alten aller Zeiten. Elmang ließ sich mehrfach in den Klubs »Burgschein« und »Le Mal« blicken und wurde regelmäßig im »Queen Victoria« beim Tanzen gesehen.
Während der Zug anfuhr, sah ich, wie eines der Mädchen, eine dunkelhaarige Schönheit, Elmang einen Stift und ein Stück Papier reichte, woraufhin er mit sichtlich erfreutem Gesichtsausdruck etwas daraufschrieb – wahrscheinlich eine Widmung und sein Autogramm. Ich gönnte ihm diesen späten Ruhm. Was sollte ich Johannes Elmang sagen, wenn ich ihn das nächste Mal traf? Vielleicht: He, Mann, nach dem jetzigen Stand der Gerontologie bist du gerade mitten in der Pubertät.
Er wandte sich in die Richtung, in der die Alfalfa liegen sollte, musste aber die Abzweigung, die man ihm genannt hatte, verpasst haben, denn er landete in einer ungewöhnlich breit angelegten Sackgasse mit Geschäften zu beiden Seiten. Rechts wies das sehr aufwändig gemalte Bild einer dunklen Schönheit in einem rotweißen Rüschenkleid mit wehenden Haaren und Kastagnetten in beiden Händen auf den Eingang zu einem Geschäft für Folkloreartikel. Der Laden schräg gegenüber wirkte dagegen heruntergekommen und irgendwie abstoßend, hatte aber den eigenartigen Namen »Matteo Perlheims Fantasie-Store«. Erst wollte er sich abwenden, überlegte es sich aber dann anders.
»Sie«, sagte er mit lauter Stimme, während er den Laden betrat und auf den Mann zusteuerte, der genauso mächtig wirkte wie der Schreibtisch, an dem er saß, »Sie müssen Matteo Perlheim sein.«
»Sie sagen es«, antwortete der Mann und hob seinen dicken Kopf mit einer solchen zeitlupenartigen Langsamkeit, dass er das Geschäft wieder verlassen hätte, wenn das Plakat im Rücken des Mannes nicht gewesen wäre.
»I teech yo whatewer yo wont«, stand dort.
»Sie können mir also alles beibringen? Mich lehren, was auch immer ich lernen will?«, fragte er daher den Mann.
»Sí«, brummte der daraufhin.
»Was Sie geschrieben haben, da oben«, er zeigte auf das Plakat, »ist aber falsches Englisch. Wenn Sie es selbst nicht beherrschen, wie könnten Sie mir richtiges beibringen, falls ich das von Ihnen verlangen wollte?«
Der Mann kniff sein linkes Auge zu und blickte den Besucher mit dem rechten an, während er sich mit beiden Händen vom Schreibtisch in eine stehende Haltung wuchtete und dabei mit einem seltsamen Schwanken in der Stimme fragte: »Spüren Sie es?«
»Was meinen Sie?«, erwiderte er, lauter, als er es beabsichtigt hatte.
»Schauen Sie auf die Straße«, kommandierte Kneifauge daraufhin.
Doch konnte er dort draußen beim besten Willen nichts Besonderes entdecken. Eine Möwe pickte am Boden. Eine zweite hockte auf einem Mauervorsprung und sah der ersten zu. Ein trostloser Anblick. »Was meinen Sie?«, wiederholte er ungeduldig.
»Es hat begonnen«, sagte der Mann mit einer ungewöhnlich tiefen und wohlklingenden Stimme. »Die Ankündigung.«
»Verstehe«, sagte er nun, um irgendetwas zu sagen und sein Gegenüber nicht zu verärgern, denn er hatte ja eine Frage, auf die er eine Antwort suchte. Möglich, dass dieser seltsame Mensch in diesem seltsamen Geschäft sie kannte. Oder ihn darin unterrichteten könnte, wie der Älteste am besten zu finden war.
Er wandte sich wieder zu Matteo Perlheim um, der sich mit seinen fetten Armen und der angesammelten Masse menschlichen Phlegmas auf die Tischkante stützte. Doch der Dicke ließ den Kopf auf die Brust sinken und sah vor sich auf den Boden.
Mit seiner Geduld am Ende, wollte er schon den Laden verlassen, als er erneut die Stimme des Inhabers hörte.
»Der Wind atmet, was die Leute noch nicht wissen«, sang der Mann hinter seinem Rücken. »Das ist das revolutionäre Pathos.«
»Was Sie nicht sagen.« Erstaunt blickte er sich nochmals zu dem Mann um. Der stand jetzt vollständig aufrecht, hatte nun sein rechtes Auge zugekniffen und stattdessen das linke aufgerissen. Mit dem linken hatte er einen Blick, der irgendwie lodernd und irre wirkte. »Schauen Sie genau her«, befahl der Mann und hob die linke Hand mit dem ausgestreckten, sehr dicken Zeigefinger. »Schauen Sie auf meinen Finger.« Er begann die Hand vor dem Gesicht des Besuchers zu bewegen. Hin und her. Schneller. Und noch schneller.
Und dann fand er sich draußen auf der Straße wieder. Im ersten Moment hatte er keinen weiteren Gedanken, sondern fühlte sich geradezu umhüllt und durchdrungen von der Verblüffung, plötzlich in der Sackgasse vor dem Laden zu stehen. Der Gedanke klebte an ihm und wollte ihn eine gefühlte Ewigkeit lang nicht loslassen. Doch dann fegte ein Luftzug durch die Gasse und blies auch in seinem Kopf etwas frei – und er dachte einen zweiten Gedanken. Warum hatte er den Ladeninhaber weder nach dem Ältesten gefragt noch ihm den abfotografierten Zeitungsartikel auf dem Handy gezeigt? »Wie dumm ist das denn?«, dachte er laut und versuchte, dies gleichzeitig auch leise zu sagen. Aber es wurde ein stiller Gedanke und ein lautloses Flüstern daraus.
Minutenlang rang er mit sich selbst. Der Laden war inzwischen dunkel. Wahrscheinlich hatte Perlheim das Licht gelöscht und vorzeitig geschlossen. Er nahm sich vor, morgen zu entscheiden, ob er wiederkommen und den Inhaber zur Rede stellen wollte, unterdrückte aufkommenden Ärger, zog schließlich sein Portemonnaie mit dem darin gefalteten Original aus der Hosentasche und entnahm den Ausschnitt. Vielleicht mit dem unbewussten Impuls, die Wahrhaftigkeit des darin Beschriebenen mit den Händen fühlen zu wollen. Anschließend stand er noch einige Minuten an eine Hauswand gelehnt neben dem Geschäft herum und dachte absolut gar nichts. Er, der auch ich ist.
»Geboren am 4. März 1517 in Cádiz, männlich, lebendig, ein medizinisches Wunder.«
Am selben Tag, einem Montag, erfuhr ich aus dem Internet, war Hernández de Córdoba von Kuba aus losgesegelt, um auf der Insel Guanaja vor Honduras Sklaven für die spanische Krone zu fangen. Die Seite mit dem Impressum der Zeitung hatte sich dann auch noch angefunden. Den Chefredakteur kannte ich nicht, dafür seine Stellvertreterin, Hannelore von Noretzki, meine ehemalige Kollegin, die ich einige Wochen lang auch nach der Arbeit getroffen hatte.
»Ah, Meerzen, lange nichts von dir gehört«, hatte Noretzki gesagt, als ich mich vor einigen Wochen schließlich überwunden hatte, sie anzurufen.
»¡Hola, Hanne«, grüßte ich zurück. »Wie läuft’s?«
»In die falsche Richtung.« Stille am anderen Ende der Leitung. »Gestern wurde eine Kollegin nicht weit vom Eingang erstochen. Deshalb und wegen möglicher Anschläge haben sie an der Pforte Kontrollen wie am Flughafen installiert.«
»Die Inghimasi?«
»Wie die Termiten«, erwiderte sie. »Stürzen sich für die Gruppe ins Feuer oder … Bombe, boom, puff, Brücke ins Himmelreich. Hat was Heroisches und Verlorenes zugleich.«
»Schlimm, das«, sagte ich.
»Kapitaler Mist, das«, sagte sie.
Ich hörte es zweimal in der Leitung krachen, bevor sie weitersprach. »Aber, ganz ehrlich, dir kann ich das ja sagen. Diese Stimmung hält mich irgendwie am Leben. Ich habe Angst, mich in Bedeutungslosigkeit und Langeweile aufzulösen.«
Ich verstand nicht so recht, was sie meinte, wollte aber auch nicht unhöflich sein und fragte deshalb weiter: »Und der Verlag?«
»Katastrophe. Die erste Entlassungswelle hat mich verschont, die zweite einige gute Kollegen aus dem Haus geschossen. Otmar Jenner, mit dem du ja auch gearbeitet hast, ist aber schon vorher gegangen. Ja, die Einschläge kommen näher. Vor der dritten Welle haben sie mir einen Auflösungsvertrag angeboten, um die Sache gütlich zu regeln. Ich habe mich geweigert, einen Anwalt genommen und konnte bleiben. Nun, o Wunder, bin ich sogar Stellvertreterin. Aber die guten Jahre sind vorbei. Alte Träume? Begraben. Hey, Meerzen, bist rechtzeitig gegangen.«
»Wahrscheinlich«, sagte ich.
»Spielst du noch?«
»Ja, manchmal mit dem Gedanken, wieder anzufangen.«
Noretzki war früher Bassistin in New-Wave-Bands gewesen, doch nie in derselben wie ich. Unsere frühere Freundschaft, aus der beinahe eine Beziehung geworden wäre, wurde in diesem Telefonat auf eine seltsame Weise reaktiviert. Für Sekunden öffnete sich die Leitung wie ein Kanal und Noretzki kam näher.
Doch genau das wollte er am wenigsten. Deshalb auch sein anfängliches Zögern.
»Hey, alles jammerschade, sowieso«, trompetete er in den Hörer und fragte sich gleichzeitig, was er mit »alles« eigentlich meinte. Sie redeten einige Minuten über alte und neue Zeiten und die Tatsache, dass der Journalismus von heute nur noch ein Schatten dessen sei, was sie beide einst kennengelernt hatten. Er hörte Melancholie in ihrer Stimme, während sie sprachen, einmal sogar den Klang echter Trauer. Der berufliche Ernst von einst, ihre Hingabe an die Sache hatte sich in einer Mischung aus Wehmut und Zynismus aufgelöst. Budgetkürzungen, Einschränkungen, Qualitätseinbußen, Niedergang, interne Querelen, nach außen hin hielt sie aber immer noch die Ehrenfahne hoch. Die Freiheitsstandarte des aufgeklärten Westens – eigentlich zum Kotzen. Wenn er richtig informiert war, hatte Noretzki vor Jahren geheiratet. Kurz nach seiner Kündigung, glaubte er zu wissen. Aus beruflichen Gründen hatte sie keine Kinder bekommen.
»Eigentlich zum Kotzen«, sagte Noretzki.
Nach einem kurzen, daran anschließenden vertiefenden Meinungsaustausch über die disparate Weltlage nannte er sein tatsächliches Anliegen, was sie ein bisschen zu enttäuschen schien. Doch stellte sie ihn zum Leiter des Kulturressorts durch, der ihn wiederum an den zuständigen Redakteur verwies. Beide klangen hektisch wegen der aktuellen Ereignisse, hatten eigentlich keine Zeit für einen Ex-Kollegen. Beide nuschelten die Überzeugung, dass die Meldung keine Falschmeldung, sondern ernst zu nehmen war, was immer das auch heißen mochte.
»Na ja, entweder oder«, sagte er.
Der Redakteur, ein Mensch mit einer leicht zittrigen, aber dabei sehr jungen Telefonstimme, erklärte ihm, er sei selbst so verblüfft wie skeptisch gewesen. Aber die spanische Agentur EFE hätte die Nachricht gebracht, dann auch Reuters und die Deutsche Presseagentur. Und auf die Agenturen sei ja grundsätzlich Verlass.
Da wäre er jetzt nicht so sicher, wollte er erst antworten, doch eine solche Diskussion hatte er ja gerade mit Noretzki gehabt.
Ob er ihm den Namen des Mannes sagen könne, fragte er, denn in der Zeitung hatte nur der Vorname und der erste Buchstabe seines Nachnamens gestanden, Angelo F.
Dabei sei tatsächlich ein Fehler passiert, erwiderte der Redakteur. Der Mann heiße Angelo Francisco Álvarez de Cádiz.
Warum Cádiz?, fragte er.
Weil der Alte dort geboren ist, so der Redakteur. Doch lebe er heute in Sevilla.
Also Andalusien, hatte er gedacht und aufgelegt.
Auszug aus Kapitel 7
Gegen 17 Uhr lag die Straße bereits im gelblichen Licht der Abendbeleuchtung. Er schritt die Alfalfa ab, um die Namen auf den Klingelbrettern zu lesen. Aber es standen dort keine Namen, nur Nummern. Etwa eine Stunde lang lief er die Straße auf und ab. Es gab einen Bäcker, einen Obst- und Gemüseladen, ein Schuhgeschäft und einen Krawattenladen, der auch Fliegen und Gürtel führte. Er ging in jeden Laden, zeigte das Foto von Álvarez, doch niemand wollte ihn gesehen haben. Also doch rüber zur Antonio Diaz. Kurz vor der Maestranza entdeckte er, dass ihm jemand folgte – ein Mädchen, vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt, in einen grauen Poncho gehüllt, aus dem ihre Arme dünn herausragten. Sie bewegte sich mit einer eigenartigen, fast katzenhaften Körperkontrolle und machte insgesamt einen wilden Eindruck auf ihn. Die schwarzen Haare quollen aus einer dunklen Wollmütze in ihr Gesicht und auf ihre Schultern. Als er sich umdrehte und ihr zuwandte, fror ihre Bewegung zu einer lauernden Haltung ein. Einen Moment lang blickten sie einander direkt an. Er meinte zu erkennen, dass sie orangeroten Lippenstift trug und sich die Fingernägel schwarz lackiert hatte.
Fast automatisch machte er ein, zwei Schritte auf sie zu, um sie zu fragen, warum sie ihm folgte. Sie stampfte aus irgendeinem Grund mehrmals mit dem rechten Fuß auf. Als er einen weiteren Schritt in ihre Richtung ging, drehte sie sich um und lief davon. Einige Straßen weiter entdeckte er sie wieder und rief ihr zu, dass er gern mit ihr sprechen würde. Daraufhin verschwand sie erneut. (…)
Auszug aus Kapitel 8
(…) Ich brauchte nur an den Ältesten zu denken und fühlte mich innerlich ruhiger werden. Als würden die Gedanken an ihn den Druck und die Hektik aus meinem eigenen Dasein nehmen. Hast konnte ich mir bei Álvarez jedenfalls nicht vorstellen. Nicht nach fünfhundert Jahren. Hektik und Stress, so dachte ich, mussten bei der Länge lange überwunden sein. Allerdings, nur weil eine Geschichte lang ist, muss sie ja nicht automatisch schön sein. Bei manchen Geschichten möchte man wünschen, dass sie möglichst schnell enden. Manche Biografien beginnen furchtbar, enden schrecklich und erscheinen auch dazwischen alles andere als erfreulich. Manchen Menschen tut das ganze Leben weh. (…)
Auszug aus Kapitel 10
(…) Die Zeit verlangsamt sich. In Zeitlupe erhebt sich das Unterbewusste, das magische Selbst aus dem Ozean der Selbstvergessenheit und ragt plötzlich wie ein Pickel aus der Oberfläche der Aufmerksamkeit in die Gegenwart. Seine Gegenwart.
Meine Gegenwart. Sie begann sich zu zersetzen. Meine Augen drifteten auseinander, meine Ohren fühlten sich an, als wären sie auf den Hinterkopf gewandert, und meine Nase hatte sich von meinem Mund auf eine sehr unangemessene, irgendwie despektierliche Weise distanziert. Man konnte sich natürlich fragen, was Nase und Mund miteinander zu tun hatten, über die Tatsache hinaus, dass durch beide geatmet werden konnte, manche Leute nasal sprachen, aber dafür den Mund benutzten, man mit der Zunge aber nicht riechen konnte, was, so gesehen, doch ziemlich willkürlich war. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte er plötzlich Schlagseite, denn mein Gehirn schien nach rechts verrutscht und sorgte für Gleichgewichtsprobleme.
Ich blieb stehen und befühlte mit beiden Händen meine Ohren, legte die Handflächen auf die Augen, berührte mit den Fingerspitzen die geschlossenen Lider, fuhr mit den Flächen über die Wangenknochen hoch zu den Schläfen, strich mit den ausgestreckten Zeigefingern beider Hände über die Nasenflügel am Mund vorbei zum Kinn, befühlte das Kinn, fühlte mein Kinn, welches eindeutig als meines fühl- und erkennbar war und mir gleichzeitig fremd vorkam.
Es war der Zerfall der Vertrautheit. Ich erschien mir plötzlich unklar, wie in einem Nebel verschwindend. Mein Gesicht, eben noch konturiert, konkret in meinem Bewusstsein und fühlbar vertraut, verwandelte sich in etwas weniger Greifbares. Mein Gesicht wurde amorph. Ich ging trotzdem weiter, stolperte einmal über meine eigenen Füße, wäre beinahe hingefallen, blieb dann vor dem nächsten Schaufenster wieder stehen, blickte in die spiegelnde Scheibe, sah mein Spiegelbild, betrachtete mein Gesicht. Seltsam. Was noch? Weiß nicht. Ein Gefühl der Auflösung, der Fremdheit gegenüber dem eigenen Körper. Ich musste mich setzen, meinen schwindenden Bezug zu mir selbst überdenken, glitt an der Wand hinab und wäre beinahe in einer Urinlache, wahrscheinlich eines Hundes, gelandet. Sprang also wieder auf, lief weiter. Wie in einen Nebel. Ich wanderte im Dunst meiner nebulösen Gegenwart, starrte dabei auf meine Füße, um nicht erneut zu stolpern, und als ich schließlich den Blick wieder hob, stand ich vor dem Schuhladen und kam mir selbst zunehmend abhanden vor. Zu meinem eigenen Erstaunen machte es mir aber keine Angst.
Kapitel 11
Er besaß Beine aus Watte und Knie aus Gelee; seine Arme hingen am Rumpf und wedelten im Rhythmus seiner Schritte. Allerdings hatte er nicht das Empfinden, zu gehen, sondern in Gleitbewegungen einen Fuß vor den anderen zu setzen. Andere Menschen, die ihm entgegen kamen, wichen ihm aus, weil er sie in Gedanken dazu bewog, doch das Gefühl eines körperlichen Impulses fehlte. An Kreuzungen hielt er an und konnte sich gefühlte Ewigkeiten lang nicht überwinden, sie zu überqueren. Trotzdem gelang ihm immer wieder, was er beabsichtigte. Er wich aus, hielt an, ging weiter, bog um eine Ecke, fragte sich an der nächsten, wo er eigentlich war, ging im Kreis und über Kreuz, hatte sich verlaufen und wusste doch, wo er war: in einer fremden Stadt, in der er einen fremden Mann treffen wollte, der so unglaublich alt war, dass es ihn gar nicht geben konnte, was ihm, so gesehen, erst recht fremd, fremdartig und befremdlich erschien. Mit diesen Gedanken bewegte er sich im Kreis und auf eine zirkuläre Weise geradewegs voran, in eine Sackgasse nämlich voller negativer Erwartungen. Das alles war, als eine Art Gesamtkunstwerk gesehen, ganz interessant und auch amüsant, und er musste darüber lachen in genau diesem historisch absurden Moment …
Er befindet sich noch in der Calle Huelva, glaubt er wenigstens, zwischen einem Geschäft für Dekoration und der Los Palillos-Bar. Einige Leute treten aus dem Geschäft, sehen ihn am Bordstein sitzen und lachen. Eine Frau sagt etwas zu einem Mann, woraufhin der ebenfalls zu lachen beginnt und dann auch sie. Kurz darauf lachen auch andere in der Gruppe. Aus der Bar kommt ein weiß gekleideter Kellner, schaut mit einem angestrengten Blick auf die Straße, sieht die lachende Gruppe, dann ihn und stimmt in das Lachen mit ein. Ihrer aller Gelächter hallt in der Gasse zwischen den Häusern. Die unterschiedlichen Stimmlagen bilden akustische Texturen, die sich gegenseitig durchdringen, überlagern und wie in Klangspiralen auf dem Grundton seines plötzlich wieder aufgetauchten Ohrensausens tanzen.
»Biiiiieeeeeeep.« Er versucht, den Ton in seinem Kopf mitzusingen, trifft aber nicht mal die nächsttiefere Oktave.
Er hat das Empfinden, in Spiralen aus Klang einzutauchen, darin emporgehoben und getragen zu werden, als wäre er selbst ein Echo und würde, von seinem Körper gelöst, rein akustisch weiterbestehen und zwischen den Wänden der Häuser hin und her tanzen. Er besitzt ein waberndes Empfinden, während sich der Fluss seines Bewusstseins verlangsamt und er wie in Zeitlupe zwischen den Hauswänden tanzt.
Biiiiieeeeeeep.
Ein ganz herrliches, ja, irre gutes und auch wahnsinnig krankes Gefühl.
Er spürt eine Bewegung an seinem linken Arm. Ein älterer Mann, der einen Hut mit einer breiten Krempe trägt und ihm aus irgendeinem Grund bekannt vorkommt, hat sich direkt neben ihn gestellt, beugt sich mit bleichem, lediglich an den Wangen leicht gerötetem Gesicht herunter, versucht, ihn hochzuziehen.
»Kommmm…mennnnnn…Sieeeeee.« Die spanischen Worte kriechen wie Reptilien aus dem Mund des Alten. Das Gesicht zerknüllt sich mit den Lippenbewegungen wie ein Papiertaschentuch. Ah, »Kommen Sie.«
Wozu? Eigentlich will er nicht. Doch der Alte meint es gut mit ihm, das spürt er. Die Haut in seinem Gesicht und am Hals glänzt, und er denkt, dass es Liebe ist, die aus seinen Poren leuchtet. Er will ihm genau das sagen, sich bedanken, dem Mann zu verstehen geben,