Kursbuch 208: Koalitionen
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Buchvorschau
Kursbuch 208 - Kursbuch Kulturstiftung gGmbH
Armin Nassehi
Editorial
Koalitionen sind Zusammenschlüsse unter ungleichen Partnern auf Zeit. Natürlich ist es kein Zufall, dass wir ausgerechnet jetzt, ein Kursbuch über Koalitionen machen. Die Koalitionsverhandlungen der Ampelparteien wurden gerade zum Redaktionsschluss dieses Kursbuchs aufgenommen – und der Zeitplan sieht vor, dass sie zum Erscheinen dieser Ausgabe abgeschlossen sein sollen. Um allen Kolportagen zuvorzukommen: Es handelt sich nur um eine zufällige Koinzidenz, keineswegs haben sich die künftigen Koalitionäre am Produktionszyklus des Kursbuchs orientiert – eher umgekehrt. Nachdem Kursbuch 207 sich dem falschen Wählen widmete, sind nun Koalitionen auf der Tagesordnung. Gemäß Kursbuch-Programmatik geht es dabei um Koalitionen ganz unterschiedlicher Natur, nicht nur um Koalitionen zwischen Regierungsparteien beziehungsweise Parlamentsfraktionen. Allerdings rekonstruiert einer der Beiträge, nämlich der von Jasmin Siri, die Geschichte der Regierungskoalitionen in der Bundesrepublik auf Bundesebene – und zeigt sehr schön, wie hier stets ein gewisses Grenzregime gelingen muss: Wie weit komme ich dem anderen entgegen, damit er zugleich seine Eigenart behalten kann, mir aber nicht zu sehr in die Quere kommt? Jan Schwochow illustriert dies als Farbenspiel, das sich in grafischen Alternativen durchaus unterschiedlich darstellen lässt.
Unser Gespräch mit Georg von Wallwitz beschäftigt sich mit Koalitionen im Wirtschaftsleben, die man zwar nicht so nennt, die aber durchaus welche sind. Wolfgang Schmidbauer weist darauf hin, dass risikobereitere, auf Freiheit der Beteiligten setzende Beziehungen oft fragiler sind als lieblose. Mathias Grote widmet sich der bisweilen merkwürdigen politischen Epistemologie des Blicks auf die Natur – koalierende Kooperation statt Konkurrenz als Naturprinzip, und Alfred Hackensberger rekonstruiert eher pragmatische weltpolitische Koalitionen zwischen Feinden, wenn es denn nur der Machtbewirtschaftung dient, vor allem am Beispiel von Verhandlungen mit den Taliban. Mein eigener Beitrag versucht sich an einem kategorischen Imperativ für gelingende Koalitionen.
Für die Intermezzi haben wir neun Autorinnen und Autoren die Frage gestellt, wann sie einmal eine ungewöhnliche Koalition eingegangen sind, und Heike Littgers »Lagerfeuer« führt diesmal zu einem Aromaforscher, in die Queer-Forschung und in die Evolutionsbiologie.
Mit diesem Kursbuch beginnt eine neue Kolumne, nämlich das »Islandtief« von Berit Glanz. Die Schriftstellerin, Publizistin und Literaturwissenschaftlerin, die in Reykjavik lebt, schreibt aus und in, bisweilen auch über Island. Ihre erste Kolumne kommt, wie könnte es in Island anders sein, aus der Blauen Lagune.
Und hier noch eine freudige Nachricht in eigener Sache: Seit Oktober 2021 wird das Team der Herausgeber durch eine Herausgeberin verstärkt. Wir freuen uns sehr, Sibylle Anderl an Bord zu haben. Sibylle ist Astrophysikerin und Philosophin, sie ist Wissenschaftsredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der sie uns, wie ich finde, mit großer Souveränität durch die Coronakrise geführt hat. Sie wird die naturwissenschaftliche Perspektive, die im Kursbuch ja schon gelegentlich zum Zuge kam, mit ihrer Kompetenz verstärken. Sie hat sich selbst schon im Montagsblock /143 vorgestellt – der übrigens ab sofort wöchentlich im Wechsel der drei Herausgeber erscheint. Auch im Namen von Peter Felixberger: Herzlich willkommen, Sibylle!
Jan Schwochow
Eine Quelle, zwei Grafiken
Visualisierungstool versus Handmade
Der Vorteil von gleich formatierten Daten ist, dass sie schnell und automatisiert in Grafiken umgewandelt werden können. Inzwischen gibt es zahlreiche Tools auf dem Markt, die die unterschiedlichsten Visualisierungen quasi auf Knopfdruck ermöglichen. Was aber nicht immer ein Vorteil ist, gerade wenn man mehr aus den Daten herausholen will, womöglich eine Erkenntnis gewinnen oder eine Geschichte erzählen möchte.
Im vorliegenden Beispiel habe ich die Zweitstimmenverteilung aller Bundestagswahlen genommen und jedes Wahlergebnis – wie bei Wahlgrafiken üblich – als halbe Torte dargestellt. Da die Daten aus einer Tabelle kommen, sind die Parteien hier nach einer vorbestimmten Reihenfolge aufgelistet. Die CDU immer vor SPD und FDP. Der Nachteil dieser Darstellungsform wird schnell ersichtlich, denn auf die Schnelle sehen alle Halbkreisdiagramme gleich aus. Unterschiede auszumachen ist eher anstrengend.
Mit den gleichen Daten habe ich auch die untere Grafik gestaltet. Sie ist wesentlich aufwendiger und nicht automatisiert erstellt. Hier steckt viel Handarbeit drin, zumal die Regierungszeiten auch unterschiedliche Abstände haben. Neu in der Grafik ist die Aufteilung der Zweitstimmen nach Koalition und Opposition. So erkennen wir schnell die Regierungszeiten der GroKo von CDU und SPD. Wir sehen, welche Regierungsparteien unter der 50-Prozent-Marke lagen und eine Minderheitsregierung geführt haben. Wir sehen, wie die Grünen in den 1980er-Jahren aufkamen und nach der Wende die PDS beziehungsweise die Linke hinzukam. Hinzu kommen außerdem die Namen der Kanzler oder der Kanzlerin.
Die Grafik spricht für sich, und der Leser kann viel mehr erkennen. Die Zeitleiste bietet überdies die Möglichkeit der Reflexion über das eigene Leben. Bei beiden Grafiken erkennen wir recht schnell, dass seit 2005 die Zeit der großen Volksparteien vorbei ist, während es in den 1960er- und 1970er-Jahren im Prinzip nur drei große Parteien gab. Unsere Parteienlandschaft ist kleinteiliger und bunter geworden. Die nächste Koalition wird aus drei Parteien bestehen – mit Olaf Scholz als Kanzler.
INTERMEZZO
Wann sind Sie einmal eine ungewöhnliche Koalition eingegangen?
Andreas Reckwitz
Koalitionen sind Bündnisse auf Zeit. Es gibt politische Koalitionen, etwa von Parteien zur Regierungsbildung oder von diversen Akteuren in sozialen Bewegungen. Auch Koalitionen im Krieg kommen vor. In einem erweiterten Sinne begegnen uns Koalitionen aber auch in anderen Bereichen. Hierfür bietet sich der verallgemeinerte Begriff der heterogenen Kollaborationen an: ¹ Bündnisse zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmern, verwandtschaftliche Bündnisse, intellektuelle Bündnisse oder die Zusammenarbeit in künstlerischen Aktionen sind hier beispielhaft zu nennen.²
Heterogene Kollaborationen – der Begriff umschreibt die besonderen Merkmale dieser Form des Sozialen, die sie von anderen Sozialformen unterscheidet.
In der heterogenen Kollaboration arbeitet man gemeinsam an einer sachlich umgrenzten Aufgabe zusammen. Während eine Gemeinschaft sich potenziell mit allen möglichen Dingen beschäftigen kann und eine Organisation zwar spezialisierte Aufgaben hat, aber diese sich im Laufe der Zeit immer wieder erneuern können, geht es in der Koalition tatsächlich um eine thematisch begrenzte, genau abgesprochene Angelegenheit: um eine Regierung, ein Gesetz, ein Buch, eine Strategie, eine Marke, eine Aktion. Es bedarf eines aktiven Entschlusses von zwei (oder mehr) voneinander unabhängigen Akteuren, sich zusammenzutun, weil nur so die Sache gelingt. Die Sache, um die es geht, oder das »Thema« der Koalition ist zugleich zeitlich limitiert: Auch dies unterscheidet sie von der Organisation und von der Gemeinschaft, die beide prinzipiell zeitlich unbegrenzt existieren. Insofern hat die Koalition Projektcharakter: Sie hat einen Anfang und in der Regel auch ein Ende.³
Zentral ist schließlich, dass die Akteure, die sich hier zusammentun, nicht einander ähnlich sind, sondern sich hinsichtlich ihrer Interessen, Werte oder Identitäten grundsätzlich voneinander unterscheiden. Während man in der Gemeinschaft von der Homogenität der Teilnehmer ausgeht, die eine Identität teilen, und in der Organisation qua Arbeitsteilung spezialisierte Rollen zugeschrieben werden, erscheint in der Koalition im Gegensatz dazu die Heterogenität als Stärke: Gerade aufgrund der Differenzen kann man verschiedene Sichtweisen einbringen.
Das macht die heterogenen Kollaborationen zu einer in der Moderne, zumal unter den pluralisierten Bedingungen der Spätmoderne, besonders interessanten und zukunftsträchtigen Form des Sozialen. Hier wird kooperiert, nicht nur obwohl, sondern weil man verschieden ist. Zusammenarbeit ist im temporären Bündnis zugleich Differenzmanagement.
Ich kenne persönlich heterogene Kollaborationen aus dem Bereich der Wissenschaft und des intellektuellen Feldes. Kollektive Forschungseinheiten, wie etwa Sonderforschungsbereiche oder Forschungscluster, kann man durchaus als solche verstehen: Einrichtungen auf Zeit mit sehr unterschiedlichen Wissenschaftlern als Teilnehmer, die aber doch punktuell ein gemeinsames Forschungsinteresse teilen. Im letzten und in diesem Jahr habe ich mit Hartmut Rosa ein gemeinsames Buchprojekt unter dem Titel Spätmoderne in der Krise verfolgt.⁴ Ich würde es exemplarisch als ein intellektuelles Bündnis auf Zeit interpretieren.
Die Verschiedenheit der Ausgangspunkte und das gemeinsame Anliegen gehen in diesem Buchprojekt Hand in Hand.
Hartmut Rosa und ich sind sehr unterschiedliche Soziologen und vertreten ziemlich unterschiedliche Ansätze. Das war uns von vornherein bewusst: Hartmuts Ansatz ist stark normativ im Sinne der Frankfurter Schule ausgerichtet, während es mir im Kern um die Analyse und Erklärung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen und ein Verständnis der Moderne ohne utopischen Horizont geht. In meiner Perspektive erneuert sich die Moderne immer wieder – vorläufig bis in die Spätmoderne hinein –, während sie in Hartmuts Perspektive überwunden werden sollte. So wie das Wissenschaftsfeld funktioniert, bedeutet eine solche Differenz der Perspektiven zwischen verschiedenen Theoretikern häufig, in die soziale Form der »Konkurrenz« einzutreten. Die andere Perspektive wird dann kritisch abgewertet und die eigene überhöht. Manche waren daher verwundert, dass wir dieses Projekt überhaupt zusammen gestartet haben: Wie kann so Unterschiedliches zusammenpassen?
Wir haben umgekehrt die Heterogenität als Ressource wahrgenommen. Ein solches temporäres Bündnis erschien uns sinnvoll, weil wir trotz aller Unterschiede ein gemeinsames Anliegen teilen: nämlich die Theorie der Moderne und Gesellschaftstheorie als Hauptanliegen der Soziologie stark zu machen. Wenn einer alleine von uns dies versucht hätte, hätte sich dieses Anliegen weniger wirkungsmächtig artikulieren lassen. Und zugleich verdeutlicht das Buch, wie sich die gleiche Grundfrage sehr unterschiedlich beantworten lässt – ohne dass der eine recht und der andere unrecht hätte, ohne dass einer als Sieger vom Platz ginge und der andere als Verlierer. Gerade die Verschiedenartigkeit von Theorien der Moderne macht die Reichhaltigkeit und Attraktivität dieser Forschungsrichtung aus.
Genau darum geht es in einer Koalition: um eine Kollaboration, welche um die irreversiblen Differenzen weiß und ein Projekt verfolgt, in dem sich niemand auf Kosten des anderen profiliert, sondern vielmehr die gemeinsame Sache erst durch die Unterschiedlichkeit der Teilnehmer ihr Profil gewinnt.
Aber auch diese intellektuelle Koalition hat nicht nur einen Anfang, sie hat auch ein Ende: Monatelang auf Tournee werden wir anlässlich des Buches nicht zusammen gehen.
Anmerkungen
1 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017, S. 191–195.
2 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Gesa Ziemers zwar nicht gleichbedeutender, aber ähnlicher Begriff der Komplizenschaft, vgl. Gesa Ziemer: Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität. Bielefeld 2013.
3 Zum Projekt vgl. Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003, S. 152–176.
4 Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Berlin 2021.
Jasmin Siri
Wer wann mit wem und warum?
Ein schneller Ritt durch die bundesdeutsche Koalitionsgeschichte
Koalitionen prägen die Alltagspraxis politischen Regierens. Nach Wahlen symbolisieren Koalitionsverhandlungen das Erwachen aus dem Wahlkampf und seinen Tribalisierungen von Freund, Feind und richtigen Weltbildern. Um sie zu führen, müssen sich die Verhandler in einen neuen Modus des politischen Handelns versetzen. So zivilisieren (erfolgreiche) Koalitionsverhandlungen den Ton und mahnen zur Sachlichkeit und zum Ausgleich; und zeigen so die Rückkehr zur Anerkennung der Komplexität modernen Regierens an. Dabei ist es nicht unerheblich, ob die Koalitionsbildung von bestehenden Vertrauensverhältnissen und Sympathien zwischen den Verhandlern profitieren kann.
Wie Koalitionen gebildet und verhandelt werden, hängt maßgeblich von dem zugrunde liegenden politischen und parlamentarischen System ab.