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1984: Neuübersetzung
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1984: Neuübersetzung
eBook453 Seiten10 Stunden

1984: Neuübersetzung

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Über dieses E-Book

Ein Mann, eine Frau, die Partei, die Angst, der Hass; ständiger Mangel, ständiger Krieg, ständige Kontrolle, immer und überall. Verklemmte Sexualität wird gefördert, Prostitution geduldet, Liebe aber mit dem Tod bestraft. Die in Dummheit gehaltene Masse ist alles, der einzelne Mensch – nichts; weniger als nichts. Es wird viel geredet, doch kaum etwas gesagt, schon gar nicht die Wahrheit.
Eine solche Welt erscheint uns auf den ersten Blick fremd und unvorstellbar. Doch vielleicht sind auch wir nur noch einige Schritte davon entfernt, genauso zu enden wie Winston Smith im Jahr 1984, denn die heute vorhandenen Möglichkeiten der Überwachung übertreffen seit langem bereits all das, was sich George Orwell vorstellte, als er sein bekanntestes Werk vor mehr als siebzig Jahren schrieb. Allerdings wusste er damals etwas weitaus besser als wir heute: Der Mensch ist klein. Und sterblich. Und vor allem feige. Und der Geist nahezu beliebig formbar. Und es bedarf manchmal nur des am Anfang vielleicht sogar gut gemeinten Versuchs, die Welt zu retten; sie besser zu machen, aus welcher Überzeugung heraus auch immer, und schon nimmt das Unheil seinen Lauf, bis die einmal begonnene Unterdrückung aller abweichenden Meinungen zum alles und jeden beherrschenden Dauerzustand der Gesellschaft wird.
Wer sich ernsthaft mit der Frage beschäftigen will, ob und inwieweit der Einzelne ein Recht darauf hat, unüberwacht und dabei von staatlicher Einmischung frei zu bleiben, kommt an diesem Buch nach wie vor nicht vorbei, dessen immer noch grausam beklemmende Aktualität weniger in der Kraft einer längst von den Tatsachen überholten Prophezeiung liegt, sondern vielmehr in der schonungslosen und immer noch und immer wieder notwendigen Erzählung der alten Wahrheit, dass des Menschen schlimmster Wolf immer noch und immer wieder der Mensch war und ist und auch stets bleiben wird.
Wem gehören denn die paar Kubikzentimeter in deinem Schädel? Dir allein? Bist du sicher?
BIG BROTHER IS WATCHING YOU...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum24. Mai 2021
ISBN9783754125281
1984: Neuübersetzung
Autor

George Orwell

George Orwell (1903–1950), the pen name of Eric Arthur Blair, was an English novelist, essayist, and critic. He was born in India and educated at Eton. After service with the Indian Imperial Police in Burma, he returned to Europe to earn his living by writing. An author and journalist, Orwell was one of the most prominent and influential figures in twentieth-century literature. His unique political allegory Animal Farm was published in 1945, and it was this novel, together with the dystopia of 1984 (1949), which brought him worldwide fame. 

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    Buchvorschau

    1984 - George Orwell

    George Orwell

    1984

    Teil 1

    I

    Es war ein strahlend kalter Tag im April, und die Uhren schlugen 13-00. Winston Smith, das Kinn an die Brust gedrückt, in dem Bemühen, dem widerlichen Wind zu entkommen, zwängte sich eilig durch die Glastüren des Victory-Gebäudes wenn auch nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ein Strudel grobkörnigen Staubs in das Gebäude hineinwehte.

    Die Vorhalle roch nach gekochtem Kohl und alten, vergammelten Matratzen. An eine Wand war ein farbiges Poster angepappt; viel zu groß, um es in Innenräumen aufzuhängen. Es zeigte nichts weiter als eine riesige, mehr als einen Meter breite Abbildung eines Mannes von ungefähr fünfundvierzig Jahren, mit einem dicken, schwarzen Schnurrbart und angenehmen Gesichtszügen. Winston wandte sich der Treppe zu. Es war zwecklos, den Aufzug zu benutzen zu wollen. Sogar zu den besten Zeiten funktionierte er selten, und derzeit war bei Tageslicht der elektrische Strom ohnehin abgeschaltet. Dies war Teil der Sparmaßnahmen zur Vorbereitung auf die Hasswoche. Die Wohnung lag im siebenten Stock, und Winston, der neununddreißig war und ein Krampfadergeschwür über dem rechten Knöchel hatte, ging langsam und ruhte sich unterwegs mehrmals aus. Auf jedem Treppenabsatz, gegenüber dem Aufzugschacht, starrte das riesige Gesicht auf einem Plakat von der Wand. Es war eines dieser Bilder, auf denen die Augen der dargestellten Person dem Betrachter mit jeder Bewegung zu folgen scheinen. BIG BROTHER IS WATCHING YOU, lautete der Schriftzug darunter.

    In der Wohnung las eine klangvolle Stimme eine Liste von Zahlen vor, die etwas mit der Herstellung von Roheisen zu tun hatten. Die Stimme kam aus einer länglichen Metallplatte, die aussah wie ein abgestumpfter Spiegel und einen Teil der Oberfläche der rechten Wand bildete. Winston drehte einen Schalter, und die Stimme wurde etwas leiser, doch die Worte blieben deutlich zu hören. Das Teleschirm genannte Gerät konnte heruntergeregelt werden, aber es gab keine Möglichkeit, es vollständig abzustellen. Winston ging zum Fenster hinüber: eine kleine, zerbrechliche Gestalt mit sehr hellem Haar; das Gesicht von Natur aus lebhaft, die Haut aufgerauht durch grobe Seife, stumpfe Rasierklingen und monatelange Winterkälte; die Magerkeit seines Körpers noch betont durch die übliche Uniform der Partei, einen blauen Overall.

    Draußen, selbst durch die geschlossenen Fenster, sah die Welt kalt und wie erfroren aus. Unten auf der Straße wehten kleine Windwirbel den Staub und ein wenig zerrissenes Papier in Spiralen umher, und obwohl die Sonne strahlte und der Himmel in einem kräftigen Blau leuchtete, so schien doch nichts eine Farbe zu haben, außer den allgegenwärtigen Plakaten. Das Gesicht mit dem schwarzen Schnauzbart blickte aus jeder beherrschenden Ecke wie auch von der Hausfront unmittelbar gegenüber. BIG BROTHER IS WATCHING YOU, hieß es dort ebenso in der Bildunterschrift, und die dunklen Augen blickten tief in Winstons eigene. Unten, auf der Höhe der Straße, war ein weiteres Poster angebracht; eine abgerissene Ecke flatterte im Wind hin und her, so dass ein einzelnes Wort abwechselnd auftauchte und wieder verschwand: INGSOC. In der Ferne schwebte ein Hubschrauber zwischen den Dächern hinunter, surrte für einen Augenblick durch die Luft wie eine Schmeißfliege und schoss dann wieder davon: Es war die Polizeistreife, die in die Fenster der Menschen spähte. Die Patrouillen allerdings waren unwichtig. Nur die Gedankenpolizei zählte.

    Hinter Winstons Rücken berichtete die Stimme vom Teleschirm immer noch etwas über Roheisen und die Übererfüllung des Neunten Dreijahresplans. Das Gerät empfing und sendete gleichzeitig: Jedes Geräusch, das über ein sehr leises Flüstern hinausging, wurde aufgefangen; außerdem konnte jeder gesehen und gehört werden, der sich in dem von der Metalltafel beherrschten Sichtfeld befand. Es gab selbstverständlich keine Möglichkeit zu wissen, wer zu welcher Zeit kontrolliert wurde. Wie oft oder mit welchem System die Gedankenpolizei sich in eine einzelne Leitung einklinkte, war reine Spekulation. Es war sogar denkbar, dass jeder zu jeder Zeit unter Aufsicht stand. Zumindest war es auf jeden Fall möglich, einen jeden zu überwachen, wann immer es nötig erschien. Und so lebte also auch jeder – aus zum Instinkt gewordener Gewohnheit – in der Annahme, dass jedes verursachte Geräusch belauscht und, außer im Dunkeln, jede Bewegung beobachtet werden konnte.

    Winston wandte dem Teleschirm den Rücken zu. Das war sicherer, konnte allerdings, das wusste er sehr wohl, ebenso verräterisch sein. Einen Kilometer entfernt ragte das Ministerium der Wahrheit, in dem Winston arbeitete, weit und weiß über die dreckige Landschaft hinaus. Dies, so dachte er mit einer Art leisen Ekels, war London, die Hauptstadt von Flugfeld Eins, der am drittstärksten bevölkerten Provinz Ozeaniens. Winston versuchte, einige Kindheitserinnerungen aus sich herauszuquetschen, die ihm sagen sollten, ob London schon immer so gewesen war. Gab es schon immer diese Ausblicke auf verrottete Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert, deren Wände mit Holzbalken, die Fenster mit Pappe und die Dächer mit Wellblech geflickt waren und deren wacklige Gartenmauern in alle Richtungen durchhingen? Waren da schon immer die Orte der Bombeneinschläge gewesen, mit den durch die Luft wirbelnden Staubwolken und über den Trümmerhaufen wuchernden Weidenbäumen, oder die schmutzigen Ansammlungen von Holzhäusern, die auf den Flächen größerer Zerstörungen entstanden waren und aussahen wie Hühnerställe? Aber es war sinnlos; er konnte sich nicht erinnern: Von seiner Kindheit war nichts übrig außer einer Reihe hell erleuchteter Bilder ohne Hintergrund, die meist unverständlich blieben.

    Das Ministerium der Wahrheit – auf Neusprech: Miniwahr – war erschreckend anders als jedes andere Objekt in Sichtweite: ein riesiges pyramidenförmiges Gebäude aus glitzernd weißem Beton, das sich, Terrasse um Terrasse, dreihundert Meter in die Höhe erhob. Von der Stelle aus, an der Winston stand, war es gerade noch möglich, die auf der weißen Front des Ministeriums in eleganten Schriftzügen angebrachten drei Parolen der Partei zu lesen:

    KRIEG IST FRIEDEN

    FREIHEIT IST SKLAVEREI

    UNWISSENHEIT IST STÄRKE.

    Das Ministerium der Wahrheit umfasste dreitausend Räume über der Erde und die entsprechenden Einrichtungen im Keller. Über ganz London verteilt gab es nur drei weitere Gebäude von ähnlichem Aussehen und ähnlicher Größe. Sie stellten die umgebende Architektur so vollständig in den Schatten, dass sie vom Dach des Hauses aus, in dem Winston wohnte, alle gleichzeitig sichtbar waren. Sie beherbergten die vier Ministerien, zwischen denen der gesamte Regierungsapparat aufgeteilt war: das Ministerium der Wahrheit, das sich mit Nachrichten, Unterhaltung, Bildung und den schönen Künsten befasste; das Ministerium des Friedens, das für den Krieg zuständig war; das Ministerium der Liebe, das die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung verantwortete, und das Ministerium des Überflusses, das die wirtschaftliche Entwicklung lenkte; ihre Bezeichnungen auf Neusprech lauteten: Miniwahr, Minifried, Minilieb und Miniviel.

    Das Ministerium der Liebe war das erschreckendste von den vieren. Es hatte keinerlei Fenster. Winston war nie im Innern von Minilieb gewesen, nicht einmal im Umkreis von einem halben Kilometer. Es war ein Ort, den zu betreten nur aus dienstlichen Gründen gestattet war, und selbst dann führte der Weg hinein nur durch ein Labyrinth aus Stacheldrahtverhauen, Stahltüren und versteckten Maschinengewehrnestern. Sogar die Straßen, die zu den äußeren Absperrungen führten, wurden von mit Nun-Chakkus bewaffneten Wachen kontrolliert, die aussahen wie Gorillas in schwarzen Uniformen.

    Winston drehte sich abrupt um. Er hatte seinem Gesicht den Ausdruck stiller Zuversicht verliehen, wie es sich beim Stehen vor dem Teleschirm empfahl. Winston durchquerte den Raum bis in die winzige Küche. Das Ministerium zu dieser Tageszeit zu verlassen, war mit dem Verlust des Mittagessens in der Kantine verbunden gewesen, und Winston war sich bewusst, dass es in der Küche nichts zu essen gab außer einem Stück dunklen Brots, das für das morgige Frühstück aufgehoben werden musste. Er nahm aus dem Regal eine Flasche mit einem einfachen, weißen Etikett mit der Aufschrift VICTORY GIN. Die farblose Flüssigkeit verströmte einen üblen, öligen Geruch wie chinesischer Reisschnaps. Winston goss sich fast eine Teetasse voll davon ein, bereitete sich innerlich auf den Schock vor und würgte den Inhalt auf einmal wie eine Dosis Medizin hinunter.

    Sofort wurde sein Gesicht scharlachrot, und das Wasser lief ihm aus den Augen. Das Zeug war wie Salpetersäure, und außerdem erzeugte es beim Schlucken das Gefühl, mit einem Gummiknüppel auf den Hinterkopf geschlagen zu werden. Im nächsten Moment jedoch legte sich das Brennen im Magen, und die Welt begann, angenehmer auszusehen. Aus einem zerknitterten Päckchen Victory-Zigaretten zog Winston sich eine heraus, hielt sie allerdings unvorsichtigerweise aufrecht, so dass der Tabak auf den Boden fiel. Mit der nächsten ging es schon besser. Dann ging Winston zurück ins Wohnzimmer und setzte sich an einen kleinen Tisch, der links vom Teleschirm stand, und entnahm aus der Schublade einen Federhalter, ein Tintenfass und ein dickes, leeres Buch im Quartformat mit roter Rückseite und marmoriertem Einband.

    Aus unerfindlichem Grund befand sich der Teleschirm im Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle: Anstatt wie üblich an der Stirnseite, von der aus der ganze Raum überblickt werden konnte, war das Gerät gegenüber dem Fenster an der Längswand angebracht. In deren eine Seite war ein Alkoven eingelassen, der wahrscheinlich früher einmal, als die Wohnungen gebaut worden waren, der Aufnahme von Bücherregalen gedient hatte. In dieser Nische saß Winston nun, und wenn er sich zurücklehnte, konnte er auf diese Weise außerhalb des vom Teleschirm überwachten Sichtfelds bleiben. Er war zwar selbstverständlich immer noch zu hören, aber solange er in seiner jetzigen Position verharrte, konnte er nicht gesehen werden. Es war zum Teil auch jene ungewöhnliche Aufteilung des Raums gewesen, die Winston auf jenen Einfall gebracht hatte, den er nun umsetzen wollte.

    Aber auch das Buch selbst hatte dazu beigetragen: Es war ein merkwürdig schönes Buch. Sein glattes, cremiges Papier, ein wenig vergilbt durch das Alter, war von einer Art, die wie sie seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt wurde. Und er ahnte, dass das Buch noch viel älter war. Er hatte es im Fenster eines kleinen, vermüllten Trödelladens in einem heruntergekommenen Viertel der Stadt (welches, wusste er nicht mehr) liegen sehen und war sofort von dem überwältigenden Wunsch übermannt worden, dieses Buch zu besitzen. Parteimitglieder sollten zwar nicht in gewöhnliche Geschäfte gehen („Handeln auf dem freien Markt" nannte sich das), aber die Regel wurde nicht streng beachtet, denn es gab verschiedene Dinge wie Schnürsenkel oder Rasierklingen, die anders unmöglich zu beschaffen waren. Winston hatte kurze Blicke die Straße hinauf und hinunter geworfen, war dann schnell in den Laden hineingegangen und hatte das Buch für zwei Dollar fünfzig gekauft. Damals war er sich nicht bewusst gewesen, es für etwas Bestimmtes verwenden zu wollen. Er hatte es schuldbewusst nach Hause getragen, in seiner Aktentasche: Allein, es zu besitzen, selbst dann, wenn nichts darin geschrieben stand, war kompromittierend genug.

    Und nun wollte er ein Tagebuch führen. Das war zwar nicht illegal (nichts war illegal, da es keine Gesetze mehr gab), aber wenn es entdeckt wurde, würde es recht sicher mit dem Tod bestraft werden oder zumindest mit fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeitslager. Winston montierte eine Feder in den Halter und saugte ihn an, um die Schmiere davon zu entfernen. Dieses Schreibgerät war ein altertümliches Werkzeug, das selbst für Unterschriften nur noch selten benutzt wurde, und er hatte sich eins beschafft, heimlich und mit einigen Schwierigkeiten, obwohl er es nicht gewohnt war, mit der Hand zu schreiben, doch er hatte einfach das Gefühl gehabt, das schöne cremige Papier verdiene es, mit einer echten Feder beschrieben, statt mit einem Tintenstift zerkratzt zu werden. Abgesehen von sehr kurzen Notizen war es sonst üblich, alles in den Sprechschreiber zu diktieren, was allerdings für den gegenwärtigen Zweck selbstverständlich nicht in Frage kam. Winston tauchte die Feder in die Tinte und zögerte dann, nur für eine Sekunde. Ein Zittern war durch seine Eingeweide gegangen: Das Beschreiben des Papiers war die entscheidende Tat. In kleinen unbeholfenen Buchstaben begann er:

    1984-04-04

    Er lehnte sich zurück. Ein Gefühl völliger Hilflosigkeit hatte ihn ergriffen. Er wusste nicht einmal mit völliger Gewissheit, dass dies 1984 war. Es muss ungefähr dieses Jahr sein, denn er war sich ziemlich sicher, dass er neununddreißig Jahre alt war, und er glaubte, 1944 oder 1945 geboren worden zu sein; aber heutzutage war es niemals möglich, etwas auf ein oder zwei Jahre genau festzulegen.

    Für wen, so fragte er sich plötzlich, schrieb er überhaupt dieses Tagebuch? Für die Zukunft, für die Ungeborenen. Sein Verstand kreiste kurz um das zweifelhafte Datum und stieß dann gegen das Wort DOPPELDENK. Zum ersten Mal wurde Winston das Ausmaß dessen bewusst, was er da vorhatte. Wie konnte jemand mit der Zukunft in Verbindung treten? Das war doch schon ihrer Natur nach unmöglich: Entweder würde die Zukunft der Gegenwart ähneln, in diesem Fall ihm also nicht zuhören, oder sie wäre anders als die Gegenwart und das ganze Dilemma dann bedeutungslos.

    Eine Zeit lang saß er da und starrte sinnlos auf das Papier. Der Teleschirm spielte nun laute Militärmusik. Es war merkwürdig, dass Winston nicht nur die Fähigkeit verloren zu haben schien, sich auszudrücken, sondern sogar vergessen hatte, was er ursprünglich hatte schreiben wollen. Seit Wochen hatte er sich darauf vorbereitet, und es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass dazu etwas anderes nötig wäre außer Mut. Das Schreiben selbst wäre einfach. Es würde genügen, jenen nie endenden, pausenlosen Monolog zu Papier zu bringen, der in seinem Kopf ablief, buchstäblich seit Jahren. In diesem Moment jedoch war dieser Gedankenfluss nun versiegt. Außerdem hatte das Krampfadergeschwür begonnen, unerträglich zu jucken. Winston wagte nicht, daran zu kratzen, denn wenn er das tat, entzündete es sich immer. Die Sekunden tickten. Er nahm nun nichts mehr weiter wahr, außer der Leere der ersten Seite vor ihm, dem Jucken der Haut über seinem Knöchel, dem Dröhnen der Musik und einer leichten Benommenheit, verursacht durch den Gin.

    Plötzlich begann er in schierer Panik zu schreiben, sich dessen nur unvollkommen bewusst, was er da niederschrieb. Seine kleine, aber kindliche Handschrift wanderte auf der Seite auf und ab, verlor zuerst die Großbuchstaben und schließlich sogar die Punkte:

    1984-04-04. Gestern Abend Kino. Alles nur Kriegsfilme. Ein sehr guter von einem Schiff voller Flüchtlinge, das im Mittelmeer bombardiert wird. Publikum sehr amüsiert über Aufnahmen eines großen, dicken Mannes, der versucht, vor einem Hubschrauber davonzuschwimmen. Zuerst war zu sehen, wie der Dicke sich wie ein Tümmler im Wasser suhlte, dann durch das Visier des Hubschraubers, dann war der Mann voller Löcher, und das Meer um ihn herum wurde rosa, und er sank so plötzlich, als hätten die Löcher das Wasser hereingelassen, und das Publikum schrie vor Lachen, als er sank. Dann war ein Rettungsboot voller Kinder zu sehen, darüber schwebend ein Hubschrauber. Da war eine Frau mittleren Alters, vielleicht eine Jüdin, im Bug sitzend, mit einem kleinen Jungen, etwa drei Jahre alt, in ihren Armen. Der kleine Junge schreit vor Angst und versteckt seinen Kopf zwischen ihren Brüsten, als wolle er sich in sie eingraben, und die Frau legt ihre Arme um ihn und tröstet ihn, dabei aber selber bleich vor angst, die ganze zeit bedeckt sie ihn so weit wie möglich, als glaubte sie, ihre arme könnten die kugeln von ihm fernhalten. dann der hubschrauber, eine 20-kilo-bombe zwischen die beiden lichtblitz und das boot ging zu bruch. dann wunderbare aufnahme, arm eines kindes, durch die luft fliegend, hubschrauber mit kamera in der nase muss ihn verfolgt haben und es gab viel applaus von den sitzen der partei aber eine frau unten aus der prollabteilung fing plötzlich an einen aufstand zu machen und zu schreien sie sollten es nicht zeigen nicht vor den kindern sie sollten es nicht zeigen nicht vor den kindern nicht unmittelbar vor den kindern bis die patrols sie herausholten wird ihr schon nichts passiert sein niemanden kümmert was die prolls sagen typische prollaktion die können nie...

    Winston unterbrach sich, teilweise auch deshalb, weil seine Hand verkrampfte. Er wusste nicht, was ihn veranlasst hatte, diese Masse an Unsinn aufzuschreiben. Aber das Merkwürdige daran war, dass sich, während er dies tat, eine völlig andere Erinnerung in seinem Kopf geklärt hatte, bis zu dem Punkt, an dem er sich in der Lage fühlte, sie niederzuschreiben. Es war, wie er jetzt erkannte, wegen dieses anderen Vorfalls, dass er heute plötzlich beschlossen hatte, von der Arbeit nach Hause zu gehen und mit dem Tagebuch zu beginnen.

    Es war an diesem Morgen im Ministerium geschehen, wenn so etwas Nebulöses überhaupt als „geschehen" bezeichnet werden konnte:

    Kurz vor 11-00 wurden in der Archivabteilung, in der Winston arbeitete, die Stühle aus den Kabinen geschleppt und in der Mitte des Saals gegenüber dem großen Teleschirm aufgestellt, zur Vorbereitung auf den Zwei-Minuten-Hass. Winston war gerade dabei, seinen Platz in einer der mittleren Reihen einzunehmen, als zwei Personen, die er vom Sehen her kannte, mit denen er aber noch nie gesprochen hatte, unerwartet den Raum betraten. Eine von ihnen war ein Mädchen, an dem er oft in den Fluren vorbeiging. Er kannte ihren Namen nicht, aber er wusste, dass sie in der Belletristikabteilung arbeitete. Vermutlich – er hatte sie manchmal mit öligen Händen und einem Schraubenschlüssel gesehen – war sie Mechanikerin an den Romanschreibmaschinen. Sie sah gesund aus, war etwa siebenundzwanzig Jahre alt, mit dichtem, dunklem Haar, sommersprossigem Gesicht und schnellen, athletischen Bewegungen. Eine schmale scharlachrote Schärpe, Abzeichen der Jugend-Anti-Sex-Liga, war mehrere Male um die Taille des Overalls des Mädchens gewickelt, gerade ausreichend fest, um den Schwung der Hüften erst richtig zur Geltung zu bringen. Winston mochte das Mädchen vom ersten Moment an nicht, als er es sah. Er kannte auch den Grund dafür: Es war wegen der Atmosphäre von Hockeyfeldern und kalten Bädern und Gemeinschaftswanderungen und allgemeiner Sauberkeit, die dieses Mädchen mit sich herumzutragen wusste. Er mochte fast alle Frauen nicht, insbesondere nicht die jungen und hübschen. Es waren immer die Frauen und vor allem die jungen, welche die bigottesten Anhänger der Partei waren: die Parolengläubigen, die Amateurspione und Schnüffler nach Unorthodoxie. Aber gerade dieses Mädchen vermittelte ihm den Eindruck, noch gefährlicher zu sein als die meisten. Einmal, als sie im Flur aneinander vorbeigingen, hatte sie ihm einen kurzen Seitenblick zugeworfen, der sich unmittelbar in ihn zu bohren schien und ihn für einen Moment mit schwarzem Schrecken erfüllte. Kurz kam ihm sogar der Gedanke in den Sinn, dass sie eine Agentin der Gedankenpolizei sein könnte. Das war zwar recht unwahrscheinlich, aber dennoch fühlte er, wann immer sie in seine Nähe kam, ein mit Angst als auch Feindseligkeit gemischtes seltsames Unbehagen in sich.

    Bei der anderen Person, die Winston aufgefallen war, handelte es sich um einen Mann namens O’Brien, ein Mitglied der Inneren Partei und Inhaber eines Postens, so wichtig und entfernt, dass Winston nur eine schwache Vorstellung davon hatte, um was genau es sich dabei handelte. Eine kurze Stille ging über die Gruppe von Menschen hinweg, die um ihre Stühle herumstanden, als sie den schwarzen Overall eines Mitglieds der Inneren Partei erblickten. O’Brien war ein großer, kräftiger Mann mit einem dicken Hals und einem groben, freundlichen, aber brutalen Gesicht. Trotz seiner gewaltigen Erscheinung hatte er einen gewissen Charme im Auftreten an sich: Er hatte eine Art, seine Brille auf der Nase zurechtzurücken, die auf unbeschreibliche Weise entwaffnend war – auf eine unerklärliche Art merkwürdig kultiviert. Wenn noch jemand imstande gewesen wäre, in solchen Kategorien zu denken, so hätte diese Geste an einen Edelmann aus dem achtzehnten Jahrhundert erinnert, der seine Schnupftabakdose offerierte. Winston hatte O’Brien vielleicht ein Dutzend Mal in fast ebenso vielen Jahren gesehen. Er fühlte sich zutiefst zu ihm hingezogen, und das nicht nur, weil er fasziniert war durch den Kontrast zwischen O’Briens urbaner Art und seinem Körperbau eines Preisboxers, sondern vor allem wegen Winstons heimlichen Glaubens – oder vielleicht noch nicht einmal eines Glaubens, lediglich einer Hoffnung –, dass O’Briens politische Orthodoxie vielleicht nicht perfekt sein könnte. Etwas in seinem Gesicht deutete das unwiderstehlich an. Und außerdem war es vielleicht nicht einmal Unorthodoxie, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, sondern einfach nur Intelligenz. Aber auf jeden Fall machte er den Anschein, eine Person zu sein, mit der sich sprechen ließ, wenn es gelingen konnte, den Teleschirm zu überlisten und O’Brien allein zu erwischen. Winston hatte niemals auch nur die geringste Anstrengung unternommen, dies zu überprüfen. Tatsächlich gab es dafür auch keinerlei Möglichkeit. In diesem Moment warf O’Brien einen Blick auf seine Armbanduhr, stellte fest, dass es fast 11-00 war, und beschloss deshalb, in der Archivabteilung zu bleiben, bis der Zwei-Minuten-Hass vorüber sein würde. O’Brien suchte sich einen Stuhl in der gleichen Reihe wie Winston. Eine kleine, sandhaarige Frau, die in der Kabine neben Winston arbeitete, saß zwischen ihnen. Das Mädchen mit den dunklen Haaren nahm unmittelbar dahinter Platz.

    Dann brach ein grässliches, knirschendes Gebrüll, wie von einer monströsen, ohne Öl laufenden Maschine, aus dem großen Teleschirm am Ende des Raums hervor. Es war ein Geräusch, das in die Zähne fuhr und die Haare im Nacken sträubte: Der Hass hatte begonnen.

    Wie üblich war das Gesicht von Emmanuel Goldstein, dem Feind des Volkes, auf dem Teleschirm erschienen. Es gab hier und da Zischlaute im Publikum. Die kleine, sandhaarige Frau gab ein Quietschen von sich, eine Mischung aus Angst und Ekel: Goldstein war der Abtrünnige und Rückfällige, der einst, vor langer Zeit (vor wie langer Zeit, daran erinnerte sich niemand mehr so recht), eine der führenden Figuren der Partei gewesen war, fast auf einer Ebene mit Big Brother selbst, und damals konterrevolutionäre Aktivitäten unternommen hatte und deshalb zum Tode verurteilt worden, dann aber auf geheimnisvolle Weise entkommen und verschwunden war. Die Programme des Zwei-Minuten-Hasses wechselten von Tag zu Tag, aber es gab keins, in dem Goldstein nicht die Hauptrolle spielte: Er war der Erzverräter, der früheste Schänder der Reinheit der Partei. Alle nachfolgenden Verbrechen gegen die Partei, alle Betrügereien, Sabotageakte, Ketzereien und Abweichungen, entsprangen unmittelbar aus seiner Lehre. An einem Ort dieser Welt war er noch am Leben und brütete seine Verschwörungen aus: vielleicht jenseits des Meeres, unter dem Schutz seiner ausländischen Zahlmeister, vielleicht sogar – so gingen gelegentliche Gerüchte um – in einem Versteck mitten in Ozeanien.

    Winstons Zwerchfell zog sich zusammen. Er konnte das Gesicht Goldsteins nie ohne eine schmerzhafte Mischung aus Gefühlen ansehen. Es war ein schmales jüdisches Gesicht, mit einer großen verschwommenen Aureole aus weißem Haar und einem kleinen Ziegenbart; ein kluges Gesicht und doch wie von Natur aus verächtlich, mit einer Art seniler Albernheit in der langen dünnen Nase, auf deren Spitze eine Brille saß. Es glich dem Gesicht eines Schafs, und auch die Stimme hatte einen schafsähnlichen Klang. Goldstein ritt seine üblichen giftigen Attacken auf die Grundsätze der Partei; einen so übertriebenen und perversen Angriff, dass ein Kind ihn hätte durchschauen können, und doch plausibel genug, um das alarmierende Gefühl zu erzeugen, dass andere, weniger besonnene Menschen von derartigen Argumenten überzeugt werden könnten. Goldstein missbrauchte den Namen von Big Brother, prangerte die Diktatur der Partei an, forderte den sofortigen Friedensschluss mit Eurasien, trat ein für Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gedankenfreiheit und jammerte hysterisch, die Revolution sei verraten worden – und dies alles in rascher, mehrsilbiger Sprache, die eine Art Parodie auf den gewohnten Stil der Redner der Partei war und sogar Neusprech-Worte enthielt, tatsächlich sogar mehr davon, als jedes Parteimitglied üblicherweise im täglichen Leben verwendete. Und die ganze Zeit über, damit auch ja niemand den geringsten Zweifel hatte, welche Realität sich hinter Goldsteins fadenscheinigem Geschwätz verbarg, marschierten hinter seinem Kopf auf dem Teleschirm die endlosen Kolonnen der eurasischen Armee: Reihe um Reihe kräftiger Männer mit ausdruckslosen asiatischen Gesichtern, die an der Oberfläche des Bildschirms ineinander verschwammen und schließlich verschwanden, um durch andere ersetzt zu werden, die genauso aussahen. Das dumpfe rhythmische Trampeln der Stiefel der Soldaten bildete den Hintergrund von Goldsteins blökender Stimme.

    Noch bevor der Hass dreißig Sekunden lang gedauert hatte, kam es bei der Hälfte der im Raum Anwesenden zu unkontrollierten Wutausbrüchen. Das selbstzufriedene Schafsgesicht auf der Leinwand und die furchterregende Macht der eurasischen Armee dahinter waren zu viel auf einmal. Außerdem erzeugte der Gedanke an Goldstein automatisch Angst und Wut, denn dieser war ein beständigeres Objekt des Hasses als Eurasien oder Ostasien, da Ozeanien, wenn es sich mit einer dieser Mächte im Krieg befand, im Allgemeinen mit der anderen im Frieden war. Aber das Merkwürdige war: Obwohl Goldstein von allen gehasst und verachtet wurde und seine Theorien tausendmal am Tag, auf Bahnsteigen, auf dem Teleschirm, in Zeitungen, in Büchern widerlegt, vernichtet, verspottet und als der erbärmliche Müll, der sie waren, verstanden wurden, schien Goldsteins Einfluss trotz alledem niemals geringer zu werden. Es gab immer wieder neue Idioten, die nur darauf warteten, von ihm verführt zu werden: Nie verging ein Tag, an dem nicht Spione und Saboteure, die nach seinen Anweisungen handelten, von der Gedankenpolizei entlarvt wurden. Er war der Befehlshaber einer riesigen Schattenarmee, eines Untergrundnetzes von Verschwörern, die sich für den Sturz des Staates einsetzen. Die Bruderschaft, so hieß sie angeblich. Es gab auch heimlich erzählte Geschichten über ein schreckliches Buch, ein Kompendium aller Häresien, dessen Autor Goldstein war und das hier und da heimlich zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel. Die Leute bezeichneten es, wenn überhaupt, einfach als DAS BUCH. Aber bekannt waren über solche Sachen lediglich unbestimmte Gerüchte. Weder die Bruderschaft noch DAS BUCH waren ein Thema, das ein gewöhnliches Parteimitglied jemals erwähnen würde, wenn sich das vermeiden ließ.

    In der zweiten Minute steigerte sich der Hass zur Raserei: Einige der Anwesenden sprangen auf ihren Plätzen auf und ab und schrien lauthals, um die wahnsinnige, blökende Stimme, die von der Leinwand kam, zu übertönen. Die kleine, sandhaarige Frau war leuchtend rosa geworden, und ihr Mund öffnete und schloss sich wie der eines gerade gefangenen Fischs. Sogar O’Briens schweres Gesicht war errötet. Er saß sehr aufrecht auf seinem Stuhl, zitternd und die breite Brust mächtig angeschwollen, als gälte es, dem Ansturm einer großen Welle standzuhalten. Das dunkelhaarige Mädchen hinter Winston hatte angefangen zu schreien: „Du Schwein! Du verdammte Drecksau!", und plötzlich nahm sie ein schweres Neusprech-Wörterbuch in die Hand und warf es gegen den Teleschirm. Es traf Goldstein auf die Nase und prallte zurück, aber dessen Stimme ertönte unerbittlich weiter. In einem lichten Augenblick wurde Winston bewusst, dass er mit den anderen schrie und mit der Ferse heftig gegen die Sprosse seines Stuhls trat. Das Schreckliche an dem Zwei-Minuten-Hass war nicht, dass verlangt wurde, dabei eine Rolle zu spielen, sondern im Gegenteil, dass es einfach unmöglich war, sich nicht hineinzusteigern: Innerhalb von dreißig Sekunden war keinerlei Verstellung mehr notwendig, bei niemandem, und eine scheußliche Ekstase der Angst und Rachsucht; der Wunsch, zu töten und zu foltern und Gesichter mit einem Vorschlaghammer einzuschlagen, schien wie ein elektrischer Strom durch die ganze Gruppe von Menschen zu fließen, und jeden, der dabei war, selbst gegen seinen Willen in einen grimassierenden, schreienden Wahnsinnigen zu verwandeln. Und doch war die dabei gefühlte Wut ein von den Tatsachen losgelöstes Gefühl, das wie die Flamme einer Lötlampe von einem Gegenstand auf einen anderen gerichtet werden konnte. So wandte sich in einem Moment Winstons Hass gar nicht gegen Goldstein, sondern im Gegenteil gegen Big Brother, die Partei und die Gedankenpolizei; und in solchen Augenblicken schlug sein Herz für den einsamen, verhöhnten Ketzer auf dem Teleschirm, als wäre Goldstein der alleinige Hüter der Wahrheit und der Vernunft in einer Welt voller Lügen. Und doch war Winston schon im nächsten Augenblick eins mit den Menschen die ihn umgaben, und alles, was über Goldstein gesagt wurde, schien wahr zu sein. In solchen Augenblicken verwandelte sich Winstons heimliche Abscheu vor Big Brother in Anbetung, und dieser schien sich über alles zu erheben: ein unbesiegbarer, furchtloser Beschützer, der wie ein Fels den Horden Asiens widerstand, während sich Goldstein trotz seiner Isolation, seiner Hilflosigkeit und der Zweifel, die seine Existenz umgaben, in einen finsteren Zauberer verwandelte, der allein durch die Kraft seiner Stimme in der Lage war, die Grundlagen der Gemeinschaft zu zerstören.

    Manchmal, in kurzen Augenblicken, war es sogar möglich, den Hass auf durch einen bloßen Willensakt umzulenken: Plötzlich, durch eine Art gewalttätiger Anstrengung, ganz so, wie in einem Alptraum den Kopf vom Kissen zu reißen, gelang es Winston, seinen Hass von dem Gesicht auf dem Teleschirm auf das dunkelhaarige Mädchen hinter sich zu übertragen. Lebhafte, wunderschöne Wahnbilder schossen in Winstons Vorstellung: Er würde das Mädchen mit einem Gummiknüppel zu Tode prügeln. Er würde sie nackt fesseln, an einen Pfahl, und einen Haufen Pfeile in sie hineinjagen wie in den Heiligen Sebastian. Er würde es ihr böse besorgen, gegen ihren Willen, und ihr dann, genau dann, wenn er dabei kommen würde, die Kehle durchschneiden. Besser als zuvor, noch deutlicher, wurde ihm nun auch klar, WESHALB er sie hasste: Er hasste sie, weil sie jung war und schön und geschlechtslos, weil er mit ihr ins Bett gehen wollte und dies nie geschehen würde, denn um ihre schöne Taille, die nur darum zu bitten schien, sie mit dem Arm zu umfassen, war diese widerwärtige scharlachrote Schärpe gewickelt, aggressives Symbol der Keuschheit.

    Der Hass erreichte seinen Höhepunkt: Die Stimme Goldsteins war zum echten Blöken eines Schafs geworden, und für einen Augenblick verwandelte sich das Gesicht sogar in das eines Schafs. Dann verschmolz das Schafsgesicht mit der Gestalt eines eurasischen Soldaten, der auf dem Vormarsch zu sein schien, riesig und schrecklich, mit dröhnender Maschinenpistole, und es war beinahe so, als spränge er aus der Oberfläche des Teleschirms heraus, so dass einige der Menschen in der ersten Reihe auf ihren Sitzen davor zurückzuckten. Doch im selben Moment, dabei einen tiefen Seufzer der Erleichterung bei allen auslösend, verwandelte sich die feindselige Gestalt in das Gesicht von Big Brother: schwarzhaarig, mit schwarzem Schnauzbart; voller Kraft und geheimnisvoller Ruhe, und so gewaltig, dass es fast den gesamten Teleschirm ausfüllte. Niemand hörte, was Big Brother sagte. Es waren eher nur ein paar Worte der Ermutigung: die Art von Worten, die im Getöse eines Kampfes gemurmelt werden; nicht einzeln unterscheidbar, aber das Vertrauen wieder herstellend, einfach dadurch, dass sie gesprochen werden. Dann verschwand das Gesicht von Big Brother wieder, und stattdessen erschienen die drei Parolen der Partei in fetten Großbuchstaben:

    KRIEG IST FRIEDEN

    FREIHEIT IST SKLAVEREI

    UNWISSENHEIT IST STÄRKE.

    Doch das Gesicht von Big Brother schien für einige Sekunden weiter auf dem Teleschirm zu verharren, als ob die Wirkung, die es auf die Augäpfel gehabt hatte, zu lebhaft gewesen wäre, um den Eindruck sofort wieder verschwinden zu lassen. Die kleine sandhaarige Frau hatte sich nach vorne über die Stuhllehne vor sich geworfen. Mit einem zitternden Murmeln, das klang wie: „Mein Retter!", streckte sie ihre Arme in Richtung der Leinwand aus. Dann vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen. Es war offensichtlich, dass sie ein Gebet sprach.

    Dann auf einmal brach die gesamte Gruppe der Anwesenden in einen tieftönenden, langsamen, rhythmischen Gesang aus: „B-B!...Be-Be!" – immer und immer wieder, sehr langsam, mit einer langen Pause zwischen dem ersten „B "und dem zweiten – ein schweres, murmelndes Geräusch, das auf eine merkwürdige Weise wild erschien, und es war ein wenig so, als wäre im Hintergrund das Stampfen nackter Füße und das Schlagen von Holztrommeln zu hören. Es dauerte vielleicht etwa dreißig Sekunden; ein Refrain, der oft gehört wurde in Momenten überwältigender Emotionen. Zum Teil war es eine Art Hymne an die Weisheit und Majestät von Big Brother, aber mehr noch ein Akt der Selbsthypnose, ein absichtliches Ertränken des Bewusstseins durch rhythmische Geräusche. Winstons Eingeweide schienen kalt zu werden. Während des Zwei-Minuten-Hasses konnte er sich nicht dagegen wehren, am allgemeinen Delirium teilzuhaben, aber dieser untermenschliche Gesang von „B-B! ... B-B!", der ein wenig klang wie „Sei!-Sei!", erfüllte ihn immer mit Schrecken. Selbstverständlich machte er trotzdem dabei mit, denn es war unmöglich, sich dem zu verweigern. Die Gefühle zu verbergen, das Gesicht zu kontrollieren; das zu tun, was alle anderen taten, war eine instinktive Reaktion. Aber es gab einen Zeitraum von ein paar Sekunden, während dessen der Ausdruck seiner Augen ihn möglicherweise verraten haben könnte. Und es war genau in jenem Augenblick, als das Bedeutsame geschah – wenn es überhaupt tatsächlich geschah:

    Ganz kurz fing Winston den Blick von O’Brien auf. Dieser war aufgestanden, hatte seine Brille abgenommen und war gerade dabei, sie mit seiner charakteristischen Geste wieder auf die Nase zu setzen. Aber es gab jenen winzigen Bruchteil einer Sekunde, in dem

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