Das Skizzenbuch: Glücksfall der Kunstgeschichte
Von Gerd Presler
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Buchvorschau
Das Skizzenbuch - Gerd Presler
Das Skizzenbuch
Glücksfall der Kunstgeschichte
Gerd Presler
Impressum
„Das Skizzenbuch – Glücksfall der Kunstgeschichte"
Herausgeber: Prof. Dr. Dr. Gerd Presler (gerd@presler.de)
Gestaltung und Satz: Neues Sortiment – Atelier für Kunst und Kommunikation. Dagmar Geiger, Kevin Wells GbR, Karlsruhe
© 2017 Copyright für Texte beim Herausgeber
Die Bildvorlagen wurden freundlicherweise von den in den Bildlegenden genannten Museen und Archiven sowie den dort akkreditierten Photographen zur Verfügung gestellt. Nicht in allen Fällen konnten Standorte und Bildrechte ermittelt werden.
Dank für Hinweise und Anregungen:
Troels Andersen, Hildegard Bachert, Felicitas Baumeister, Mayen Beckmann, Magne Bruteig, Markus Eisenbeis, Hanne Forstbauer, Christian Fröhlich, Hubertus Giebe, Alfred Hoh, Rainer Hüben, Florian Illies, Jane Kallir, Stefan Koldehoff, Felix Krämer, Karin von Maur, Christian Modersohn +, Karsten Müller, Doris Presler, Volker Probst, Erik Riedel, Thorsten Sadowsky, Christian Strenger, Dirk Teuber, Jacob Thage, Michael Trier, Freerk Valentien.
Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
ISBN: 978-3-96931-811-9
Verlag GD Publishing Ltd. & Co KG, Berlin
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
logo_xinxiiInhaltsangabe
Vorwort des Autors
Vom Rand ins Zentrum
Das Skizzenbuch – Ort der Einsamkeit
Das Skizzenbuch – Respekt und Feingefühl vor einem unbetretbaren Raum
Das Skizzenbuch – Folgenreiche Entdeckungen
Das Skizzenbuch – Formen und Formate
Das Skizzenbuch – Ausriss und Rückordnung
Das Skizzenbuch – Zeichenmaterialien
Das Skizzenbuch als Notizheft
Skizzenbücher auf fremden Wegen
Typologie des Skizzenbuchs
Skizzenbücher – Ein eigenes Feld großer Künstlerinnen und Künstler
Das Skizzenbuch – Ort der Begegnung mit „Zeitgenossen"
„Einsam, wie ich immer war."
Die Wendung nach innen
Zeichnender Jäger des Augenblicks
Traum der Schönheit – und die gnadenlose Wirklichkeit
Das Skizzenbuchblatt – geboren in der Ekstase des ersten Sehens
Das Große ereignet sich im Unscheinbaren
Das Skizzenbuch – Ort einer schwebenden Nachdenklichkeit
„Ich bin das Skizzenbuch"
Die Stimme des Propheten zwischen expressionistischem Feuer und besonnener Mäßigung
Die Geheimschrift des Lebens
Das Skizzenbuch – Ort visueller Erlebnisse
„Der kostbare Augenblick – mit wenigen Strichen"
„Mein Persönlichstes – in der Linie"
Sehzonen und Schaukräfte des Unbekannten
„Aus dem Handgelenk"
„Ich laufe dauernd mit kleinen Notizbüchern herum."
Klare Übersicht und extreme Spannung
Die Qualität des Lichts
„Attackiert in Wut und Trauer."
„Bitte erhalte es, zerstöre es nicht […]"
„Ereignisreiches Energiefeld, in dem die Koordinaten zusammenstürzen"
„Listenreich ausgelegte Spuren."
Anmerkungen
Vorwort des Autors
Ernst Barlach, 1895, aus Skb 5, 82-1
Ausstellungen, in denen Skizzenbücher nicht selten eine herausragende Rolle spielen: Geradezu prominent vertreten liegen sie in Vitrinen, darüber Monitore, auf denen alle Blätter per touch-screen zu sehen sind. Optisch ein Genuss und ein spannendes Ereignis. Doch leider: Mit einem Skizzenbuch können viele weiterhin nicht wirklich etwas anfangen. Was geschieht dort? Für die meisten steht fest: Das Skizzenbuch gilt der Vorbereitung eines Werkes – eines Gemäldes zumeist. Auf seinen Seiten findet sich in aller „Vor-Läufigkeit ein mit wenigen Andeutungen hingestrichener Eindruck, dessen „Vollendung
andernorts und später erfolgt? Hatte nicht Giorgio Morandi alles genau umrissen: „Dort auf der Anrichte liegen zwei Skizzenbuchblätter. Das nach ihnen gemalte Bild ist fertig. Sie können sie mitnehmen […] Ich brauche sie nicht mehr."¹ Doch es hat sich etwas geändert, und dem muss man – endlich – nachgehen: Das Skizzenbuch „kann mehr; es bestellt ein anderes Feld als das der „Vor-Läufigkeit
! Auffällig: Es gibt bisher keine Veröffentlichung, die seiner wirklichen Bedeutung im schöpferischen Prozess nachgeht. Wäre es nicht angebracht, jener Einschätzung zu folgen, die Künstlerinnen und Künstler dem „stillen Begleiter in der Jackentasche zumaßen? Das soll hier geschehen. Und immer noch unabgegolten bleibt, was Eberhard Grisebach vor nahezu hundert Jahren ansprach: „Die Bedeutung der Skizze ist in unserer Zeit neu entdeckt worden. Hier muss man beginnen zu verstehen und zu deuten.
²
Gerd Presler
Ernst Ludwig Kirchner, Sitzende auf gelber Decke – Fränzi, 1910, Aquarell, 210 x 175 mm, aus Presler Skb 13
Vom Rand ins Zentrum
Ernst Ludwig Kirchner, Tanzgruppe in Dresden, 1926, Presler Skb 127-42
Ganz und gar unbeachtet blieben im Juni 1971 mehr als 400 Arbeiten von Ernst Ludwig Kirchner, die unter den Losen 541 bis 545 im Auktionshaus Kornfeld und Klipstein, Bern, aufgerufen wurden: „Sammelnummer von ca. 100 Zeichnungen und Skizzen, in versch. Techniken und Formaten. Meist ca. 20 x 17 cm. Der Katalog beschrieb sie als „sehr interessantes Dokumentationsmaterial, das von den Dresdener Anfängen bis in die späte Davoser Zeit reicht und Kirchners ständiges Bemühen um das Erfassen von Menschen, Umgebung und Landschaft dokumentiert.
Die Konvolute stammten aus der „ehemaligen Sammlung Lise Gujer, die den gesamten Skizzenbestand kleinen Formates um 1943 von Erna Kirchner übernommen hatte. Der Schätzpreis lag für je „ca. 100 Zeichnungen
bei 4.000.- Fr., was bedeutet: Das einzelne Blatt war mit etwa 40.- Fr. angesetzt.
Als in demselben Auktionshaus 1985 ein „Skizzenbuch von 81 Blatt oder 162 Seiten. Wachstuchheft. 22 x 17,5 cm, rechts mit abgerundeten Ecken, unter der Losnummer 66 aufgerufen wurde war die Beschreibung genauer: „Skizzenbuch, gekauft in Davos in der Papeterie Leser. Enthält 41 Kohlezeichnungen, 2 Zeichnungen mit Feder und Tusche, 2 Zeichnungen mit Feder und Tinte, 9 Bleistiftzeichnungen, 1 Aquarell und 26 Zeichnungen in verschiedenen farbigen Kreiden […]. Skizzenbücher sind im Handel sehr selten. Wichtiges Dokument über Kirchners Arbeitsweise.
Der Schätzpreis war nun mit 17.500.- Fr. angesetzt, das einzelne Blatt also mit gut 200.- Fr. Immerhin das Fünffache, und das in vierzehn Jahren. Seither hat sich noch einmal viel verändert. Heute erreichen unsignierte Skizzenbuchblätter, vor allem, wenn es sich um Aktdarstellungen der Dresdner und Straßenszenen der frühen Berliner Zeit handelt, fünfstellige Euro-Beträge. Tendenz steigend.³
Wir wissen inzwischen mehr über diesen Schaffensbereich Kirchners – nach vorsichtiger Zählung umfasst er 13.000 Blätter – und schätzen die Bedeutung seiner Skizzenbücher anders ein. Das gilt nicht nur für die finanzielle Dimension. Es gilt vor allem für den Stellenwert, den sie im schöpferischen Prozess einnehmen. Der Maler selbst gab das Stichwort zu einer völlig veränderten Sichtweise auf das Skizzenbuchgeschehen: „Geboren in der Ekstase des ersten Sehens", so hatte er im Davoser Tagebuch⁴ die Stellung der Skizzenbuchblätter gekennzeichnet. Sie stehen „Am Anfang. Das ist ein besonderer Ort. Schon 1919 fasste er zusammen: „Der beste Prüfstein für die […] künstlerische Arbeit des Bildenden ist die Zeichnung, die Skizze. In ihrer unmittelbaren Ekstase erfassen sie die reinsten und feinsten Gefühle in fertigen Hieroglyphen und bilden so das sicherste Fundament für die Composition […]. Die Zeichnung oder Skizze ist natürlich nur möglich, wenn die Hand durch stete jahrzehntelange Übung absolut geschult ist und keine Hemmung oder Mühe aus Ungeschick mehr hat.
⁵
Ernst Ludwig Kircher, Fränzi in der Hängematte, Presler Skb 13-30
Im „Davoser Tagebuch"⁶ hielt er fest, die Skizze fange die „feinste erste Empfindung ein. Deshalb seien „die kleinen Skizzen in Quartheften mit Wachstuchdeckel am wertvollsten.
An anderer Stelle wurde er ausführlicher: „Am wertvollsten wenn auch am schwerverständlichsten sind die kleinen Skizzen, die auf der Strasse, im Café, Theater u. s. w. entstanden sind. Die frühen befinden sich auf in Heften eingeklebten Zetteln. Die späteren in Quartheften mit Wachstuchdeckel."⁷ Schließlich die abschließende Bewertung: „Ich lernte den ersten Wurf schätzen, sodass die ersten Skizzen […] für mich den grössten Wert hatten. Was habe ich mich oft geschunden, das bewusst zu vollenden auf der Leinwand, was ich ohne Mühe in Trance [d. Verf.: Ekstase] ohne weiteres hingeworfen hatte und was so vollendet