Über dieses E-Book
Hans Fallada
Hans Falladas (eigentlich Rudolf Ditzen) Leben war turbulent. 1893 als Sohn eines Landgerichtsrats in Greifswald geboren, war sein Leben von physischen und psychischen Problemen überschattet. Er arbeitete als Adressenschreiber, Annoncensammler und Verlagsangestellter. Einen ersten Erfolg als Schriftsteller hatte er 1931 mit seinem Roman Bauern, Bonzen und Bomben, den Durchbruch aber erlebte er 1932 mit Kleiner Mann – was nun?. Fallada, der zeitlebens mit Alkohol- und Morphinsucht zu kämpfen hatte, starb im Februar 1947 in Berlin. Einen Monat zuvor hatte er seinen letzten Roman beendet: Jeder stirbt für sich allein.
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Buchvorschau
Geschichten aus der Murkelei - Hans Fallada
LUNATA
Geschichten aus der Murkelei
Hans Fallada
Geschichten aus der Murkelei
Kindergeschichten
© 1947 by Hans Fallada
© Lunata Berlin 2020
Inhalt
Lieber Uli, liebe Mücke und lieber kleiner Achim!
Geschichte von der kleinen Geschichte
Geschichte vom Mäuseken Wackelohr
Geschichte vom Unglückshuhn
Geschichte vom verkehrten Tag
Geschichte vom getreuen Igel
Geschichte vom Nuschel-Peter
Geschichte vom Brüderchen
Geschichte vom goldenen Taler
Geschichte vom unheimlichen Besuch
Geschichte von der gebesserten Ratte
Geschichte von der Murkelei
Lieber Uli, liebe Mücke und lieber kleiner Achim!
Zuerst habe ich euch diese Geschichten mündlich erzählt, damit das Essen besser rutschte und nicht so langweilig war.
Aber die Geschichten wurden bei jedem Erzählen anders, und das gefiel euch nicht, da mußte ich sie aufschreiben.
Die aufgeschriebenen Geschichten konnte euch nur einer vorlesen, nämlich ich, weil kein anderer mit meiner Schrift zurechtkam. Da mußte ich euch die Geschichten auf der Maschine tippen.
Das Getippte konntet ihr, Uli und Mücke, nun schon allein lesen, aber da ging der kleine Achim leer aus. Und Getipptes in einem Schnellhefter liest sich auch nicht so gut wie ein gedrucktes Buch.
Da sagtest du, Uli: »Du läßt ja so viele Bücher von dir drucken, Papa, da kannst du auch diese Geschichten drucken lassen!« So reisten die Geschichten nach Berlin. Dort wurden sie erst andern Kindern zum Lesen gegeben und auch großen Leuten, damit wir bestimmt wußten, es waren richtige Kindergeschichten. Dann, als alle ja gesagt hatten, wurden sie gedruckt.
Da sagtet ihr Kinder: »Aber es müssen auch Bilder dabei sein, sonst ist es kein richtiges Kinderbuch!«
Nun gingen wir suchen, und schließlich fanden wir den Conny. Der machte die Bilder, genau wie ihr sie euch dachtet.
So war alles beisammen, und das Buch wurde fertig! Und wenn ihr jetzt nicht eßt wie der dicke Onkel Willi, dann nehme ich euch auf der Stelle das Buch wieder weg!
Da habt ihr's –!
Geschichte von der kleinen Geschichte
Es war einmal ein Kind, das war nicht artig und wollte sein Essen nicht essen. Da stellte es die Mutter zur Strafe vor die Tür und fing an, drinnen den artigen Kindern eine kleine Geschichte zu erzählen.
Als das unartige Kind nun merkte, drinnen erzählte die Mutter, brüllte es ein wenig leiser, denn es wollte horchen und hätte gerne zugehört. Da rief die Mutter: »Willst du jetzt artig sein und gut essen, Kind, so darfst du bei meiner kleinen Geschichte zuhören.«
Doch der Bock stieß das Kind noch, und als es die Mutter rufen hörte, fing es gleich wieder an, lauter zu brüllen, so gerne es auch die kleine Geschichte gehört hätte. Da fuhr eine Maus aus ihrem Loch und fragte: »Was machst du denn für ein Geschrei, Kind? Meine jungen Mäuslein verschlucken sich ja vor Schreck beim Speckessen.«
Das Kind antwortete und sprach: »Meine Mutter hat mich vor die Tür gestellt und will mich ihre kleine Geschichte nicht hören lassen. Darum, wenn du willst, daß deine Kinder in Ruhe Speck essen, schlüpfe durch einen Mäusegang ins Esszimmer und erzähle mir, was für eine kleine Geschichte meine Geschwister hören.«
Die Maus tat, wie das Kind gesagt hatte, fuhr durch einen Mäusegang ins Esszimmer und horchte. Die Mutter aber, die hörte, daß das Kind still geworden war, rief durch die Tür: »Willst du jetzt artig sein und essen, Kind?«
Das Kind dachte bei sich: ›Gleich kommt die Maus und erzählt mir die kleine Geschichte, da brauche ich auch nicht artig zu sein‹, und fing wieder lauter an zu brüllen. Als das Kind eine Weile gebrüllt hatte und die Maus noch immer nicht wiederkam, dachte es: ›Es ist doch sonderbar, daß die Maus so lange ausbleibt, das muß ja eine ganz herrliche Geschichte sein, daß sie das Wiederkommen so ganz vergißt. Ich will einmal die Fliege dort am Fenster schicken, daß sie nach dem Rechten sieht.‹
Das Kind rief also die Fliege an und sagte: »Liebes Fräulein Krabbelbein, ich habe die Maus ins Esszimmer geschickt, daß sie auf die kleine Geschichte hört, die meine Mutter meinen Geschwistern erzählt. Aber die Maus kommt gar nicht wieder – willst du da nicht so freundlich sein und durchs Schlüsselloch kriechen und einmal nach dem Rechten sehen? Ich gebe dir auch morgen früh meinen Zucker, den ich zum Kakao bekomme.«
Die Fliege war einverstanden, kroch durchs Schlüsselloch und verschwand. Die Mutter aber, die hörte, das Kind brüllte nicht mehr, rief durch die Tür: »Willst du jetzt artig sein und essen, Kind?«
Das Kind dachte: ›Gleich kommen die Maus und die Fliege wieder und erzählen mir die kleine Geschichte, da brauche ich nicht artig zu sein!‹ Und es schrie: »Nein, nein, ich will nicht essen!« und brüllte noch lauter.
Als es aber eine Weile gebrüllt hatte, wunderte es sich, daß weder Maus noch Fliege wiederkamen, und dachte bei sich: ›Was muß das doch für eine wunderbare Geschichte sein! Mäuslein vergißt ihre Kinder, Krabbelbein denkt nicht an ihren Zucker – nein, jetzt mache ich nur noch einen Versuch, und wenn ich dann auch nichts erfahre, will ich gewiß artig sein und essen, damit ich nur die kleine Geschichte höre.‹
Es rief also eine Ameise an, die gerade auf der Diele kroch, und sagte: »Fräulein Schmachtleib, Sie sind dünn, sicher können Sie unter der Tür durchkriechen. Tun Sie das doch mal und sehen Sie im Esszimmer nach, was da eigentlich die Maus und die Fliege machen, die ich geschickt habe, die kleine Geschichte zu hören, die meine Mutter meinen Geschwistern erzählt. Kommen Sie aber bloß schnell wieder. Ich halte es vor lauter Neugierde schon nicht mehr aus.«
Die Ameise sprach: »Den Gefallen will ich dir wohl tun«, kroch unter der Tür durch und verschwand. Die Mutter aber, die hörte, das Kind brüllte nicht mehr, rief durch die Tür: »Komm doch bloß schnell, Kind, sei artig und iß. Es gibt jetzt etwas ganz Feines!«
Das Kind aber dachte: ›Die Ameise wird mir jetzt Maus und Fliege schicken, da werde ich die kleine Geschichte schon zu hören bekommen.‹ Und es schrie: »Ich will gar nichts essen – auch nichts Feines!« trampelte mit den Füßen und brüllte noch lauter als vorher.
Als es aber eine Weile gebrüllt hatte, brüllte es doch leiser. Einmal, weil ihm der Hals weh tat, dann aber, weil es dachte: ›Es muß eine zu schöne Geschichte sein. Die drei: Maus, Fliege und Ameise, hören zu und vergessen mich ganz. Ich will jetzt doch artig sein und essen.‹ Und das Kind hörte ganz auf zu brüllen.
Die Mutter aber, die das Kind dreimal umsonst gefragt hatte, war jetzt böse auf das Kind und fragte es nicht mehr. Da dachte das Kind: ›Meine Mutter ist böse auf mich. Ich will ein bißchen an der Tür kratzen. Dann fragt sie mich doch, ob ich wieder artig sein will, ich aber sage ja und darf hinein.‹ Und das Kind kratzte an der Tür.
Die Mutter hörte es wohl, aber sie wollte das ungezogene Kind nicht mehr fragen, und so schwieg sie. Nun fing das Kind an zu rufen: »Ich will artig sein! Laßt mich hinein!«
Da fuhr die Maus aus dem Mäusegang und rief atemlos: »Gott, was war das für eine herrliche Geschichte! Entschuldige bloß, daß ich nicht eher kam, aber ich konnte nicht früher kommen, als bis ich das allerletzte Wort von ihr gehört hatte.«
Die Fliege schwirrte durch das Schlüsselloch und summte: »So eine vorzügliche Geschichte hört man wirklich nicht alle Tage. Da war es kein Wunder, daß die Kinder gegessen haben wie die Scheunendrescher – auch nicht ein Löffel voll blieb in der Schüssel!«
Und die Ameise kroch unter der Tür hervor und ächzte: »So eine großartige Geschichte und dazu noch Schokoladenpudding und Vanillesauce – so gut möchte ich es auch einmal haben!«
»Was?!« rief das unartige Kind. »Es hat Schokoladenpudding mit Vanillesauce gegeben?! Da will ich auch was abhaben.« Und es riß die Tür auf und rief: »Ich will auch Pudding und Vanillesauce. Ich will auch ganz artig sein! Und die kleine Geschichte will ich auch hören!«
Da fingen alle Kinder mit der Mutter an zu lachen und zeigten dem unartigen Kind die Puddingschüssel – da war auch nicht ein Krümchen mehr darin. Und sie zeigten ihm die Teller, die waren so blank und leer, als wären sie mit der Zunge abgeleckt. Die Mutter aber sagte: »Warum hast du dich nicht zur rechten Zeit besonnen, Kind? Nun ist nichts mehr da.«
Das Kind fing an zu weinen und sagte: »Wenn ich denn keinen Pudding mehr bekomme, so will ich doch die wunderbare, die herrliche, die großartige kleine Geschichte hören, die du meinen Geschwistern erzählt hast.«
Die Mutter aber antwortete: »Jetzt ist später Abend. Jetzt werden keine Geschichten mehr erzählt, jetzt wird ins Bett gegangen.«
Da mußte das unartige Kind ohne Pudding und ohne kleine Geschichte ins Bett gehen, und darüber war es sehr traurig. Hätte es sich aber zur rechten Zeit besonnen, so hätte es Pudding und kleine Geschichte bekommen, und das wäre besser für das Kind gewesen, und auch für uns, denn dann hätten auch wir die kleine Geschichte zu hören bekommen!
Geschichte vom Mäuseken Wackelohr
In einem großen Stadthaus wohnte einmal ein Mäuseken ganz allein, das hieß Wackelohr. Als Kleines war es einst von der Katze überfallen worden, und dabei war ihm das Ohr so zerrissen, daß die Maus es nicht mehr spitzen, sondern nur noch damit wackeln konnte. Darum hieß sie Wackelohr. Und dieselbe alte böse Katze hatte ihr auch alle Brüder und Schwestern und die Eltern gemordet, deshalb wohnte sie so allein in dem großen Stadthaus.
Da war es ihr oft sehr einsam, und sie klagte, daß sie so gerne ein anderes Mäuseken zum Spielgefährten gehabt hätte, am liebsten einen hübschen Mäuserich. Aber von dem Klagen kam keiner, und Wackelohr blieb allein.
Als nun einmal alles im Hause schlief, und die böse Katze auch, saß Wackelohr in der Speisekammer, nagte an einem Stück Speck und klagte dabei wieder recht jämmerlich über die große Verlassenheit. Da hörte sie eine hohe Stimme, die sprach: »Hihi! Was bist du doch für ein dummes, blindes Mäuseken! Du brauchst ja nur aus dem Fenster zu schauen und siehst den hübschesten Mäuserich von der Welt! Dazu geht es ihm auch noch wie dir: er ist ebenso allein wie du und sehnt sich herzlich nach einem Mäusefräulein.«
Wackelohr guckte hierhin und Wackelohr guckte dahin, Wackelohr sah auf den Speckteller und unter den Tellerrand – aber Wackelohr erblickte niemanden. Schließlich sah sie zum Fenster hinaus. Doch drüben war nur ein anderes großes Stadthaus, mit vielen Fenstern, die in der Abendsonne glitzerten, und kein Mäuserich war zu erblicken. Da rief Wackelohr ganz ungeduldig: »Wo bist du denn, die mit mir spricht? Und wo ist denn der schöne Mausejunge, von dem du erzählst?«
»Hihi!« rief die hohe Stimme. »Bist du aber eine blinde Maus! Schau doch einmal hoch zur Decke, ich sitze ja gerade über dir!«
Das Mäuseken sah hoch, und richtig, gerade über seinem Kopf saß eine große Ameise und funkelte es mit ihren Augen an. »Und wo ist der Mäuserich?« fragte das Mäuseken gespannt die große Ameise.
»Der sitzt doch gerade dir gegenüber in der Dachrinne und läßt den Schwanz auf die Straße hängen«, sagte die Ameise.
Wackelohr sah hinaus, und wirklich saß da drüben in der Dachrinne ein schöner Mäusejunge mit einem kräftigen Schnurrbart, ließ den Schwanz über die Rinne hängen und sah die Straße auf und ab. »Warum sitzt er denn da, du Ameise?« fragte Wackelohr. »Er kann doch fallen, und dann ist er tot.«
»Nun, er langweilt sich wohl so ganz allein«, antwortete die Ameise. »Da schaut er ein bißchen aus, ob er ein Mäuseken auf der Straße sehen kann.«
Wackelohr bat: »Ach, liebste Ameise, sage mir doch einen Weg, wie ich zu ihm kommen kann. Ich will dir auch all meinen Speck schenken.«
Die Ameise strich sich nachdenklich ihren kräftigen Unterkiefer mit den beiden Vorderbeinen, juckte sich mit den Hinterbeinen am Po und sprach: »Deinen Speck will ich gar nicht, ich esse lieber Zucker und Honig und Marmelade. Und einen Weg zu dem Mäuserich weiß ich auch nicht für dich. Ich gehe immer durch das Schlüsselloch, und dafür bist du doch zu groß.«
Wackelohr aber bat und bettelte, und schließlich versprach die Ameise, sich bis zum nächsten Abend zu überlegen, wie Wackelohr zu ihrem Mäuserich kommen könnte.
Am nächsten Abend traf Mäuseken die Ameise wieder in der Speisekammer und fragte sie sehr eifrig, ob sie nun wohl einen Weg wisse. »Vielleicht weiß ich einen Weg«, sagte die kluge Ameise, »aber ehe ich dir den sage, mußt du mir einen Zuckerbonbon schenken.«
»Ach!« rief Wackelohr klagend, »woher soll ich den denn nehmen? Der einzige Zuckerbonbon, von dem ich weiß, liegt auf dem Nachttisch von der Hausfrau. Den lutscht sie immer, wenn sie morgens aufwacht, damit der Tag ihr gleich süß schmeckt.«
»Nun, so hole den doch!« sagte die Ameise ganz kaltblütig.
»Den kann ich nicht holen«, rief das Mäuseken traurig. »In dem Schlafzimmer schläft auch die alte, böse Katze, die meine Eltern und Brüder und Schwestern geholt hat. Wenn die mich hört, mordet sie mich bestimmt.«
»Das mußt du wissen, wie du es machst«, sagte die Ameise ganz ungerührt. »Bekomme ich den Bonbon nicht, erfährst du den Weg nicht zu deinem Mäuserich.«
Da half Wackelohr kein Bitten und kein