Zu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga
Von John Galsworthy
()
Über dieses E-Book
John Galsworthy
John Galsworthy (* 14. August 1867 in Kingston Hill, Surrey, England; † 31. Januar 1933 in London) war ein englischer Schriftsteller und Dramatiker. Seine Romanreihe The Forsyte Saga gilt als ein Klassiker der modernen englischen Literatur. 1932 erhielt Galsworthy den Literaturnobelpreis.
Ähnlich wie Zu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga
Titel in dieser Serie (3)
Der reiche Mann – Teil 1 der Forsyte-Saga Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIn Fesseln – Teil 2 der Forsyte-Saga Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenZu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Ähnliche E-Books
Erwachen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Kinder im Brunnen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTango der Leidenschaft Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWiedersehen in Marbella Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBibiana Amon: Eine Spurensuche Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHINTERMDEICHHAUS Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEichenbach Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEin sündhaft süßer Liebesdeal Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Der Andere Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAls die Flut kam: Hamburg-Krimi Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungenund plötzlich warst du weg Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Sohn des Knochenzählers Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Rache des Faktotums Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer kleine Lord Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Unterkind: Eine Autobiografie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDenkmal für Baby Schiller: Gedichte und Miniaturen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAbrechnungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Teufel nebenan: Roman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas heilige Leben Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAlte Liebe: Leben und Sterben mit Corona Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFamilie Fisch macht Urlaub: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenZu vermieten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPitt und Fox Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTheodor Fontane: Autobiographische Werke Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWilde Rosen, süße Küsse Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEs geschah in einer tropischen Nacht Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTodesrauscher: Kriminalroman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenZwischen den Rassen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenNicht von Ungefähr: Ein Kontinentalroman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSymphonie für Jazz Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Sagen für Sie
Learn German With Stories: Schlamassel in Stuttgart - 10 Short Stories For Beginners Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer: Historischer Roman: Carl Wiedow: Mecklenburgischer Auswanderer in Amerika Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKrieg und Frieden (Klassiker der Weltliteratur): Historischer Roman - Napoleonische Kriege Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenArnulf. Die Axt der Hessen: Band 1 Bewertung: 3 von 5 Sternen3/5Matthes und der Schatz in der Karibik Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Der kleine Lord (Weihnachtsedition): Der beliebte Kinderbuch-Klassiker Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSchloß Gripsholm: Eine Sommergeschichte (Erotik Klassiker): Eine Liebesgeschichte von Kaspar Hauser (Erotisches Abenteuer) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Rezensionen für Zu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Zu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga - John Galsworthy
John Galsworthy
Zu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga
Übersezt von Leon Schalit; Luise Wolf
Saga
Zu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga
Übersezt von Leon Schalit; Luise Wolf
Titel der Originalausgabe: To Let
Originalsprache: Englisch
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1921, 2022 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728344057
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Erwachen – Zweiter Einschub
Durch das breite Oberlicht in der Halle von Robin Hill fiel die Junisonne um fünf Uhr nachmittags gerade auf die Stelle, wo die breite Treppe eine Biegung machte; und in diesem hellen Lichtstrahl stand der kleine Jon Forsyte im blauen Leinwandanzug. Sein Haar leuchtete, und auch seine Augen unter der gerunzelten Stirn, denn er überlegte gerade, wie er dieses letztemal noch von den unzähligen Malen die Treppe hinunterkommen sollte, das letztemal, ehe seine Eltern nach Hause kamen. Vier auf einmal und fünf zum Schluß? Alt! Das Geländer hinunterrutschen? Aber wie? Auf dem Gesicht, die Füße zuerst? Uralt! Auf dem Bauch, seitwärts? Kleinigkeit! Auf dem Rücken, die Arme links und rechts herunterhängend? Verboten! Oder Gesicht nach unten, Kopf voraus, etwas, das bis jetzt nur er fertigbrachte? Deshalb das Stirnrunzeln auf dem Antlitz des kleinen Jon, das von der Sonne beschienen war ...
In jenem Sommer des Jahres 1909 hatten die einfachen Leute, die damals schon die englische Sprache vereinfachen wollten, natürlich keine Ahnung von der Existenz des kleinen Jon, sonst hätten sie ihn zu ihrem Jünger erkoren. Aber man kann in diesem Leben auch zu einfach sein, denn sein wirklicher Name war Jolyon; sein Vater und verstorbener Stiefbruder hatten schon längst die andern möglichen Abkürzungen, Jo und Jolly, mit Beschlag belegt. Und tatsächlich hatte der kleine Jon sein möglichstes getan, sich der Konvention zu fügen und seinen Namen anfangs Jhon und dann John geschrieben. Erst als sein Vater ihm erklärt hatte, warum er durchaus Jon schreiben müsse, fügte er sich.
Bis jetzt hatte dem Vater der kleine Teil seines Herzens gehört, den Bob, der Stallknecht, der Harmonika spielte, und seine Amme »Da« noch übriggelassen hatten. »Da«, die am Sonntag das violette Kleid trug und in jenem Privatleben, das merkwürdigerweise auch die Hausangestellten in manchen Stunden führen, Spraggins hieß. Es kam ihm fast vor, daß seine Mutter ihm nur in Träumen erschienen war, von einem süßen Duft umgeben, ihm über die Stirn strich, gerade ehe er einschlief, und ihm manchmal das Haar schnitt, das von goldbrauner Farbe war. Als er sich an dem Ofenvorsetzer der Kinderstube ein Loch in den Kopf geschlagen hatte, war sie zur Stelle, um mit Blut überströmt zu werden; und hatte er Alpdrücken, dann saß sie an seinem Bett und preßte seinen Kopf an ihre Wange. Sie war etwas Köstliches, aber sie war weit fort, während »Da« so nahe war, und für zwei Frauen gleichzeitig ist kaum Platz im Herzen eines Mannes. Mit seinem Vater verbanden ihn natürlich noch ganz besondere gemeinsame Interessen, denn Jon wollte auch Maler werden, wenn er groß war, nur mit dem kleinen Unterschied, daß sein Vater Bilder malte, und der kleine Jon wollte Decken und Wände bemalen, in einer schmutzig-weißen Schürze auf einem Brette stehend, das auf zwei Leitern gelegt war, während alles so herrlich nach Tünche roch! Er durfte auch mit seinem Vater ausreiten, in den Richmondpark, auf seinem Pony, das wegen seiner grauen Farbe »Maus« genannt ward.
Der kleine Jon war mit einem silbernen Löffel im Mund geboren, und dieser Mund war ziemlich groß, aber sehr hübsch. Niemals hatte er seinen Vater oder seine Mutter ein ärgerliches Wort sagen hören, nicht zueinander, nicht zu ihm und auch zu sonst niemand; Bob, der Stallknecht, Jane, die Köchin, Bella und die übrige Dienerschaft, sogar »Da«, die einzige, die seinem Unternehmungsgeist Grenzen zog, alle diese hatten einen ganz besonderen Klang in der Stimme, wenn sie zu ihm sprachen. Deshalb war er der Meinung, die Erde sei ein Ort, wo nichts als Vornehmheit und ewige Freiheit herrsche.
Als Kind des Jahres 1901 kam er zum Bewußtsein seiner selbst, gerade als sein Land nach dem Burenkrieg, diesem schlimmen Fieberanfall, sich für die liberale Ära des Jahres 1906 vorbereitete. Jeder Zwang war unpopulär geworden, und die Eltern übertrieben den Gedanken, ihren Sprößlingen ein angenehmes Leben zu bereiten. Sie zerbrachen ihre Ruten, schonten die Kinder und schwelgten in den zu erwartenden Erfolgen. Jon war ein außerordentlich gescheites Kind gewesen, sich einen so liebenswürdigen Mann von vierundfünfzig Jahren zum Vater zu erwählen, der seinen einzigen Sohn schon verloren hatte, und zu seiner Mutter eine Frau von achtunddreißig, deren erstes und einziges Kind er war. Was ihn davor bewahrt hatte, so ein Mittelding zwischen einem verwöhnten Schoßhund und einem Herrensöhnchen zu werden, das war die Verehrung seines Vaters für seine Mutter, denn sogar der kleine Jon konnte sehen, daß sie nicht gerade nur seine Mutter war, und daß er im Herzen seines Vaters die zweite Geige spielte. Was er im Herzen seiner Mutter spielte, daß wußte er noch nicht. »Tante« June, seine Halbschwester (aber so alt, daß sie schon nicht mehr seine Schwester war), die liebte ihn, gewiß, aber sie war zu hitzig. Auch seine ihm sehr ergebene »Da« hatte einen spartanischen Zug. Sein Bad war kalt und seine Knie nackt; er wurde nicht darin ermutigt, sich selbst zu bemitleiden. Und was die verzwickte Frage seiner Erziehung anbetraf, so teilte der kleine Jon die Ansicht derer, die dafür waren, daß man Kinder nicht zwingen solle. Mademoiselle, die jeden Morgen zwei Stunden mit ihm Französisch lernte und ihn auch in Geschichte, Geographie und Rechnen unterwies, hatte er ganz gern; und die Musikstunden, die ihm seine Mutter gab, waren auch nicht unangenehm, denn sie verstand es, ihn von Melodie zu Melodie zu locken, und ließ ihn nie eine üben, die ihm nicht gefiel. So verlor er nie den Ehrgeiz, zehn Daumen in acht Finger zu verwandeln. Bei seinem Vater lernte er zeichnen: Glücksschweinchen und andere vergnügliche Tierchen. Er war kein sehr wohlerzogener kleiner Junge; und doch, im großen ganzen hat der silberne Löffel seinem Kindermund nichts geschadet, wenn auch »Da« manchmal sagte, daß mehr Kinder »ein wahrer Segen für ihn wären«.
Es war daher eine Zerstörung all seiner Illusionen, als sie eines Tages den fast Siebenjährigen auf den Rücken legte und in dieser Stellung unbeweglich festhielt, weil er etwas tun wollte, das sie nicht billigte. Dieser erste Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines freien Forsyte machte ihn schier rasend. Die gänzliche Hilflosigkeit seiner Lage war entsetzlich, und die Ungewißheit, ob er überhaupt lebendig davonkommen würde. Wenn sie ihn nun nie wieder losließe! Fünfzig Sekunden lang litt er diese Höllenqualen und schrie mörderisch. Schlimmer als alles war die Erkenntnis, daß »Da« diese ganze Zeit gebraucht hatte, um seine Todesangst zu begreifen. So kam es ihm mit erschreckender Klarheit zu Bewußtsein, wie wenig Verständnis die Menschen füreinander haben! Als er wieder aufstehen durfte, war er überzeugt, daß »Da« ein Verbrechen begangen hatte. Obgleich er sie nicht verklatschen wollte, mußte er doch ganz einfach aus Angst vor einer Wiederholung zu seiner Mutter gehen und sagen: »Mam, erlaub es nicht, daß »Da« mich noch einmal auf den Rücken legt.«
Seine Mutter steckte gerade mit erhobenen Armen ihre Zöpfe fest, ihr schönes Haar – »couleur de feuille morte «, wie der kleine Jon es zu nennen damals noch nicht gelernt hatte; sie schaute zu ihm hin mit Augen wie kleine Fleckchen seiner braunen Samtjacke und erwiderte:
»Nein, Liebling, ich werd' es nicht erlauben.«
Da die Mutter nur zu wollen brauchte und es geschah, so war der kleine Jon beruhigt; besonders als er, unter dem Frühstückstisch versteckt, wo er darauf lauerte, einen Pilz zu stibitzen, die Mutter zum Vater sagen hörte:
»Willst du mit ›Da‹ sprechen, Liebster, oder soll ich es tun? Sie hängt so sehr an ihm.«
Und sein Vater entgegnete:
»So darf sie's ihm nicht beweisen. Ich weiß genau, was es heißt, hilflos niedergehalten zu werden. Kein Forsyte hält das eine Minute aus.«
Als er sich bewußt ward, daß sie ihn nicht unter dem Tisch vermuteten, überkam den kleinen Jon ein ganz neues Gefühl der Verlegenheit, und er blieb regungslos sitzen, von Sehnsucht nach dem Pilz verzehrt.
Das war sein erster Sturz in die dunklen Abgründe des Menschenlebens gewesen. Danach war ihm nichts Besonderes mehr enthüllt worden, bis er eines Tages in den Kuhstall ging, wo Garrat gerade gemolken hatte, um sich seinen Trunk Milch frisch von der Kuh zu holen, und da sah er Clovers Kalb tot daliegen. Ganz außer sich und von dem erschreckten Garrat gefolgt, war er davongelaufen, um »Da« zu suchen; aber plötzlich ward ihm klar, daß sie jetzt nicht die richtige Person war, er wollte zu seinem Vater und rannte statt dessen in die Arme seiner Mutter. »Clovers Kälbchen ist tot! Oh! Oh! Es sieht so lieb aus!«
Seine Mutter zog ihn an sich, und ihr »Ja, mein Liebling, komm, komm!« hatte sein Schluchzen beruhigt. Aber wenn Clovers Kälbchen sterben konnte, dann konnte ja jeder sterben – nicht nur Bienen, Fliegen, Käfer und Küken – und so sanft aussehen wie das Kälbchen! Das war schrecklich – und bald vergessen!
Das nächste war gewesen, daß er sich auf eine Hummel gesetzt hatte, eine schmerzliche Erfahrung, die seine Mutter viel besser als »Da« verstanden hatte, und danach war ihm nichts Wichtiges mehr widerfahren, bis das Jahr zu Ende ging. Damals, nach einem Tag, an dem ihm unsagbar elend zumute war, erfreute er sich einer Krankheit, die aus roten Flecken, Bettruhe, Kaffeelöffel voll Honig und vielen Mandarinen bestand. Damals war es, als die Welt für ihn zu blühen begann. Seiner »Tante« June verdankte er dieses Frühlingsblühen, denn kaum hatte sie erfahren, daß sie Samariterin spielen konnte, als sie auch schon von London herbeigeeilt kam und all die Bücher mitbrachte, die ihren eigenen Rebellengeist genährt hatten, der im Jahre 1870 geboren war. Die alten, in allen Farben leuchtenden Bücher waren vollgestopft mit den ungeheuerlichsten Ereignissen. Diese las sie dem kleinen Jon vor, bis er sich selber vorlesen durfte, worauf sie wie ein Wind nach London zurücksauste und ihn auf einem Berg von Büchern allein ließ. In diesen Büchern schwelgte er, bis er nichts mehr dachte und träumte als Seekadetten und arabische Kauffahrteischiffe, Piraten, Flöße, Sandelholzhändler, Schiffsschnäbel, Haifische, Überfälle, Tataren, Rothäute, Luftballons, Nordpole und andere extravagante Genüsse. Kaum durfte er wieder aufstehen, als er sein Bett auftakelte, Segel vorn und hinten, ein Boot aussetzte – es war eine kleine Badewanne – und über das grüne Teppichmeer zu seinem Felsen fuhr, den er auf den Schubladenknöpfen einer Mahagonikommode erstieg, um mit seinem Trinkbecher, den er ans Auge gepreßt hielt, den Horizont nach rettenden Segeln abzusuchen. Er baute sich täglich eine Barke mit Hilfe des Handtuchhalters, des Servierbrettes und seiner Kissen. Aufgesparten Pflaumensaft füllte er in eine leere Medizinflasche, und mit dem Rum, der daraus ward, verproviantierte er seine Barke; auch mit Fleischkuchen, den er aus gesparten Stückchen Hühnerfleisch fabrizierte, auf die er sich draufsetzte und die er dann am Feuer dörrte; auch Zitronensaft gegen Skorbut stellte er her aus Orangeschalen und ein wenig übriggebliebenem Saft. Aus seinem gesamten Bettzeug baute er eines Morgens den Nordpol und erforschte ihn in einem Birkenrindenkanoe (im Privatleben der Ofenvorsetzer), nach gefahrvollen Kämpfen mit einem Eisbären, der aus seinem Bettpolster und vier Kegeln als Beinen bestand und mit »Da's« Nachthemd ausstaffiert war. Nach diesem Abenteuer brachte ihm sein Vater, um seine Phantasie zu beruhigen, »Ivanhoe«, den »Kampf des Ritters Bevis mit dem Riesen«, ein König-Artus-Buch und »Tom Browns Schulzeit«. Er las das erste und baute, verteidigte und stürmte drei Tage lang Front de Boeufs Schloß, er selber spielte jede Rolle, nur Rebekka und Rowena nicht, und stieß gellende Schreie aus: »En avant, de Bracy !« und dergleichen. Als er das Buch vom König Artus gelesen hatte, war er fast nichts anderes mehr als Ritter Lamorac de Galis. Obgleich wenig mit ihm los war, war dieser Name Jon doch lieber als der irgendeines andern Ritters; und mit einer langen Bambuslanze bewaffnet, ritt er sein altes Schaukelpferd zuschanden. Den »Ritter Bevis« fand er langweilig, außerdem kamen Wälder und Tiere darin vor, die es in seiner Kinderstube nicht gab; nur die beiden Katzen, Fitz und Puck Forsyte, waren da, und die verstanden keinen Spaß. Für »Tom Brown« war er noch zu jung. Das ganze Haus atmete erleichtert auf, als er nach der vierten Woche wieder hinunter und ins Freie durfte.
Da es im März war, sahen die Bäume genau wie die Schiffsmaste aus, und für den kleinen Jon war das ein herrlicher Frühling, der nur seine Knie, seine Kleider und die Geduld von »Da«, die alles zu waschen und zu flicken hatte, auf eine harte Probe stellte. Sein Vater und seine Mutter, deren Fenster auf den Garten gingen, konnten ihn jeden Morgen beobachten, wie er gleich nach dem Frühstück aus dem Arbeitszimmer quer über die Terrasse ging und mit entschlossener Miene und leuchtendem Haar den alten Eichenbaum erkletterte. So begann er seinen Tag, denn um weit ins Feld hineinzulaufen, dazu war vor den Schulstunden keine Zeit mehr. Der alte Baum war zu allem zu gebrauchen, er besaß Großmast, Fockmast, Bramstenge, und stets konnte Jon sich an dem Schiffstau herunterlassen, das heißt an dem Strick der Schaukel. Wenn er um elf Uhr seine Schulstunden hinter sich hatte, pflegte er sich in der Küche ein dünnes Scheibchen Käse zu holen, einen Kek und zwei gedörrte Pflaumen, Proviant genug für eine Jolle, und aß es auf irgendeine phantasievolle Art. Dann begann er, bis an die Zähne bewaffnet mit Flinte, Pistolen und Säbel, die morgendliche gefahrvolle Kletterei, wobei er zahllose Kämpfe mit Sklavenhändlern ausfocht und auch mit Indianern, Piraten, Bären und Leoparden. Zu jener Tageszeit sah man ihn selten ohne ein Dolchmesser zwischen den Zähnen, nach dem Vorbild seines Lieblingshelden, zwischen rasch aufeinanderfolgenden Explosionen von Zündhütchen. Und gar viele Gärtner brachte er mit gelben Erbsen aus seinem kleinen Gewehr zur Strecke. Er führte ein Leben voll von Gewalttaten.
»Jon«, sagte sein Vater unter dem Eichenbaum zu seiner Mutter, »ist schauderhaft. Ich fürchte, er wird ein Seefahrer werden oder sonst so was Unmögliches. Kannst du irgendeinen Sinn für Schönheit bei ihm entdecken?«
»Nein, nicht den geringsten.«
»Na, Gott sei Dank, daß er sich nicht für Räder und Maschinen interessiert! Das kann ich am allerwenigsten vertragen. Nur möchte ich gern bei ihm ein bißchen Liebe zur Natur sehen.«
»Er ist sehr phantastisch, Jolyon.«
»Ja, aber blutrünstig-phantastisch. Liebt er eigentlich jetzt irgend jemand besonders?«
»Nein, er liebt einen jeden. Es gibt gar kein liebenswerteres und auch liebevolleres Kind als Jon.«
»Dein Sohn, Irene.«
In diesem Augenblick brachte sie der kleine Jon, der hoch über ihnen auf einem Aste lag, mit zwei Erbsen zur Strecke. Diese paar unverständlichen Worte, die er erlauscht hatte, brannten ihn in der Seele. Liebenswert, liebevoll, phantastisch, blutrünstig!
Die Bäume hatten sich wieder belaubt, und es war Zeit für seinen Geburtstag, der jedes Jahr am zwölften Mai wiederkam, ein denkwürdiger Tag wegen des Festessens, das aus gebackenem Kalbshirn, Pilzen, Makronen und Ingwerbier bestand.
Doch zwischen jenem achten Geburtstag und dem Nachmittag, als er im Glanz der Julisonne auf dem Treppenabsatz stand, lagen viele wichtige Ereignisse.
»Da«, vielleicht müde geworden, seine Knie zu waschen, oder von jenem geheimen Instinkt ergriffen, der sogar die Ammen zwingt, ihre Pfleglinge im Stich zu lassen, »Da« verließ ihn unter strömenden Tränen gerade einen Tag nach seinem Geburtstag, um von allen Leuten ausgerechnet – einen Mann zu heiraten. Der kleine Jon, dem man es verheimlicht hatte, war einen Nachmittag lang untröstlich. Man hätte ihm so etwas sagen müssen! Zwei große Schachteln Soldaten und etwas Artillerie zusammen mit dem Buch »Die jungen Hornisten«, die er zum Geburtstag bekommen hatte, riefen in seinem bekümmerten Herzen eine Art Umkehrung der Leidenschaften hervor, denn anstatt selbst Abenteuer zu suchen und sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, dachte er sich die Kämpfe nur in der Phantasie aus, in denen er das Leben zahlloser Bleisoldaten, Kugeln, Steine und Bohnen riskierte. Solches Kanonenfutter sammelte er in Häuflein und focht abwechselnd den Spanischen Krieg, den Siebenjährigen, den Dreißigjährigen und andere Kriege, von denen er letzthin in einer dicken »Geschichte von Europa«, noch von seinem Großvater her, gelesen hatte. Er variierte sie mit eigenem Feldherrngenie und verwandelte den ganzen Boden seiner Kinderstube in ein Schlachtfeld, so daß niemand sich getraute einzutreten, aus Angst, Gustav Adolf, König von Schweden, in die Quere zu kommen oder auf eine Armee Österreicher zu treten. Mit Leib und Seele war er den Österreichern zugetan, weil der Klang des Wortes ihm so gut gefiel, und in seinen Spielen mußte er glorreiche österreichische Siege erfinden, da sie in Wirklichkeit so selten gesiegt hatten. Seine Lieblingsgenerale waren der Prinz Eugen, der Erzherzog Karl und Wallenstein. Für Tilly und Mack (»Varietéstars« hörte er sie seinen Vater eines Tages nennen, was das nur heißen mochte?) konnte man wirklich nicht viel übrig haben, obgleich sie Österreicher waren. Turenne jedoch war ihm wiederum aus euphonischen Gründen sympathisch.
Diese Phase seines Lebens, die seinen Eltern Sorge machte, weil er im Zimmer blieb, wenn er draußen sein sollte, dauerte den ganzen Mai und halben Juni hindurch, bis sein Vater den »Tom Sawyer« und den »Huckleberry Finn« ins Feld schickte und seinen Soldaten eine vernichtende Niederlage bereitete. Als Jon diese Bücher gelesen hatte, ging eine Wandlung in ihm vor, und er lief wieder ins Freie, auf der leidenschaftlichen Suche nach einem Strom. Aber es gab keinen auf den Gründen von Robin Hill, und so mußte der Teich sein Strom sein, der glücklicherweise von drei kleinen Weiden umstanden war, und in dem es Wasserlilien, Libellen, Mücken und große Binsen gab. Auf diesem Teich durfte er in einem kleinen zusammenlegbaren Kanoe herumfahren, nachdem sein Vater und Garrat sich vergewissert hatten, daß er nirgends mehr als zwei Fuß tief und der Grund fest war; hier paddelte er stundenlang im Wasser herum, und er lag auf dem Boden des Bootes, um dem Indianer Joe und andern Feinden zu entgehen. Auch baute er sich am Ufer des Teiches einen Wigwam aus alten Keksdosen, vier Fuß im Quadrat, und mit einem aus Zweigen geflochtenen Dach. Hier pflegte er kleine Feuer anzuzünden und die Vögel zu braten, die er mit seiner Flinte auf den Streifzügen in Feld und Dickicht nicht geschossen hatte; oder den Fisch, den er im Teiche nicht gefangen hatte, weil es keine gab. So verging der Rest des Juni und des Juli, als seine Eltern fort waren – in Irland. Während dieser fünf Sommerwochen führte er ein einsames Leben in den »Gefilden seiner Phantasie« mit Flinte, Wigwam, Wasser und Kanoe. Und wie sehr sein vielbeschäftigter kleiner Geist sich auch bemühte, ein Gefühl für Schönheit nicht aufkommen zu lassen, so streifte ihn doch hie und da Schönheit mit den Flügeln einer Libelle, die über den Wasserlilien in der Sonne glitzerte oder wie ein lichtblauer Schatten über seine Augen huschte, wenn er auf dem Rücken im Hinterhalt lag.
»Tante« June, in deren Obhut er geblieben war, hatte einen »Erwachsenen« im Haus mit einem Husten und einem großen Klumpen Lehm, aus dem er ein Gesicht knetete; so kam sie nur ganz selten zu seinem Teich herunter. Einmal aber brachte sie noch zwei andere »Erwachsene« mit. Der kleine Jon, der mit seines Vaters Wasserfarben seine Nacktheit mit lichtblauen und gelben Streifen bemalt und ein paar Entenfedern in sein Haar gesteckt hatte, sah sie kommen und legte sich zwischen die Weiden in den Hinterhalt. Wie er es vorausgesehen, gingen sie sofort zu seinem Wigwam und knieten nieder, um hineinzuschauen, so daß er »Tante« June und die andere »erwachsene« Frau mit markerschütterndem Indianergeheul überfallen und sie fast vollständig skalpieren konnte, ehe sie ihn küßten. Die beiden »Erwachsenen« hießen »Tante« Holly und »Onkel« Val, der ein braunes Gesicht hatte und ein wenig hinkte und sich vor Lachen über ihn ausschütten wollte. »Tante« Holly, die scheinbar auch seine Schwester war, schloß er sofort ins Herz, aber beide gingen am Nachmittage wieder fort, und er sah sie nicht wieder. Drei Tage, ehe sein Vater und seine Mutter nach Hause kamen, fuhr auch »Tante« June weg, in schrecklicher Eile, und nahm den hustenden »Erwachsenen« samt seinem Klumpen Lehm mit. Und Mademoiselle sagte: »Der arme Mann war sehr krank. Ich verbiete dir, sein Zimmer zu betreten, Jon.« Der kleine Jon, der selten bloß deshalb etwas tat, weil man's ihm verboten hatte, ging wirklich nicht hinein, obgleich ihn Einsamkeit und Langeweile quälten. Die schönen Tage am Teich gehörten der Vergangenheit an, und bis in den letzten Winkel seines Herzens war er jetzt von Unruhe erfüllt, von einer Sehnsucht nach irgend etwas – was nicht ein Baum, nicht eine Flinte war –, nach irgendeiner Zärtlichkeit. Diese beiden letzten Tage erschienen ihm wie Monate, trotzdem er »Gestrandet« las und von dem Johannisfeuer der alten Hexe, das die Schiffer ins Verderben lockte. Hundertmal war er in diesen beiden Tagen die Treppe hinauf und hinunter gestiegen, und oft hatte er sich aus dem Spielzimmer, wo er jetzt schlief, in das Zimmer seiner Mutter gestohlen, sich um und um geschaut, ohne etwas zu berühren, und im Ankleidezimmer nebenan stand er auf einem Bein vor der Badewanne und flüsterte geheimnisvoll wie der Alte in seinem Buche: »Ho, ho, ho! Hund, hol meine Katzen!« Das sollte ihm Glück bringen. Dann stahl er sich zurück, öffnete den Kleiderschrank seiner Mutter und sog tief den Duft ein; das schien sein Verlangen zu stillen nach – ja wonach denn eigentlich?
Diesen Duft noch im Gefühl, stand er dann in dem Streifen Sonnenlicht und überlegte, auf welche Art er das Treppengeländer hinunterrutschen sollte. Alles kam ihm auf einmal so kindisch vor, und in einer plötzlichen Schwächeanwandlung stieg er die Stufen eine nach der andern langsam hinab. Während er so hinunterstieg, sah er seinen Vater deutlich vor sich – den kurzen grauen Bart, die guten, zwinkernden Augen mit der Falte dazwischen, das fröhliche Lächeln, die schlanke Gestalt, die dem kleinen Jon immer so groß vorkam; von seiner Mutter aber konnte er sich keine Vorstellung machen. Er erinnerte sich nur ihres leichten, schwebenden Ganges, an zwei dunkle Augen, die nach ihm zurückblickten, und spürte den Duft ihrer Kleider.
Bella stand in der Halle, zog die großen Vorhänge zur Seite und öffnete das Haustor. Der kleine Jon sagte schmeichelnd:
»Bella!«
»Ja, Jon.«
»Laß uns doch unter dem Eichenbaum Tee trinken, wenn sie kommen; ich weiß, daß es ihnen dort am besten gefällt.«
»Du meinst, dir gefällt es dort am besten.«
Jon dachte nach.
»Nein, sie sitzen am liebsten dort, weil es mir gefällt.«
Bella lächelte. »Na schön, dann will ich draußen den Tisch decken, wenn du derweilen brav sein willst und nichts anstellst, bis sie kommen.«
Der kleine Jon setzte sich auf die unterste Stufe und nickte. Bella kam herbei und musterte ihn von oben bis unten.
»Steh auf!« sagte sie.
Jon stand auf. Sie musterte ihn von hinten. Seine Hosen waren nicht grün, und auch die Knie schienen sauber zu sein.
»Alles in Ordnung!« sagte sie. »Du lieber Gott! Wie braun gebrannt du bist! Gib mir einen Kuß!«
Und sie küßte ihn herzhaft aufs Haar.
»Was gibt's für Marmelade?« fragte er. »Ich hab' das Warten so satt.«
»Stachelbeeren und Erdbeeren.«
»Ah! Die eß ich am liebsten!«
Als sie hinausgegangen war, saß er ganz still, fast eine Minute lang. Nichts rührte sich in der großen Halle, die nach Osten hin offen war, so daß er einen seiner Bäume sehen konnte, einen Zweimaster, der sehr langsam über den Rasen segelte. In der Vorhalle warfen die Säulen schräge Schatten. Der kleine Jon stand auf, sprang auf einem Bein herum, marschierte rund um die Schwertlilien, die das kleine grauweiße Marmorbecken in der Mitte füllten. Die Blumen waren hübsch, aber sie dufteten nur ein ganz klein wenig. Er stand in der offenen Tür und schaute hinaus. Wenn nun – wenn sie nun überhaupt nicht kämen! Er hatte so lange gewartet, daß er das unmöglich würde ertragen können; aber seine Gedanken flüchteten gleich wieder zu den Stäubchen in dem hereinströmenden bläulichen Sonnenlicht! Mit den Händen emporgreifend, versuchte er welche zu haschen. Bella hätte die Luft hier abstauben sollen! Aber vielleicht war es gar kein Staub, nur das, woraus die Sonnenstrahlen gemacht waren, und er wollte nachsehen, ob das Sonnenlicht draußen auch so war. Nein, es war nicht so. Er hatte versprochen, brav in der Halle zu bleiben, aber er konnte ganz einfach nicht mehr; und er ging quer über den Kies des Fahrwegs und legte sich auf der andern Seite ins Gras. Er pflückte sechs Gänseblümchen und gab jedem umständlich einen Namen: Ritter Lamorac, Ritter Tristan, Ritter Lancelot, Ritter Palimedes, Ritter Bors, Ritter Gawan, und er ließ sie in Paaren miteinander kämpfen, bis alle den Kopf verloren hatten außer Ritter Lamorac, dem er einen besonders starken Stengel ausgesucht hatte, doch selbst dieser war nach drei Zweikämpfen jämmerlich zugerichtet. Langsam kroch ein Käfer durch das Gras, das bald gemäht werden mußte. Jeder Grashalm war ein kleiner Baum, und der Käfer kroch um seinen Stamm herum. Der kleine Jon packte Ritter Lamorac beim Kopf und kitzelte mit ihm das Tierchen, das erschrocken davonlief. Jon lachte, verlor plötzlich das Interesse und seufzte auf. Es war ihm so öde zumut. Er drehte sich um und lag nun auf dem Rücken. Die blühenden Linden verbreiteten einen süßen Honigduft, und das Himmelblau da oben war so wunderschön mit den paar weißen Wolken, die aussahen wie Zitroneneis und vielleicht auch so schmeckten. Er hörte Bob auf der Harmonika ein Niggerlied spielen: »An dem schönen blauen Swanney-Fluß«, und das Lied machte ihn so schön traurig. Er rollte sich wieder auf die andere Seite und legte sein Ohr auf die Erde – die Indianer konnten hören, sobald etwas herankam, war es auch noch so weit weg –, aber er hörte nichts – nur die Harmonika! Und fast im selben Augenblick hörte er wirklich einen knirschenden Laut, ein schwaches Tuten. Ja! Es war ein Auto – sie kommen – sie kommen! Er sprang in die Höhe. Sollte er in der Türe warten oder die Stiege hinaufrennen und den Eintretenden entgegenrufen: »Da schaut her!« und dann mit dem Kopf zuerst langsam das Treppengeländer hinunterrutschen? Sollte er das tun? Der Wagen bog in die Einfahrt. Es war zu spät! Und so wartete er nur und sprang vor Aufregung hin und her. Das Auto kam rasch heran, bremste und hielt. Sein Vater stieg aus in Lebensgröße. Er beugte sich herab, und der kleine Jon schnellte empor – sie stießen gegeneinander. Sein Vater sagte:
»Gott sei Dank, da sind wir. Na, mein Junge, du bist aber braun!« genau wie er's erwartet hatte; und das sehnsüchtige Gefühl, das Verlangen nach irgend etwas war noch nicht gestillt. Mit einem langen schüchternen Blick suchte er seine Mutter, die in einem blauen Kleid, den blauen Autoschal über Mütze und Haar gebunden, lächelnd dasaß. Er sprang so hoch empor, wie er nur konnte, umklammerte sie mit beiden Beinen und drückte sie fest an sich. Er hörte sie nach Luft schnappen und fühlte, wie sie ihn an sich zog. Seine tiefblauen Augen schauten gerade in ihre ganz dunkelbraunen, bis ihre Lippen seine Augenlider küßten, und wie er sie nun mit seiner ganzen Kraft drückte und preßte, hörte er sie seufzen und lachen:
»Ach, Jon, wie stark du bist!«
Da ließ er sich heruntergleiten, rannte nach der Halle und zog sie an der Hand hinter sich her.
Während er unter dem Eichenbaum seine Marmelade aß, schaute er seine Mutter an, und es war ihm, als sähe er vieles zum erstenmal. Ihre Wangen waren von zartem Braun, silberne Fäden glänzten in ihrem dunkelblonden Haar, ihr Hals hatte keinen Knoten in der Mitte wie der Bellas, und sie ging so leise aus und ein. Er sah auch zarte Linien in ihrem Gesicht, in den Winkeln der Augen, unter denen so schöne dunkle Schatten lagen. Wie wunderschön sie war, viel schöner als »Da« oder Mademoiselle oder »Tante« June oder sogar »Tante« Holly, die er besonders ins Herz geschlossen hatte; sogar noch schöner als Bella mit den rosigen Wangen, die aber zu dick und holprig war. Diese neue Schönheit seiner Mutter zu betrachten, nahm ihn so sehr in Anspruch, daß er weniger aß, als er erwartet hatte.
Nach dem Tee machte sein Vater mit ihm einen Rundgang durch die Gärten. Er hatte eine lange Unterredung mit dem Vater über die Dinge im allgemeinen und vermied es, auf sein Privatleben einzugehen, auf Ritter Lamorac, die Österreicher und die Leere, die er in den letzten drei Tagen empfunden hatte und die jetzt so plötzlich ausgefüllt war. Sein Vater erzählte ihm von einem Ort, der Glensofantrim hieß, wo er und seine Mutter gewesen waren; und er erzählte ihm auch von dem kleinen Volk, das dort aus der Erde herauskam, wenn alles ganz still war. Der kleine Jon blieb plötzlich stehen mit weitgespreizten Beinen.
»Glaubst du wirklich daran, Vati?«
»Nein, Jon, aber ich dachte, daß vielleicht du daran glaubst.«
»Warum?«
»Du bist noch jung, und Kinder wissen oft etwas von Elfen und Heinzelmännchen.«
Der kleine Jon verzog den Mund, daß das Grübchen in seinem Kinn viereckig ward.
»Ich glaub' nicht daran. Ich hab' noch niemals Elfen gesehen.«
»Ha!« sagte sein Vater.
»Kann Mam sie sehen?«
Sein Vater lächelte vielsagend.
»Nein, sie sieht nur Pan.«
»Wer ist das, Pan?«
»Der Ziegengott, der in wilden und romantischen Gegenden sein Wesen treibt.«
»War er in Glensofantrim?«
»Mam hat es gesagt.«
Der kleine Jon, der noch immer mit gespreizten Beinen dastand, ging wieder voran.
»Hast du ihn gesehen?«
»Nein, ich sah nur Venus Anadyomene.«
Der kleine Jon überlegte. Venus kam in seinem Buch über die Griechen und Trojaner vor. Also war Anna ihr Vorname und Dyomene ihr Familienname. Aber es ergab sich aus seinen Fragen, daß