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Verlaufen in Berlin
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eBook198 Seiten2 Stunden

Verlaufen in Berlin

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Über dieses E-Book

Alle zehn Jahre ein Buch über Berlin. Nach "In Berlin" (2001) und "Welche Farbe hat Berlin" (2011) spaziert David Wagner wieder durch die Stadt: Er flaniert durch Flughäfen und Malls, die Kastanienallee, die Kurfürstenstraße und die Kantstraße hinauf und hinunter, er besichtigt Autobombensperren am Bikinihaus, verliebt sich in brutalistische Bauten und tanzt auf Socken durch Berliner Zimmer.

Er unternimmt Wallfahrten durch Gewerbegebiete, hilft nicht bei der Gartenarbeit, singt mit Nonnen der Barfüßigen Karmelitinnen, wandert durch die Pandemie und verläuft sich mit Freundinnen, Freunden, allein oder mit einer Schildkröte. Dabei erinnert er an Barrikaden und lässt Brandwände erzählen, folgt geheimnisvollen blauen Röhren, wartet am Rosenthaler Platz auf Erlösung und blickt in eine dystopische Zukunft, in der die Deutsche Digitale Republik (DDR) das freie Berlin besetzt.

"Verlaufen in Berlin" führt kreuz und quer durch die letzten zehn Jahre, David Wagner besingt die Stadt: ihre Straßen und ihre verschwundenen Brachen, ihre Parkanlagen und Parkplätze, ihre Hässlichkeit und ihre Schönheit. Er zeigt, wohin wir uns verlaufen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Aug. 2021
ISBN9783957325068
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    Buchvorschau

    Verlaufen in Berlin - David Wagner

    KASTANIENALLEE

    Verlasse das Haus erst um kurz nach zehn, bisher war es einfach viel zu heiß. Es ist noch hell und die Straßen sind voll, überall sitzen Menschen und schauen Fußball, Fernseher stehen vor den Lokalen, das Viertelfinale Portugal – Kroatien läuft noch. Als ich in die Schwedter Straße biege, geht das Spiel in die Verlängerung. Ich spaziere an Bildschirmen und Leinwänden vorbei – eine hängt unter dem Dach der fast hundert Jahre alten Tankstelle, an der schon lange kein Benzin mehr verkauft wird – und quer über den Teutoburger Platz. Es ist so schön, sich zu bewegen, heute war bisher nur Wohnungswandern. Erkenne dann, er steht vor einem Fernseher in der Fehrbelliner Straße, Pele, den Maler, der sein Atelier im Milchhof hat. Er möchte, wir gehen die wenigen Meter zusammen, die zweite Halbzeit der Verlängerung im Haliflor sehen.

    Sascha ist da, Linda, Denice, Rico, Thilo und Karl, Haliflor-Andi ebenfalls. Alle, nur Friederike fehlt, starren wie gebannt Richtung Leinwand, die über der Bar von der Decke hängt. Pele und ich starren auch, unterhalten uns dabei aber über unsere und andere Familienkonstruktionen: halb Patchwork, halb Großfamilie, hin und wieder alleinerziehend. Quaresma trifft kurz vor Schluss, Portugal gewinnt, und Pele bricht auf, er will zurück ins Atelier, während ich noch kurz bei Romy, Sascha und Rico bleibe, bei den üblichen Gesprächen über alles und nichts.

    Auf dem Heimweg kommt Martin mir entgegen. Seit bald zwei Jahrzehnten begegnen wir uns immer wieder auf der Straße, manchmal zweimal am Tag, manchmal Monate nicht. Oft treffe ich ihn auf der Schönhauser, auf der Kastanienallee oder sonst wo in Prenzlauer Berg, seltener in Mitte. Vorgestern erst habe ich ihn an der Eberswalder gesehen, er überquerte die Danziger. Er wohne nun in der Christburger Straße, erzählt er, nicht mehr an der Schönhauser Allee, in einer Umsetzwohnung – »So etwas gibt es noch?«, frage ich dazwischen – mit begrüntem Hof und wohlerzogenen Kindern im Haus, weshalb es ihm dort eigentlich nicht gefalle. Es sei viel zu schön und renoviert für ihn, und er, der Ur-Prenzlauer-Berger, fühle sich unter all den Neuberlinern dort nicht wohl. »Kannste dir ja denken«, sagt er. Und wie er das sagt, glaube ich mich wie immer ein bisschen mitgemeint, obgleich er das wahrscheinlich abstreiten würde. Dass ich zwanzig, bald dreißig Jahre früher hier war, heißt ja nichts. Hinzugekommen bin ich doch.

    Er sei gerade dabei, sein Lebenskonzept zu überdenken, seine Peripatetik, seine Zwangs-Peripatetik, er müsse sich ja immerzu bewegen, immer gehen. Er zählt auf, welche Orte er täglich ansteuere, immer zu Fuß: die Rumbalotte, die Papenfuß-Kneipe, die sich jetzt in der Berliner Straße, in der früheren Willner Brauerei befinde; das Watt (dort, wo davor die Rumbalotte war); das Metzer Eck; das Krüger. Wo er halt Leute treffe, Leute von früher. Leute aus dem Osten. Die Fußball-Europameisterschaft werde sogar in der Paul-Gerhardt-Kirche übertragen, sagt er, die Deutschlandspiele zumindest. Die Paul-Gerhardt-Kirche, verrät er auf meine Nachfrage, das sei die Kirche in der Wisbyer Straße, der dunkle Backsteinbau; es sei dort schön kühl. Und so viele Schäfchen wie zu den Spielen der DFB-Auswahl fänden sonst wohl nur zu Weihnachten in dieses Gotteshaus. Abendmahl werde allerdings keines ausgegeben.

    Er ist dann, er fragt nach ihr, ganz verwundert, dass Martha schon sechzehn ist. Er kennt sie noch vom Arnimplatz, im Sand auf dem Spielplatz und im Kinderwagen. »Geht sie heute in den Mauerpark, kiffen?« – »Selten«, antworte ich, und erzähle ihm, dass ich dank ihrer Leichtathletik-Karriere bald alle peripheren Stadien Berlins kenne: das Stadion an der Allee der Kosmonauten, das am Südring, das in Lichterfelde, das schöne Stadion mit den reetgedeckten Nebengebäuden in Hakenfelde und noch einige andere.

    Wohl weil so viel los ist auf der Kastanienallee, wir stehen eigentlich im Weg, sagt Martin, das mit den Touristen im Prenzlauer Berg habe mit dem Kirchentag angefangen. »Mit dem von 1989?«, frage ich. »Den habe ich auch besucht, aber nur weil Berlin mich lockte. West-Berlin. Und weil es für die Fahrt schulfrei gab. Wir haben in einem Gymnasium in Westend übernachtet, nicht weit vom Corbusierhaus. Vier Tage bin ich durch Berlin gelaufen. Und hatte am Ende keinen einzigen Gottesdienst besucht.«

    »Nein«, sagt er, »ich meine den von 2010. Aber Touristen sind ja vorher schon gekommen. Und heute haben wir jedes Wochenende Kirchentag.«

    »Sollen wir nicht lieber ›Treffen der Weltjugend‹ sagen? Im Mauerpark?«

    Er lacht.

    Nicht immer verstehe ich alles, was er sagt. Manchmal setzt seine rauchige Stimme aus, er hatte Probleme mit seinem Kehlkopf. Ich verstehe auch nicht immer, wovon er spricht, er spaziert und springt durch sein Wissen und ist in ihm unterwegs, wie er in der Stadt unterwegs ist. Er treibt sich herum, streift umher, streichelt Berlin. Er ist der wahre Flaneur, verglichen mit ihm bin ich ein Poser.

    Wir stehen noch ein wenig auf dem durch den Umbau mit den Parktaschen für die Autos, da sind wir uns einig, verunstalteten Bürgersteig der Kastanienallee und hätten uns noch viel zu erzählen – geben uns dann aber gleich zweimal die Hand, bevor er zum Abschied den alten, in einer frühen Castorf-Inszenierung wieder aufgenommenen Kräuterlikör-Werbespruch zitiert: »Früher oder später trinkt ein jeder Wurzelpeter«.

    Auf den letzten Metern nach Hause – die Blätter der Kastanien werfen theatralische Riesenschatten auf den Granit der von so vielen Sohlen glattpolierten Schweinebäuche – habe ich das Gefühl, Martin hätte die ganze halbe Stadt in sich aufgesaugt. Überall ein Körnchen, auf jedem Weg, bei jedem Schritt durch sein Schweifgebiet. Ich weiß, dass er schon vor der Wende herumgezogen ist, Annett Gröschner erzählt in Psychonautikon Prenzlauer Berg, dass er nicht nur bei Ekkehard Maaß ein- und ausgegangen sei, in dessen Wohnung in der Schönfließer Straße die legendären, durch Sascha Anderson stasi-überwachten Lesungen stattfanden. In den frühen 2000er Jahren, als ich am Arnimplatz neben der Kletterburg am Sandkasten saß, wohnte Ekkehard Maaß noch immer dort, hatte ebenfalls ein kleines Kind und setzte sich manchmal zu uns.

    Am Tag darauf schreibt Martin mir per Facebook-Nachricht: »ja.schade david.3 min später und 50 m weiter war auf hof von k77 ne hoffest.band mit letzter kraft noch… so’n 90er berlin gefühl stellte sich ein… und ganz schlimm dann die meute vor der badeanstalt oderberger hingegen…. ansonsten ahoi.auf demnächst.m.«

    2016

    BRANDWÄNDE ERZÄHLEN BERLIN

    Ich wache auf, öffne die Augen und sehe die Brandwand. Eine Mauer aus vielen – wie viele waren es, habe ich nicht sogar versucht, sie zu zählen? – ursprünglich roten, über die Jahrzehnte eingegrauten und anverwitterten Ziegelsteinen.

    Ich sah sie jeden Morgen. Mein Bett stand gegenüber dem einzigen Fenster des einzigen Zimmers der Wohnung, ich hatte sehr viel Mauer vor mir. Manchmal wanderten Lichtpunkte über die Backsteinwand, das freute mich, später am Tag, wenn die Sonne schien, was im Winter nicht oft der Fall war, ein Schatten. Die Brandwand vor meinem Fenster war wie eine große leere Leinwand, eine Matrix, in der vielleicht, dachte ich mir, während ich sie vom Bett oder später vom Schreibtisch aus betrachtete, eine Botschaft steckte. Stecken musste. Standen nicht einige Steine ein wenig aus dem Verbund heraus? Bildeten sie nicht Buchstaben? Ameisen konnten diese Backsteinwand hinauflaufen. Ich nicht.

    Brandmauern haben Berlin gerettet. Wahrscheinlich stand das Haus, in dem ich damals, in den frühen neunziger Jahren, wohnte, nur wegen seiner Brandmauern noch. In seiner Umgebung waren während des Krieges nicht wenige Bomben gefallen.

    Nur der Brandwände wegen stehen überhaupt noch so viele Gebäude, die wir heute Altbauten nennen. Während der Bombardierungen waren viele von ihnen nicht einmal fünfzig Jahre alt und brandschutztechnisch auf der Höhe der Zeit. Hamburg ist verbrannt, Köln ist verbrannt, Nürnberg ist verbrannt, Würzburg ist verbrannt, Dresden sowieso und von vielen anderen deutschen Innenstädten blieb auch nicht viel übrig. Berlin aber blieb Berlin, weil Berlin eben – zu einem großen Teil zumindest – keine alte Stadt war. Von der Altstadt, die auch Berlin einmal hatte – sie befand sich um die Marien- und die Nikolaikirche herum und auf der Fischerinsel –, von der Altstadt, die brennen konnte, ist fast nichts mehr da.

    Berlin blieb dank seiner strengen Bauvorschriften in großen Teilen erhalten – und weil die Stadt, so weit im Osten, lange nicht in Reichweite der alliierten Bomber lag; nicht in Reichweite der – wie hieß es so schön auf den heute fast überall entfernten Ost-Berliner Hinweistafeln aus DDR-Zeiten: »angloamerikanischen Bomberverbände« – lag. Westdeutsche Ziele lagen einfach näher.

    Brandwände haben Berlin gerettet, denn um Berliner Mietskasernen zu knacken, brauchte es schwerste Bomben, Wohnblockknacker genannt, dann Sprengbomben auf Brandbomben. Die Bauweise mit Brandwänden war und ist aber auch verantwortlich für die oft mangelnde Belichtung vieler Berliner Wohnungen. Sie sorgte für Wohnhöhlen, wie die, in der ich untergekommen war, mit einem großen Zimmer, das von nur einem Fenster eher mangelhaft beleuchtet wurde. In der ich mich aber, Brandwand im Rücken, Brandwand vor dem Fenster, sehr sicher fühlte. Ich war in Berlin.

    Gar nicht so selten zu sehen in großen Brandwandflächen: Ein oft recht weit oben liegendes, einsames kleines Fenster, das ein Bewohner der dahinterliegenden Wohnung in einem anarchischen Akt durch die Hauswand gebrochen hat, um sich so mehr Licht, Luft und Aussicht zu verschaffen. Nachts oft ein warmes, gelbes Lichtgeviert in dunkler Fläche.

    Kann wie ein Gemälde aussehen.

    Brandwände aber, das tut mir fast leid, verschwinden. Verschwinden, weil neu gebaut wird. Ich erinnere mich an das kubistische Brandwandensemble am Pariser Platz, dort, wo heute die Französische Botschaft steht: Sie bildeten einen Raum, der nur noch an zwei Seiten offen war: zum Himmel und zur Straße.

    Ich erinnere mich an das Brandwanddreieck in der Anklamer Straße, Rosenthaler Vorstadt, auf dem der Kohlenhändler Peter Hantke seine Brennstoffhandlung hatte. Heute steht auch dort ein Haus, hell können die Wohnungen in dem Gebäude auf dieser schwierigen Grundfläche nicht sein.

    Eine Brandwand in der Senefelder Straße fällt mir ein, einige Jahre grasten auf ihr lebensgroße, in der Senkrechten angebrachte bunte Kuhfiguren. Heute steht ein Haus vor dieser Weide.

    Ich muss an das Cantiandreieck denken, »Aufstand der Würde« war dort jahrelang zu lesen. Und zwei Sommer gab es auf dem Grundstück vor der Brandmauer eine Wiesenbar. Heute steht dort ein Haus.

    Ich muss an die Brandwand an der Schönhauser Allee denken, dort wo die Hochbahn die Ringbahn kreuzt. Bevor dort ein riesiges Gesundheitszentrum errichtet wurde, Abschreibungsarchitektur, wurde vom Dach des gegenüberliegenden Hauses Werbung auf die Brandwand projiziert.

    Und ich erinnere mich an die riesigen Brandwände in der Chausseestraße, dort, wo jetzt das Hotel Titanic schwimmt. Und und und. Beispiele sind Legion.

    Es werden weniger – aber es gibt noch immer viele. Eine meiner Lieblingsbrandmauern steht Ackerstraße / Ecke Max-Ulrich-Straße, Gesundbrunnen. Sie erstreckt sich, ein vertikales Feld, über einen ganzen Block und kann in der Abendsonne glühen wie die Alpen.

    Mir gefällt die Brandwand an der Schönhauser, fast am Schönhauser Tor. »Diese Stadt ist aufgekauft!« steht auf ihr, seit vielen Jahren.

    Ich mag die uralte Quartier-204-Werbung auf der letzten Freifläche der Friedrichstraße, zurzeit ist dort eine Baugrube. Die Wand wird bald verschwunden sein.

    Und ich mag die großflächigen Brandwände der Cuvrybrache an der Schlesischen Straße. Der berühmte, kopfüber baumelnde Astronaut, zeitweise die bekannteste Streetart der Stadt, wurde mittlerweile vom Künstler selbst übermalt, weil er nicht damit einverstanden war, dass sein Kunstwerk zur Bebilderung von Imagebroschüren und Immobilienprospekten verwendet wurde.

    Die entzückende Brandwand über dem Woolworth-Flachbau, Potsdamer Straße / Ecke Kurfürstenstraße. Eine West-Berliner Ecke.

    Und ich denke an die leere Ecke Potsdamer Straße / Ecke Alvenslebenstraße, Schöneberg. Sieht so aus, als hätte jemand dort ein Stück aus dem Streuselkuchen der Stadt geschnitten. Ein paar Krümeltrümmer liegen noch dort, mittlerweile überwuchert.

    Es wäre allerdings ein Irrtum zu glauben, erst die Bombardierung und die Eroberung durch die Rote Armee, die Schlacht um Berlin im April 1945, hätten die Brandwände im Stadtbild freigelegt.

    Brandwände zeigten sich schon vor dem Krieg immer dort, wo die Bebauung aufhörte. Sie ragten auf, wo einstöckige Bebauung zwischen Traufhöhenhäusern, sprich Mietskasernen, überdauert hatte. Sie zeigten sich in Bau- und Spekulationslücken und dort, wo Stadt- und Ringbahn die Bebauung teilten. Der Stadtbahnhof Savignyplatz zeigte seine Brandwände damals schon wie heute, er ist ein Brandwandbahnhof zwischen Gebäuden, die scharf angeschnitten am Stadtbahnviadukt stehen.

    Der aus Köln stammende, in Berlin wirkende neusachliche Maler Gustav Wunderwald malte in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts etliche Stadtansichten Berlins – und auf vielen von ihnen sind Brandmauern zu sehen. Wunderwald, der Wedding-Canaletto, malte Brandwände auf eine Weise, dass sie wie abstrakte Flächen in seinen Bildkompositionen liegen. Sein Schaffensmotto, formuliert im Jahr 1926, lautete: »Die tristesten Dinge

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